1,99 €
0,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €
Erleben Sie den Zauber Irlands in dem warmherzigen Familienroman »Die Schwestern von Ballymoreen« von Cathy Kelly – jetzt als eBook bei dotbooks. Zwei Schwestern, eine turbulente Familienfeier – und das Chaos, das man Leben nennt … Evie sieht die Dinge gern pragmatisch, so auch ihre Dauerverlobung mit Simon, die bequem und sicher ist. Ihre Schwester Cara kann darüber nur den Kopf schütteln – warum sich mit einem Langweiler begnügen, wenn die Welt doch so viele interessante Männer zu bieten hat? Doch für das alljährliche Treffen auf dem Familiensitz Ballymoreen müssen die beiden Schwestern sich nun zusammenreifen und die glücklichen Töchter spielen. Was ihnen auch einigermaßen gelingt – bis ihnen ihr Vater nonchalant eröffnet, dass er nochmal heiraten möchte! Und das wird nicht die einzige Überraschung bleiben, die Ballymoreen in petto hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Irlandroman »Die Schwestern von Ballymoreen« der Bestsellerautorin Cathy Kelly – perfekt für Fans von Julie Caplin und Sophia Kinsella. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 853
Über dieses Buch:
Zwei Schwestern, eine turbulente Familienfeier – und das Chaos, das man Leben nennt … Evie sieht die Dinge gern pragmatisch, so auch ihre Dauerverlobung mit Simon, die bequem und sicher ist. Ihre Schwester Cara kann darüber nur den Kopf schütteln – warum sich mit einem Langweiler begnügen, wenn die Welt doch so viele interessante Männer zu bieten hat? Doch für das alljährliche Treffen auf dem Familiensitz Ballymoreen müssen die beiden Schwestern sich nun zusammenreifen und die glücklichen Töchter spielen. Was ihnen auch einigermaßen gelingt – bis ihnen ihr Vater nonchalant eröffnet, dass er nochmal heiraten möchte! Und das wird nicht die einzige Überraschung bleiben, die Ballymoreen in petto hat …
Über die Autorin:
Cathy Kelly arbeitete als Redakteurin, Filmkritikerin und »Kummerkastentante« bei der Dubliner Sunday World, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Am liebsten schreibt sie warmherzige, einfühlsame Geschichten über ihre irische Heimat. Cathy Kelly lebt mit ihrer Familie und ihren drei Hunden in County Wicklow.
Die Website der Autorin: www.cathykelly.co.uk/
Bei dotbooks veröffentlichte Cathy Kelly auch ihre Romane:
»Heimkehr nach Irland«
»Der Duft von irischem Lavendel«
»Eine irische Hochzeit«
»Die irischen Freundinnen«
»Der Glanz von irischem Klee«
»Wie küsst man einen Iren?«
»Wie angelt man sich einen Iren?«
»Wie heiratet man einen Iren?«
»Die Freundinnen von Cloud’s Hill«
»Die Frauen von Ardagh’s Crown«
***
eBook-Neuausgabe Februar 2023
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Never Too Late« bei Poolbeg Press Ltd., Dublin. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Geh ich auf meine Hochzeit?« bei Blanvalet.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Cathy Kelly
Copyright © der deutschen Erstausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-478-4
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Schwestern von Ballymoreen« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Cathy Kelly
Die Schwestern von Ballymoreen
Roman
Aus dem Englischen von Inez Meyer
dotbooks.
Für Dad
Aus dem Radio im Verkaufsbüro nebenan drang die atemlose, kindliche Stimme von Santa Baby, die sich eine Yacht, eine Eigentumswohnung und mehrere Rennpferde wünschte. Besser immerhin als White Christmas, das Evie in der vergangenen Woche mindestens zehn Mal gehört hatte und das sie mittlerweile fast im Schlaf singen konnte. Wäre Bing Crosby nicht schon tot, hätte sie gute Lust gehabt ihn umzubringen.
Evie hielt kurz inne und streckte ihre Hände über der Computertastatur. Sie war müde. Seit früh um acht hockte sie bereits im Büro, die meiste Zeit hatte sie an der Schreibmaschine gesessen und zwischendurch einer neuen Mitarbeiterin Microsoft Word erklärt – obwohl diese beim Vorstellungsgespräch Stein und Bein geschworen hatte, es zu beherrschen. So wie sie allerdings heute Morgen aus der Wäsche geschaut hatte, hatten sich bei Evie Zweifel gemeldet, ob sie überhaupt Englisch sprechen könne, von Computerkenntnissen ganz zu schweigen.
Der Duft von Java-Kaffee schwebte aus dem Verkaufsbüro herüber. Evie schnupperte sehnsüchtig. Für eine Tasse Kaffee würde sie glatt ihre Seele verkaufen. Den Geschmack des warmen, vollmundigen Koffeins hätte sie zum Auffüllen ihrer Kraftreserven gut gebrauchen können. Doch sie durfte keinen Kaffee trinken.
Sie trank Früchtetees – vorzugsweise Zitrone – und zusätzlich jeden Tag anderthalb Liter Wasser. Wie sonst sollte sie Po und Schenkel während ihrer Flitterwochen im Bikini offenbaren, wenn sie ihre Zellulitis nicht endlich in den Griff bekam?
Von hinten betrachtet erinnerte ihr Po an eine Landkarte des Mondes – nicht gerade der Anblick, den man auf der romantischen Insel Kreta, in der Sonne liegend, der Öffentlichkeit darbieten wollte. Es sei denn, natürlich, an die Mondoberfläche erinnernde Pos würden zum letzten Schrei avancieren, ebenso ein Muss wie ein geknoteter Sarong, sonnengebräunte Haut und transparente Plastiktaschen.
»Zellulitis loszuwerden ist keine kurzfristige Angelegenheit, sondern eine Lebensaufgabe«, hatte die Kosmetikerin letzte Woche arrogant bemerkt. »Ganz besonders dann, wenn man ein wenig in die Jahre kommt. Frauen über fünfunddreißig müssen vorsichtiger sein, wissen Sie«, hatte sie noch bedeutungsvoll hinzugefügt.
Evie hätte gerne gewusst, warum die Kosmetikerin – selbst gerade etwas über zwanzig – mit einer derartigen Gewissheit über Zellulitis und über Frauen sprechen konnte, die die fünfunddreißig überschritten hatten. Doch sie hakte nicht nach. Vermutlich verhielt es sich genau wie mit allen anderen Dingen – nach fünfunddreißig wurde alles runzelig, faltig, besaß weniger Spannkraft und schrumpfte. Alles außer Bauch und Taille, die sich deutlich sichtbar ausdehnten.
Evie hatte es sich in den Kopf gesetzt, in ihrem Bikini nicht wie eine riesige Fettblase auszusehen. Sie hatte einen Anti-Zellulitis-Plan aufgestellt, nach dem sie innerhalb von neun Monaten ihren Orangenhautpo in ein weiches, festes und mit Pfirsichhaut überzogenes Ding verwandeln würde, das sie allen zeigen konnte. Nach über einer Woche ihres Vorsatzes, sich lediglich zu ganz besonderen Anlässen eine Tasse Kaffee zu gönnen, lobte sie ihre eigene Tugendhaftigkeit. Aber Himmel noch mal, leicht fiel es ihr nicht.
Sie bemühte sich, den verführerischen Duft der Kaffeemaschine zu ignorieren und dehnte Arme und Schultern, ehe sie die Arbeit am Computer wieder aufnehmen wollte. Während sie ihre Finger spreizte, spiegelte sich das Neonlicht des Büros in ihrem Solitärring und brachte ihn zum Leuchten, wobei das eine Karat im Licht aufblitzte. Sie streckte ihre Hand aus und bewunderte das breite goldene Band mit dem einfachen, großen Diamanten. Simon besaß einen ausgezeichneten Geschmack, obgleich der Ring größer war, als sie selbst ihn sich ausgesucht hätte. Aber wenn dich dein Freund zum Essen einlädt und dir dann einen Verlobungsring schenkt, der vermutlich mehr gekostet hat als dein alter, klappriger Ford Fiesta, dann nörgelst du nicht, dass der Ring an deinen zarten Fingern möglicherweise etwas zu gewaltig wirkt.
»Mein Liebling, es ist wunderschön hier. Ich war noch nie in einem von Michelin prämierten Restaurant ...«
Er warf ihr einen schicksalsschwangeren Blick zu, und seine leuchtend blauen Augen versanken in ihren braungrünen. Auf seinem Gesicht malte sich Anbetung. »Ich wollte dich an einen ganz besonderen Ort führen, weil ich dir die wichtigste Frage überhaupt stellen möchte.«
Eine Strähne ihres dichten, dunklen Haars hatte sich aus dem eleganten Knoten in ihrem Nacken gelöst, und er steckte sie zärtlich hinter ihrem Ohr fest, ehe er mit den Fingerspitzen über ihre Wange fuhr.
Er liebte ihr Gesicht, liebte es, die kleine Stupsnase und die vollen Lippen zu küssen – die Linie ihrer Augenbrauen nachzuzeichnen, die sich über ihren weit auseinander liegenden braungrünen Augen unter einem dichten Pony wölbten.
»Bei unserer ersten Begegnung hätte mir eigentlich sofort auffallen müssen, dass du ein Supermodel bist, meine süße Evie«, bemerkte er häufig. »Du bist so schön, so weiblich.«
Dieses Mal jedoch sagte er das nicht. Stattdessen schnippte er mit den Fingern. Wie von Zauberhand erschien ein Musikertrio und geigte alte Volkslieder, die sie für alle Zeiten an diesen magischen Augenblick erinnern würden.
Dann lächelte er. Es war jenes geheimnisvolle Lächeln, das sie bereits vor vielen Monaten in Venedig fasziniert hatte, als sie beide auf das Motorboot gewartet hatten, das sie zum Hotel Cipriani bringen sollte. Langsam zog er ein Lederetui von Tiffany aus seiner Westentasche, sank vor ihr auf die Knie und öffnete es.
Ein märchenhafter Diamant funkelte sie an. Sein Glanz und ihre Freudentränen ließen sein Gesicht ganz verschwommen erscheinen.
»Willst du mich heiraten, Liebling?«, fragte er ...
»Haben Sie den Bericht schon fertig?«, erkundigte sich ihr Chef.
Evie warf Davis Wentworth III einen vorwurfsvollen Blick zu, dass er auch nur hatte annehmen können, sie würde einen Bericht für zwölf Uhr nicht rechtzeitig fertig geschrieben haben! Nach sieben Jahren Zusammenarbeit mit seiner persönlichen Assistentin müsste er wissen, dass sie sich eher die Finger wund schreiben würde, als sich mit einem Auftrag zu verspäten. Selbst dann, wenn es sich um ein derart einschläferndes Dokument wie die neuesten Alarmvorschriften für einen der Stammkunden der Firma Wentworth Alarmsysteme handelte.
»Selbstverständlich ist er fertig«, erwiderte sie gekränkt. »Seit einer Stunde bereits liegt er auf Ihrem Schreibtisch.«
»Entschuldigen Sie, Evie«, murmelte er, mit den Gedanken offenbar ganz woanders. »Was für eine dumme Frage von mir.«
Er schlurfte in Richtung seines Büros, wobei ihm das offene Jackett über die breiten Hüften flatterte. Offenbar hielt er sich nicht an seine Diät, dachte Evie, als sie sah, wie seine bullige Gestalt sich durch den engen Raum zwischen den Aktenschränken und dem Schreibtisch der neuen Angestellten hindurchkämpfte.
Es war sinnlos, Davis fettarme Suppen und Sandwichs ohne Mayonnaise anstelle seiner geliebten Pies mit Schweinefleisch zum Mittagessen zu besorgen, da er zu Hause offenbar den ganzen Abend vor dem Kühlschrank verbrachte und sich voll stopfte. Der Arme, denn sie mochte ihn wirklich gern. Doch wenn er sich nicht bald zusammenriss, würde er seinen sechzigsten Geburtstag wohl kaum mehr erleben.
Evie blickte auf die Uhr. Bald würde sie ihm sein Mittagessen besorgen müssen. Sie sollte lieber mit den Tagträumereien über attraktive Männer aufhören, wenn sie bis um eins fertig sein wollte.
Ein letztes Mal dehnte sie ihre müden Finger, bewunderte ihren Verlobungsring und starrte auf die Tastatur.
Simons Heiratsantrag war wirklich sehr schön gewesen, auf die ihm eigene Art jedenfalls. Das »Carriage Lamp« galt als Luxus-Restaurant. Dennoch hatte ihr romantischer Abend nicht besonders stimmungsvoll angefangen, da zunächst noch Kinder anwesend waren. Einem Dreijährigen am Nachbartisch zuhören zu müssen, wie er gierig nach mehr Fis und mehr Fritten brüllte, war nicht sonderlich erhebend gewesen.
»Gott sei Dank sind sie weg«, hatte Simon erleichtert ausgestoßen, als die Familie samt Sprössling nach zwanzig Minuten kindlichen Wutausbruchs gegangen war. »Bei dem Lärm kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Auf was möchtest du dich denn konzentrieren?«, hatte Evie ohne sonderliches Interesse nachgehakt; denn sie grübelte ihrerseits darüber nach, ob die Serviererin wohl noch mit ihrer Vorspeise, einem Teller Krebsküchlein, auftauchen würde. Sie war kurz vorm Verhungern.
»Was ich dich fragen möchte«, erwiderte er nervös.
Evie reckte nicht mehr den Hals zur Seite, sondern blickte zu dem Mann hinüber, mit dem sie nunmehr seit anderthalb Jahren ein Verhältnis hatte. Simon schob seine Hornbrille die elegant geschwungene Nase hoch und atmete tief durch. Sein knochiges Gesicht war ernst, ebenso der Ausdruck seiner grauen Augen. Sehr ernst sogar.
Evie, der unheilvolle Situationen verhasst waren, hielt kurzfristig vor Angst die Luft an. Was würde er sagen wollen? Dass alles aus und vorbei war? Dass ihre Verbindung nicht mehr funktionierte? Die Erfahrung hatte sie gelehrt, sich auf nichts und niemanden zu verlassen. Sie hielt die Beziehung eigentlich für sehr gut, doch die härteste Lektion ihres Lebens war die gewesen, dass man niemals wissen konnte, was in einem anderen Menschen wirklich vorging. Bis zum bösen Erwachen.
»Was willst du mir denn sagen?«, erkundigte sie sich unwirsch. Mit ihrer Schärfe versuchte sie ihre bloßliegenden Nerven zu kaschieren.
Eine Weile lang schwieg Simon. Dann griff er in seinen neuen Blazer, holte ein kleines Etui heraus und öffnete es vorsichtig. Ein Diamantring ruhte auf einem Samtkissen. Der Diamant war vielleicht nicht ganz so groß wie der aus dem Ritz, gehörte jedoch in dieselbe Kategorie.
Evie starrte ihn an. Als Erstes schoss ihr durch den Kopf, dass dieser Verlobungsring nicht zu der Art Ringen passte, die ein Mann wie Simon kaufen würde. Guter Geschmack war ihm sehr wichtig, und dieser große, protzige Diamant hatte die Grenze des guten Geschmacks eindeutig überschritten. Da sie sich mit Diamanten nicht besonders auskannte, sann sie einen Augenblick über seinen möglichen Preis nach. Sie stellte sich den sonst immer so sparsamen Simon bei Weir’s vor, wo er mit dem Scheck wedelte und die Parole »Geld spiele keine Rolle« von sich gab. Mehrere tausend Pfund, mindestens.
Dann atmete sie mühsam ein. Ein Verlobungsring. Es war ein Verlobungsring.
»Simon!« Sie blinzelte überrascht.
»Evie«, sagte er und forschte in ihrem Gesicht nach zumindest ein klein wenig Ermutigung. »Willst du mich heiraten? Ich weiß, es kommt etwas plötzlich«, fuhr er, noch ehe sie antworten konnte, fort. »Aber, willst du ...?«
Sie errötete, einerseits vor Zufriedenheit, andererseits verlegen.
Wie hatte sie es nur nicht ahnen können? Sie hatte jene Frauen, die nicht wussten, wann ihr Freund die entscheidende Frage stellen würde, immer mit denen verglichen, die ihre Babys auf einer Toilette gebaren und danach hartnäckig behaupteten, sie hätten von nichts und niemandem eine Ahnung gehabt – und schließlich in Hysterie ausbrachen. Wie, in aller Welt, kann man so etwas denn nicht wissen?, hatte Evie immer gedacht.
Und nun traf es sie selbst. Nie und nimmer hätte sie angenommen, dass Simon sie heiraten wollte. Soviel zum Thema weiblicher Intuition.
»Willst du mich heiraten?«, fragte er besorgt.
Evie legte ihre Hand auf seine und lächelte ihn betörend an. »Aber natürlich, du Einfaltspinsel. Nur zu gerne!«
Er beugte sich über den Tisch und küsste sie flüchtig, seine Lippen kühl auf ihren. Dann setzte er sich hastig wieder hin und grinste.
»Gefällt dir der Ring?«, wollte er, auf einmal unsicher, wissen.
»Er ist wunderschön«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Vorsichtig nahm Simon den Ring aus dem Etui, hielt ihn in der Hand und blickte Evie erwartungsvoll an. Er machte keinerlei Anstalten, ihn ihr überzustreifen, und sie musste nicht erst auf ihre linke Hand blicken, um den Grund dafür herauszufinden.
Ohne hinzuschauen kannte sie ihn: der breite Goldreif, den sie seit siebzehn Jahren trug. Tonys Ring, ihr Ehering. Sie nahm ihn fast nie ab, außer bei Gartenarbeiten, damit sich keine Erde in der Gravierung festsetzte: Für immer. Sie hatte die Gravierung stets als besonders schön empfunden. Als romantisch.
»Möchtest du?«, wiederholte Simon leise mit Blick auf ihre Linke.
Evie nickte. Sie war den alten Ring gewohnt, seine Schwere, sein vertrautes Gefühl. Doch sie ließ ihn sanft vom Finger gleiten. Ihre Finger waren jetzt dünner als damals, als sie ihn während ihrer Schwangerschaft mit Rosie übergestreift hatte, und er ging leicht ab. Ohne Simon anzusehen, verstaute sie ihn umständlich in ihrer Handtasche. Er würde niemals verstehen, was dieser Ring ihr bedeutet hatte – keiner würde das. Wenn der Mann im Alter von einundzwanzig Jahren auf tragische Weise umkommt und man mit nichts weiter als einem winzigen Baby dasteht, dann sollte einem der Ehering das Kostbarste sein, was man besitzt – eine schmerzhafte Erinnerung an all das, was man verloren hat. In jenen dunklen Tagen, als Evie alles verloren glaubte, hatte sie für Symbole eigentlich keine Kraft gehabt. Doch die Umwelt erwartete, dass man Dinge wie einen Ehering oder glückliche Familienfotos als Trost empfand. Aus diesem Grund hatte sie niemals laut ausgesprochen, dass sie jegliche Erinnerung hatte wegwerfen und gegen die Sinnlosigkeit des Lebens hatte rebellieren wollen.
Simon wartete, wie gewohnt, geduldig. Evie sah in sein freundliches, hoffnungsvolles Gesicht und lächelte. Es war jenes Lächeln, bei dem sich ihre Grübchen zeigten.
Er hatte begriffen und ließ den Verlobungsring über ihren Finger gleiten.
»Ich bin so glücklich«, stammelte er.
Den ganzen Abend über kam er ihr so selig vor, als ob er im Lotto gewonnen hätte, dachte Evie, gerührt über sein idiotisches Grinsen.
Sie tranken die Flasche Weißwein komplett aus – wobei Simon den Löwenanteil für sich beanspruchte. Noch nie zuvor hatte sie ihn so viel trinken sehen, und es war lustig gewesen. Er hatte sie durch seine dicken Brillengläser angesehen, ihre Hand festgehalten und ihr gesagt, wie wunderbar sie sei.
»Ich bin sehr glücklich, dass du mich heiratest«, wiederholte er leicht lallend.
Evie hatte sein sandblondes Haar gestreichelt und es dort geglättet, wo es von seinen Fingern zerwühlt war.
Weder hatte es Musik noch Champagner noch einen elektrischen Schlag gegeben, als sich ihre Hände über den Tisch hinweg berührten. Simon Todd, ein vierzig Jahre alter Versicherungsfachmann mit einem hübsch eingerichteten Stadthaus samt Innenhof, ein fanatischer Squashspieler, war kein romantischer Held.
Er gehörte nicht zu jenen Männern, die mit einer unbekannten Schönen auf einem italienischen Segelboot flirteten oder auf dem Boden kniend um ihre Hand anhielten, während im Hintergrund die Mandolinen erklangen.
Andererseits gestand sich Evie lächelnd ein, dass auch sie kein Supermodel war. Es sei denn, diese waren heutzutage siebenunddreißig Jahre alt und besaßen Zellulitis, Schwangerschaftsstreifen und eine Tochter im Teenageralter.
Iman war zwar auch über dreißig und hatte einen Teenager zu Hause, aber sie zählte nicht. Sie war eine somalische Gazelle und schien aus einem edlen Stück Ebenholz geschnitzt zu sein. Schlank wie ein Schilfrohr besaß sie lange, sehr lange Beine und einen beneidenswert üppigen Busen. Evie hatte zwar keine langen Beine, doch was den Busen betraf, konnte sie durchaus mithalten.
Sie betrachtete ihre vernünftige Bluse von Marks & Spencer. Selbst wenn sie eine Lidkorrektur nötig haben sollte, um ihre Krähenfüße zu mildern, eine Brustoperation würde sie ganz sicher niemals brauchen. Körbchengröße 85 C war weiß der Himmel üppig genug.
Simon liebte ihren Busen. Nicht, dass er das jemals laut ausgesprochen hätte; doch seine Blicke, wenn sie ihr eng anliegendes Samtkleid trug, sprachen Bände. Ebendieses Kleid würde sie heute Abend zur Weihnachtsparty seiner Firma tragen.
Verdammt! Evie stöhnte auf. Fast hätte sie ihren Friseurtermin in der Mittagspause vergessen, um sich dort chic frisieren zu lassen. Nun würde sie doch nicht den Lunch für Davis besorgen können. Außerdem hatte sie noch so viel zu erledigen, bevor sie ihren Schreibtisch verlassen konnte – ganz abgesehen davon, dass sie bei ihrer neuen Assistentin nachsehen musste, ob diese nicht die Hälfte der Dateien gelöscht hatte, anstatt ein paar Briefe zu schreiben.
Als sie eine Stunde später geduldig beim Friseur wartete und dabei die Zeitschriften durchblätterte sowie die anderen beobachtete, grübelte sie darüber nach, ob sie nicht eine Veränderung vornehmen sollte. Nachdenklich strich sie sich über die hellbraunen Haare. Diese Frisur trug sie bereits seit einer Ewigkeit. Die Haare hingen von einem Mittelscheitel aus glatt nach unten, wobei sie sie meist zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammenband. Bei jeder anderen Frau hätte dieser Stil sehr streng gewirkt. Doch streng aussehen konnte man kaum, wenn man weit auseinander liegende grünbraune Augen und eine Stupsnase hatte – dazu Grübchen, die sich beim Lächeln auf den vollen Wangen zeigten.
Evie sehnte sich danach, rassig zu wirken. Sie träumte von slawischen Wangenknochen, einer gebogenen Nase und einem stählernen Blick, der ihre Umwelt augenblicklich zum Schweigen bringen konnte.
Doch zu einem Gesicht, das man allgemein als niedlich beschreiben würde, passte ein stählerner Blick einfach nicht. Dass sie dazu noch klein war und die Figur einer Miniaturvenus besaß, machte die Sache nicht besser – noch dazu eine Venus, die gerne Toastbrot mit Käse und Mayonnaisesandwichs aß. Wenigstens hatte Rosie die schlanke Figur ihres Vaters geerbt. Evie würde ihr niemals eine lebenslange Reiscracker-Diät und den allmorgendlichen Blick auf die Waage wünschen.
Sie hasste es, als niedlich zu gelten. Das war vielleicht einer der Gründe, weswegen sie oftmals eine eisige Miene aufsetzte, ihr »miesepetriges Gesicht«, wie Rosie es liebevoll nannte.
»Ich habe null Ahnung, weshalb du das immer machst«, sagte sie. »Du vermittelst der Welt ein vollkommen falsches Bild von dir.«
Rosie verstand sie einfach nicht, dachte Evie. Niedlich war gleichbedeutend mit dumm, was wiederum bedeutete, dass niemand einen ernst nahm, ja ausnutzte. Und das, hatte sie sich geschworen, sollte ihr niemals wieder passieren.
Seufzend stellte sie sich vor, sie sei zehn Zentimeter größer, gute sieben Kilo leichter und hätte eine elegante Kurzhaarfrisur, als eine Dame mit dem Profil einer Patrizierin am Empfangstisch vorbeilief. Sie trug einen beigen Cashmerepullover, ihre Haare glänzten in einem kurzen Pagenschnitt, und sie machte insgesamt den Eindruck von angeborener Selbstsicherheit.
Evie beobachtete sie im Spiegel, dann nahm sie sich persönlich kritisch unter die Lupe. Vielleicht würde ihr eine dunkelbraune Tönung gut stehen und ihre Haarfarbe zum Leuchten bringen. Genau, das war die Lösung ... etwas auszuprobieren! So oder so würde sie für ihre Hochzeit im September eine neue Frisur haben wollen, also war jetzt eine gute Gelegenheit, ein wenig damit zu experimentieren.
Sie stellte sie sich in einem aufwendig gearbeiteten weißen Seidenkleid vor. Ihre Haare trug sie in einem dunklen, leuchtenden Braun genau wie diese andere, und die Haarspitzen berührten die dreireihige Perlenkette, die er ihr extra zu diesem Anlass geschenkt hatte.
»Die Perlen gehörten meiner Mutter, sie sind ein Erbstück der Familie«, murmelte er mit seinem exotischen französischen Akzent. »Ich möchte, dass nun du sie trägst, mein Liebling ...«
»Hallo, Evie«, begrüßte ihre Friseurin Gwen sie beschwingt. »Was kann ich heute für Sie tun? Schneiden und föhnen oder eine Komplettverwandlung?«, scherzte sie.
Als sie das Wort »Verwandlung« hörte, zögerte Evie einen Augenblick.
»Schneiden und föhnen«, meinte sie hastig. »Heute Abend gehe ich auf eine Weihnachtsfeier. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und das Schneiden und Föhnen mit dem heutigen Anlass verbinden.«
»Sehr vernünftig«, stimmte Gwen ihr zu. »Gehen wir also zum Waschbecken.«
Vernünftig, dachte Evie verbissen, als die Dame in Cashmere, von Chanel No. 5 umnebelt, großspurig an ihr vorüberschwebte. Ich bin immer vernünftig. Das sollte eigentlich mein zweiter Name sein. Evie Vernünftig Fraser.
Während Gwen die Haare schnitt, plauderten sie.
»Was machen Sie über Weihnachten?«, erkundigte sie sich, als sie mit gebeugtem Kopf die Schere ansetzte.
»Rosie und ich fahren, wie immer, meinen Vater besuchen. Meine jüngere Schwester Cara wird ebenfalls kommen.«
»Wer von Ihnen beiden wird über dem Herd schwitzen?«, erkundigte sich Gwen. »Sie oder Ihre Schwester?«
»Mein Vater«, erwiderte Evie. »Seit dem Tod meiner Mutter kümmert er sich um das Weihnachtsessen. Er kann viel besser kochen als ich und entschieden besser als Cara. Sie bringt es kaum fertig, eine Tasse Tee aufzubrühen.«
Die Friseurin lächelte. »Da bin ich ähnlich. Ich lebe von Salaten. Wenn es denn mal etwas Warmes sein muss, dann sind Baked Beans meine große Stärke.«
»Ich bezweifle, dass Cara eine Büchse Bohnen aufkriegt«, meinte Evie. »Sie lässt sich das Essen ins Haus kommen.«
»Das kann nicht gut für sie sein«, warf Gwen ein.
Evie dachte an ihre Schwester: elf Jahre jünger und gute fünfzehn Zentimeter größer maß sie ohne Schuhe einen Meter fünfundsiebzig und hatte lange Zeit den Babyspeck, schon ihre Plage im Teenageralter, behalten. Sich während ihrer Ausbildung zur Grafikerin von Pizza und chinesischen Nudelgerichten zu ernähren, hatte auch ihrer Haut nicht gerade gut getan.
Sie könnte so hübsch sein, wenn sie mehr auf sich Acht geben und sich etwas schminken würde. Doch Cara hatte niemals irgendwelches Interesse daran gezeigt, das Beste aus sich zu machen, dachte Evie verzweifelt. Niemals hatte sie die Ratschläge ihrer älteren Schwester angenommen, um ihre Vorzüge zu betonen. Man denke nur an die sackartige Kleidung, die sie trug. Weite Militärhosen oder schrecklich lange Röcke, die sie zu weiten, hochgeschlossenen Oberteilen trug. Sie sah wie eine alte Revoluzzerin aus, die in ihrer Zeit stecken geblieben war. Evie hatte es aufgegeben, Cara zu verschönern; doch es tat ihr in der Seele weh, wie sich ihre Schwester unter all der schrecklichen Männerkleidung verschanzte.
Wenn sie sich nicht bald mehr Mühe gab, würde sie schnell zum alten Eisen gehören, endlose Wiederholungen von Ally McBeal sehen und dazu Eiskrem essen, während andere Menschen ein ausgefülltes Leben gestalteten. Caras Zukunft sah nicht sonderlich lustig aus, so viel konnte Evie aus eigener Erfahrung bestätigen.
»Was ist das für eine Weihnachtsfeier heute Abend? Geschäftlich oder zum Vergnügen?«, erkundigte sich Gwen und lenkte Evie von ihren Gedanken über Cara ab.
»Sie wird von der Firma meines Verlobten veranstaltet«, antwortete sie. Das Wort »Verlobter« hörte sich immer noch eine Spur aufregend an. Es war ein ausdrucksstarkes Wort und symbolisierte sowohl Romantik als auch Stabilität. Jemand, der einen so sehr liebte, dass er einen heiraten wollte.
»Verlobter! Ooooh!«, kreischte die Friseurin. »Sie haben sich verlobt? Meinen Glückwunsch! Aber wann denn? Zeigen Sie mir doch bitte Ihren Ring!«
Errötend hob Evie die Hand, damit Gwen das Juwel bewundern konnte.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich selber das vermisse«, sagte sie und bewunderte mit aufgerissenen Augen den großen Stein an Evies schmalem Finger. »Er ist wunderschön«, seufzte sie. »Aber wann haben Sie sich denn verlobt? Vor kurzem?«
»Ende September«, erwiderte Evie. »Als ich mir das letzte Mal die Haare schneiden ließ, waren Sie nicht da.«
»Erzählen Sie mir alles ausführlich«, verlangte Gwen. »Ich habe ein wenig Romantik in meinem Leben bitter nötig.«
Evie grinste. »Geht es uns nicht allen so?«
Ein wenig seltsam fand Evie es schon, sich in ihrem Alter noch zu verloben. So etwas passte zu eben Zwanzigjährigen, die seit ihrer Kindheit mit einer Barbie-Puppe in weißer Robe gespielt hatten und sich nach einer gigantischen Hochzeit samt siebzehn Brautjungfern sehnten. Gemäß ihrer konservativen Auffassung meinte sie, dass die meisten Bräute im reiferen Alter zurückhaltende cremefarbene Kostüme und artige Hüte trugen, außerdem die Hochzeit lediglich auf dem Standesamt begingen.
»Auf gar keinen Fall möchte ich albern wirken«, hatte sie Simon gegenüber geäußert. Albern zu wirken war ihre größte Sorge. In jeder Situation würdevoll zu erscheinen, gab sie sich alle Mühe. Das war das Einzige gewesen, worauf sie sich hatte verlassen können, als sie plötzlich, selbst fast noch ein Kind, als verwitwete Mutter dagestanden hatte. Man hätte sie leicht ausnutzen können, sie, eine niedliche, arglose Einundzwanzigjährige mit leuchtenden Augen und einem Lächeln auf dem Gesicht wie ein Kind in einem Spielwarenladen. Doch niemand wäre der ernsten, würdevollen und sehr aufmerksamen Frau zu nahe getreten, in die sie sich über Nacht verwandelt hatte. Genau hier hatte sich ihre »miesepetrige Miene« als sehr nützlich erwiesen, selbst wenn Rosie sie nicht ausstehen konnte.
»Werden Sie eine richtige Hochzeitsfeier veranstalten?«, erkundigte Gwen sich.
»Ja.«
Simon war noch nie verheiratet gewesen und wünschte sich ein Fest in großem Stil. Und Evie, eine heimliche Romantikerin, hatte sich die ganze Schleier-Hochzeitsmarsch-Konfetti-Zeremonie zugestanden.
Ihre Mundwinkel bogen sich bei dem Gedanken an das von ihr ausgesuchte, altmodisch chamoisfarbene Kleid aus einer der Brautzeitschriften nach oben. Die Zeitschrift hatte sie im Büro unter einem Stapel Hefter versteckt. Schmale Seidenbändchen kreuzten sich auf dem eng anliegenden Oberteil, und winzige Seidenröschen bevölkerten den Saum. Einfach ein Traum! Es fehlte einzig und allein der Ritter auf einem weißen Pferd. Bei ihrer ersten Hochzeit hatte man sie von ihrer Kleiderauswahl abbringen können: das sollte ihr nicht ein zweites Mal passieren.
»Rosie, ich bin zurück«, rief Evie, knallte die Haustür mit der Hüfte zu und ließ die durchnässte Einkaufstüte auf den Teppich im Flur fallen. Sie band sich das große Kopftuch ab und achtete darauf, dass nicht ein einziger Tropfen Regen ihre Frisur benetzte.
Es hatte eine Stunde mit aufgeheizten Wicklern gebraucht, um die lockeren Wellen entstehen zu lassen, die Gwen ihr empfohlen hatte. Evie wollte das Resultat nicht mit einer außerplanmäßigen Dusche ruinieren.
»Rosie«, rief sie erneut und etwas lauter. Keine Antwort. Evie streifte den Regenmantel ab und schleppte die Einkäufe in die Küche.
Die Hinterlassenschaften des Frühstücks ihrer siebzehnjährigen Tochter lagen immer noch auf dem Tisch: ein angebissenes Stück Toastbrot und ein mit Butter verschmiertes Messer lagen auf einem mit Krümeln bedeckten Teller, ein geöffnetes Glas Marmelade stand daneben.
Der erst halb geleerte Kaffeebecher würde sich zweifelsohne in Rosies Zimmer befinden, daneben noch etwa sechs andere solcher Tassen in verschiedenen Stadien des Schimmelbefalls.
»Das ist ein biologisches Experiment«, scherzte Rosie jedes Mal, wenn ihre Mutter sich über den pelzigen grünen Rand an den Tassen beschwerte, die sie von dem Nacht- und Schreibtisch holte, an dem Rosie ihre Hausarbeiten erledigte.
»Richtig, und das experimentelle Werkzeug wäschst du niemals aus«, beschwerte sich Evie, der es jedoch nichts ausmachte, ihrer hoffnungslos liederlichen Tochter hinterherzuräumen.
»Ich habe dich nicht darum gebeten«, verwies Rosie sie, die sich an die Beschwerden ihrer Mutter gewöhnt hatte.
»Dein Zimmer ist eine Gefährdung der Gesundheit«, widersprach Evie. »Deshalb räume ich auf.«
»Schimmel ist eine Art von Penicillin, wie kann er dann schlecht sein?«, würde Rosie zufrieden antworten. Gegen sie gewann man niemals. Ihr war einfach alles gleichgültig. Gleichgültigkeit beschrieb Rosie auch insgesamt sehr genau. Wer konnte wissen, wie sie sein würde, wenn sie die Schule abgeschlossen hätte und offiziell auf die große böse Welt losgelassen würde? Allein schon bei dem Gedanken schauderte es Evie.
Rosie sah jetzt bereits wie Anfang zwanzig aus: groß, schlank und auffällig, besaß sie ein ovales Gesicht, das ohne viel Mühe einen coolen, gelangweilten Ausdruck aufsetzen konnte. Mit ihren schwarzen Jeans und dem dreiviertellangen Ledermantel, den sie niemals abzulegen schien, ihren langen dunklen Haaren, die mit den tiefschwarzen Augen ihres Vaters harmonierten, schien sie doppelt so alt zu sein wie ihre Mitschülerinnen.
Sie war nur drei Jahre jünger als Evie damals, als sie das Baby bekam, und trotzdem war sie ihr etwa um zehn Jahre voraus. Teenagerjahre waren wie Hundejahre, dachte Evie. Für jedes normale Lebensjahr eines Erwachsenen schritten sie sieben Jahre voran.
Wenn Rosie die Aufnahme in dieselbe Schule für grafisches Design wie ihre so sehr bewunderte Tante Cara schaffen würde, hätte Evie keinerlei Kontrolle mehr über sie. Und das war ein erschreckender Gedanke. Dieser Zeitpunkt lag in nicht mehr allzu ferner Zukunft: Rosie musste nur noch sechs Monate zur Schule gehen. Sechs Monate, dann war es so weit.
Ihre geliebte Tochter so schnell erwachsen werden zu sehen, hatte Evie in ein Dilemma gestürzt: sollte sie Rosie erzählen, dass ihre Schwangerschaft der Grund für ihre Heirat mit Tony gewesen war? Oder würde die bisherige Version dadurch ruiniert werden, da Rosie ihren Vater wie einen Halbgott verehrte und es sie sehr treffen würde zu erfahren, dass die Romanze, die man dem neugierigen Kind geschildert hatte, gar keinem Märchen entsprach? Evie wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Sie bedauerte lediglich, dass sie die Abwesenheit eines Vaters für Rosie dadurch hatte wettmachen wollen, dass sie ihn in eine Art Held verwandelt hatte, auf den ein kleines Mädchen stolz sein konnte.
Wieder einmal traf es zu, dass Lügen einen immer einholen.
Seufzend räumte Evie die Einkäufe weg. Obwohl sie in Eile war, fand sie durchaus noch die Zeit, alles in Ordnung zu bringen. Dosen und Gläser einfach irgendwie in die Schränke zu stopfen, gehörte nicht zu ihren Gewohnheiten. Die alte Kiefernholzküche in ihrem kleinen Häuschen hätte ein Makler sicherlich als »kompakt« beschrieben, doch ihr reichte es. Die sorgfältige Nutzung vorhandenen Raums wurde durch ausziehbare Fächer und Regale ermöglicht. Außerdem hatte sie eine Schiene für Topfdeckel in einer der Klapptüren angebracht, damit kein Zentimeter Platz vergeudet wurde.
Nachdem sie alles verstaut hatte, bereitete sich Evie ein Käsesandwich und eine Tasse Zitronentee zu und nahm beides mit nach oben. Sie duschte nur kurz, damit die Feuchtigkeit ihre Frisur nicht zusammenfallen ließ, dann rieb sie sich mit Körperlotion ein und widmete sich ihrem Make-up.
Es traf sich gut, dass Simon ihr natürlicher Stil gefiel, dachte Evie, als sie etwas ockerfarbenen Lidschatten auftrug und ihre Wimpern braun tuschte.
Rosie, die Make-up wie eine Art Kriegsbemalung handhabte, wollte ihre Mutter ständig dazu überreden, kräftige dunkle Farben zu verwenden, um ihre grünbraunen Augen zu betonen.
»Etwas Kajal und ein goldener Lidstrich würden die bernsteinfarbenen Einsprengsel schön betonen«, hatte sie das letzte Mal gesagt, als sie auf dem Bett ihrer Mutter gelegen und dieser zugesehen hatte, wie sie sich für einen Abend mit Simon zurechtmachte.
»Dann sehe ich aus wie eine alte Schachtel, die dem Jugendlichkeitswahn verfallen ist«, hatte Evie eingewandt. »Das könnte ich nicht ertragen.«
Rosie seufzte. »Du bist noch keine hundert, Mama. Du bist siebenunddreißig. Die Aufsichtsbehörde für guten Stil würde dich sicherlich nicht verhaften, wenn du ausnahmsweise einmal nicht wie deine eigene Großmutter aussähest.« Rosie nahm den goldenen Lidstrich und zog eine schmale Linie entlang des unteren Wimpernrands. Das Ergebnis war erstaunlich: ihre Augen wirkten nun noch exotischer als sonst. »Sophies Mutter ist fünf Jahre älter als du und überlegt sich, ob sie sich ihren Bauchnabel piercen lassen soll.«
»Igitt!«, schnaubte Evie. »Etwas Schlimmeres kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie soll sie denn damit aussehen? Willst du mich etwa auch so haben – eine verschrumpelte Mutter mit bauchfreiem Top, blondiertem Haar und einem Knopf in der Nase?«
»Nicht doch, Mama!« Rosie entknotete ihre langen, schlanken, in schwarz gekleideten Glieder und erhob sich. »Aber es würde dir nicht schaden, wenn du dich mal ein wenig peppiger anziehst. Du bist zu jung, um bereits Stützstrümpfe und zweiteilige Nylonensembles mit Blümchenmuster zu tragen.«
»So etwas käme mir nie in den Sinn«, hatte ihre Mutter protestiert und ein Fläschchen pinkfarbenen Nagellack auf Rosie geworfen, die ihn geschickt auffing.
»Dann trägst du im Augenblick also durchsichtige, sexy Strümpfe?« Rosie ließ nicht locker.
Evie betrachtete die schwarzen blickdichten Strümpfe, die sie zu den seltenen Gelegenheiten trug, wenn sie ihren einzigen, bei den Knien endenden Rock anhatte.
»Touché«, meinte sie grinsend.
Daran musste Evie jetzt denken, als sie sich im Badezimmerspiegel betrachtete. In der Hand hielt sie den bereits geöffneten rosafarbenen Lippenstift. Vielleicht wirkte sie tatsächlich ein wenig langweilig. Siebenunddreißig waren keine hundert, das stimmte. Doch Evie hatte sich über so viele Jahre hinweg vernünftig benehmen müssen, dass sie ganz vergessen hatte, ab und an einmal etwas ausgelassen und locker zu sein. Das wiederum konnte Rosie nicht nachvollziehen. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie es war, als einundzwanzigjährige, verwitwete Mutter mit einem sechs Monate alten Baby dazustehen. Wenn man unter solchen Umständen nicht erwachsen wurde, ging man ganz einfach vor die Hunde. Außerdem hatte man nicht die Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, welche Strümpfe man anzieht oder welchen Lidstrich man benutzt.
Sie steckte den Lippenstift in ihre Make-up-Tasche zurück und durchsuchte den Badezimmerschrank nach einem bestimmten Rouge: er hatte eine dunkle Traubenfarbe. Vor längerem hatte sie ihn umsonst mit einer Zeitschrift bekommen, ihn jedoch nie benutzt.
Jetzt malte sie damit ihre Lippen an, bis ihr Mund dunkel leuchtete. Ängstlich befand sie es als zu übertrieben. Sie wischte ihn mit einem Stück Toilettenpapier wieder ab und trug ihre gewohnte Farbe auf.
Zehn Minuten später war sie fertig. Ihre Haare hingen in üppigen Locken auf die Schultern, wo sie den Kragen des langärmeligen Samtkleides berührten. Das Kleid war bis zur Taille körpernah geschnitten, weitete sich über den Hüften und endete auf mittlerer Wadenlänge. Evie trug transparente schwarze Strümpfe und Schuhe aus Krokodillederimitat. Heute Abend jedenfalls verzichtete sie auf blickdichte Strümpfe für alte Frauen. Als sie sich Rosies Begeisterung vorstellte, musste sie lächeln.
Evie hätte gerne einen schönen Anhänger gehabt, um den Halsausschnitt zu betonen. Doch seit sie den Diamantring besaß, wirkte all ihr übriger Schmuck lächerlich daneben. Das winzige Medaillon mit einem Opalstein sah an seiner dünnen Goldkette in Kombination mit dem Diamantring wie eine Puppendekoration aus. Also ließ sie ihren Hals frei.
Das Taxi war bereits vorgefahren, als sie aus dem Haus trat und das Telefon klingelte.
»Hallo, Mama. Ich bin bei Sophie«, meldete Rosie sich. »Und werde nicht allzu spät nach Hause kommen.«
»Was heißt ›nicht allzu spät‹?«, erkundigte Evie sich, während sie in den Flurspiegel schaute und sich etwas Wimperntusche von der Wange rieb.
Ihre Tochter seufzte. »Elf ... spätestens zwölf. Aber du bist ohnehin nicht daheim, oder? Wohin gehst du noch?«
»Zu Simons Weihnachtsfeier.«
»Was hast du an?«, wollte Rosie wissen. »Nichts allzu Kesses, hoffe ich doch. Wir wollen ja nicht, dass Simons Mitarbeiter einen kollektiven Herzinfarkt bekommen, wenn sie dich in deinem atemberaubenden Nichts von einem Abendkleid sehen!«
Evie runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wie sich Rosie über Simons Beruf lustig machte. Zugegeben, Versicherungskaufmann war nicht gerade der aufregendste Job der Welt und konnte kaum mit dem konkurrieren, was Tony für seinen Brotverdienst getan hatte. Andererseits konnte nicht jedermann ein Polizist sein, der für seinen Mut ausgezeichnet wurde. Und letztendlich war Tony so mutig gewesen, dass es ihn das Leben gekostet hatte.
Trotzdem wünschte Evie, Rosie würde ihren Vater nicht so wahnsinnig idealisieren und sich ein wenig mehr Mühe mit Simon geben.
»Ich besitze in meiner Garderobe kein atemberaubendes Nichts«, murmelte sie und dachte an ihren perfekt geordneten Kleiderschrank mit der kleinen Kollektion einer klassischen Ausstaffierung. Evie kaufte gerne wenig, dafür aber häufiger ein. Sie liebte die konservative Eleganz maßgeschneiderter Stücke. Heute trug sie das gewagteste Teil ihrer Garderobe. »Und wenn ich so etwas besäße, hättest du es dir sicherlich schon lange ausgeliehen, du kleines Miststück, du!«
»Mama, wenn du ein atemberaubendes Nichts in deiner Garderobe hättest, würde ich vor lauter Schreck einen Herzinfarkt bekommen!«, scherzte Rosie. »Was hast du denn nun an?«
»Mein schwarzes Samtkleid ... mit transparenten Strümpfen – nur falls du das bezweifeln solltest!«
Beide lachten.
»Ich habe mir die Haare machen lassen, sie sind jetzt ziemlich lockig«, fügte Evie noch hinzu.
»Toll!« Rosie schien begeistert. »Zeig’s ihnen, Mama! Bis später dann.«
Sie hängte auf. Evie seufzte. Lieber hätte sie es gesehen, wenn ihre Tochter jetzt zu Hause wäre und sie wüsste, was sie mit ihrer Zeit anfing. Doch Rosie war fast achtzehn Jahre alt: ihre Mutter konnte sie nicht mehr in einem Käfig halten.
Vielleicht fühlte sie sich deshalb so alt, dachte Evie, während sie ihre Handtasche und ihren Mantel nahm, weil sie eine bereits fast erwachsene Tochter hatte. Oder es war nur die bevorstehende Zukunft, wenn ihre geliebte Rosie den Wunsch äußern würde, auszuziehen. Dann würde es keine gemütlichen Abende mehr zusammen geben, wo sie fernsahen oder sich über einen Serienheld kringelig lachten; oder wo sie bis spät in der Nacht in der Küche saßen und quatschten.
Schon berührte sie mit der Hand den Türgriff und wollte sich gerade in das eisige Dezemberwetter stürzen, als sie innehielt. Evie rannte die Treppe wieder hoch, fand den traubenfarbenen Lippenstift, fuhr sich damit über die Lippen und steckte ihn in ihre Handtasche. Rosie hatte Recht. Sie musste etwas peppiger werden.
Am Eingang zum Empfangsraum des Westbury Hotels begrüßte Simon sie mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange. In seinem dunklen Anzug wirkten seine sandfarbenen Haare fast blond, und er sah auf eine blasse Art und Weise attraktiv aus. Evie überrollte eine Welle der Zufriedenheit, die sie gelegentlich verspürte, wenn sie daran dachte, dass sie ihn heiraten würde. Er war ein guter und freundlicher Mensch. Wenn Rosie das doch nur einsehen würde! Sie ließ eine Hand in sein Jackett gleiten und fühlte seine schlanke Figur unter dem weichen, weißen Baumwollhemd. Das viele Squashen hielt ihn wirklich fit.
»Ich bin so froh, dass du hier bist!« Er schien unendlich erleichtert.
»Bist du das?«, flüsterte Evie glücklich, während er ihr aus dem Mantel half. Den Raum fand sie hinreißend. Er war wie der Rest des Hotels in festlichem Grün und Gold dekoriert.
»Und ob!«, rief Simon aus. »Hugh Maguire, der Geschäftsführer, ist vor wenigen Minuten vollkommen betrunken eingetroffen. Seine Frau Hilda, die ihn bereits seit einer Stunde an der Hotelbar erwartet, findet das überhaupt nicht amüsant. Aber du wirst mit ihr vernünftig reden. Sonst kann es nämlich keiner. Sie ist so schwierig.«
Evies Hochstimmung verflüchtigte sich.
»Ich kenne sie doch nicht einmal«, zischte sie in Simons Ohr. Aber er führte sie bereits quer durch den Raum, wo eine Matrone in einem schwarzen Zelt aus Seide mit eisigem Gesichtsausdruck neben einem imposanten Weihnachtsbaum stand.
»Hilda«, meinte Simon in seiner lieblichsten Kundenstimmlage. »Das ist Evie Fraser, meine Verlobte. Sie wollte Sie unbedingt kennen lernen.«
Evie biss die Zähne zusammen und versuchte den Eindruck zu vermitteln, höchst interessiert an Hilda Maguire zu sein. Letztere hingegen machte den Eindruck, als ob sie niemanden kennen lernen wollte – mit Ausnahme eines mafiosen Killers vielleicht, der versprach, sich um ihren streunenden Ehemann zu kümmern.
»Hallo«, grüßte Evie herzlich.
Hilda murmelte etwas Unverständliches und hielt den Blick weiterhin auf eine Gruppe von Leuten gerichtet, die neben dem Buffet stand.
Da Simon nicht viel ausplauderte, wusste Evie nichts über seinen Firmenklatsch. Hildas Mann jedoch mit einem riesigen Glas Whisky neben einer attraktiven jungen Frau zu sehen, der er lauthals offenbar anzügliche Witze erzählte, ließ keinen Zweifel daran, dass Hugh es vorzog, sans Hilda zu feiern.
Während seine Frau neben ihr stand und wie ein asthmatisches Rhinozeros schnaufte, konnte Evie ihm das plötzlich gar nicht mehr verübeln.
»Ist das nicht eine zauberhafte Feier?«, erkundigte sich Evie und wies in die Runde. Etwa vierzig Leute standen herum, nippten an Drinks, knabberten an Canapés und mieden Hilda wie die Pest.
»Ich hasse Betriebsfeste«, verkündete diese nun, während ihr Blick immer noch Hugh fixierte. Hugh war ein attraktiver Mann mit grauem Haar, der sein Glas innerhalb von zwei Sekunden geleert hatte und sich nun suchend nach einer Bedienung umsah.
»Sie bieten eine gute Gelegenheit für die Angestellten, sich auch einmal persönlich kennen zu lernen – und natürlich deren bessere Hälften ebenfalls«, meinte Evie und war sich der Tatsache bewusst, dass sie sich wie ein Lehrbuch zum Thema Betriebsklima anhörte.
Quer durch den Raum hörte man Hugh loswiehern, während er eine behaarte Hand um die in Nappaleder gekleidete Taille seiner Begleiterin legte.
Hilda schnaubte.
Etwas lahm fuhr Evie in ihrer Konversation fort.
»Ihr Kleid hat es mir wirklich angetan«, log sie. »Woher haben Sie es?«
»Musste es anfertigen lassen«, schnappte Hilda zurück. »Ich habe Probleme mit meiner Schilddrüse.«
Was sollte man darauf antworten? »Äh ... möchten Sie noch einen Drink?«, erkundigte sich Evie verzweifelt. Sie jedenfalls hätte einen gebrauchen können. Simon hatte sie, ohne nach ihren Wünschen zu fragen, einfach stehen lassen, dachte sie verärgert. Das war also aus dem Abend geworden, an dem sie, bei ihm eingehängt, ihren Verlobungsring hatte vorzeigen wollen.
Und jetzt saß sie hier mit Hilda Maguire fest, während alle anderen einen großen Bogen um sie machten. Aus sicherer Entfernung warf Simon Evie einen aufmunternden Blick zu. Sie starrte zurück. Wenn sie erst einmal ihre Hände frei hätte, würde sie ihn umbringen!
Als eine Serviererin in Uniform an ihnen vorüberschwebte, winkte Evie ihr zu und nahm sich ein Glas von deren Tablett.
»Das ist Glühwein«, informierte die Bedienung sie.
»Danke!« Evie ließ die warme, würzige Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen. Er schmeckte wunderbar, wie destillierte schwarze Johannisbeeren mit ein wenig Zimt. Sie nahm sich vor, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Hilda«, schlug sie vor und holte noch ein Glas. »Versuchen Sie doch dies einmal. Es wird Wunder wirken.«
Hilda drehte sich zu ihr um, und Evie bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte: dicke, ungeweinte, glitzernde Tränen hinter den ungeschminkten Wimpern. Evie lächelte. Es war das erste wirklich ernst gemeinte Lächeln in Richtung dieser Dame.
»Kommen Sie, er schmeckt wirklich gut. Und Sie könnten ein wenig Betäubung vertragen«, drängte Evie.
»Danke«, murmelte Hilda. Sie trank ihr Glas in riesigen Schlucken leer und holte sich gleich darauf Nachschub. »Alle anderen tun so, als ob sich hier gar nichts abspielen würde«, bemerkte sie bitter und fixierte ihren Mann. »Sie haben immerhin den Mut, es laut auszusprechen! Keiner sonst hier würde ein Wort darüber verlieren, denn er ist schließlich der Chef und alle sind damit beschäftigt, ihm in den Hintern zu kriechen, damit sie ihren Job behalten. Was für ein Chef er doch ist!«
Hilflos zuckte Evie mit den Schultern. »Die Leute wissen einfach nicht, wie sie sich verhalten sollen, Hilda«, meinte sie so beschwichtigend wie möglich. »Sicher kriechen ihm nicht alle in den Hintern – es ist nur furchtbar peinlich für sie.«
Sie merkte, wie Hildas Unterlippe zu zittern begann, und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. In einer Ecke des großen Raumes stand ein unbesetztes breites Sofa, und sie steuerte mit ihrer Begleitung darauf zu. Hilda ließ sich darauf plumpsen und durchsuchte eilig ihre Handtasche.
»Sie sind so liebenswürdig zu mir«, nuschelte sie mit tränenerstickter Stimme, während sie ein Taschentuch hervorzog.
Evie grinste verlegen und dachte an all die Leute, die über die Jahre hinweg mit ihren Problemen zu ihr gekommen waren. Menschen suchten ihren Rat, ob es nun um berufliche oder private Dinge ging.
Irgendwann kamen alle Kolleginnen bei den Wentworth Alarmsystemen an Evies Schreibtisch. Meist gaben sie vor, einen Tampon oder etwas Kleingeld zu brauchen; aber eigentlich suchten sie eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnten. Es amüsierte Evie, dass einige von ihnen kaum jünger als sie selbst waren und sie doch als eine ältere, mütterliche Figur wahrnahmen. Rosie hatte Recht: sie war frühzeitig gealtert.
Nachdem sie sich zwei Stunden lang mehr Details der Ehe von Hilda mit Hugh hatte berichten lassen, als sie zu wissen wünschte, setzte sie Hilda in ein Taxi und winkte ihr zum Abschied nach.
»Du warst wunderbar«, sagte eine Stimme.
Sie wirbelte herum und sah Simon neben sich. Sein Schlips war etwas verrutscht und sein Haar durcheinander. Er sah aus, als ob er etwas zu viel Glühwein zu sich genommen hätte.
»Nun, du jedenfalls warst keine große Hilfe«, konterte sie, denn sie war immer noch verärgert darüber, dass er sie den ganzen Abend allein gelassen hatte bei ihrem Samariterdienst.
»Tut mir Leid, Evie!« Simon gab sich Mühe, etwas verloren zu wirken, was ihm jedoch nicht gelang. »Du hast ein solches Händchen mit Menschen. Ich habe allen versichert, dass du in der Lage sein würdest, Hilda zu beschwichtigen.«
»Hmm.« Selbst ein wenig beschwichtigt ließ sie ihn ihre Hand ergreifen. Gemeinsam gingen sie zur Party zurück. Es war noch nicht einmal zehn Uhr und noch ausreichend Zeit, sich zu amüsieren.
Doch als sie mit Simons engsten Kollegen zusammenstand, wurde ihr schon bald klar, dass, während sie sich hatte anhören müssen, was für ein toller Fang Hugh Maguire vor zwanzig Jahren gewesen war, die anderen sich alle vergnügt und mit Glühwein Mut angetrunken hatten.
Nachdem sie denselben Witz zweimal gehört hatte – und alle lachten beim zweiten Mal ebenso herzlich wie beim ersten – entschied Evie, dass sie nicht in der Stimmung war, die einzig Nüchterne der ganzen Gesellschaft zu sein.
Sie zog Simon zur Seite und flüsterte: »Ihr bleibt jetzt besser unter euch! Ich bin müde, und nachdem ich stundenlang mit Hilda geredet habe, bin ich nicht mehr in Feierstimmung. Ich gehe nach Hause.«
Halb hoffte sie, er möge darauf bestehen, dass sie blieb. Doch friedfertig wie er war, nickte Simon und meinte, er würde sie zum Taxi begleiten.
»Es tut mir Leid, dass das kein so schöner Abend für dich geworden ist, Evie«, entschuldigte er sich, als sie draußen vor dem Hotel warteten. »Wenn du nicht aufgetaucht wärst, hätte ich mir überhaupt nicht zu helfen gewusst. Hugh hat mittlerweile eindeutig ein Alkoholproblem, und wir waren alle davon überzeugt, dass Hilda in die Luft gehen würde, wenn sie ihn derart angesäuselt erlebte.«
»Und derart flirtend«, bemerkte Evie sarkastisch.
»Das auch«, gab Simon zu. »Aber du warst einfach großartig.« Er belohnte sie mit einem ausgiebigen Kuss auf die Lippen.
Als seine Lippen ihre berührten, fühlte Evie die ganze Anspannung des Abends weichen. Sie schlang ihre Hand um seinen Hals und küsste auch ihn leidenschaftlich. Sein Körper presste sich an ihren, ihre Arme wanderten unter seinen Mantel, umarmten seine Taille.
»Komm mit mir nach Hause, Simon«, wisperte sie leise. »Ich werde dich über Weihnachten drei Tage lang nicht sehen und dich vermissen. Für heute Abend jedenfalls hast du deine Schuldigkeit hier getan.«
Entsetzt schreckte er zurück. »Jetzt kann ich noch nicht gehen«, meinte er. »Hugh und die anderen leitenden Angestellten feiern weiter. Ich kann unmöglich vor ihnen gehen, das wäre absolut unhöflich.«
Verletzt trat Evie zurück, wickelte sich den Mantel um den Körper und verschränkte die Arme. »Hugh ist betrunken«, schnaubte sie verärgert. »Er würde es kaum bemerken, wenn das ganze Hotel verschwinden würde, von dir einmal ganz abgesehen. Ich sehe nicht ein, weshalb du jetzt nicht gehen kannst. Aber ...« Sie wandte sich ab, als das Taxi elegant vorfuhr. »... mach, was du willst!« Sie spürte, wie sie zu kochen anfing. Und sie wollte es unbedingt vermeiden, in Tränen auszubrechen.
Der Türsteher, der diskret ihre Umarmung ignoriert hatte, öffnete den Wagenschlag.
»Ach, Evie«, stöhnte Simon entnervt.
Ohne sich noch einmal umzusehen, stieg sie in das Taxi.
»Wir sprechen uns morgen«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Viel Spaß noch heute Abend!«
Genau im richtigen Augenblick schloss der Gentleman die Tür, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
»Wohin soll es gehen?«, erkundigte sich der Fahrer.
Evie nannte ihm die Adresse und sank traurig in den Sitz zurück. Keine schöne Party!
Während der Wagen die Stadt durchquerte, blickte Evie aus dem Fenster und beobachtete, wie die Lichter verschwommen an ihr vorbeizogen. Sie war müde, aber so müde nun auch wieder nicht. Wenn Simon sie gebeten hätte zu bleiben, wäre sie jetzt noch auf dem Fest. Doch das hatte er nicht getan. Und er hatte Angst zu gehen, weil er dadurch jemanden vor den Kopf stoßen könnte. Sie zu verletzen machte ihm offenbar nichts aus, dachte sie wütend.
Welcher Mann würde seine Verlobte einen halben Abend lang einen Babysitterjob verrichten und sie sich dann verabschieden lassen, nachdem sie gerade einen sehr erotischen Augenblick miteinander verbracht hatten?
»Mein Liebling, mit dir würde ich bis ans Ende der Welt gehen. Natürlich verlassen wir jetzt dieses langweilige Fest! Ich habe in meinem Penthouse ein leichtes Abendessen für uns vorbereitet.«
Er drückte ihre Hand etwas länger als gestattet an seine Lippen und strich mit ihnen zärtlich über ihre seidige Haut. Evie spürte, wie ihr Herz bei seiner Berührung schneller schlug. Sie wusste genau, was sie erwartete, wenn er sie in sein luxuriöses Penthouse mitnahm: er würde sie verführen. Und sie, die seine Annäherungen sowohl in Paris als auch auf der Yacht abgewehrt hatte, wusste nur zu gut, dass sie ihm dieses Mal nicht würde widerstehen können.
Ihr attraktiver, charmanter Prinz hatte sie mit seinen dunkel schmelzenden Augen bereits seit Wochen entkleidet. Er hatte sie mit heißem Blick über den Roulettetisch hinweg verfolgt, als sie mit dem Botschafter während des Balls tanzte. Jetzt würde er sie tatsächlich ausziehen. Seine Hände würden vorsichtig die winzigen Knöpfchen ihres St. Laurent-Kleides öffnen und es an ihrem schmalen Körper hinuntergleiten lassen. Er würde die Kurven ihrer Brüste und ihre langen, eleganten Beine bewundern.
»Werden Sie mich mit Ihrer Gesellschaft beehren?«, fragte er erneut, während sich seine Augen in ihre Seele bohrten ...
»Das macht fünfzehn Pfund«, verkündete der Taxifahrer. Evie zahlte und marschierte auf ihren Eingang zu. Sie fühlte sich wie ein Aschenbrödel, das man zu früh nach Hause geschickt hatte.
Rosie war natürlich um halb elf noch nicht eingetroffen. Vermutlich würde sie bis zwölf bleiben, da sie ihre Mutter sicher nicht vorher zurück erwartete. Etwas selbstmitleidig machte sich Evie eine Tasse Milch in der Mikrowelle warm und nahm sie mit nach oben. Zehn Minuten später stieg sie ins Bett, nachdem sie ihre Kleidung weggeräumt und ihr Gesicht sorgfältig gereinigt und eingecremt hatte.
Als sie mit ihrem gemütlichen gestreiften Schlafanzug aus aufgerauter Baumwolle zwischen die Laken kroch, war es kalt. Den Schlafanzug konnte man nicht als Reizwäsche bezeichnen, doch er war schön bequem, was sich als Vorteil erwies; denn es dauerte seine Zeit, ehe das elektrische Laken sich aufgeheizt hatte.
Als ihr endlich warm war, hielt sie in einer Hand die Tasse Milch, in der anderen den Roman von Lucy De Montford und machte es sich zum Lesen bequem.
Monique hatte dem Herzog gerade gesagt, dass sie ihn nicht heiraten konnte; denn sie war immer noch in den extravaganten spanischen Piraten verliebt, der sie und ihre Magd auf ihrer Reise über den Atlantik entführt hatte. Evie wusste nicht mehr, wie sie Moniques Leidenschaften gestern Abend hatte weglegen können. Nur der Gedanke daran, dass sie am nächsten Tag sehr früh aufstehen musste, hatte sie das Licht gerade in dem Augenblick ausknipsen lassen, als es so aussah, als ob die Heldin sich ihrer riesigen Familie würde beugen und einen Kompromiss eingehen müssen. Monique weinte bitterlich in dem Turmzimmer, in das der Herzog sie gesperrt hatte. Doch Evie wusste, dass sie sich dort nicht lange aufhalten würde. Sie war in ein zartes weißes Gewand mit lauter Seidenschleifchen gehüllt. Und niemand trug in Lucy de Montfords Büchern Seidenschleifchen, wenn sie angezogen bleiben wollte. Heute Abend wollte Evie falls nötig bis drei Uhr früh lesen, um herauszufinden, was geschehen würde.
Evie konnte sich gut vorstellen, dass der Herzog selbst zum Turmzimmer kommen und Monique besitzen würde, Heirat hin oder her. Der spanische Pirat würde natürlich auch auftauchen. Selbstverständlich würde es ein Duell geben ...
Sie stellte sich Simon vor, wie er sich ihretwegen duellierte, das Fechtschwert vor sich, während er einen schurkischen Herzog abwehrte, der es einzig auf ihren Körper abgesehen hatte. Doch vielleicht entsprach das nicht ganz den Tatsachen. Simon konnte kein Blut sehen und wurde geradezu hysterisch. Als Rosie ihr Schienbein beim Inline Skating verletzt hatte, hätte Evie um ein Haar zwei Patienten versorgen müssen: Rosie, die versuchte, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen, und Simon, der fast in Ohnmacht gefallen wäre, als Rosie ihre zerschlissenen Jeans aufgerollt hatte, um nach der Wunde zu sehen.
Bei weiblicher Unpässlichkeit verhielt er sich nicht anders. Als einziges Kind wurde er von einer Mutter großgezogen, die seine Empfängnis praktisch als einen überirdischen Akt darstellte. Simon hatte keinerlei Erfahrung mit weiblichen Problemen. Evie konnte sich bei einer schmerzhaften Periode nicht den Bauch halten, ohne dass Simon seinen Blick abwandte, als ob er auf ein beschämendes Geheimnis gestoßen wäre. Wo sollte sie nur ihre Tampons verstecken, wenn sie einmal verheiratet wären? Vermutlich in einem anderen Zimmer in einer braunen Papiertüte.
Ein Duell kam also keinesfalls in Frage. Um ihre Ehre zu retten, könnte er jemanden erschießen, dachte sie. Der Schuss würde aus einer solchen Entfernung erfolgen, dass er ihn nicht weiter stören müsste. Evie nippte an ihrer Milch und ließ sich von der Welt des siebzehnten Jahrhunderts gefangen nehmen, als Männer noch Männer waren und Frauen sich an dieser Gegebenheit erfreuten.
Pastinaken! Sie hatte die Pastinaken vergessen, fiel Olivia plötzlich ein. Stephen würde verrückt werden, wenn sie beim Weihnachtsessen fehlten. Er liebte sie, besonders wenn sie püriert an Babynahrung erinnerten, dachte sie zärtlich.
Es war bereits kurz nach neun am dreiundzwanzigsten Dezember, und der Supermarkt würde gleich schließen. Wenn sie nicht bald an der Kasse stünde, würde man sie vermutlich ohne ihre Einkäufe durch die elektronisch gesicherten Türen in die Kälte hinausdrängen. Doch Olivia, die normalerweise lieber im Boden versunken wäre, als die Geduld der Angestellten des Supermarkts extra zu strapazieren, musste einfach noch Pastinaken holen. Der arme Stephen hatte drei ganze Tage bei ihren Eltern zu verbringen. Daher wollte sie ihm wenigstens seine Lieblingsspeisen servieren.
Entschlossen ließ sie ihren vollgepackten Einkaufswagen stehen und eilte in die Gemüseabteilung zurück. Ihr knöchellanger indischer Rock und ihre langen Haare wehten ihr hinterher.
Fast wäre sie mit einem anderen Späteinkäufer zusammengeprallt, als sie mit hoher Geschwindigkeit bei den Blumen um die Ecke bog, und um ein Haar hätte sie eine ältere Dame überrannt, die ihre Hand nach einer Dose Katzenfutter ausgestreckt hatte.
»Entschuldigung«, keuchte Olivia und drosselte ihr Tempo.
Offenbar hatte es den Tag über einen Ansturm auf Pastinaken gegeben; jedenfalls lagen auf dem Boden der Kiste lediglich ein paar verschrumpelte, steinalte Exemplare, die vermutlich nach gekochten alten Socken schmecken würden.
Zum x-ten Mal verfluchte Olivia den Grund dafür, dass sie erst so spät zum Einkaufen gekommen war und nicht mehr ihren gewohnten Grünzeughändler hatte aufsuchen können, um Delikatessen und Gemüse für die Weihnachtsfeiertage zu besorgen. Ihr Vater liebte die dicken spanischen, in Öl eingelegten Oliven, doch sie hatte sie im Supermarkt nirgendwo auftreiben können. Gemäß der vorweihnachtlichen Panik waren die Regale fast leer geräumt. Nun hatte sie lediglich ein paar steinalte Pastinaken, die Stephen verabscheuen würde. Irgendwie müsste sie sie wieder zum Leben erwecken. Weshalb schließlich war sie eine Teilzeit-Haushaltslehrerin, wenn sie in der Küche nicht etwas wirklich Leckeres hinbekam?
Olivia angelte sich eine Hand voll runzeliger Exemplare, wog sie aus und gelangte gerade rechtzeitig zu ihrem Wagen zurück, um die gelangweilte Lautsprecheransage zu hören, der Supermarkt werde nun geschlossen und alle Kunden sollten sich zu den Kassen begeben. Es handelte sich um den allerletzten Aufruf.
Ein wenig kam es ihr wie auf dem Flughafen vor, wenn man den eigenen Flug als nun geschlossen vernahm. Olivia schnappte sich im Vorbeigehen noch ein Paket Mini-Mars und warf es auf den Berg ihrer Einkäufe. Was würde sie darum geben, jetzt in einem Flugzeug zu sitzen und irgendeinen exotischen Ort anzusteuern, wo man Weihnachten nicht feierte und die Temperatur nur selten unter dreißig Grad abkühlte.
Einen Augenblick lang träumte sie von mit Palmen bewachsenen Stränden, weißem Sand und himmelblauem Wasser, das so klar war, dass man die kleinen silbernen Fische in der Nähe des Ufers sehen konnte. Stephen und sie lagen auf Liegestühlen dicht am Wasser und lauschten den Wellen, während die warme Sonne ihre nackten Glieder wärmte. Sasha spielte im Sand, ihr Spielzeug lag ausgebreitet neben ihren dicken Beinchen. Sie trug einen rosa Badeanzug, ihr weißblondes Haar war zu niedlichen Rattenschwänzen geflochten, und ihr engelhaftes Gesichtchen lächelte zufrieden.
Doch das waren leider Hirngespinste. Zu dritt hatten sie seit fast anderthalb Jahren keinen gemeinsamen Urlaub mehr gemacht, weil Stephen mit der Fusion zwischen der Celtic International Incorporated Bank und einer deutschen Großbank bis über den Kragen in Daten steckte.
Als hochrangiger Mitarbeiter im Bereich Informationstechnologie sollte man eigentlich über eine Heerschar von Assistenten verfügen, die einem die Drecksarbeit abnahmen. Doch Stephens Einsatz und Perfektionismus verlangten, dass er über jeden einzelnen Schritt informiert werden wollte – an Wochenenden, nachts, wann auch immer.
»Das kann ich keinem anderen überlassen«, würde er mit ausdrucksloser Miene murmeln. Seine attraktiven, etwas dunkelhäutigen Züge wirkten bereits weit entfernt, wenn er seinen schlanken Samsonite-Koffer für die nächste Auslandsreise packte. »Ich bekomme mein Gehalt nicht umsonst, weißt du! Es ist hart für dich, Olivia, aber wir müssen Abstriche machen, wenn wir vorankommen wollen.«
Ihr jedenfalls hingen diese Sorte Abstriche zum Hals heraus. Ihr Apartment in Blackrock mochte zwar dank Stephens ständig steigender Bezahlung einer Nachher-Fotografie eines Innenausstatter-Magazins ähneln, doch sah sie ihn seltener und seltener, während sich gleichzeitig seine Arbeitslast erhöhte. Olivia verbrachte ihre Geburtstage und Jahrestage alleine und fragte sich, ob sie wohl jemals ein normales Wochenende mit Familie haben würde, an dem Stephen nicht mindestens ein Mal in sein Büro in der Innenstadt jagte. In den zwölf Jahren ihrer Ehe hatte sie sechs Hochzeitstage alleine verbracht. Und kurzfristig anberaumte Besprechungen in Stephens Terminplan hatten zur Folge gehabt, dass er an drei ihrer Geburtstage nicht bei ihr gewesen war.
Die lang ersehnte Spanienreise im Juli hatten sie absagen müssen, als in der Amsterdamer Filiale eine Krise ausgebrochen war. Und die zwei Wochen in der Dordogne im vergangenen Jahr waren ständig durch das schrille Klingeln von Stephens Handy gestört worden.
Olivia gäbe sich auch ohne den teuren Fußboden aus Schwedenhölzern und der supermodernen Küche zufrieden, wenn sie nur jemanden hätte, mit dem sie ihr Zuhause öfters teilen könnte. Sie vergötterte Sasha, aber am Ende einer Woche, die sie nur mit ihrer Tochter als Gesprächspartner verbracht hatte, sehnte sich Olivia nach einer Unterhaltung mit Erwachsenen. Ein Ferngespräch aus einem Hotel mit »natürlich vermisse ich dich« konnte einfach die eheliche Zweisamkeit auf dem Sofa, wo er ihr während einer vertrauten Plauderei die Füße massierte, nicht ersetzen. Aber er liebte seine Arbeit und war bereit, seine Karriere unter allen Umständen voranzutreiben. Sogar auch dann, wenn er deshalb mehr Zeit woanders als zu Hause verbrachte.
Manchmal begriff Olivia seine Einstellung einfach nicht. Keine Arbeit der Welt hätte sie dazu gebracht, Stephen und Sasha über Wochen allein zu lassen. Auch dann nicht, wenn ein dickes Konto, zahlreiche Zusatzleistungen, ein luxuriöser BMW und eine Firmenkarte von American Express lockten.
Vielleicht war es der Tatsache zuzuschreiben, dass ihr Teilzeitjob als Haushaltslehrerin in ihr einfach nicht den brennenden Wunsch nach einer eigenen Karriere auslöste.