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Eine Kleinstadt und ihre Geheimnisse … Der mitreißende Irlandroman »Die Frauen von Ardagh’s Crown« von Cathy Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Das »Kenny’s« ist im irischen Städtchen Ardagh’s Crown als Kaufhaus der Wunder bekannt – doch das hat nichts mit Magie zu tun, sondern mit drei tüchtigen Frauen. Allen voran Ingrid, die liebevolle Besitzerin des »Kenny’s«, die ihr Leben ganz der Familie gewidmet hat. Aber plötzlich muss sie entdecken, dass alles, was sie für unerschütterlich hielt, in Wahrheit voller Zerbrechlichkeit ist. Ähnlich geht es auch der Verkäuferin Charly, die für jeden Kunden genau das Richtige findet – doch in ihrem eigenen Leben scheint sie immer nur zu kurz zu kommen. So viele kleine Geheimnisse … und einzig die lebenserfahrene Star, die kostbare Wandteppiche für das »Kenny’s« webt, scheint sie alle zu kennen. Mit ihrer Hilfe könnten Ingrid und Charly es endlich schaffen, mutig zu sein – doch werden sie auch das Kaufhaus retten können, als es plötzlich von der Schließung bedroht ist? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der irische Roman »Die Frauen von Ardagh’s Crown« von Bestsellerautorin Cathy Kelly wird Fans von Jenny Colgan und Julie Caplin begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 748
Über dieses Buch:
Das »Kenny’s« ist im irischen Städtchen Ardagh’s Crown als Kaufhaus der Wunder bekannt – doch das hat nichts mit Magie zu tun, sondern mit drei tüchtigen Frauen. Allen voran Ingrid, die liebevolle Besitzerin des »Kenny’s«, die ihr Leben ganz der Familie gewidmet hat. Aber plötzlich muss sie entdecken, dass alles, was sie für unerschütterlich hielt, in Wahrheit voller Zerbrechlichkeit ist. Ähnlich geht es auch der Verkäuferin Charly, die für jeden Kunden genau das Richtige findet – doch in ihrem eigenen Leben scheint sie immer nur zu kurz zu kommen. So viele kleine Geheimnisse … und einzig die lebenserfahrene Star, die kostbare Wandteppiche für das »Kenny’s« webt, scheint sie alle zu kennen. Mit ihrer Hilfe könnten Ingrid und Charly es endlich schaffen, mutig zu sein – doch werden sie auch das Kaufhaus retten können, als es plötzlich von der Schließung bedroht ist?
Über die Autorin:
Cathy Kelly arbeitete als Redakteurin, Filmkritikerin und »Kummerkastentante« bei der Dubliner Sunday World, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Am liebsten schreibt sie warmherzige, einfühlsame Geschichten über ihre irische Heimat. Cathy Kelly lebt mit ihrer Familie und ihren drei Hunden in County Wicklow.
Bei dotbooks veröffentlichte Cathy Kelly auch ihre Romane:
»Heimkehr nach Irland«
»Der Duft von irischem Lavendel«
»Eine irische Hochzeit«
»Die irischen Freundinnen«
»Der Glanz von irischem Klee«
»Wie küsst man einen Iren?«
»Wie angelt man sich einen Iren?«
»Wie heiratet man einen Iren?«
»Die Schwestern von Ballymoreen«
»Die Freundinnen von Cloud’s Hill«
Die Website der Autorin: www.cathykelly.co.uk/
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eBook-Neuausgabe Juni 2023
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Once in a Lifetime« bei Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Kann denn Küssen Sünde sein?« bei Blanvalet.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2009 by Cathy Kelly
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-554-5
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.
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Cathy Kelly
Die Frauen von Ardagh’s Crown
Roman
Aus dem Englischen von Uta Hege
dotbooks.
In Liebe für Dylan, Murray und John
Star Bluestone hatte sich ihr Leben lang mit Bienen unterhalten. Sie plauderte auch mit ihren Blumen – unter anderem mit den seltenen gelben Mohnblumen, deren Samen sie in dem alten italienischen Garten gesammelt hatte, der dreißig Meilen hinter den Hügeln von Wicklow lag. Sie und der junge Gärtner aus Neuseeland, der dort nach dem Rechten sah, unterhielten sich immer höchst angeregt, wenn sie durch den Obstgarten spazierten, wo er die Blüten der Apfelbäume berührte wie andere Männer Frauen.
Er verstand, dass Menschen, die die Erde liebten, sich mit Pflanzen und Bienen unterhielten, deren sorgfältige Arbeit ihre Blumen blühen ließ. Obwohl er erst dreißig und sie selbst schon sechzig war, hielt er sie nicht für eine exzentrische alte Dame, sondern war ehrlich beeindruckt von ihrem enzyklopädischen Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt. Sein ernstes, hübsches Gesicht drückte lebhaftes Interesse aus, wenn er mit ihr sprach.
Immer, wenn sie diesen netten Jungen sah, erinnerte sich Star zärtlich daran, dass ein guter Gärtner auch als Liebhaber nicht zu verachten war. Niemand, der die Fähigkeit besaß, mit sanfter Vorsicht zarte Pflanzen zu hegen, ginge jemals grob mit einem anderen Menschen um.
Es war schon ein paar Jahre her, seit Star zum letzten Mal in den Armen eines Mannes gelegen hatte. Oh, sie hatte viele Liebhaber gehabt, doch der eine, den sie nie vergaß, der, dessen Berührung sich ihr in die Haut gebrannt zu haben schien, war kein Gärtner gewesen, sondern ein Poet. In den Augen der anderen war er ein konventioneller Mensch, ausnehmend attraktiv, mit ausgezeichneten Manieren und einem wichtigen Beruf. Nur mit ihr saß er unter den Sternen und rezitierte Gedichte, und während er mit seinen Fingern über ihre Wange fuhr, sprachen sie über ihre gemeinsame Zukunft.
Das war inzwischen fünfunddreißig Jahre her. Auch damals schon hatte Star sich mit den Blumen und ihren geliebten Bienen in den weißen Stöcken unterhalten, als wäre das völlig normal.
Als sie noch ein Kind gewesen war, hatten ihre Mitschüler zwar nicht verstanden, was sie tat, es aber einfach akzeptiert. Sie war in den meisten Dingen anders als die anderen gewesen. Genau wie ihre Mum. Keine der anderen Mütter hatte Kräuter angepflanzt oder gewusst, wie sich ein Sud daraus brauen ließ, der heilende Kräfte besaß, oder voller Andacht zum Mittsommermond hinaufgeblickt.
Eliza Bluestone hatte sich von sämtlichen anderen Müttern in dem kleinen Städtchen Ardagh unterschieden, was für Star ein Segen und zugleich ein Fluch gewesen war. Der Segen war das ganz besondere Wissen, das ihr von der Mutter mitgegeben worden war. Der Fluch war das Bewusstsein, dass auch sie sich wegen dieses Wissens von den anderen unterschied. Eliza musste ihre Tochter die Weisheit, die in ihren großen rabenschwarzen Augen stand, niemals lehren, sie war Star wie ihr selbst gegeben.
Als Star als junge Frau mit den anderen Mädchen hatte tanzen gehen wollen und mit jungen Männern flirten, hatte sie instinktiv gewusst, dass kaum jemandem das Glück beschieden sein konnte, in einem Pub zehn Meilen von daheim entfernt, einen Seelenverwandten zu treffen. Sie wusste, dass es ganz bestimmt nicht leicht würde, den richtigen Mann zu finden, denn die Bluestones – das hieß Star und ihre Mutter – waren äußerst unkonventionell, und nur ein starker Mann kam auf die Dauer damit zurecht.
Genauso hatte sie gewusst, dass nicht all ihren Freundinnen das dauerhafte Glück beschieden war, das sie sich erhofften, weil es eben nicht nur Glück im Leben gab. Das war offensichtlich, und sich etwas anderes einzubilden war einfach naiv.
Obwohl Star wie ihre Mutter nicht vorhersehen konnte, was genau die Zukunft bringen würde, war sie klug genug, die Spielregeln des Universums zu verstehen. Während ihre Freundinnen sich blind in jedes Abenteuer stürzten und verletzt oder schockiert waren, weil der Mann, dem sie im Club begegnet waren, niemals angerufen hatte, oder weil er gemein zu ihnen gewesen war, hatte Star niemals irgendetwas überrascht.
Mit zunehmendem Alter hatte ihr Talent im Umgang mit der Natur sich immer mehr verstärkt. Es ging nicht nur darum, mit den Pflanzen zu sprechen, merkte sie, man musste sich voller Ehrfurcht um sie kümmern, und das tat sie. Sie jätete Unkraut, damit die Pflanzen wieder Luft bekamen, setzte alte Sträucher, die zu trocken standen, um, schnitt Büsche herunter.
Star liebte auch die Musik. Sie wurde es nie leid, dem entfernten Gesang des Kirchenchors zu lauschen, obwohl sie kaum jemals einen Fuß in ein Gotteshaus gesetzt hatte. Aber mehr noch liebte sie die Klänge der Natur – sie lauschte den Bäumen, den Bergen und dem mächtigen Rauschen des Meeres. Von Eliza hatte sie gelernt, dass der Gesang der Bienen der Gesang der Erde war – melodisch und magnetisch. Die Bienen bewegten sich zu den Klängen ihres Liedes noch auf dieselbe Art wie in längst vergangener Zeit, bevor die Menschheit die Welt erobert hatte. Und was war erhebender als das Geräusch der Tauben, wenn sie unter ihrem Dach mit ihren Flügeln schlugen und sich munter miteinander stritten, wenn ein Regenschauer kam?
Es regnete auch jetzt. Star lag in ihrem Bett und konnte hören, wie die Tropfen auf die Fensterscheiben trommelten. Sie war wie gewöhnlich um Punkt sechs aufgewacht. Im Sommer wäre sie gleich aufgestanden, um den goldenen Sonnenaufgang zu genießen, doch an diesem kalten Februarmorgen brach der wahrscheinlich trübe Tag frühestens in zwei Stunden an.
Danu und Bridget, ihre beiden Katzen, räkelten sich auf ihrem Bett und schnurrten wohlig vor sich hin. Bridget war ein schneeweißer, flauschiger Ball, dessen wunderbares Fell sie regelmäßig bürsten musste, damit es seidig blieb. Danu, die Kleinere der beiden, war ein ausgesetztes Tigerkätzchen, das Star im vergangenen Jahr, genau im rechten Augenblick, kurz nach dem Tod von Bridgets Schwester Moppy, überlassen worden war. Das Leben hatte die seltsame Angewohnheit, einem immer dann etwas zu geben, wenn man etwas brauchte.
Star blieb noch eine Weile liegen, streichelte die beiden Katzen und sah aus dem Fenster auf die dunklen Silhouetten der Bäume und Büsche im Garten hinter ihrem Haus. Sie konnte den roten Ahorn sehen, den sie gepflanzt hatte, als sie jung und zum ersten Mal verliebt gewesen war.
»Pflanz etwas, das dich immer an dein Glück erinnert«, hatte ihre Mutter ihr geraten.
»Ich werde mich auch so immer daran erinnern«, hatte sie ihr überrascht erklärt.
Alle sagten, dass sie damals wunderschön gewesen sei, üppig wie die kostbaren Päonien ihrer Mutter, mit einem vollen Mund und wie aus Gold gesponnenem Haar, das ihr bis auf die schlanke Taille gefallen war. Die Bluestone-Frauen hatten alle goldblondes Haar. Sie hatte bereits heimlich zusammen mit ihrer besten Freundin Trish das Kleid für ihre Hochzeit ausgesucht und gewusst, wenn sie und Danny, wie nur sie ihren Liebsten nannte, erst das kleine Häuschen in der Hill Road angemietet hätten, würden sie dort glücklich sein. Es bot einen wunderbaren Ausblick auf das Städtchen und das Meer.
Die Vorstellung, einen Baum für sie beide zu pflanzen, hatte ihr gefallen, und sie wählte den roten Ahorn aus. Vor lauter Freude über das, was der Baum repräsentierte, tätschelte sie allmorgendlich seinen Stamm, aber noch ehe sich die Wurzeln in der Erde ordentlich entfalten konnten, hatte Danny ihr erklärt: »Ich bin noch zu jung, um mich derart zu binden.«
»Das hast du noch nie gesagt«, hatte Star erwidert, aber ihr war schmerzlich klar geworden, dass das Hochzeitskleid – ein Juwel, das sie fälschlicherweise als für sich bestimmt betrachtet hatte – in Brendas Boutique bleiben musste, bis sich jemand anderes dafür fand.
»Es geht auch ums Geschäft«, hatte Danny widerstrebend hinzugefügt. »Meine Mutter meint ...«
»... du bräuchtest eine bessere Ehefrau, wenn du das Geschäft übernehmen willst. Du sollst keine dieser gottlosen Bluestone-Frauen mit den seltsamen Kräutern und dem unnatürlich blonden Haar heiraten. Richtig?«
Star hatte es Danny nicht verübelt – weil es schließlich nicht seine Schuld gewesen war. Sie hätte wissen sollen, dass er nicht die Kraft besaß, sich gegen die öffentliche Meinung aufzulehnen. Denn noch Mitte der Siebzigerjahre, während der Rest der westlichen Welt die freie Liebe und die Pille genoss, aßen die konservativeren Bewohner Ardaghs jeden Freitag Fisch, bekreuzigten sich, wenn sie an der Kirche vorbeigingen, und wussten einfach nicht, was von den Bluestones zu halten war.
Der alte Pater Hely, der Gemeindepfarrer, und auch Schwester Anne, Leiterin des Konvents der Unbefleckten Mutter Gottes, hatten erstaunliches Verständnis für Elizas Wunsch gezeigt, ihre Tochter nicht zu einer praktizierenden Katholikin zu erziehen. Kennenlernen sollte sie die Religion durchaus. Eliza lag viel an Bildung und an Toleranz – alle Religionen faszinierten sie auf ihre Weise: Katholizismus, Protestantismus, Hinduismus, Buddhismus und was es sonst noch gab. Praktizieren aber sollte ihre Tochter keine dieser Religionen, weil Elizas Meinung nach die zentrale Wahrheit in der Welt verborgen war, die sie umgab, einer Welt, die schon viel länger existierte als jede von den Menschen ausgedachte Religion.
»Wir werden uns gut um Ihre Tochter kümmern. Und auch wenn Sie nicht in unsere Kirche kommen, verstehen Sie was von Christlichkeit, Eliza. Ich weiß, wie freundlich Sie zu denen sind, die es brauchen«, hatte Schwester Anne erklärt und grimmig hinzugefügt: »Es gibt viele Leute hier, die täglich in die Messe gehen und trotzdem unfreundlich zu ihren Nachbarn sind.«
»Schwester Anne hat recht. Niemand in dieser Gemeinde wird jemals auch nur ein böses Wort über Sie über meine Lippen kommen hören«, hatte Pater Hely zustimmend erklärt.
Er hatte sich zu gründlich mit der Geschichte des Christentums von den Kreuzzügen bis zur Inquisition befasst, um der ungewöhnlichen Eliza Bluestone mit ihrer irdischen Weisheit und ihrem selbst gemachten Holunderwein gegenüber intolerant zu sein.
Allerdings hatten nicht alle mit dem Pater und der Nonne übereingestimmt, und viele derer, die an jedem Sonntag in die Messe gingen und Weihwasserbecken neben ihre Eingangstüren hängten, mochten die Bluestones einfach nicht, weil sie anders waren. Dannys Mutter hatte ganz eindeutig in diese Kategorie gehört. Star war nicht bewusst gewesen, dass sie bei der Frau auf eine solche Ablehnung stieß. Ihr selbst war vollkommen egal, welchem Glauben andere Menschen frönten, sie konnte einfach nicht verstehen, wenn irgendwer an ihren Ansichten vom Leben Anstoß nahm.
»Den Baum wirst du bis an dein Lebensende haben«, hatte ihre Mutter ihr an dem Abend erklärt, als Danny mit der Botschaft, dass es keine Hochzeit geben würde, zu ihnen gekommen war.
Mutter und Tochter hatten auf der handgeschnitzten Walnussholzbank hinter dem Haus gesessen, Hagebuttentee getrunken und aufs Meer hinausgesehen. Star blickte düster auf den Baum und schaute sich dann all die anderen Bäume auf dem Grundstück an. Das Haus, ein verwinkeltes, mit weißen Schindeln verkleidetes Gebäude mit einem schrägen Dach und einem hübschen Erkerfenster, stand inmitten eines kleinen Waldes – umgeben von hohen, glatthäutigen Eschen, sanft wogenden Weiden, einer eleganten Platane, einer Reihe Rotbuchen am Rande des Gemüsegartens sowie einem zweiten spitzblättrigen Ahorn, dessen rote Blätter man im Herbst bereits von weitem leuchten sah.
»Wir haben ziemlich viele Bäume.« Plötzlich aber hatte sie verstanden, sich erhoben und den zweiten Ahornbaum berührt. »Du hast einmal gesagt, das hier sei Dads Baum?«
Stars Vater war die Art Mann gewesen, die es immer wieder in die Ferne zog. Indien war sein Lieblingsland, vor allem die Strände von Goa, an denen man in der Sonne liegen konnte und sich über nichts Gedanken machen musste außer darüber, was der Sinn des Lebens war.
»Ich habe deinen Dad geliebt«, erklärte Eliza.
»Obwohl er dich verlassen hat?«
»Ich habe den Baum gepflanzt, als wir uns noch geliebt haben.«
»Bevor er dich verlassen hat«, hatte Star hinzugefügt und von ihrer Mutter wissen wollen: »Und was ist mit den anderen Bäumen?«
Gleichzeitig fragte sie sich, warum dieses Thema niemals vorher angeschnitten worden war. Aber ihre Mutter war eine sehr sanfte und sehr vorsichtige Lehrerin gewesen: Niemals hatte sie ihr irgendetwas aufgezwungen, sondern stets auf den rechten Zeitpunkt gewartet.
»Zwei andere habe ich vor deiner Geburt gepflanzt, bevor ich deinem Dad begegnet bin.«
Dann hatte sie also drei Männer geliebt.
»Und all die anderen Bäume?«, wollte Star wissen.
»Meine Mutter, deren Mutter, sämtliche Bluestone-Frauen haben hier Bäume angepflanzt.«
Star hatte gelacht, war durch den Garten gelaufen und hatte die Stämme all der kostbaren Bäume vorsichtig berührt. Sie liebte diese Verbindung zu ihren weiblichen Vorfahren und hatte plötzlich das Gefühl, sie hielten sich alle an den Händen, lachten und sprachen miteinander – lauter starke Frauen, die so viel von dem sahen, was es auf der Welt zu sehen gab.
Die Bäume, die Büsche und die Blumen in dem wilden Garten spendeten Star nicht nur Trost, sondern auch das Rohmaterial für ihren Lebensunterhalt. Sie entwarf und fertigte bestickte Wandteppiche aus mit natürlichen Farbstoffen von Hand gefärbter Wolle und Seidenstoffen. Wegen ihres Blickes für die Natur stellten ihre Bilder hügelige Landschaften dar oder baumbestandene Lichtungen, manchmal mit einem Vogel irgendwo im Unterholz, einer weiß blühenden Magnolie vor einem leuchtend grünen Hintergrund und ab und zu sogar der verschwommenen Silhouette eines Einhorns. Jahrelang hatte Star ihre Arbeiten in einem kleinen Kunsthandwerkgeschäft am Rand von Wicklow ausgestellt und damit mühsam ihren Lebensunterhalt verdient. Dann führte jemand einen ihrer Wandteppiche einer Einkäuferin von Kenny’s Kaufhaus in Ardagh vor.
Die Leute von Kenny’s seien ständig auf der Suche nach neuen Talenten, hatte die Frau erklärt, und Stars wunderbares Kunsthandwerk passe ausgezeichnet in ihr Repertoire. Mit Gemälden handle das Kaufhaus nicht – das sei zu zeitraubend und kompliziert –, aber die Bluestone-Wandteppiche seien genau das Richtige für sie.
Innerhalb eines halben Jahres hatte Star ihr zuvor eher bescheidenes Geschäft zu einem blühenden Handwerksunternehmen ausgebaut. Das war jetzt fünf Jahre her. Inzwischen hatte sie drei Angestellte, und sie alle waren mit der letzten Bestellung von Kenny’s, die sie an diesem Tag liefern würde, rund um die Uhr beschäftigt gewesen.
Zwanzig Wandteppiche in verschiedenen Größen waren sorgfältig in moosgrünes Seidenpapier gehüllt. Star war gespannt darauf, ob Lena, die Einkäuferin und eine der Direktorinnen des Unternehmens, von dem neuen Motiv – einer großen Meerjungfrau – ebenso begeistert sein würde, wie sie es war.
Star hatte noch nicht viele Bilder mit den Farben des Meeres gefertigt, weil die Herstellung der Pigmente allzu zeitaufwändig war. Es war kein Problem, ein volles Lodengrün und staubige Erdfarben zu mischen, die reinen Blau- und Türkistöne stellten sich jedoch als deutlich schwieriger herzustellen heraus. Star nahm immer noch blaue Hortensienblüten für die leuchtend blauen Töne, und ihre Brombeeren ergaben ein schwärzliches Violett, das die Tiefen des Ozeans mehr als nur erahnen ließ, besorgte jedoch einige andere Farben bei Händlern.
Star war im Zwiespalt gewesen, ob sie den Meerjungfrauen-Wandteppich überhaupt verkaufen sollte. Er hätte sich perfekt an der Wand in der Küche ausgenommen, unter der Stange, an der eine Reihe Kupfertöpfe hing. Schließlich aber hatte sie ihr Herz verschlossen und den Teppich verpackt. Die Bluestone-Meerjungfrau mit den leuchtend grünen Augen und den langen, dichten Strähnen bleichen Haars musste ihren Zauber an der Wand von jemand anderem entfalten, wusste sie.
Star fütterte die Katzen, bereitete ihr eigenes, aus Obst und Jogurt bestehendes Frühstück zu und goss eine Tasse Pfefferminztee auf, die sie in ihrem kleinen Wintergarten trank. Nach dem Frühstück zog sie sich an. Sie duschte, kämmte sich das Haar, das neben den unzähligen kleinen weißen Strähnen immer noch so blond wie früher war, und legte ein leichtes Make-up auf. Ihr olivefarbener Teint, die dunklen Augen und das helle Haar waren eine Mischung, wie man sie nur selten sah.
Star begutachtete im Spiegel ihren Körper. Ihre alte Freundin Trish, mit der sie ab und zu im Supermarkt zusammenstieß, hatte im Verlauf der Jahre deutlich zugelegt und wollte immer von ihr wissen, wie es ihr gelang, noch so rank und schlank wie in ihrer Mädchenzeit zu sein.
»Ich kann nichts dafür«, pflegte Star zu sagen. »Meine Mutter war genauso schlank, wie du bestimmt noch weißt.«
Natürlich wusste Trish das noch, und während sie nickte, konnte Star ihre Gedanken lesen – nämlich, dass es nur natürlich war, wenn eine Mutter von drei Kindern etwas auseinanderging, und dass Star, die keine Kinder und folglich auch keine Enkelkinder hatte, zwar auch noch mit sechzig attraktiv zu nennen war, ihr das jedoch nur wenig nützte, weil ihr dafür das Vergnügen einer eigenen Familie versagt geblieben war.
Dabei hätte Star so gern Kinder gehabt: das Gefühl von einer kleinen Hand, die vertrauensvoll in einer ihrer Hände lag, eine Tochter, mit der sie auf ihrer Walnussholzbank im Garten hätte sitzen können, während sie sie lehrte, wie man Bäume pflanzte oder mit den Pflanzen sprach. Doch das Schicksal hatte einen anderen Weg für sie bestimmt. Sie hatte das Talent, wunderschöne Dinge herzustellen und Pflanzen dazu zu bewegen, dass sie unter ihrer Fürsorge gediehen.
Früher hatte ihr das nicht gereicht – das war jetzt anders. Star sah die Frauen, denen sie in ihrem Leben half, beinahe als ihre Kinder an. Sie lebte ihren Mutterinstinkt einfach dadurch aus, dass sie verlorene Seelen sammelte, was ebenfalls eine besondere Gabe war.
Sie zog sich eilig an, suchte wie immer Kleider in den Farben des von ihr so geliebten Gartens aus: im Frühling meist Pastell, im Sommer warme Rosentöne, wenn der Herbst die Blätter färbte, Gold, und im Winter kühle Farben – passend zu dem Schnee, der auf den Wiesen und den Feldern lag. An diesem Tag wählte sie ein cremefarbenes, wollenes Kleid, einen grauen Mantel sowie hohe schwarze Stiefel aus und steckte sich das Haar zu einem tief sitzenden Knoten auf. Ihre Alltagskleidung unterschied sich sehr davon: weite Röcke oder Jeans und lange T-Shirts oder lässige Pullover.
Kenny’s Kaufhaus war eine Institution in Ardagh. Gegründet 1924, als sich Europa von den Folgen des Ersten Weltkrieges erholte und Irland langsam auf der internationalen Bühne in Erscheinung trat, war Kenny’s schon nach kurzer Zeit zum lokalen Synonym für Stil und Kultiviertheit avanciert. Es war der Ort, der jedermann willkommen hieß, sowohl die betuchte Kundschaft als auch die, die hoffte, irgendwann einmal betucht zu sein. Der Leitspruch des alten Mr. Kenny war gewesen, dass man jedem Kunden mit der gleichen Höflichkeit begegnen sollte – ungeachtet ob er ein einfacher Arbeiter oder ein Mitglied des Adels war. Und die Kombination aus Eleganz und Egalitarismus trug beachtlich zum Erfolg des Hauses bei.
Im Verlauf der Jahre hatte sich so vieles in der kleinen Stadt verändert: Ganze Straßenzüge veränderten sich, denn alte Familienunternehmen mussten Kaufhausketten und großen Konglomeraten Platz machen. Das alte Kino, in dem Star und ihre Freundinnen Popcorn gegessen und sich durch den Weißen Hai geschrien hatten, musste einem Parkplatz weichen, und das alte Soda Pop, wo sie billigen Kaffee getrunken und sich ab und zu sogar die Spezialität des Hauses – einen riesigen Bananen-Split – geleistet hatten, war abgerissen worden, ehe an seiner Stelle ein Supermarkt errichtet worden war.
Kenny’s jedoch änderte sich nie. Man hatte es für sehr viel Geld modernisiert, trotzdem sah es immer noch wie früher aus, und es fühlte sich vor allem auch so an: ein elegantes, altmodisches Kaufhaus, dessen Front sich über einen ganzen Häuserblock erstreckte, mit stets frisch geputzten kleinen Fenstern, eleganten Schwingtüren mit blanken Messinggriffen sowie einem Schild über dem Eingang, auf dem in schnörkeliger Schrift zu lesen war: KENNY’S – GEGRÜNDET 1924.
Star ließ ihren Wagen auf dem Parkplatz hinter Kenny’s stehen, lief entschlossen auf den Lieferanteneingang zu und drückte auf den Klingelknopf. Kenny’s machte erst in über einer Stunde auf, und die meisten Angestellten waren noch nicht da, Lena aber hatte ihr versprochen, schon um acht im Haus zu sein.
Als Star ein leises Summen hörte, drückte sie gegen die Tür und zog den kleinen Rollwagen mit seiner kostbaren Teppichfracht hinter sich her hinein. Da der Raum im Dunkeln lag und kein Mensch zu sehen war, war Star sich nicht ganz sicher, von wem sie hereingelassen worden war, aber trotzdem lief sie auf die Hintertreppe, die zu den Büros des Unternehmens führte, zu und sah sich nach irgendeinem Lebenszeichen um. Die Tür zur Treppe war verriegelt, nur durch die Flügeltür, durch die man in den Laden kam, fiel ein wenig Licht. Vielleicht, dachte Star, ist Lena dort. Star öffnete die Flügeltür und atmete den magischen Geruch von Kenny’s ein.
Nach der Dunkelheit des Lagers kam es ihr so vor, als ob sie einen wunderbar erhellten Schmuckkasten beträte. Aus der Ferne drang das leise Dröhnen eines Staubsaugers an ihre Ohren, in die Düfte der verschiedenen Parfüms mischte sich der Geruch von Möbelpolitur und warmem Gebäck, das die Kundschaft in dem reizenden Café in der oberen Etage jederzeit frisch serviert bekam. Star ließ ihren Wagen stehen, lief langsam zwischen den Verkaufstresen herum und genoss es, für einen Moment ganz allein in diesem Paradies zu sein.
Lena hatte ihr schon oft von den verschiedenen Abteilungen erzählt. Dass der jetzige Besitzer, David Kenny, eine ganz besondere Schmuckabteilung hatte haben wollen, in der die Kundschaft neben allen großen Marken auch erlesene Einzelstücke einheimischer Goldschmieden erstehen konnte. Dass in der Konfektionsabteilung ein kleiner Bereich den Stücken junger College-Absolventen vorbehalten war. Und dass die Kosmetik- und Parfümabteilung, die die wertvollste des ganzen Hauses war, nicht nur sämtliche Marken, die es gab, anbot, sondern auch Organic Belle, eine Serie Hautpflegeprodukte, die in einem kleinen Dorf in West Cork entwickelt worden war.
»David hat einen ausgezeichneten Blick für Trends«, hatte Lena Star anvertraut. »Niemand hatte etwas von Organic Belle gehört, als er die Marke vor zwei Jahren in unsere Produktpalette aufnahm. Inzwischen sind die Produkte der Renner in Los Angeles, und ein paar große Hotelketten wollen sie für ihre Wellnessbereiche. Sie wird also ganz groß rauskommen. Sie sollten die Marke einmal testen. Charlie Fallon, die in der Abteilung arbeitet, ist nicht nur wirklich nett, sondern kennt sich auch hervorragend mit dieser Pflegeserie aus. Sie könnte Ihnen helfen.«
Star war klar, dass sie der guten Lena als der Inbegriff der exzentrischen Künstlerin erschien – einerseits, weil sie so abgelegen wohnte, und andererseits, weil sie gebeichtet hatte, dass sie kaum jemals zu Kenny’s kam. Lena, die für dieses Unternehmen lebte und deswegen einfach nicht verstehen konnte, dass es Menschen gab, die Kenny’s weniger verfallen waren als sie selbst, hatte sie entgeistert angestarrt.
»Sie meinen, Sie kaufen nicht hier ein?«
»In den letzten Monaten war ich schon zweimal hier«, hatte Star erklärt.
»Aber da hatten Sie jeweils eine Verabredung mit mir.«
Dabei gab sich Lena Mühe, Star dazu zu bringen, endlich zu erkennen, was für ein Juwel das Kaufhaus war. Sie hob sämtliche Details hervor, von denen sie die Hoffnung hatte, dass sie Star gefielen, zum Beispiel jedes einzelne Produkt, das auch nur im Entferntesten natürlich war.
Star ging am Stand von Organic Belle vorbei und sog den feinen Duft der meistverkauften Creme der Marke ein: einer entspannenden Mischung aus Lavendel und Zitronengras.
Die freundliche Verkäuferin, die Lena ihr empfohlen hatte, hatte Star bei ihrem letzten Besuch kurz gesehen. Obwohl sie ihrer Mutter nicht besonders ähnlich war, war Star sich ziemlich sicher, dass die gute Charlie Fallon Kitty Nelsons Tochter war. Kitty war eine Anhängerin der Frauenbewegung in den Siebzigern gewesen, Star kannte sie aus dieser Zeit. Sie hatte es Charlies Katzenaugen angesehen. Während Kittys Augen jedoch stets, vor allem gegenüber Männern, die einer Wildkatze gewesen waren, waren die von Charlie weich und sanft. Star hatte instinktiv gespürt, dass sie keine Femme fatale und auch nicht so streitsüchtig wie ihre Mutter war.
Hinter dem Verkaufsstand von Organic Belle kam man in die Lebensmittelabteilung, und obwohl sämtliche Keks- und Süßigkeitenschachteln ordentlich geschlossen waren, war die Luft von Schokoladen- und Karamellduft erfüllt.
»Ich liebe die Lebensmittelhalle«, hatte Lena Star in dem Bemühen, sie zu einem Kenny’s-Fan zu machen, wiederholt erklärt. »Wir verkaufen nämlich noch besondere Lebensmittel hier. David hat erkannt, dass es einen riesengroßen Markt für Gourmet-Fertiggerichte gibt, und seit wir mit dem Verkauf der einheimischen ›Ich-habe-es-wirklichselbst-gemacht‹-Produkte begonnen haben, kommen wir mit dem Bestellen kaum noch nach.« Die Leute liebten ihre Lebensmittel, verkündete sie, denn es seien einfache, hervorragend zubereitete Produkte ohne irgendwelche Zusatzstoffe, wie man sie nirgends sonst in der Gegend kaufen konnte.
Bei einem ihrer Besuche hatte Star die Haushaltswarenabteilung aufgesucht, in der es einheimische Glas- und Töpferwaren gab. Töpferwaren konnte sie einfach nicht widerstehen, die Dessousabteilung allerdings hatte sie sich immer noch nicht angesehen, trotz Lenas Schwärmerei von ihrer bestverkauften Kollektion, die von einer ehemaligen Betriebswirtschaftsdozentin aus Dublin entworfen worden war. Die Frau war es einfach leid gewesen zu versuchen, sich in Unterwäsche wohl zu fühlen, die nur für ganz gertenschlanke Wesen kreiert worden war.
»Eine fantastische Idee«, hatte Lena ihr erklärt. »Sie hat die ganze Kollektion von Hand genäht. Als sie versuchte, ihre Produkte zu verkaufen, war David der Einzige, der angebissen hat. Und jetzt reißen uns die Frauen die Wäsche aus der Hand – viele große Londoner Kaufhäuser sind auch schon darauf aufmerksam geworden. Welcher andere Mann als David hätte wohl erkannt, dass es einen Bedarf an solchen Dingen gibt?«, hatte Lena sie gefragt.
Star hatte gelächelt, denn Lena wäre vor Peinlichkeit gestorben, wenn sie hätte denken müssen, dass die schlanke Star der Ansicht war, sie hätte damit deutlich machen wollen, Star selbst hätte Bedarf an figurformenden Slips.
»Und es ist nicht so, dass er Erfahrung damit hätte, weil seine Ehefrau kaschierende Unterwäsche nötig hat«, war Lena fortgefahren. »Himmel, er ist mit Ingrid Fitzgerald verheiratet, die höchstens Größe 38 trägt. Sie hat wirklich eine unglaubliche Figur. Es war also reiner Geschäftssinn, der ihn dazu bewogen hat. Was man ja wohl ehrlich bewundern muss, nicht wahr?«
Star sah kaum fern. Sie besaß einen Fernseher, aber der war uralt, und sie schaltete ihn nur selten für die Nachrichten an. Trotzdem wusste sie, wer Ingrid Fitzgerald war. In einer Welt, in der die meisten politischen Fernsehmoderatoren männlich waren, hob sich Ingrid als die Beste von ihnen allen ab: hochintelligent, selbstbewusst, fähig, ihrem Gegenüber Antworten auf die härtesten Fragen zu entlocken – und gleichzeitig wunderschön. Sie war nicht von der flüchtigen Schönheit, die von übertrieben gestyltem Haar und einer dicken Schicht Make-up herrührte, sondern von wahrer Schönheit, die von innen kam – Geradlinigkeit, Intelligenz und ein einnehmendes Wesen. Star besaß in diesen Dingen eine gute Urteilskraft.
Ingrid war etwas jünger als Star und hatte zwei erwachsene Kinder. Ihre Tochter Molly teilte eine Wohnung mit einer jungen Frau, die Star kannte, seit sie ein Baby war. Natalie war inzwischen Anfang zwanzig. Beinahe hätte Natalie in Stars Haus das Licht der Welt erblickt. Star würde nie die hektische Fahrt mit Des ins Krankenhaus vergessen, während Dara auf der Rückbank gelegen und sich vor Schmerzen gewunden hatte. Star war einer der ersten Menschen gewesen, die das winzige Baby mit dem gelockten dunklen Haar im Arm gehalten hatte, und sie hatte gefühlt, was sie immer fühlte, sobald sie ein Neugeborenes hielt – dass die Kleine die ganze Weisheit der Welt besaß.
Star war nur gut drei Jahre Teil von Natalies Welt gewesen – bis Dara gestorben war. Denn wie alle anderen Freundinnen von Dara hatte sie geschworen, Daras Wünsche hinsichtlich des Umgangs mit der Kleinen zu beherzigen, wenn sie nicht mehr war.
»Versucht nicht, euch an die Vergangenheit zu klammern, sondern lasst mich bitte los«, hatte Dara sich gewünscht, denn sie hatte Angst gehabt, dass die Erinnerung an ihre tote Mutter Natalies Zukunft verdunkelte.
»Sie hat es verdient zu wissen, wer du bist«, hatte Star ihr widersprochen. »Warst«, hatte sie sich traurig korrigiert.
Dara hatte vehement den Kopf geschüttelt. »So ist es besser«, hatte sie gesagt. Die Vergangenheit konnte Menschen zerstören, und das wollte sie Natalie ersparen. Was sie ihrer Tochter wünschte, war ein neues Leben mit ihrem Dad. »Des ist ein wunderbarer Mensch, er wird sie gut erziehen. Vielleicht wird er noch einmal heiraten, und dann werden sie viel glücklicher sein, wenn ich nicht wie ein Gespenst durchs Haus schwebe.«
Also hatten alle, die Dara geliebt hatten, versprochen, ihr nicht ein ums andere Mal zu sagen, dass sie ihrer Mum wie aus dem Gesicht geschnitten war oder ihr Geschichten aus den Tagen zu erzählen, bevor sie auf die Welt gekommen war. Star hatte Dara nur ein paar Jahre gekannt – seit dem regnerischen Tag, an dem sie sie in völliger Verzweiflung an der Küstenstraße hatte liegen sehen –, doch sie kannte als einer der wenigen Menschen Daras herzzerbrechende Lebensgeschichte.
»Die Vergangenheit tut weh. Und ich will meiner Tochter diesen Schmerz ersparen«, hatte Dara ihr erklärt.
»Aber sie zu kennen kann auch heilsam sein«, hatte Star erwidert. »Man kann das Elend überwinden. Das hast du selbst gezeigt.«
Doch Dara war hart geblieben, und Star hatte sich an ihren Schwur gehalten, auch wenn es ihr furchtbar schwergefallen war, sich aus Natalies Leben herauszuhalten, während das Mädchen aufwuchs.
Stars Gedanken wurden jäh unterbrochen, als die Flügeltür des Kaufhauses aufgestoßen wurde, und, begleitet von einem Stoß eiskalter Februarluft, ein Mann in einem langen grauen Mantel mit hochgeklapptem Kragen eintrat. Er war groß und breitschultrig und bewegte sich so schnell, als wäre nicht genügend Zeit, um all das, was er im Leben wollte, noch zu tun.
Star stand neben einer Vitrine mit juwelenbesetzten Ohrklipsen und Seidenblumen für das Haar und beobachtete, wie David Kenny schnellen Schrittes durch den Laden lief. Er sah sich nicht in der Abteilung um, wie er es für gewöhnlich tat, wobei seinen klugen Augen kein Detail verborgen blieb, sondern schien seinen Blick auf etwas völlig anderes, etwas in seinem Inneren, gelenkt zu haben. Je näher er kam, desto deutlicher nahm sie die Anspannung in seinen Zügen wahr. Sein Haar war an den Schläfen von ersten grauen Strähnen durchzogen, und er wirkte ungeheuer distinguiert.
Schließlich erreichte er die abgestellte Rolltreppe in der Mitte des Geschäftes, aber statt einfach hochzulaufen und auf diese Weise seine unleugbare Fitness zu beweisen, drückte er auf einen roten Knopf, die Rolltreppe fuhr summend an, und er stand völlig reglos da, während sie ihn in die obere Etage trug.
Star hatte gehört, dass David Kenny wie zuvor sein Vater täglich einen Rundgang durch seinen geliebten Einkaufstempel machte und dort nach dem Rechten sah. Doch auch wenn an diesem Morgen in dem Kaufhaus offenbar alles in Ordnung war, kannte Star ihn so gut, dass sie wusste, dem Eigentümer lag irgendetwas auf der Seele. Star hatte David Kenny einmal besser als jeden anderen gekannt.
Inzwischen kam sie ihm nie näher als in den Momenten, wenn sie eine Hand in ihrem Garten an den Stamm der Eberesche legte, die in den vergangenen fünfunddreißig Jahren groß und stark geworden war. Seither hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, obwohl sie davon ausging, dass er wusste, wer sie war. Lenas anfänglichen Versuch, ein Treffen zu arrangieren, hatte Star sanft zurückgewiesen und erklärt, sie liefere ausschließlich ihre Waren, weiter nichts.
»Oh, aber David trifft sich einfach mit jedem«, hatte Lena es noch mal versucht.
»Mit mir nicht«, hatte Star erwidert und gelächelt, um zu zeigen, dass es ihr so einfach lieber war.
David schien das zu akzeptieren, denn er hatte nie versucht, sie trotzdem irgendwann einmal zu treffen, wenn sie in das Kaufhaus gekommen war.
Es war nicht so, dass Star wütend auf ihn war. Nein. So war es keineswegs. Es war ihr und dem leidenschaftlichen jungen Poeten, der Verse auf ihre Schönheit gedichtet und sie derart inbrünstig geliebt hatte, als habe sein Leben nur eine Bedeutung, wenn er mit ihr zusammen war, einfach nicht bestimmt gewesen, dauerhaft vereint zu sein. Nein, sie empfand deswegen keinen Zorn auf ihn. Ihr Leben war auf seine Weise erfolgreich. Und bisher hatte sie gedacht, dass das auch für Davids Leben galt.
Aber als Star ihn jetzt sah, war sie davon nicht mehr überzeugt.
Ein altes Sprichwort ihrer Mutter fiel ihr ein: Die Dinge, die für dich bestimmt sind, werden dich finden. Viele Menschen sahen diesen Satz als gutes Omen an, Star hingegen hatte sich genügend mit dem Leben und der Welt befasst, um zu wissen, dass es auch ein schlechtes Omen sein konnte.
Und für David konnte sie nur hoffen, dass er in der Lage war, sich der fürchterlichen Traurigkeit zu stellen, von der er befallen war.
Sei nett zu anderen Frauen.
Du wirst dich, selbst wenn du keine Reaktion erfährst, besser fühlen.
Am Abend des Tages, an dem Star David im Kaufhaus gesehen hatte, saß Ingrid in einem prächtigen alten Haus an einem wundervoll gedeckten Tisch zusammen mit ihrem Mann und elf anderen elegant zurechtgemachten Paaren und wünschte sich von ganzem Herzen, sie wäre nicht dort. Der Duft der Freesien in der Schale auf dem Tisch kämpfte tapfer, doch vergeblich gegen die Düfte der Frauen – Moschus und süße, blumige Aromen – an. Ingrid liebte Düfte, weshalb aber legten so viele Frauen abends derart schwere, drückende Parfüms auf, als wären sie nicht in Gesellschaft ihrer Männer zu einem zivilisierten Abendessen eingeladen, sondern versuchten Steinzeitkerle zu betören?
Ingrid zog die Blumenschale quer über die blütenweiße Tischdecke näher an sich heran, beugte sich ein wenig vor und atmete den reinen Duft der Blüten ein. Sofort fühlte sie sich in den Frühling versetzt. Schade, dass sie jetzt nicht zu Hause war. Hör auf, ermahnte sie sich. Der Abend wird sicher nicht auf wundersame Weise kürzer, nur weil du dir wünscht, er wäre schon vorbei.
Das Problem war, dass die Leute Davids Freunde waren. Seltsam, dass wir beide auch nach dreißig Jahren Ehe noch derart verschiedene Freunde haben, dachte sie. Es gab ein paar Menschen, mit denen sie beide befreundet waren – Leute, die sie schon seit ihrer Hochzeit kannten –, aber ihrer beider Karrieren hatten ihnen im Verlauf der Jahre eine Reihe von Bekannten aus zwei vollkommen verschiedenen Welten beschert.
An diesem Abend waren sie bei Davids Leuten eingeladen. Vor allem der Gastgeber, der Eigentümer einer großen Spedition, war bereits seit Jahren mit dem Kaufhaus im Geschäft. Außerdem waren drei weitere Geschäftsmänner, die David kannte, eingeladen: wohlhabende Gentlemen mit glamourösen, diamantenbehangenen Frauen mit sorgfältig lackierten, zentimeterlangen Fingernägeln sowie tadellos frisiertem Haar.
Ingrid sah sich um und kam zu dem Ergebnis, dass nicht eine einzige Geschäftsfrau eingeladen war. Sie hätte sie sofort erkannt, denn, egal, wie erfolgreich sie beruflich war, wäre sie doch nie so elegant wie die Ehefrau eines Alpha-Mannes. Unzählige Interviews mit den Großen und den Mächtigen in Politics Tonight hatten sie gelehrt, dass ein Alpha-Mann nur selten dauerhaft mit einer Frau zusammen war, die so viel Macht besaß wie er. Wahrscheinlich überraschte es die Leute, dass der attraktive David immer noch mit ihr zusammen war; kaum ein anderer Mann hätte es angenehm gefunden, das Rampenlicht mit einer Frau zu teilen, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritt, dass sie hochrangige Politiker live im Fernsehen in die Zange nahm. David war eben nicht wie andere Männer. Er ist etwas ganz Besonderes, dachte Ingrid und lächelte ihm zu.
David bemerkte den Blick seiner Frau und lächelte zurück. Er sah in dem grauen Anzug und dem blassrosafarbenen Hemd hervorragend aus. Ingrid wusste, dass er müde war, denn er hatte kleine Fältchen um die Augen, außer ihr nahm die sicher niemand wahr. Alle anderen sahen nur den charmanten, attraktiven David Kenny, Erben des Familienunternehmens, dem von ihm ein völlig neuer Glanz verliehen worden war. Genauso sah niemand Ingrid an, dass sie leichtes Kopfweh hatte und sich wünschte, nicht auf diesem Fest zu sein. Die anderen sahen das, was sie sie sehen lassen wollte: eine Frau, die bei Make-up und Haar die größte Sorgfalt hatte walten lassen, hinsichtlich des Schmucks jedoch bescheiden blieb. Ingrid fand, dass es mit dicken Klunkern an den Fingern wie mit Push-up-BHs war: entweder man mochte sie oder eben nicht.
Das einzig Interessante an Abenden in einem solchen Kreis war, dass sie mit einem Mal nicht mehr Ingrid Fitzgerald war, der Fernsehstar, der seinen Mädchennamen aus der Zeit als Radioproduzentin beibehalten hatte, sondern Ingrid Kenny, Davids Frau. Und manchmal, ab und zu, wurde sie dadurch auf wunderbare Weise unsichtbar.
Wie in diesem Augenblick.
Der Mann zu ihrer Linken wandte sich Ingrid zu. »Sie sind Mrs. Kenny, stimmt’s?«
Er war um die sechzig, hatte einen kahlen Schädel und die wettergegerbte Haut, die ihr verriet, dass er täglich viele Stunden an der frischen Luft verbrachte, höchstwahrscheinlich auf dem Meer. Auch sein dunkelblauer Blazer mit den goldenen Knöpfen legte die Vermutung nahe, dass er Kommodore eines Yachtclubs war.
»Ja«, erwiderte sie sanft, denn sie spürte, dass er keine Ahnung hatte, wer sie außerdem noch war. »Ich bin Ingrid, Davids Frau.«
»Wirklich ein phänomenaler Laden«, stellte der Kommodore anerkennend fest, bevor er einen Schluck von seinem Rotwein nahm. »Ein Kaufhaus wie das Kenny’s gibt es ganz bestimmt kein zweites Mal. Ich nehme an, Sie haben keine Zeit, um sich dort aktiv einzubringen, oder? Ich weiß ja, wie die Damen sind, haben immer alle Hände mit Wohltätigkeitsveranstaltungen oder in irgendwelchen Komitees zu tun ...« Er sah sie mit herablassendem Lächeln an. »Meine Frau Elizabeth – die da drüben in dem roten Kleid – ist in vier Vereinen engagiert. Ich weiß wirklich nicht, woher sie die Zeit für all das nimmt.«
Elizabeth war eine tadellos geschminkte junge Frau mit stahlgrauen Augen und brünettem Haar. Sie trug ein mit exotischen Perlen besticktes Kleid und bedachte Ingrid und ihren Mann mit einem interessierten Blick. Wahrscheinlich hatte sie Ingrid aus dem Fernsehen erkannt, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass der arme alte Kommodore keine Ahnung hatte, wer die Frau an seiner Seite war.
»Nun, ich bin ebenfalls bei einigen Vereinen engagiert«, klärte Ingrid ihren Nachbarn auf. Sie war Schirmherrin einer AIDS-Stiftung, im Vorstand eines Vereins zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und richtete regelmäßig Wohltätigkeitsbälle aus. »Aber so viel Zeit habe ich dafür leider nicht, weil ich ebenfalls berufstätig bin.«
»Ach, wirklich?«, gab ihr Nachbar überrascht zurück, als hätte er noch nie etwas von arbeitenden Frauen gehört. »Und was machen Sie?«
Es waren Momente wie dieser, von denen Ingrid ihrer Freundin Marcella immer dann berichtete, wenn diese behauptete, alle Welt wüsste, wer Ingrid war.
»Dein Gesicht hat einen derart hohen Wiedererkennungswert«, stellte Marcella immer wieder fest.
»So ist es scheinbar nicht«, gab Ingrid dann zurück. »Filmstars und Sänger werden vielleicht berühmt, nicht aber Leute wie ich. Einige erkennen mich, nur wissen sie nicht, wo sie mir schon mal begegnet sind. Meistens denken sie, sie hätten mich in irgendeinem Laden gesehen.«
Der Nachteil ihrer wöchentlichen Auftritte im Fernsehen war, dass sie nicht zu Marks & Spencers in die Dessousabteilung gehen konnte, ohne dass mehrere Leute interessiert verfolgten, wie sie dort in einem Haufen mit Sonderangeboten wühlte, bis sie eine Fünfer-Packung passender Slips fand.
Aber hier saß dieser süße Mann, der eindeutig keine Ahnung hatte, wer sie war, was ihr gefiel, obwohl sie ihm schwerlich erklären konnte, was sie tat, ohne dabei eingebildet zu klingen. Sie wusste, manch andere Frau ihrer Position hätte ihn böse angestarrt und ihm erklärt, sie sei eine der bestbezahlten Fernsehjournalistinnen des Landes und mancher hart gesottene Politiker bräche bei einem Interview mit ihr am liebsten in Tränen aus. Ingrid aber ging das lieber ein wenig diskreter an.
»Ich arbeite beim Fernsehen«, erklärte sie.
»Oh, wirklich! Interessant. Meine Tochter hat auch eine Zeitlang beim Fernsehen gejobbt, sie hat dort recherchiert. Eine fürchterliche Arbeit, jämmerlich bezahlt, und, mein Gott, ohne jede Hoffnung darauf, dass sie irgendwann dort wirklich Karriere machen kann. Das schaffen anscheinend nur die Wenigsten.«
»Ja«, stimmte ihm Ingrid zu. »Das schaffen nur die Wenigsten.«
Ingrid dachte an die Zeit zurück, als sie selbst die Karriereleiter hinaufgestiegen war. Es war manchmal wirklich hart gewesen, aber sie hatte niemandem mit ihren spitzen Absätzen in die Leistengegend treten müssen, um nach oben zu gelangen – was für viele Journalisten, die sie interviewten, um ein Porträt für ihre Zeitungen über sie zu erstellen, geradezu unglaublich war.
»Es muss für eine Frau doch viel schwerer sein«, erklärten sie ihr in der Hoffnung, etwas von unsichtbaren Barrieren für Frauen, männlich dominierten Machtstrukturen und männlichen Kollegen erzählt zu bekommen, die vor der Sendung in der Maske saßen und, während sie sich ihre Falten überschminken ließen, über Ingrid lästerten, weil sie nicht mehr die Jüngste war.
»Die Medien – oder zumindest dieser Teil – sind einer der wenigen Bereiche, in denen auch Frauen relativ einfach Karriere machen können«, antwortete Ingrid dann, aber niemand schien ihr tatsächlich zu glauben, dass sie einzig wegen ihres Selbstbewusstseins, ihrer ruhigen Art und der Intelligenz, die ihr gegeben war, ganz nach oben gekommen war.
»Wie steht es mit Ihnen?«, fragte sie jetzt den Kommodore höflich. »Was tun Sie?«
Sofort hellte sich seine Miene auf, und während er ihr ausführlich erklärte, worin eine Yacht sich von anderen Booten unterschied – und ihre Vermutung damit unbewusst bestätigte –, sah sich Ingrid unauffällig um. Ihr gegenüber saß ihr Mann und unterhielt sich angeregt mit einer entzückenden Frau, die ihnen als Laura vorgestellt worden war.
Sie beobachtete David gern. Er war immer charmant, nicht auf eine falsche Art, sondern auf eine Weise, die verriet, dass er ehrliches Interesse an seinen Gesprächspartnern hatte. Auch sein Vater war allzeit bereit gewesen, sich mit allen Mitarbeitern oder Geschäftspartnern des Kaufhauses zu unterhalten, ganz egal, ob es ein Manager oder jemand von der Putzkolonne war.
Alles okay?, formte David lautlos mit dem Mund.
Sie nickte unmerklich. Sie kam auf jeden Fall zurecht.
»Tut mir leid, dass du neben Erskine gelandet bist«, sagte er drei Stunden später, als er neben ihr im Taxi auf dem Weg nach Hause saß, und drückte ihr die Hand. Nach dem furchtbar schweren Mahl hatte er sich mit einem leisen Stöhnen in die Polster sinken lassen. Es hat keinen Gang ohne eine doppelte Portion Sahne oder Crème fraîche gegeben, dachte Ingrid, der das Essen ebenfalls schwer im Magen lag.
»Oh, keine Sorge«, antwortete sie. »Er war wirklich nett, vor allem bin ich jetzt eine Expertin für Boote, und falls ich mal jemanden zu diesem Thema interviewen muss, ist er genau der richtige Mann.«
David lachte auf. Er hatte ein wunderbares Lachen, tief und voll und ansteckend. Aus dem Augenwinkel konnte Ingrid sehen, dass der Taxifahrer grinste. Nun, sie waren zweifellos die Art von Kunden, die er gerne fuhr: ein höfliches und ruhiges Paar mittleren Alters, das er von einem wunderhübschen Haus in einem der Vororte der Stadt zu einem wunderhübschen Haus in einem anderen Vorort fuhr, ohne die Gefahr, dass unterwegs sein Taxi vollgespuckt wurde oder er sein Geld nicht bekam.
»Erskine hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wer du bist, nicht wahr?«
»Er hatte keinen blassen Schimmer. Wahrscheinlich habe ich den Eindruck bei ihm erweckt, dass ich in den Fernsehstudios fürs Teekochen zuständig bin.«
»In dem Glauben hättest du ihn nicht lassen sollen!« David lachte. »Das war wirklich grausam. Ich wette, seine Frau hat ganz genau gewusst, was du in Wahrheit machst. Wahrscheinlich klärt sie ihn gerade darüber auf.«
»Nein, das war nicht grausam. Er war wirklich süß, aber schließlich lebt er ebenfalls auf dieser Welt, und da sollte er sich für Politik zumindest ansatzweise interessieren.«
»Ich bin überzeugt davon, dass er das tut«, antwortete David milde. »Nur sieht eben nicht jeder fern.«
Das hatte Ingrid schon des Öfteren gehört, konnte es aber nicht wirklich verstehen. Sie war der Meinung, dass die Menschen wissen sollten, was um sie herum geschah, und da gehörten Fernsehnachrichten sowie politische Debatten ganz einfach dazu.
»Wahrscheinlich liest der alte Erskine zu Hause am liebsten irgendwelche Yacht-Zeitschriften und Bücher über Seeschlachten, die vor dreihundert Jahren stattgefunden haben«, vermutete David. »Er lebt einfach glücklich in seiner eigenen Welt. Und warum auch nicht?«
Ingrid zuckte mit den Schultern. In diesem einen Punkt würden sie und David sicher niemals einer Meinung sein. Er konnte es den Menschen nachsehen, wenn sie nicht vier Zeitungen täglich lesen wollten, sie hingegen nicht.
»Du hattest wirklich Glück, weil du neben dieser wundervollen Laura sitzen durftest«, sagte sie jetzt.
»Sie war wirklich nett«, stimmte ihr David zu. »Obwohl sie einen Großteil des Abends damit verbracht hat, mir von ihrer Tochter zu erzählen, die gern etwas Erfahrung in einem großen Kaufhaus sammeln würde und jede Menge fantastischer Ideen für Modedesigns hat.«
»O Gott«, entfuhr es Ingrid. »Nicht schon wieder.«
Wenn sie selbst auf Fernseh-Partys ging, steckten ihr die Leute ständig ihre Lebensläufe oder die ihrer Kinder zu, da sie hofften, dass sich dank der Fürsprache der mächtigen, berühmten Ingrid Fitzgerald ein Platz beim Fernsehen ergattern ließ. Und wenn David auf Partys ging, erzählten ihm die Leute ein ums andere Mal von Söhnen oder Töchtern, die etwas kreiert hatten, ohne das Kenny’s Kaufhaus aufgeschmissen war.
»War es denn wenigstens okay?«
»Es klang auf jeden Fall sehr vielversprechend«, räumte David ein. »Ich habe ihr gesagt, dass sie ihren Lebenslauf an Stacey schicken soll.«
Stacey O’Shaughnessy war seine Assistentin. Eine wunderbare, herzensgute Frau, die in seinem Büro ebenso für Ordnung sorgte wie Ingrid in seinem Heim.
»Du bist so sozial und hast einen solchen Gerechtigkeitssinn, David Kenny«, stellte Ingrid fest.
»Genau wie du«, gab er zurück. »Du hättest den armen alten Erskine fertigmachen können, indem du ihm erzählst, was genau du machst, aber das hast du nicht getan, stimmt’s?«
»Nein«, gab Ingrid zu. »Ich würde nachts kein Auge zubekommen, wenn ich den Erskines dieser Welt gegenüber so gemein wäre, auch wenn mir ihre Ignoranz ganz sicher nicht gefällt.«
»Das werde ich dem Verteidigungsminister sagen«, murmelte David und sah sie mit einem verschmitzten Lächeln an.
»Erskine ist ein gutherziger alter Narr. Offenbar hat er sein Geld geerbt und musste, um im Leben klarzukommen, niemals etwas anderes tun, als Uniform und Krawatte einer alten, angesehenen Eliteschule anzuziehen. Hingegen ist der Verteidigungsminister ein hoch bezahlter Repräsentant des Volkes, der wissen müsste, dass er kein Leumundszeugnis für jemanden schreiben kann, der wegen Vergewaltigung angeklagt worden ist, nur weil das Haus der Eltern des Beschuldigten zufällig in seinem Wahlkreis steht. Das ist etwas völlig anderes«, regte Ingrid sich nicht weniger als vor der betreffenden Sendung auf.
Während eines Interviews verlor sie nie die Fassung, sondern blieb, was auch geschah, vollkommen cool. Doch sie nutzte ihre Leidenschaft für die Vorbereitung des Gesprächs, wenn sie überlegte, wie sie ihre Fragen formulieren musste, damit ihr Gesprächspartner keine Gelegenheit auszuweichen bekam.
»Stimmt. Du hattest recht, als du ihn festgenagelt hast«, gab David zu. »Das hatte er verdient.«
»O ja, das hatte er.«
Ingrids Zorn verrauchte, und sie seufzte auf. David konnte wenigstens verstehen, dass sie diese Dinge tat, weil sie keine Ungerechtigkeit ertrug. Der Gedanke, dass das Leumundszeugnis des Ministers die Verurteilung eines Gewalttäters hätte verhindern können, rief Empörung in ihr wach. David kannte sie so gut, dass er ihren Kampfgeist auch in diesem Fall verstand.
»Hier neben diesem großen Tor können Sie uns absetzen«, sagte er zu dem Chauffeur.
Sie stiegen aus, und Ingrid suchte ihre Schlüssel, während David die Brieftasche aus seiner Manteltasche zog. Sie war froh, dass sie so früh zu Hause waren. Es war nicht mal zwölf. Mit ein bisschen Glück lägen sie schon vor eins im Bett. Sie hoffte, dass David am kommenden Morgen nicht bereits bei Sonnenaufgang aufstand. Dann könnten sie beide sich vielleicht mit ihrem Kaffee in den Wintergarten setzen und gemütlich Zeitung lesen.
Ingrid öffnete das Tor. »Wollen wir morgen ausschlafen?«, wollte sie von ihrem Mann wissen, als sie neben ihm den Pfad hinauf zur Haustür ging.
»Tut mir leid. Ich muss noch ein paar Stunden ins Büro. Ich habe einen Berg von Arbeit auf dem Schreibtisch liegen, der sofort erledigt werden muss.«
»O David, fast könnte man meinen, du lebtest an dem verdammten Ort«, platzte es, bevor sie es verhindern konnte, aus Ingrid heraus.
Sie hasste es, so jämmerlich zu klingen. Auch sie war ab und zu völlig von ihrem Job beansprucht, falls also jemand verstand, dass die Arbeit manchmal einfach keinen Raum für andere Dinge ließ, dann sie.
»Nur ein paar Stunden«, sagte er. »Okay? Um zwei, spätestens um drei bin ich wieder da.«
»Okay.« Sie drückte seine Hand. »Vielleicht schlafen wir ja Sonntag aus.«
»Versprochen.«
»Das hoffe ich. Denn weißt du, ich habe auch so meine Bedürfnisse«, fügte sie scherzhaft hinzu.
»Ich kenne alle deine Bedürfnisse, Ingrid Kenny«, antwortete David. »Vielleicht sollte ich mit diesem Wissen mal zu einer Zeitung gehen. Schließlich wäre sicher auch die Öffentlichkeit daran interessiert«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Sie öffneten die Haustür und wurden sofort von den Hunden begrüßt. Während David die Alarmanlage ausstellte, bückte sich Ingrid nach den Tieren und strich ihnen über das Fell. »Hallo, ihr Schätze«, sagte sie. »Tut mir leid, dass wir ohne euch ausgegangen sind, aber jetzt sind wir wieder da.«
Irgendwo in ihrem Hinterkopf war ihr bewusst, dass David nicht wie sonst auf ihren koketten Hinweis auf ihre Bedürfnisse eingegangen war. Normalerweise hätte er sie an der Hand genommen und hinauf ins Schlafzimmer geführt. Heute aber hatte er den Satz mit einer scherzhaften Bemerkung abgetan.
Sicher war er einfach nur müde. Sie war ebenfalls erschöpft. Und sie achtete infolge ihrer Arbeit mehr als andere auf jede Nuance jedes Satzes. Das war dem armen David gegenüber ganz bestimmt nicht fair.
Sie hatten das Pflichtessen hinter sich gebracht, und jetzt lag das Wochenende vor ihr. Ingrid hatte keine Arbeit, musste keine Veranstaltung besuchen, könnte also einfach wunderbar entspannen und freute sich darauf. Sonntag wollte ihre Tochter Molly zum Essen kommen, und das würde sicher schön. Ach, wenn doch nur auch Ethan käme ...
Plötzlich fühlte Ingrid sich magnetisch von dem Laptop angezogen, der in ihrem Arbeitszimmer stand. Sie konnte schnell rübergehen und sehen, ob eine Mail von ihrem einundzwanzigjährigen Sohn angekommen war. Er war zurzeit mit seiner Gang in Vietnam. Doch wenn er ihr nicht geschrieben hatte, war es vier Tage her seit ihrem letzten Kontakt, und Ingrid stellte fest, dass sie immer panisch wurde, wenn es länger als drei Tage keine Nachricht von ihrem Weltenbummler gab. Normalerweise mailte Ethan regelmäßig – wenn er die meisten seiner Nachrichten auch frustrierend kurz hielt: Hi Mum und Dad, alles bestens, Wetter nicht gerade ideal, dafür aber die Leute umso besser. Macht euch keine Sorgen, uns geht’s allen gut. Alles Liebe, Ethan.
Nein, sie ging besser gleich ins Bett. Wenn sie keine E-Mail von ihm fand, brächte sie vor lauter Sorge ganz bestimmt kein Auge zu.
Als Ingrid am nächsten Vormittag die Augen aufschlug, lag sie quer in ihrem riesengroßen Bett. Sie streckte ihre Hand nach Davids Kissen aus – vergeblich. Er ist bereits ins Geschäft gefahren, dachte sie verschlafen und zog sich, um noch ein wenig zu dösen, die Decke bis unter das Kinn. Das Bett war warm und weich, und sie hatte das Gefühl, ein Teil davon zu sein. Wenn sie ihre Augen wieder schloss und ihre Gedanken einfach treiben ließ, schliefe sie bestimmt noch einmal ein.
Kurze Zeit später war ihr klar, dass das nur ein Wunschtraum war. Ihre geistige Datenbank war bereits in Betrieb. Ingrid wünschte sich oft, es gäbe irgendein System, um ihr Gehirn mit einem USB-Kabel an ihren Computer anzuschließen, damit es das ganze Zeug, das darin herumschwirrte, auf wundersame Art auf die Festplatte des Laptops übertrug. Sie konnte ganze E-Mails im Kopf verfassen, ausführliche Briefe schreiben, Reden entwerfen, sich genau vorstellen, was sie in der nächsten Sendung dem gesundheitspolitischen Sprecher der Opposition vorhalten würde, wenn sie morgens um fünf unter der warmen Decke lag.
Tatsächlich fertigte Ingrid einige ihrer besten Arbeiten in der vollkommenen Stille vor Anbruch der Dämmerung an. Man hatte sie einmal für einen Zeitschriftenartikel mit Erfolgstipps von Karrierefrauen interviewt, und sie hatte das normale Zeug wie alle anderen erzählt: davon, dass frau sich eine Liste machen und versuchen sollte, möglichst gut organisiert zu sein, davon, dass frau Telefongespräche über ihr Headset führen sollte, während sie in einem Stau auf dem Weg zur Arbeit saß ... All das tat sie wirklich, aber den mentalen Download morgens vor dem Aufstehen hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Ingrid wollte nicht den Eindruck erwecken, beständig unter Strom zu stehen. Auch wenn sie das tatsächlich tat – schließlich schwirrten ihr selbst jetzt, an einem Samstagmorgen, zahlreiche Ideen durch den Kopf, die sie speicherte oder verwarf, bevor es eilig weiter zum nächsten Thema ging.
Dagegen anzukämpfen funktionierte nie. Besser war es, die Gedanken einfach treiben zu lassen. Ihr cremefarbenes Kleid mit den karamellfarbenen Perlen musste dringend in die Reinigung, denn sie brauchte es für das Essen des Vereins gegen häusliche Gewalt am Donnerstagabend, zu dem sie als Gastrednerin eingeladen war. Das Kleid passte immer, ganz egal, ob Ingrid ein wenig zugenommen hatte oder schlank wie eine Gerte war, was sie daran erinnerte, dass sie wieder mal die ganze Woche nicht im Fitnessstudio gewesen war, obwohl sie zweimal wöchentlich trainieren und dazu noch schwimmen gehen musste, damit sich der unangenehme Rettungsring um ihre Hüften nicht noch stärker aufblies als bisher.
Vielleicht hatte Ethan ja gemailt. Ingrid sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Bitte, lieber Gott, pass auf meinen Jungen auf.
Was war sonst noch zu erledigen? Dutzende Mails von Menschen, die hofften, dass sich über sie ein Job beim Fernsehen ergattern ließ, mussten beantwortet werden. Sie half den Leuten gern, aber manchmal hatte sie so viele Mails in ihrem Posteingang, dass sie einfach nicht die Zeit fand, um sofort nach Erhalt auf jedes Schreiben einzugehen. Also tat sie es an ihren freien Tagen, denn sie schrieb die Antwortschreiben immer gerne persönlich. Ingrid hätte diese Tätigkeit auch Gloria überlassen können, ihrer Assistentin, die mit großer Effizienz über ihre Termine wachte und in deren Händen die Recherche zu sämtlichen Themen ihrer Sendung lag, doch als Journalistin war es irgendwie nicht richtig, wenn man jemand anderen für sich schreiben ließ.
Verdammt, dachte Ingrid, da war doch noch etwas anderes ... Man hatte sie gebeten, Schirmherrin eines Journalismusseminars zu sein.
Ingrid hatte nie ein Journalismusseminar besucht, sondern sich auf Umwegen den Weg in das Geschäft gebahnt. Sie hatte Politik studiert und nach ihrem Abschluss beim Radio angefangen, hinter den Kulissen als Rechercheassistentin und danach im Produktionsbereich, bevor sie zu den Fernsehnachrichten wechselte, wo ihr dann der völlig unerwartete Karrieresprung zur Moderation gelungen war. Sie hielt viel von Journalismusseminaren, nur hatte sie beim besten Willen nicht genügend Zeit. Ihr Leben war entsetzlich hektisch, viel zu hektisch für die unzähligen Anliegen, die sie gern unterstützen würde. Denn obwohl ihre Kinder erwachsen waren, brauchte sie auch für ihre Familie noch ein Minimum an Zeit.
Ingrid lächelte, während sie mit geschlossenen Augen in den Federn lag. Ihre geliebte Tochter Molly war der Grund, weshalb das wunderschöne cremefarbene Kleid gereinigt werden musste. Sie hatte es sich zwei Monate zuvor für eine formelle Feier ausgeliehen.
»Mum, es tut mir wirklich leid, ich wollte es reinigen lassen, nur weiß ich, dass ich es dann vergessen und nie wieder abholen würde, also habe ich gedacht, ich bringe es dir lieber gleich zurück und ...«, hatte sie gesagt.
»Schon gut«, war Ingrid ihr ins Wort gefallen. »Wirklich kein Problem.«
Und das hatte sie wirklich so gemeint. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war die wundervolle, herzensgute Molly hinsichtlich der Reinigung von Kleidern und des Einkaufens von Lebensmitteln eindeutig ein hoffnungsloser Fall, ging es aber um eine ihrer humanitären Kampagnen, wuchs sie über sich selbst hinaus. Mollys Arbeit gab Ingrid häufig das Gefühl, im Vergleich zu ihrer Tochter ein kapitalistischer Ausbeuter zu sein.
Molly engagierte sich für derart viele Dinge, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt die Zeit für ein bisschen Privatsphäre fand. Tagsüber war sie Pressesprecherin von Fight Poverty, einer Organisation, die sich um benachteiligte Kinder kümmerte, abends sammelte sie Spenden für das Tierheim, und am Wochenende arbeitete sie für einen Verein, der eine kleine Schule in Kenia gegründet und die Hoffnung hatte, dass sich irgendwann das Geld für zwei weitere Schulen fand.
Molly fuhr aus Umweltbewusstsein überallhin mit dem Rad und gab zwei Katzen aus der Tierauffangstation ein Heim. Sie interessierte sich nicht allzu sehr für das Bügeln ihrer Kleider oder dafür, ob sie etwas aß, dessen Haltbarkeitsdatum seit einem Monat überschritten war. Das war der Grund, aus dem Ingrid wirklich dankbar war, dass sie mit Natalie zusammenlebte, ihrer besten Freundin und gleichzeitig einem echten Organisationstalent. Molly und die beiden Katzen lägen andernfalls wahrscheinlich des Öfteren mit Lebensmittelvergiftungen im jeweils für sie bestimmten Krankenhaus.
Ach, dachte Ingrid, wenn doch nur Ethan jemanden wie Natalie in seiner Nähe hätte. Dann würde sie nachts wahrscheinlich deutlich besser schlafen. Sie, die alles in den Zeitungen las und den Nachrichtenkanal praktisch vierundzwanzig Stunden laufen ließ, hielt es fast nicht aus, sich irgendwelche Geschichten über zwanzigjährige Weltenbummler anzusehen. Wenn sie auf Berichte über Vietnam und Thailand stieß, hatte sie fürchterliche Angst, dass sie darin auf irgendetwas stieß, was auf eine bevorstehende Katastrophe für ihren geliebten Ethan schließen ließ.
Er war mit fünf Freunden unterwegs, lauter großen, starken, aufgeweckten Kerlen, doch das nahm ihr nichts von ihrer Angst. Mit zwanzig hatte man ganz einfach keine Ahnung, welche Vorsicht man im Ausland walten lassen musste, sondern war einfach eine Horde netter, blauäugiger Iren, die jedem mit einem Lächeln begegneten und in allen Menschen immer nur das Beste sahen. Sie bräuchten also nur zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und ihnen könnte alles Mögliche geschehen. Egal, wie sehr sie sich bemüht hatte, ihren Kindern einen Hauch ihres eigenen Zynismus mitzugeben, hatte es einfach nicht funktioniert.