Der Duft von irischem Lavendel - Cathy Kelly - E-Book
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Der Duft von irischem Lavendel E-Book

Cathy Kelly

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Beschreibung

Die Chance auf einen neuen Anfang? Der Wohlfühl-Roman »Der Duft von irischem Lavendel« von Cathy Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Wie zauberhaft ist die irische Summer Street: rote Backsteinhäuser, ein trubeliges Café unter alten Ahornbäumen – und mittendrin ein herrlicher Park mit duftendem Lavendel. Doch ausgerechnet der soll jetzt einem neumodischen Apartmentkomplex weichen! Da haben die Bauunternehmer ihre Rechnung aber ohne die Dorfbewohner gemacht. Und ohne Maggie, die zwar eigentlich nur auf Kurzbesuch in der alten Heimat ist, aber plötzlich zur Vorsitzenden des Parkrettungs-Komitees ernannt wird. Niemand ahnt, dass Maggies Leben in der Großstadt gerade in tausend Scherben zerbrochen ist … Aber vielleicht findet sie hier zu Hause etwas, was das Leben noch viel reicher macht? Wie etwa neue beste Freundinnen – oder einen verflixt attraktiver Mechaniker, der für wirklich jedes Problem eine Lösung parat zu haben scheint … »Warmherzig und wunderschön«, empfiehlt die New Woman diese berührende Small-Town-Romance. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Liebesroman »Der Duft von irischem Lavendel« von Bestsellerautorin Cathy Kelly wird Fans von Jenny Colgan und »Virgin River« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 770

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Über dieses Buch:

Wie zauberhaft ist die irische Summer Street: rote Backsteinhäuser, ein trubeliges Café unter alten Ahornbäumen – und mittendrin ein herrlicher Park mit duftendem Lavendel. Doch ausgerechnet der soll jetzt einem neumodischen Apartmentkomplex weichen! Da haben die Bauunternehmer ihre Rechnung aber ohne die Dorfbewohner gemacht. Und ohne Maggie, die zwar eigentlich nur auf Kurzbesuch in der alten Heimat ist, aber plötzlich zur Vorsitzenden des Parkrettungs-Komitees ernannt wird. Niemand ahnt, dass Maggies Leben in der Großstadt gerade in tausend Scherben zerbrochen ist … Aber vielleicht findet sie hier zu Hause etwas, was das Leben noch viel reicher macht? Wie etwa neue beste Freundinnen – oder einen verflixt attraktiver Mechaniker, der für wirklich jedes Problem eine Lösung parat zu haben scheint …

»Warmherzig und wunderschön«, empfiehlt die New Woman diese berührende Small-Town-Romance.

Über die Autorin:

Cathy Kelly arbeitete als Redakteurin, Filmkritikerin und »Kummerkastentante« bei der Dubliner Sunday World, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Am liebsten schreibt sie warmherzige, einfühlsame Geschichten über ihre irische Heimat. Cathy Kelly lebt mit ihrer Familie und ihren drei Hunden in County Wicklow.

Die Website der Autorin: www.cathykelly.co.uk/

Bei dotbooks veröffentlichte Cathy Kelly auch ihre Romane:

»Der Glanz von irischem Klee«

»Eine irische Hochzeit«

»Die irischen Freundinnen«

»Heimkehr nach Irland«

»Wie küsst man einen Iren?«

»Wie angelt man sich einen Iren?«

»Wie heiratet man einen Iren?«

»Die Schwestern von Ballymoreen«

»Die Freundinnen von Cloud’s Hill«

»Die Frauen von Ardagh’s Crown«

***

eBook-Neuausgabe Mai 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Past Secrets« bei HarperCollins Publishers, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Dann klappt’s auch mit dem Nachbarn« und 2007 unter dem Titel »Erdbeerträume« bei Blanvalet.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Cathy Kelly.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 by

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-617-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Cathy Kelly

Der Duft von irischem Lavendel

Roman

Aus dem Englischen von Uta Hege

dotbooks.

Kapitel 1

Wenn eine Straße einen hätte aktiv willkommen heißen können, hätte die irische Summer Street beide Arme ausgebreitet und allzeit den Kessel mit dem Teewasser in froher Erwartung auf dem Herd stehen gehabt.

Das kleine, aber wunderschöne rote Backsteinhaus, in dem Christie Devlin auf den Tag genau seit dreißig Jahren lebte, reihte sich wie ein glitzerndes Juwel in eine Kette voller herrlicher, bunter Steine ein.

Die etwa eine halbe Meile lange, leicht gebogene Summer Street begann an einer Kreuzung mit einem Café und gegenüber einem Haus, dessen ursprünglich leuchtend pinkfarbener Erdbeereis-Anstrich inzwischen zu einem gedämpften Rosaton verblichen war.

In dem Augenblick, in dem Christie die elegant geschwungene Straße, entlang der sich großblättrige Ahornbäume wie freundliche ältere Tanten über den Gehweg beugten, zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie gewusst: Dies war der Ort, an dem James und sie ihre Kinder aufwachsen lassen könnten. Hier würden sie glücklich sein.

Die letzten dreißig Jahre waren wie im Flug vergangen, dachte sie an diesem hellen, stillen Vormittag Ende April, während sie Ordnung schuf, Staub wischte, die Fußböden fegte und mit einem feuchten Lappen über die Fliesen in der Küche fuhr.

Das Licht der Sonne strömte durch die Fenster, es herrschte wohltuende Ruhe, und vor allem hatte Christie heute frei. Sie liebte ihre Arbeit als Kunstlehrerin an der Gesamtschule St. Ursula, aber sie hatte ihre Stundenzahl vor kurzem reduziert und genoss die zusätzliche freie Zeit.

Tilly und Rocket, ihre beiden Zwergdackel, die in ihrem vorherigen Leben eindeutig zwei Hoheiten gewesen waren, ruhten sich auf den kühlen Bodenfliesen von ihrem Morgenspaziergang aus. Im Hintergrund erklang leise Radiomusik, und die alte Kaffeemaschine machte die röchelnden Geräusche, die ihr signalisierten, dass das Wasser beinahe durchgelaufen war. Sie hätte also rundum glücklich sein können.

Das wäre sie auch gewesen – hätte sie nicht die ganze Zeit eine nagende Unruhe verspürt. Sie machte ihr bereits zu schaffen, seit sie um sechs zum Zwitschern der Vögel vor dem Schlafzimmerfenster die Augen geöffnet hatte.

»Gratuliere zu unserem Jubiläum«, hatte James schläfrig gemurmelt, als eine Viertelstunde später der Wecker geklingelt hatte, hatte sich zu ihr herumgerollt und festgestellt, dass Tilly zwischen ihnen lag. Eigentlich sollten die beiden Hunde auf den dicken cordbezogenen Kissen auf dem Boden schlafen. Tilly aber zog die kleine Kuhle in der Decke zwischen Herrchen und Frauchen ihrem eigenen Bett definitiv vor. James hatte sich den empört strampelnden Hund geschnappt, ihn auf der anderen Seite wieder abgesetzt und sich an seine Frau geschmiegt. »Jetzt leben wir seit dreißig Jahren hier, und ich habe auf dem Speicher noch immer keinen anständigen Fußboden verlegt.«

Obwohl Christie bereits hellwach gewesen war und sich des Gefühls nicht hatte erwehren können, dass irgendetwas irgendwo nicht stimmte, hatte sie gelacht. Alles war so wunderbar normal. Sicher bildete sie sich die drohende Gefahr nur ein.

»Ich erwarte, dass der Boden noch an diesem Wochenende fertig wird«, hatte sie in dem Ton erklärt, der selbst die ungestümste Klasse in St. Ursula vor Schreck erstarren ließ. Nicht dass sie allzu oft Probleme mit ungezogenen Schülerinnen hätte. Sie konnte sich derart für Kunst begeistern, dass sich ihr Enthusiasmus auf die meisten Kinder übertrug.

»Bitte nicht, Mrs. Devlin«, hatte ihr Mann gebettelt und dabei trefflich die Stimme eines quengeligen Schülers nachgeahmt. »Ich habe einfach nicht die Energie dazu. Außerdem frisst ständig der Hund die Hausaufgaben auf.«

Hechelnd hatte Tilly erneut das Bett geentert und war über ihn hinweggeklettert. So schnell gab sie die heimelige Kuhle zwischen ihnen gewiss nicht auf.

»Dieser Hund würde die Hausaufgaben garantiert fressen«, hatte James hinzugefügt.

Christie hatte eine Hand nach Tilly ausgestreckt und dabei gurrende Töne von sich gegeben.

»Ich glaube, du liebst diese beiden Hunde mehr als mich«, hatte sich James beschwert.

»Natürlich«, hatte sie ihn aufgezogen. Sie wusste nämlich genau, wie liebevoll ihr Mann mit Tilly und Rocket sprach, wenn er dachte, dass es niemand hörte. Auch wenn James groß, stattlich und sehr männlich war, hatte er ein extrem weiches Herz.

»Kinder werden groß und wollen dann kaum mehr geknuddelt werden, aber Hunde bleiben in dieser Hinsicht immer Welpen«, hatte sie hinzugefügt und Tilly sanft am Bäuchlein gekrault. »Und du hüpfst schließlich nicht vor Freude an mir hoch, wenn ich von der Arbeit komme, oder?«

»Mir war nicht klar, dass du das gerne hättest.« Er hatte ein paar Probe-Beller ausgestoßen. »Gesetzt den Fall, ich tue das, flüsterst du mir dann ebenfalls irgendwelche süßen Nichtigkeiten ins Ohr?«

Christie hatte ihren Mann betrachtet. Sein einst so dichtes weizenblondes Haar war inzwischen etwas schütter und wies die ersten grauen Strähnen auf. Und genau wie sie hatte er inzwischen viele kleine Falten im Gesicht. Immer noch aber rief sein Anblick ein Gefühl zärtlicher Liebe in ihr wach.

»Vielleicht.«

Rocket hatte fiepend zu ihnen aufgeschaut, weil er von dem gemeinsamen Vergnügen ausgeschlossen war.

James war aufgestanden, hatte das Hündchen neben Christie auf die Bettdecke gesetzt, und Rocket hatte sie mit begeisterten feuchten Hunde-Küssen belohnt.

»Ich hoffe, in meinem nächsten Leben komme ich als einer deiner Hunde auf die Welt«, hatte er auf dem Weg unter die Dusche gescherzt.

Christie hatte es geschaudert. »Ich mag es nicht, wenn du so redest«, hatte sie – zu der bereits wieder geschlossenen Badezimmertür – gesagt.

Dreißig Jahre hier in diesem Haus. Wie hatte die Zeit nur derart schnell vergehen können?

»Es ist einfach wunderbar«, hatte sie zu James an jenem ersten Tag gesagt, als sie, schwanger mit ihrem zweiten Jungen Shane, vor dem Haus mit der Nummer 34 gestanden hatte, das sie sich nur deshalb hatten leisten können, weil es, wie es der Makler dezent umschrieben hatte, »leicht renovierungsbedürftig« gewesen war.

»Bist du sicher, dass dir der Pseudo-Tudor-Kasten sieben Straßen weiter nicht doch besser gefällt?«, hatte James gefragt und dabei den kleinen Ethan fest an der Hand gehalten. Mit seinen dreieinviertel Jahren war Ethan mit Vorliebe auf seinem Bett herumgesprungen und/oder seinen Eltern entwischt, um irgendwelche möglichst gefährlichen Abenteuer zu bestehen.

Christie hatte ihren Mann mit hochgezogenen dunklen Brauen angesehen.

Der Vorgarten des Kastens hatte aus einem geteerten Quadrat bestanden, und hinter dem Haus hatten zwei riesengroße Hunde laut bellend ihr Revier verteidigt und auf Christies ausgestreckte Hand nicht gerade freundlich reagiert. Eine der Fensterscheiben in der oberen Etage hatte ein wenig einladendes, backsteingroßes Loch gehabt, und als James den Immobilienmakler beiläufig gefragt hatte, wo denn das mit einer AK47 bestückte Turmgeschütz geblieben sei, hätte sie beinahe losgeprustet.

»Auch wenn du mich vielleicht altmodisch findest«, hatte sie zu James gesagt, »sind mir die Summer Street und dieses Häuschen weitaus lieber.«

Trotz seines jämmerlichen Zustands hatte das Haus mit dem zierlichen Buntglas-Erkerfenster über der bogenförmigen Haustür mit der aufgemalten Nummer 34 warm und einladend gewirkt.

Von diesem Standort aus hatten die Devlins direkt auf das Summer Street Café mit seiner blau-weiß gestreiften Markise und dem blau-weißen Anstrich blicken können. Auf dem Gehweg hatten weiße Bistrostühle an drei zierlichen Tischen gestanden, und die leuchtend blau geblümten Decken auf den Tischen hatten ausgesehen, als stammten sie direkt von einem italienischen Balkon.

Auf derselben Straßenseite wie das Café gab es ein paar Reihenhäuser, zwischen die sich ein paar schlanke, freistehende Häuschen quetschten, acht kleine Eisenbahnerhäuschen, deren klassische Bordüren mit zartem Schnitzwerk versehen waren, dann eine Reihe roter Backsteinhäuser, einschließlich ihrem, und fünf Bungalows aus den Dreißigern, bevor die Straße mit ein paar zweigeschossigen Gebäuden ihren Abschluss fand. Auf der anderen Seite gab es ebenfalls ein paar Reihen- und Eisenbahnerhäuschen und dazwischen einen kleinen Park: ein sorgsam gepflegtes grünes Viereck mit einem säulenverzierten Musik- und einem Eisenbahnpavillon sowie einem winzigen Brunnen, den die Tauben derart liebten, dass kaum je eine ihr Geschäft anderswo verrichtete als an diesem einladenden Ort.

Die Ahornbäume, die die Straße säumten, wurden von farbenfrohen Randsteinbepflanzungen gesäumt, und die Türen der vielen verschiedenen Häuser waren himmelblau, weihnachtssternrot oder bernsteingelb lackiert.

Christie würde nie vergessen, dass James auf ihre Feststellung, das Häuschen wäre ideal, ihre Hand genommen und gesagt hatte: »Dann müssen wir es haben.« Ohne dass er vorher einen Blick ins Innere geworfen hätte.

Jedes Mal, wenn Christie den Leuten hinterher erzählte, sie hätten sich entschlossen, das Haus in der Summer Street zu kaufen, ohne dass sie es gründlich inspiziert hatten, hatte sie hinzugefügt, dass man eindeutig wüsste, wann man zu Hause angekommen war. Ein Zuhause bedeutete schließlich mehr als vier Wände und ein Dach.

»Mit einem solide gebauten Backsteinhaus liegt man nie verkehrt«, hatte James’ Bruder, der mit all diesem Gerede über Empfindungen nichts anzufangen wusste, weise festgestellt.

Tatsächlich war das Haus zwar ziemlich heruntergekommen gewesen, hatte dafür aber einen wunderbaren Schnitt. Wie eine vornehme Dame, die wirtschaftlich in Not geraten war und es sich kaum leisten konnte, Milch in ihren Tee zu geben, aber trotzdem darauf achtete, dass sie nie ungepflegt aussah.

James und Christie war bewusst gewesen, dass nicht nur die Proportionen oder die einladende Breite der kupferroten Haustür sie dazu bewogen hatten, dieses Haus zu kaufen. Christie hatte schlichtweg gewusst, dass dies für die Familie ein wirkliches Zuhause wäre. James wiederum hatte gelernt, ihren Instinkten zu vertrauen.

Als sie, James und Ethan einen Monat später eingezogen waren, waren sie die stolzen Besitzer eines leicht baufälligen Häuschens mit vier Schlafzimmern, einem Bad, einer nicht funktionstüchtigen Küche und einem Garten gewesen, in dem man im Sommer Hunderte von Schmetterlingen flattern sah.

Damals hatte es noch keinen dreigeschossigen Apartmentblock am Anfang der Straße gegeben und kein Schimpfen über wild geparkte Autos, denn die meisten Familien hatten Glück gehabt, wenn sie überhaupt einen Wagen besaßen. Allerdings hatte es in dem Park auch noch keine bunten Spiel- und Klettergeräte gegeben, von denen von früh bis spät – je nachdem, wie der Streit über die Benutzung der Rutsche ausgegangen war – fröhliches Juchzen oder aber lautes Schreien auf die Straße drang.

Auch Christie war mit Ethan und Shane zum Spielen in den Park gegangen. Jetzt führte sie ihre Hunde auf den stets ordentlich geharkten Wegen aus. Sie schob auch ihre beiden geliebten Enkelinnen, Sasha und Fifi, in ihren Buggys in den Park. Wobei Sasha mit ihren gerade mal zweieinhalb Jahren stets so begeistert auf den Brunnen zuhüpfte, dass Christie die Befürchtung hatte, eines Tages fiele sie kopfüber hinein. Ganz der Vater, dachte Christie dann.

Ethan hatte jede Menge Energie gehabt. Er hatte sich seit seinem ersten Atemzug temperamentvoll ins Leben gestürzt. Und er hatte die Summer Street geliebt.

»Am besten holen wir als Erstes den Rasenmäher raus«, hatte James am Tag nach ihrem Einzug gesagt, als Ethan jubelnd durch das hohe Gras hinter dem Haus gelaufen war und man ihn kaum noch zwischen all den Riesenhalmen sah. Dem Möbelwagen, den sie gemietet hatten, hatten sie schon vor der Tür geparkt. Da jedoch die Freunde, die ihnen beim Tragen und Aufbauen hatten helfen wollen, noch nicht da gewesen waren, hatten sie ein paar Minuten für sich allein gehabt. »Da draußen sieht es aus wie in einem Dschungel.«

»Hier drinnen auch«, hatte Christie trocken festgestellt. Sie hatte sich gerade in der Küche umgesehen, wo es auf der abblätternden, grässlich gelben Farbe besonders viele widerliche, schwarze Flecken gab. »Bitte sag mir, dass dieser Schimmel noch nicht an den Wänden war, als wir das Haus besichtigt haben. Vielleicht sollten wir keinen Architekten, sondern eher den Kammerjäger holen.«

»Glaubst du, dass uns heute Nacht, wenn wir in unseren Betten liegen, irgendein giftiger Hauspilz frisst?«

Christie hatte ihren Mann, der die gleichen blonden Haare und das gleiche sonnige Gemüt wie Ethan hatte, lächelnd angesehen. Ungeachtet schimmeliger Wände und wuchernder Pilze in den Ecken, hatten seine Augen vor Stolz darüber geleuchtet, dass er endlich Besitzer eines eigenen Hauses war.

»Wahrscheinlich. Also, wirst du Ethan retten oder muss ich meine Fünf-Monats-Wampe durch die Gegend hieven, um zu prüfen, was er treibt?« Sie war eine große, normalerweise schlanke Frau. Während ihrer Schwangerschaft mit Ethan hatte sie nur einen sanft gerundeten, straffen Basketball als Bauch gehabt, der von hinten überhaupt nicht aufgefallen war. Bei der zweiten Schwangerschaft jedoch war ihre schlanke Figur nur eine entfernte Erinnerung gewesen, und sie war sich wie ein riesiger, mit Schwangerschaftsstreifen übersäter Wackelpudding vorgekommen, von vorne, von der Seite und von hinten gleichermaßen fett.

Ihre Schwester Ana äußerte die Vermutung, dass bei der zweiten Schwangerschaft die Muskeln womöglich ihren Geist aufgeben hatten. Christie allerdings hatte gewusst, dass ihr unerklärlicher Heißhunger auf doppelte Portionen Eis mit frittierten Bananen gewiss nicht ganz unschuldig gewesen war.

»Ich werde ihn retten, meine Kräftige«, hatte James erklärt, lachend eine Hand auf ihren dicken Bauch gelegt und sie grinsend angezwinkert. »Schließlich sollst du nachher nicht zu müde sein, um das Haus mit mir zu taufen.«

Christie hatte amüsiert gelacht. Die Anstrengung der Schwangerschaft ließ sie abends meistens spätestens um neun in die Federn sinken, und nicht einmal ein ganzes Fass voll Aphrodisiakum hätte sie dann noch erregt. Als sie jedoch die hoffnungsvolle Miene ihres Mannes gesehen hatte, hatte sie ihm erklärt: »Nur, wenn du mir erst den Rücken massierst.«

Sie hatte keine Ahnung, weshalb gerade ihr Rücken eine ihrer erogenen Zonen war. Doch sie wusste, dass sie, wenn James sie mit seinen festen Händen knetete, um die Verspannungen zu lösen, garantiert in Stimmung kam.

»Abgemacht.«

Der Vorteil des Lebens in so einem heruntergekommenen Haus war, dass Christie sich keine Gedanken darüber hatte machen müssen, ob Ethan mit seinen Buntstiften die Wände bekritzelte oder ob das Mobiliar aus zweiter Hand, das sie sich nur hatten leisten können, bei seinen vielen Turnübungen Verschleißerscheinungen abbekam. Der Nachteil ihres Hauses war gewesen, dass sie das Gefühl hatte, es würde Jahre dauern, bis die Feuchtigkeit daraus vertrieben wäre. Und bis sie etwas würden essen können, ohne dass dabei ein Teil der Decke in ihre Teller rieselte.

Jetzt, ein ganzes Leben später, war Ethan dreiunddreißig, Shane beinahe dreißig, und ihre beiden Enkeltöchter hatten Christies Glück perfekt gemacht.

Inzwischen fiel ihr damals langes, dunkles Haar, das sie so oft zu einem losen Pferdeschwanz gebunden hatte, in kinnlangen Wellen weich um ihr Gesicht, und die Wärme ihrer olivfarbenen Haut und ihre dunklen, fein geschwungenen Brauen wurden durch den kühlen Silberton vorteilhaft betont.

Nach wie vor trug sie morgens einen Hauch Eyeliner um ihre schräg stehenden grünen Augen auf, hatte jedoch den schwarzen Kajalstift, mit dem sie sich früher geschminkt hatte, gegen einen modernen, schlanken Pinsel getauscht. Sie probierte gerne neue Dinge aus, denn sie war der festen Überzeugung, dass älteren Menschen, die zu sehr an der Vergangenheit klebten, ihr Alter überdeutlich anzusehen war.

Auch die Küche sah lange nicht so alt aus, wie sie tatsächlich war. Nach der ersten bunten Phase und der Phase, in der sämtliche Fronten aus Kiefernholz gewesen waren, machte sie jetzt die dritte – die relativ moderne Ahornphase – durch.

Christie blickte aus dem Fenster in den Garten. Unzählige Arbeitsstunden hatten neben einem Schmetterlings- ein Paradies für Bienen aus ihm gemacht. Die zahllosen verschiedenen Lavendelsorten, die den ganzen Sommer über blühten, zogen die Nektarsammler magisch an.

Jetzt, Ende April, verströmten die ersten kräftigen weißen Blüten der alten französischen Rose, die Christie jahrelang gehätschelt hatte, bis sie sich über die gesamte Pergola erstreckte, ihren moschusartigen Duft. Der Garten lag derart geschützt, dass die Rosen bereits einen Monat, bevor sie ihre Knospen hätten öffnen sollen, blühten. Und während sie das Geschirr vom Frühstück spülte, trug die milde Frühlingsbrise ihren Duft durch das offene Fenster zu ihr herein.

Christie kratzte ein paar hartnäckige Krümel eines Toastbrots von einem weißen Teller und suchte nach einer Erklärung für die bohrende Angst in ihrem Kopf.

Bei Jubiläen schwappten vermutlich automatisch alte Erinnerungen hoch. Das war sicher alles.

Sie hatte in den letzten dreißig Jahren großes Glück gehabt. Während ihres gesamten Ehelebens hatte es nur einmal eine Zeit gegeben, in der beinahe alles schiefgegangen wäre. Doch hatte sie – ähnlich wie man gerade noch zur rechten Zeit ein herunterfallendes Glas auffängt, bevor es auf den Boden kracht – die Katastrophe im letzten Augenblick verhindern können. Ihre Beziehung hatte einen winzigen Riss aus jener Zeit zurückbehalten, den jedoch außer ihr selbst wahrscheinlich niemand bemerkte. Das konnte also unmöglich der Grund für ihre Sorge sein, oder?

Nein, sagte sie sich streng, während sie den gespülten Teller in das Trockengestell stellte. Das alles war vergangen, aus und vorbei.

Sie wusste, dass sie reich gesegnet war. James war ihr noch derselbe gute Mann wie zu Anfang ihrer Ehe. Vielleicht sogar noch besser. Sie waren mit zunehmendem Alter stärker zusammengewachsen, statt sich einander – wie so viele andere – zu entfremden. Christie kannte viele Leute ihres Alters, die verheiratet geblieben waren, obwohl es außer Groll und alten Hochzeitsfotos keine Gemeinsamkeiten mehr gab. Sie hackten nur noch aufeinander herum, sodass man ihre Gesellschaft nicht mehr gerne suchte. Weshalb trennten sich solche Paare nicht?, überlegte Christie.

Wäre es nicht besser, alleine glücklich als gemeinsam unglücklich zu sein? Falls James und sie sich, Gott bewahre, jemals derart auseinanderentwickeln würden, würden sie ihre Beziehung würdevoll beenden und getrennter Wege gehen.

»Das würdet ihr garantiert nicht«, hatte ihre Schwester Ana einmal am Ende eines langen Abends auf der kleinen Terrasse, als die Weingläser längst leer gewesen und die Gespräche auf »Was-wäre-wenn« gekommen waren, boshaft zu ihr gesagt. »Mit Würde hätte eure Trennung nicht das Mindeste zu tun. Ich wette, du würdest James des Nachts mit deiner Gartenschere erstechen, ihn unter dem Rhabarber verbuddeln und dich im nächsten Jahr über die gute Ernte freuen!«

»Also wirklich, Ana«, hatte James gespielt verletzt gesagt. »Das würde Christie niemals tun.« Er hatte eine effektvolle Pause eingelegt und sich in dem von seiner Frau heiß geliebten Garten umgesehen. »Der Flieder muss gedüngt werden, nicht der Rhabarber. Sie würde mich also ganz sicher dort verscharren.«

»Ihr irrt euch beide«, hatte Christie grinsend erklärt und die Hand ihres Schwagers Rick ergriffen. »Ich werde James erst hier unter den Steinen verbuddeln, und dann brennen Rick und ich gemeinsam durch.«

»Wenn ich dafür dieses Haus bekomme«, hatte Ana im Aufstehen gekichert, »könnt ihr beide machen, was ihr wollt.«

Und tatsächlich war es ein wunderbares Haus geworden. Eins der schönsten in der ganzen Straße. Christie hatte es mit ihrem künstlerischen Talent innen ebenso warm und einladend gestaltet, wie es von außen von Beginn an gewesen war.

»Wenn Mum und Dad das Haus doch sehen könnten«, hatte Ana wehmütig gemeint und Christie in dem kleinen Flur umarmt, in dem Schwarzweißaufnahmen der Familie neben sechs der Blumenaquarelle hingen, die sie anfangs erst mal verkauft hatte, um die Hypothek auf ihr Häuschen zu bezahlen.

»Dad würde es hassen«, hatte Christie lachend festgestellt. »Viel zu viel Schnickschnack überall, würde er behaupten.«

»Das würde er bestimmt nicht«, hatte die mit vierundfünfzig sechs Jahre jüngere Ana protestiert. »Er wäre sicher ganz begeistert, auch wenn es völlig anders als das Haus in Kilshandra ist.«

Kilshandra, wo sie aufgewachsen waren, war ein kleines Städtchen an der Ostküste, durch das man höchstens durchfuhr.

»Es ist wirklich anders als Kilshandra«, hatte Christie gemurmelt und gedacht, dass das eins der schönsten Dinge an ihrem Zuhause war.

Der Gedanke an die Vergangenheit rief wieder dieses Gefühl der Angst in ihr wach. Sie wollte nicht daran denken, dachte sie erbost. Verschwinde aus meinen Gedanken. Sie hatte laut gesprochen, wurde ihr bewusst, denn die beiden Hunde sahen erschrocken zu ihr auf.

Der Abwasch war nun erledigt, und sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, um sie mit hinauszunehmen, während sie die Liste mit den Besorgungen durchging. Sie musste ein paar Lebensmittel kaufen, Rechnungen bezahlen, ein paar Briefe einwerfen, und auf dem Block neben dem Telefonbuch lag eine lange Liste mit Namen von Leuten, die sie zurückrufen musste. Plötzlich tauchte erneut das seltsame und gleichzeitig nun vertraute Unbehagen in ihr auf, das sie schon seit dem Aufstehen empfand. Wie eine dunkle Wolke an einem strahlend blauen Himmel, die einen vor dem drohenden Gewitter möglichst schnell in Deckung gehen ließ. Jetzt war es keine leise Ahnung mehr, sondern ein deutlicher Alarm.

Christie ließ ihre Tasse auf die Steinterrasse fallen. Rocket und Tilly kamen interessiert angelaufen und blickten sie verdutzt, doch gleichzeitig ängstlich aus ihren braunen Hundeaugen an. Wir haben nichts getan. Wir sind unschuldig.

Automatisch scheuchte Christie sie von der Terrasse.

»Ihr sollt euch nicht in die Pfötchen schneiden«, erklärte sie den beiden sanft, sperrte sie in die Küche, kehrte mit Besen und Kehrblech zurück nach draußen und fegte die Scherben zusammen.

Zeit ihres Lebens hatte Christie Dinge sehen können, die andere nicht sahen. Es war eine seltsame, träumerische Gabe: Sie konnte sie nicht nach Belieben abrufen, und sie hatte auch noch nie Probleme, die sie selbst betroffen hätten, vorhergesehen. Aber immer dann, wenn sie es am wenigsten erwartete, konnte sie mit einem Mal die Wahrheit, konnte sie mit einem Mal in das Herz eines anderen Menschen sehen.

Als Kind hatte sie angenommen, jeder könnte das. In ihrer tiefreligiösen Familie hatte sie niemanden fragen können, denn irgendetwas hatte sie davor gewarnt, dass es den anderen möglicherweise nicht gefiele, wenn sie ihnen in die Seele sah. Ihr Vater hatte unbeirrt zu bereits vor Hunderten von Jahren verstorbenen Heiligen gebetet, wenn etwas schiefgelaufen war, doch er hatte es absolut missbilligt, wenn die Mädchen aus dem Dorf sich die Zukunft hatten vorhersagen lassen. Die Gabe des Sehens, die die Zigeuner meist propagierten, hatte er regelrecht gehasst. Ihre Mutter dagegen hatte niemals eine Entscheidung getroffen, ohne vorher ihren Ehemann zu konsultieren. Meinungen, die Vater nicht gebilligt hatte, hatten nämlich regelmäßig seinen heißen Zorn geweckt. Also hatte Christie gelernt, sich im Hintergrund zu halten und auf der Hut zu sein. Was nicht weiter schwer gewesen war, denn ihre sechs älteren Brüder und die kleine Schwester hatten derart viel Lärm veranstaltet, dass sie nie aufgefallen war.

Später war sie froh, dass sie ihre Gabe für sich behalten hatte, denn wie zum Beispiel hätte sie den Leuten erklären sollen, dass sie vorausgesehen hatte, dass McGoverns Scheune niederbrennen würde und dass Mr. McGovern das Feuer selbst gelegt hatte, damit er das Geld von der Versicherung bekam?

Zum ersten Mal hatte sie mit neunzehn gegenüber einem anderen Menschen angedeutet, dass sie mit der Gabe des Sehens gesegnet war. Ihre beste Freundin Sarah hatte sich eingebildet, dass Ted mit den lächelnden Augen und der Ähnlichkeit mit Steve McQueen für sie der Mann des Lebens war.

»Er liebt mich, und er will mich heiraten«, hatte Sarah ihr mit der Leidenschaft einer verliebten Neunzehnjährigen erklärt.

»Ich habe das Gefühl, dass er dir gegenüber nicht ehrlich ist. Irgendwie erscheint er mir nicht ganz echt«, hatte Christie daraufhin erwidert. Plötzlich hatte sie gewusst, dass Ted Sarah nicht liebte und dass er noch einem anderen Mädchen ähnliche Versprechen gab.

»Natürlich ist er echt«, hatte Sarah zornbebend erklärt.

Christie hatte in dem Moment unwillkürlich an den Überbringer schlechter Botschaften denken müssen, der erschossen worden war.

Wenig später hatte sich herausgestellt, dass Ted tatsächlich mit einem zweiten Mädchen angebandelt hatte. Im Gegensatz zu Sarah oder Christie, die beide aus kinderreichen, mit finanziellen Mitteln nicht gerade gesegneten Familien stammten, kam dieses Mädchen aus einer wohlhabenden Familie.

»Woher hast du das gewusst?«, hatte Sarah sie schluchzend gefragt.

»Irgendwie habe ich es gesehen«, hatte Christie wahrheitsgemäß erklärt.

Je näher die betroffene Person ihr stand, umso undeutlicher wurden die Bilder, und sich selber hatte sie noch nie gesehen. Genauso sollte es wahrscheinlich sein. Doch heute hatte sie zum ersten Mal das grässliche Gefühl, dass die dunkle Vorahnung sie selbst betraf.

Erfüllt von heller Panik stand sie in ihrer friedlichen Küche, in der Büschel getrockneter Kräuter von der Decke hingen und in der sie bisher rundum glücklich gewesen war. Ihre Familie! Irgendetwas Schreckliches drohte ihnen zu passieren, und sie musste es verhindern! Dieses Gefühl hatte sie nie zuvor gehabt. Sie hatte niemals die Vorahnung eines Unglücks gehabt, das ihre Söhne oder James befallen könnte.

Selbst damals, als sich Shane mit dreizehn beim Sturz von einem Baum das Schlüsselbein gebrochen hatte, war sie bei einem Museumsbesuch mit einer Schulklasse gewesen, um zwanzig Mädchen Jack B. Yeats näherzubringen.

Als die Sekretärin von St. Ursula sie endlich erreicht hatte, hatte sie sich für ihr Unvermögen verflucht, die Dinge zu sehen, die wirklich wichtig waren. Wie hatte ihr verborgen bleiben können, dass ihr Junge Schmerzen litt? Was nützte ihr die Gabe, wenn das, was sie sehen konnte, lediglich Fremde betraf?

Getrieben von ihrer Unruhe rief Christie ihre beiden Söhne an. In fröhlichem Plauderton erklärte sie ihnen, dass ihr heutiges Horoskop leicht pechbeladen sei und sie samt ihren Familien verstärkt aufpassen sollten.

Schließlich rief sie auch James an, den sie erst vor zwei Stunden verabschiedet hatte, als er wegen eines Termins in Cork zum Bahnhof aufgebrochen war.

»Alles in Ordnung, Christie?«, fragte er sie leicht alarmiert.

»Alles bestens«, beruhigte sie ihn, da sie nicht zugeben wollte, in welcher Sorge sie um ihn und ihre Söhne war. »Mir war ein bisschen unheimlich, sonst nichts. Hier ist es ziemlich gewittrig.« Was nicht im Geringsten stimmte. Der Himmel war so blau und klar wie der einzelne ovale Saphir in ihrem antiken Verlobungsring. »Ich liebe dich, James«, fügte sie hinzu. Dann brach die Verbindung ab, und Christie blieb mit furchtsam klopfendem Herzen zurück.

Also rief sie noch einmal bei ihm an und sprach auf seine Mobilbox: »Es geht mir gut. Ich gehe jetzt erst mal einkaufen. Ruf mich doch nachher an und sag mir, ob du vielleicht den früheren Zug nach Hause nehmen kannst. Ich liebe dich. Bis dann.«

James arbeitete für eine staatliche Umweltagentur und hatte es mit Fleiß und Können zu einer hohen Position gebracht. Er reiste viel im Land herum, und Christie hatte Angst, das endlose Herumfahren wäre für ihn allmählich zu anstrengend. James aber liebte seinen Beruf und dachte mit keiner Silbe ans Aufhören.

Um zehn lief Christie schließlich mit ihren Einkaufstaschen die Summer Street hinunter und versuchte, ihre Ängste zu verdrängen. An den drei Tagen in der Woche, an denen sie unterrichtete, bog sie an ihrem Gartentor nach links ab. Heute jedoch ging sie nach rechts in Richtung des Summer Street Café.

Es war eine angenehme Tageszeit ohne viel Verkehr. Die gestressten morgendlichen Autofahrer saßen in ihren Büros, und die Summer Street gehörte wieder den Bewohnern. Viele der ursprünglichen Nachbarn waren nicht mehr da, einige aber lebten beinahe genauso lange in der Straße wie sie selbst.

Wie zum Beispiel Dennis und Una Maguire, Besitzer einer Reihe klappriger Vehikel, denen die Empörung ihrer Nachbarn darüber, dass Fahrzeuge mit derart vielen Beulen direkt neben ihrem glänzenden BMW die Straße verunzieren durften, nicht weiter aufzufallen schien. Die Maguires hatten eine Tochter, Maggie, ein wirklich nettes Mädchen, wie Christie sich entsann. Sie war groß, schüchtern, immer höflich und hatte ihre Attraktivität als junges Mädchen hinter einem Schleier karottenroter Locken sorgfältig versteckt. Christie hatte sie nie unterrichtet, aber wie die meisten Mädchen in der Straße hatte Maggie für Shane geschwärmt. Was unter anderem auch seinem wild zerzausten blonden Haar und seinem kessen Lächeln zu verdanken gewesen war. Er war ein paar Monate älter als Maggie – unglaublich, dass sie beide jetzt fast dreißig waren – und hatte ihre jugendliche Schwärmerei nie bemerkt.

»Sag doch einfach mal hallo, wenn du sie siehst«, hatte Christie ihn gebeten. Sie war überzeugt davon gewesen, dass ein paar nette Worte seitens ihres Sohnes dem schüchternen Mädchen gutgetan hätten.

»Ah, Mom, dann bildet sie sich womöglich ein, dass ich mehr will. Denk doch bloß mal nach, bevor du solche Sachen sagst.«

»Ich habe nachgedacht«, hatte sie erwidert. »Ich bitte dich lediglich darum, ein bisschen nett zu ihr zu sein. Das kostet schließlich nichts.« Bei ihren letzten Worten hatte ihre Stimme einen etwas schrillen Klang gehabt.

»Okay«, hatte er achselzuckend gemurmelt. »Wenn ich ihr das nächste Mal begegne, grüße ich.«

»Und sei bitte freundlich.«

»Soll ich ihr vielleicht noch einen Heiratsantrag machen, damit du glücklich bist?«

Maggie lebte inzwischen in Galway, und Christie hatte sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Doch die erwachsene Maggie hatte das Versprechen eingehalten, das Christie bereits in dem jungen Mädchen gesehen hatte. Sie war eine wunderschöne junge Frau geworden, mit schimmerndem kastanienbraunem Haar, einem perfekt geschnittenen ovalen Gesicht mit kobaltblauen Augen, der durchscheinenden Haut des echten Rotschopfs und einem ausdrucksvollen Mund. Sie schien sich ihrer Schönheit allerdings nicht im Mindesten bewusst zu sein. Christie spürte deutlich, dass Maggie Maguire ihr wahres Ich nach wie vor verbarg.

»Es geht ihr gut«, erklärte Una jedes Mal, wenn Christie sie nach ihrer Tochter fragte. Vor dreißig Jahren war auch Una rothaarig gewesen. Inzwischen waren ihre Haare rötlich blond mit einer Reihe feiner grauer Fäden. Trotzdem war sie noch immer eine Schönheit und hatte das gleiche fein gemeißelte Gesicht wie das, mit dem Maggie gesegnet war. »Maggie hat einen wirklich wunderbaren Partner. Er ist Dozent am College, und sie arbeitet inzwischen in der wissenschaftlichen Abteilung der Bibliothek. Die beiden sind füreinander wie geschaffen und leben seit drei Jahren in einer herrlichen Wohnung in der Nähe des Eyre Square zusammen. Bisher ist von Heirat nicht die Rede, aber das ist den jungen Leuten heutzutage ja nicht mehr so wichtig.«

»Nein«, stimmte Christie zu, obwohl sie wusste, dass es Unas größter Wunsch gewesen wäre, dass ihr einziges Kind heiratete und Kinder bekam. Sie achtete sorgfältig darauf, dass Una nicht bemerkte, dass sie wusste, was sich hinter ihren Worten verbarg.

Im Verlauf der Jahre hatte Christie die Erfahrung machen müssen, dass die meisten Menschen nicht wollten, dass sie ihnen in die Herzen sah. Deshalb behielt sie ihre Kenntnisse für sich – wenn nicht jemand ausdrücklich um Auskunft bat.

Zehn Meter vor ihr flitzte die junge Amber Reid mit frisch gewaschenen, fröhlich wippenden, langen goldbraunen Haaren durch das Gartentor des Hauses Nummer achtzehn. Mit ihren siebzehn Jahren war Amber in der letzten Klasse von St. Ursula und ohne jeden Zweifel einer der Stars in Christies Kurs. Sie konnte alles und jeden naturgetreu mit ihrem Bleistift verewigen, hatte aber ebenfalls großes Talent für Landschaftsaquarelle und Gemälde von fantasievollen Orten mit seltsamen Gebäuden, die effektiv anders aussahen als alles, was es auf der Erde gab.

Amber hatte eine unmoderne, üppige Venusfigur und ein kleines, plump gerundetes Gesicht. Das einzig wirklich Schöne an ihr waren ihre zinnfarbenen Augen, um deren Pupillen zwei dunkle, bernsteinfarbene Ringe lagen und deren Blick sich niemand so einfach entziehen konnte. Sie hätte niemals mit den langbeinigen Schulschönheiten mit den zarten Wangenknochen konkurrieren können. Aber ihre Vitalität und die Intelligenz, die in ihren Augen leuchtete, machten sie attraktiver als jede jugendliche Schönheitskönigin. Und Christie sah auch den Sexappeal des Mädchens, den verführerischen Reiz, den man nicht mit Händen greifen und den ein normaler Fotograf nicht einfangen konnte, ein Künstler oder eine Künstlerin hingegen schon.

Christie wusste, wenn man St. Ursula nicht aus irgendwelchen Gründen an diesem Morgen evakuiert hatte, müsste Amber in der Schule sein. Aber sie war hier und stöckelte auf schmerzlich hohen Absätzen und in einem farbenfrohen Rock, der – anders als die Röcke der vorgeschriebenen grauen Uniform der Schule – weich um ihre Hüften schwang, den Bürgersteig hinab. Dabei hielt sie ein Handy an ihr Ohr und sprach so laut, dass Christie jedes Wort verstand.

»Ich gehe gerade aus dem Haus. Ist irgendjemandem aufgefallen, dass ich nicht da bin? Hat MacVitie schon einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil ihre beste Schülerin fehlt?«

Mrs. MacVitie war die Mathelehrerin, und Christie hatte berechtigte Zweifel, dass sie ausgerechnet Amber, bei der eindeutig die linke Hirnhälfte besser funktionierte und die in Mathe ein hoffnungsloser Fall war, als ihre beste Schülerin ansah. Als Lieblingsschülerin vielleicht, denn es war schwer, sich dem Charme des allzeit aufmerksamen, höflichen und fleißigen Mädchens zu entziehen. Aber die Beste war sie garantiert nicht.

Sicher telefonierte sie mit ihrer Busenfreundin Ella, und Ella schien sie dementsprechend zu beruhigen.

»Prima. Falls jemand nach mir fragt, sagst du einfach, ich wäre schon gestern total schlapp gewesen und offenbar noch nicht wieder fit. Ich habe vorhin bei der Sekretärin angerufen und gesagt, ich wäre krank. Aber für den Fall der Fälle solltest du mir besser Rückendeckung geben und erzählen, ich hätte mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Was nicht mal gelogen ist«, meinte Amber lachend. »Schließlich reicht es, wenn ich an die Schule denke, und schon wird mir schlecht.«

Christie überlegte, ob wohl Ambers Mutter Faye etwas davon wusste, was die Kleine heute trieb.

Faye Reid war jung verwitwet, eine ruhige, nüchterne Person, die bei keiner Schulversammlung fehlte und sich auch sonst für sämtliche Belange ihrer Tochter interessierte. Obgleich sie in derselben Straße lebten, hatte Christie nicht viel mit Faye zu tun. Sie war sehr zurückhaltend und hatte es anscheinend immer eilig, wenn man sie in einem ihrer konservativen marineblauen Kostüme und in ihren flachen Schuhen, eine Aktentasche in der Hand, die Straße hinunterlaufen sah. Es gab einen deutlichen Kontrast zwischen Ambers schmetterlingshafter Attraktivität und der nüchternen Erscheinung ihrer Mutter. Sie schien ständig zwischen ihrer Arbeit und ihrem Zuhause hin- und herzuhasten. Sie rackerte sich ab, um ihr Häuschen abzubezahlen, und gleichzeitig sorgte sie dafür, dass es ihrer Tochter an nichts mangelte. Faye opferte sich für Amber auf, das sah auch ein Mensch ohne Christies besondere Gabe.

»Sie ist eine der talentiertesten Schülerinnen, die ich jemals unterrichtet habe«, hatte Christie Faye vor zwei Jahren, kurz nachdem sie Amber als Schülerin bekommen hatte, bei einem Elterngespräch erklärt. »Jede Kunsthochschule der Welt würde sich glücklich schätzen, sie als Studentin zu haben.«

Faye hatte angefangen zu strahlen und plötzlich völlig verändert ausgesehen. Anders als ihre Tochter war sie von einer beinahe herausfordernden Schlichtheit. Während Ambers Rundungen verführerisch und sexy wirkten, sah sie eher etwas plump und übergewichtig aus. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem derart strengen Knoten aufgesteckt, wie er höchstens Frauen mit den Wangenknochen von Supermodels stand. Und Faye Reid hatte bei weitem nicht die Knochen eines Supermodels. Als sie jedoch mit einem Mal gelächelt hatte, konnte man Ambers Charme durchblitzen sehen, und Christie hatte sich gefragt, weswegen eine Frau wie Faye, die doch höchstens vierzig war, derart zurückgezogen lebte. Niemals hatte sie erlebt, dass sie einen Mann mit einem Kuss vor ihrer Haustür verabschiedet hatte. Ihre Kleider, der unauffällige Ohrschmuck und die flachen Schuhe, die sie eindeutig deshalb trug, weil sie in ihnen garantiert keine Blasen bekäme, wirkten wie eine Rüstung, hinter der sie ihren Sexappeal vor aller Welt verbarg.

Christie hatte sich konzentriert, um eventuell noch etwas mehr erkennen zu können. Doch jäh hatte sich Faye Reid wieder total verschlossen, und sie hatte nichts mehr als Zurückhaltung sehen können.

»Danke, Mrs. Devlin«, hatte Faye höflich gesagt. »Das glaube ich ebenfalls, aber ich liebe sie so sehr, dass ich dachte, ich wäre nicht mehr objektiv. Schließlich halten alle Eltern ihre Kinder für einen zweiten Mozart oder Picasso, nicht wahr?«

»Nicht alle«, hatte Christie bei dem Gedanken an die Eltern, die sie im Verlauf der Jahre kennen gelernt hatte und die nicht den geringsten Glauben an ihre eigenen Kinder hatten, grimmig festgestellt.

»Ja, Sie haben sicher Recht«, hatte Faye gesagt und leicht zynisch genickt. »Es gibt immer Eltern, die ihre Kinder nicht zu schätzen wissen. Aber mit zwanzig Jahren Psychotherapie lässt sich das bestimmt beheben.«

Vor ihr beendete Amber mit einem gut gelaunten »Tschüss« ihr Telefongespräch. Christie war bewusst, dass sie nun als ordentliche Lehrerin das Mädchen fragen müsste, weshalb es nicht in der Schule war. Plötzlich jedoch fing Amber trotz der hochhackigen Schuhe an zu rennen, sodass ihr Christie nur noch verblüfft hinterhersah.

Christie zuckte mit den Schultern. Amber war eine gute Schülerin und hatte bisher noch nie geschwänzt. Sie und Ella O’Brien hatten nie zu den aufsässigen Schulcliquen gehört, und es war ihnen gelungen, die Pubertät ohne bemerkenswerte Anfälle rebellischen Verhaltens schadlos für sich und andere zu überstehen.

Vielleicht gab es einen guten Grund dafür, dass sie heute in der Schule fehlte. Außerdem war Christie klar, dass es außerhalb der Schule ebenfalls sehr viel zu lernen gab.

Als sie selber jung gewesen war, hatte sie sich auch nicht ununterbrochen vorschriftsmäßig verhalten.

Wieder dachte Christie an die Vergangenheit und die Orte, an denen sie gelebt hatte. Das Haus in Kilshandra, in dem das Elend und die Bitterkeit mit Händen greifbar gewesen waren, sodass sie es kaum hatte erwarten können, endlich alt genug zu sein, um dort auszuziehen. Dann das Zimmer in der Dunville Avenue, wo sie so viele Freunde gefunden hatte und wo ihr klar geworden war, dass sie ihre besondere Gabe nicht verstecken musste. Und schließlich das Häuschen in der Summer Street, wo ihr all das Gute in ihrem Leben widerfahren war.

Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie die junge Christie ausgesehen hatte, die hier eingezogen war – sie hatte ihre langen dunklen Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden und ständig Jeans und T-Shirts angehabt. Und sie war wirklich glücklich gewesen mit ihrem wunderbaren Mann. Dazu hatten sie genügend Geld, um nicht von dem Schuldenberg erdrückt zu werden, ein putzmunteres Kind, und dann war sie schwanger mit dem zweiten. Ja, an die Jahre in der Summer Street dachte sie gern zurück.

Vor allem, da es andere Zeiten gegeben hatte, die sie lieber vergaß.

Wieder hatte sie dieses seltsame Gefühl, mit dem sie bereits aufgestanden war, weshalb ihr trotz des warmen Morgens ein kalter Schauder über den Rücken rann.

Kapitel 2

Amber Reid war derart darauf konzentriert, den Bus nicht zu verpassen, dass sie gar nicht realisiert hatte, dass ausgerechnet Mrs. Devlin hinter ihr gewesen war. Und das, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sorgfältig darauf zu achten, dass niemand aus der Nachbarschaft sie sähe, der ihrer Mutter erzählen könnte, dass sie an einem ganz normalen Schultag ohne ihre Uniform aus dem Haus gelaufen war.

»Wir haben heute Wandertag«, hätte Amber erforderlichenfalls geschwindelt, obwohl den Schülerinnen, die kurz vor der Abschlussprüfung standen, keine Zeit für Wandertage blieb. Selbst wenn sie einen Ausflug gehabt hätten, hätte sie dafür wohl kaum ihre besten Schuhe – mit bronzefarbenem Lackspray aufgemotzte, schmale, hochhackige Secondhandsandalen –, ein hauchdünnes Seidenjäckchen, einen weich schwingenden Rock und die Kette mit dem phänomenalen Tigeraugenanhänger angezogen, die sie erst vor kurzem in der untersten Kommodenschublade in Fayes Schlafzimmer gefunden hatte. Die Herkunft dieser Kette war ihr schleierhaft. Ihre Mutter trug nur langweilige Kostüme und hatte, egal, was Amber zu ihr sagte, nie etwas aus sich gemacht. Deshalb war die Kette völlig untypisch für sie. Amber überlegte immer noch, woher ihre Mutter sie wohl hatte. Doch sie konnte sie nicht fragen, denn dass sie in ihrem Schlafzimmer herumgeschnüffelt hatte, hätte Faye verletzt. Trotzdem war es seltsam, dass sie diese Kette in der Schublade versteckte. Schließlich hatten sie noch nie irgendwelche Geheimnisse voreinander gehabt.

Tja, oder doch? Ein Hauch von Schuldbewusstsein drang durch den Kokon des Glücks, in dem sie eingewoben war. Das, was sie heute täte, könnte sie ihrer Mutter unmöglich erzählen. Und es war nicht das erste Mal, dass sie Faye etwas verschwieg. Mum war derart geradlinig und eine solche Glucke, dass Amber die wenigen Male, wenn sie etwas getan hatte, das den Moralvorstellungen der Mutter widersprach, ein wenig hatte schwindeln müssen, um keinen Ärger zu kriegen. Ein so großes Geheimnis wie jetzt aber hatte sie noch nie vor ihr gehabt.

Ella hatte in dem Moment angerufen, als sie gerade die Haustür hinter sich abgeschlossen hatte.

»Ruf mich nachher an und erzähl mir, wie’s gelaufen ist«, hatte Ella sie gebeten.

»Versprochen.«

»Ich wünschte, ich hätte heute auch blaugemacht«, hatte die Freundin gejammert. »In zehn Minuten fängt Geschichte an, und ich habe den verdammten Aufsatz über den Bürgerkrieg nicht fertig.«

»Tut mir leid, ich hätte dir meinen leihen sollen, damit du ein paar Sachen daraus übernehmen kannst«, hatte Amber sich entschuldigt. Sie hatte Geschichte von klein auf geliebt, und dementsprechend leicht fielen ihr die schriftlichen Aufgaben. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie den Aufsatz gestern Abend überhaupt geschafft hatte, denn sie hatte die ganze Zeit an ihr heutiges Vorhaben gedacht.

Nachdem sie sich von Ella verabschiedet hatte, war sie hastig am Summer Street Café vorbeigerannt, um niemand Bekanntem, der dort womöglich Kaffee trank, aufzufallen.

Eine Minute später hatte sie die Bushaltestelle in der Jasmine Row erreicht und den Bus um fünf nach zehn in Richtung City und zu Karl gerade noch erwischt.

Karl. Sie flüsterte versonnen seinen Namen, während sie aus dem Fenster des Doppeldeckers sah. Karl und Amber. Amber und Karl.

Es klang einfach richtig, als hätte das Schicksal sie füreinander bestimmt.

Bisher hatte Amber nie wirklich an das Schicksal geglaubt. Ein paar Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag und einen Monat vor der verhassten Abschlussprüfung hatte sie das Gefühl, als hätte sie ihr Leben vollkommen im Griff.

Deshalb hatte sie auch nicht richtig zugehört, als Ella an jenem schicksalhaften Freitag in der Mittagspause ihre beiden Horoskope vorgelesen hatte. Horoskope waren unterhaltsam, aber nichts, worauf man sich verließ. Mum predigte ihr immer, sie wäre selbst verantwortlich für sich und sollte ihr Leben nicht nach dem Unsinn ausrichten, der irgendeinem Astrologen eingefallen war.

Ihre Mutter bestand darauf, dass Amber nicht deshalb etwas tat, weil jemand anderes es gut fand oder weil »alle es so machten«. Und bisher hatte Amber diesen Rat auch stets befolgt.

»Bei Widder steht wieder mal nur Mist«, hatte Ella erbost gemurmelt. »›Wägen Sie die Dinge sorgfältig ab, aber bewahren Sie sich Ihren Enthusiasmus.‹ Was zum Teufel soll das heißen? Warum steht in diesen Horoskopen nie, was in der nächsten Mathearbeit drankommt oder so? Das wäre weitaus interessanter.«

Sie hatten auf dem Dach der Turnhalle gesessen – was zwar streng verboten, aber bei den Schülerinnen ihrer Klasse derzeit gang und gäbe war – und überlegt, wie sich wenigstens ein Ausflug in das Einkaufszentrum zur Begutachtung der umwerfenden Klamotten, die sie sich niemals würden leisten können, in die Prüfungsvorbereitungen einflechten ließ. Wenn man sich nicht ab und zu etwas Spaß neben der Arbeit gönnte, würde man laut Ella nämlich gewiss verrückt.

»Dein Horoskop ist besser. ›Alleinstehende Stiere finden Leidenschaft und Liebe. An diesem Wochenende werden bei Ihnen Funken sprühen.‹«

»Funken in der Fußball-Disko?« Die Vorstellung war derart lächerlich, dass Amber angefangen hatte, laut zu lachen. Dort traf sie regelmäßig die Leute, die sie schon ewig kannte. Was also sollte an einem Haufen Typen, mit denen man zusammen aufgewachsen war, aufregend sein? Diese Jungen waren weder romantisch noch geheimnisvoll.

»Patrick?«

»Der ist viel zu nett. Der würde höchstens händchenhaltend mit dir durch die Gegend laufen und über die Verlobungsfeier sprechen wollen. Wirklich aufregend.«

»Aber Greg ist nicht schlecht.«

»Nie im Leben. Der hat mal Knubbelchen zu mir gesagt.« Seit sie im Verlauf des letzten Jahres fast acht Zentimeter gewachsen war, wirkte sie inzwischen feminin und üppig und nicht mehr kindlich-knubbelig. Dazu kamen die neuen honigblonden Strähnchen in ihren samtig weichen braunen Haaren, und endlich nahmen all die Jungs sie wahr, die sie bisher wie eine lästige kleine Schwester behandelt hatten.

Diese neue Macht, die sie plötzlich über die Jungen hatte, war regelrecht berauschend, und es wurde Zeit, dass sie sie einmal auf die Probe stellte. Und zwar irgendwo anders als in der langweiligen Fußball-Disko. Irgendwo außerhalb der Schule und der engen Summer Street. Irgendwo, wo echtes Leben war.

»Allmählich wirst du ziemlich wählerisch«, hatte Ella festgestellt. »Letztes Jahr hat Greg dir noch gefallen.«

»Letztes Jahr.«

»Sollte ich mir noch ein paar zusätzliche Strähnchen machen lassen?« Ella hatte eine ihrer langen blonden Strähnen, die in ihrer Klasse beinahe Pflicht waren, vor ihr Gesicht gezogen und kritisch überprüft. »Deine Strähnchen sehen einfach toll aus, aber meine haben einen Gelbstich und sind vor allem völlig stumpf.«

»Du musst das Spezialshampoo für blonde Haare nehmen«, hatte Amber ihr erklärt.

»Das kostet ein Vermögen. Ich wette, deine Mutter kauft es dir. Meine würde das nie tun«, hatte Ella empört geschnaubt. Ambers Mutter kaufte ihrer einzigen Tochter alles, was sie haben wollte, während Ellas Mutter, die dazu noch drei Söhne hatte, für solche Dinge kein Geld hatte.

»Ich gebe dir was von meinem Shampoo ab«, hatte Amber freundlich angeboten. Ihr war bewusst, was für ein Glück sie hatte, und so teilte sie gerne mit ihrer Freundin. Wozu waren Freundinnen sonst da? »Also, zurück zu morgen Abend.« Ihre zinnfarbenen Augen hatten vor Aufregung geblitzt. »Nicht die Fußball-Disko, bitte.«

»Tja ...«, hatte Ella angesetzt. »Wir könnten ja mal etwas anderes probieren.«

»... Etwas total Verruchtes ...« Amber war wohlig erschaudert. »Lass uns versuchen, in einen Club ab achtzehn reinzukommen. Los, in ein paar Monaten sind wir mit der Schule fertig und haben als Einzige aus unserer Klasse nie etwas wirklich Interessantes ausprobiert. Alle anderen waren schon in Clubs, in die sie eigentlich nicht dürften, nur wir beide waren bisher zu vernünftig. Aber ich bin es leid, ewig die Vernünftige zu sein.«

Mit dreizehn war es durchaus nett, vernünftig und deshalb bei der Lehrerschaft beliebt zu sein. Mit beinahe achtzehn sah die Sache entschieden anders aus. Inzwischen hatten immer die Mädchen den ganzen Spaß, die nie die Hausaufgaben machten und niemals gute Noten schrieben, und das war schlicht nicht gerecht.

»Ich auch«, hatte Ella heftig zugestimmt. »Und mir ist gerade eingefallen, wie sich das ändern lässt.«

Amber hatte sie mit glitzernden Augen angesehen. »Wie?«

Sie verspürte schon seit Wochen eine wachsende Unzufriedenheit. Sie hatte die Nase voll vom Lernen für die Prüfungen und von der dadurch spannungsgeladenen Atmosphäre an der Schule. Das Bedürfnis, zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Wildes und Rebellisches zu tun, wurde schier übermächtig. Allerdings gab es dazu herzlich wenig Möglichkeiten.

Außerdem gaben sie fast ihr ganzes Taschengeld für Kleider oder Handykarten aus. Da blieb für irgendwelche »wilden Dinge« nicht viel übrig.

Ein paar der anderen Mädchen rauchten. Sie hielten es für cool und behaupteten, es wäre gut für die Figur. Aber Zigaretten waren viel zu teuer, um mehr als ein seltener Spaß zu sein. Und Alkohol, Hasch oder Ecstasy waren zwar problemlos zu bekommen, doch Ambers Mutter hatte eine Nase wie ein Drogenspürhund, weshalb sie besser nicht betrunken oder stoned nach Hause kam. Faye würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, ließe sie unter Garantie den nächsten Monat nicht mehr aus dem Haus und wäre vor allem zutiefst verletzt. Amber würde ein viel zu schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihrer geliebten Mutter eine so herbe Enttäuschung bereiten würde.

Genau das war das Problem: Ihre Familie war einfach zu klein. Sie bestand nur aus zwei Menschen, die sich abgöttisch liebten, die alles gemeinsam unternahmen und einander vor der Welt beschützten. Manchmal aber konnte diese Nähe auch eine Belastung sein.

Ella hatte wenigstens drei große Brüder, die sich ebenfalls bemühen mussten, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen. Amber trug die Last der Hoffnungen und Träume ihrer Mutter ganz allein. Und im Gegensatz zu Ellas Eltern, denen offenbar bewusst war, dass die Kinder früher oder später das Nest verlassen würden, schien Faye Reid zu denken, Amber bliebe bis an ihr Lebensende an ihrer Seite.

»Nun sag schon. Wo gehen wir hin? Doch wohl nirgendwo hier in der Nähe? Hier gibt’s doch nichts als langweilige Pubs.«

»Genau. Also vergessen wir die Nachbarschaft.« Ella hatte verschwörerisch gegrinst. »Marco geht morgen Abend in einen der Clubs in der Stadt, und wenn wir mit ihm gehen, kämen wir bestimmt ohne Ausweiskontrolle rein.«

Marco war Ellas zweitältester Bruder und bot die beste Möglichkeit zu einem illegalen Ausflug. Ihrem ältesten Bruder würde nicht einmal im Traum einfallen, zwei Schülerinnen mit in eine Disko in der Stadt zu nehmen. Und ihr jüngster Bruder wäre viel zu anständig und langweilig, um überhaupt selbst jemals in einen Club zu gehen. Aber der dreiundzwanzigjährige Marco, der eine eigene Nachtsendung bei einem kleinen Radiosender hatte und ständig an den coolsten Orten von ganz Dublin abhing, nähme sie beide sicher mit.

»Wo?«, hatte Amber wissen wollen.

»Highway Seven.«

»Das ist ab einundzwanzig.« Es war hoffnungslos. Selbst wenn Amber und Ella gefälschte Ausweise besessen hätten, fielen die Türsteher in solchen Diskos darauf nicht herein. Ihr Ausflug wäre also bereits beendet, bevor sie nur einen Blick ins Innere des Ladens werfen könnten. Aber all die wirklich guten Clubs waren halt erst ab einundzwanzig. Es war einfach gemein.

»Ja, aber morgen Abend spielt dort irgendeine neue Band, die sich Marco für seine Sendung anhören will«, hatte Ella ihr erklärt. »Er steht deshalb auf der Gästeliste und geht durch den Bühneneingang rein. Dort gibt es keine Rausschmeißer, und wenn wir mit ihm zusammen sind ...«

»... marschieren wir ungehindert mit ihm rein.« Amber hatte laut gelacht. »Du bist echt clever, Ella O’Brien. Aber wie bringen wir Marco dazu, uns mitzunehmen?«

»Indem wir ihn erpressen.« Ella hatte ihren Ausflug eindeutig bereits genauestens geplant. »Wir werden heute Abend nach der Schule zu ihm gehen.«

Marco sah genauso aus wie Ella: dunkle Augen, bleiche Haut und das gleiche dunkle Haar wie vor ihrer Entdeckung von Wasserstoffperoxid. Selbst wenn er ziemlich nett und vor allem superlässig war, gefiel ihm der Gedanke, seine kleine Schwester und deren Freundin mitzunehmen, nicht im Geringsten.

»Nie im Leben.«

»Mum würde ausflippen, wenn sie erführe, dass du diese Riesenparty hier im Haus veranstaltet hast, als wir anderen an Weihnachten in Kerry waren«, hatte Ella unschuldig erklärt. »Die Party, bei der die Nachbarn die Polizei gerufen haben. Sie würde Hackfleisch aus dir machen, wenn sie je dahinterkäme. Du weißt, wie sehr sie darauf achtet, nur ja die Nachbarn nie zu stören ...«

»Wer hat dir davon erzählt?«, hatte Marco gefragt und sich dann gegen die Stirn gehauen und gestöhnt. »Niemand, richtig? Du hast es einfach geraten.«

»Ach was, Marco, das mit der Party war uns eh klar«, hatte sich Amber eingemischt. »Nur das mit der Polizei haben wir geraten, nachdem wir unter Ellas Bett eine Männerjacke, jede Menge leere Bierdosen und ein Kondom gefunden haben.«

Marco war noch weißer geworden als von Natur aus sowieso schon.

»Ella hat die Bierdosen bestimmt nicht dorthin gelegt. Wir beide trinken nämlich nur Wein und Wodka«, hatte sie in der Hoffnung, weltgewandt zu klingen, nonchalant hinzugefügt.

»Könnt ihr nicht mit euren eigenen Freunden ausgehen?«, war Marco über die Bemerkung ihres Alkoholkonsums hinweggegangen. Schließlich hatten seine Schwester und die Freundin sich erst vor ein paar Wochen bei der Beerdigung des Meerschweinchens im Garten die Augen ausgeheult und außerdem vor kurzem stolz verkündet, bei der Pfadfinder-Olympiade den ersten Preis erzielt zu haben. Oder war das doch schon ein paar Jahre her?

»Betrachte es als Sühneleistung für eine begangene Straftat«, hatte Amber ihm erklärt. »Wir werden dir keinen Ärger machen. Wenn wir erst mal drin sind, kannst du uns getrost vergessen. Wir können selber auf uns aufpassen, wir sind schließlich keine kleinen Kinder mehr.«

»Nur weil ihr bald achtzehn werdet, fühlt ihr euch jetzt unbesiegbar«, hatte er sarkastisch festgestellt.

»Ich habe den gelben Gürtel in Karate«, hatte Amber ihn beruhigt und eine, wie sie hoffte, kämpferische Haltung eingenommen, obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr zum Karatetraining ging. Mit zehn war es noch amüsant gewesen, auf Drängen ihrer Mutter Selbstverteidigung zu lernen, in der Pubertät jedoch hatte das Gerangel seinen Reiz für sie verloren.

»Nahkampf ist nicht für alles eine Lösung.« Marco hatte abgrundtief geseufzt. »Die Typen, die euch in dem Club gefährlich werden könnten, fordern euch nicht unbedingt zum Armdrücken auf.« Er hatte die beiden Mädchen mit einem strengen Blick bedacht. »Ich will nicht um zwei Uhr nachts nach Hause kommen und Mum und Dad erklären müssen, ich hätte euch aus dem Blick verloren. Oder noch schlimmer, deiner Mutter, Amber. Sie würde mich nämlich in Stücke reißen.«

Ambers Mutter hatte ihn schon immer leicht nervös gemacht. Mrs. Reid maß ihn permanent mit derart durchdringenden Blicken, als wolle sie ihn davor warnen, dass er es mit ihr zu tun bekommen würde, brächte er ihr Schätzchen auf die schiefe Bahn.

»Wie gesagt, wir sind keine kleinen Kinder mehr«, hatte Amber daraufhin geknurrt. »Wir kommen mit, aber reg dich nicht auf. Du brauchst nur dafür zu sorgen, dass wir reingelassen werden. Dann bist du uns los.«

»Okay, aber ihr passt auf eure Getränke auf.« Marco hatte abermals geseufzt, als er erkennen musste, dass er geschlagen war. »Es gibt Typen, die kippen einem Mädchen heimlich was ins Glas und, tja ... ihr habt keinen blassen Schimmer, was in den Clubs so läuft.«

»Du bist ein toller Bruder.« Ella hatte ihn umarmt.

»Aber das ist eine einmalige Sache«, hatte Marco eilig hinzugefügt. »Okay? Und ich kann nur hoffen, dass ihr euch benehmt.«

»Natürlich«, meinte Amber, die nicht die Absicht hatte, das zu tun. Es reichte, wenn sie sich in der Disko des Fußballclubs benahm.

Am schwierigsten war es gewesen, zu verhindern, dass ihre Mutter etwas von dem Ausflug mitbekam. Um Fayes wachsamen Blicken zu entgehen, hatten sie beschlossen zu erzählen, sie bliebe nach dem angeblichen Ausflug in die Fußball-Disko über Nacht bei Ella. Deren Eltern hatten alle diese Dinge dank ihrer zahlreichen Kinder bereits mehrfach durchgemacht und kümmerten sich deshalb weniger um das, was ihre Tochter tat.

»Natürlich wird Mum prüfen, ob wir zu Hause sind, aber wenn ich Kissen dementsprechend unter die Bettdecken stopfe, kann ich sie täuschen«, hatte Ella ihr erklärt.

Amber hatte daran gedacht, dass ihre eigene Mutter erst ins Bett ging, wenn sie wieder zu Hause war. Wie oft hatten sie dann gemeinsam auf Ambers Bett gesessen, wo sie Faye ausführlich über ihren Tagesablauf informiert hatte?

Dann aber hatte sie die Schuldgefühle verdrängt. Schließlich log sie einzig deshalb, weil ihre Mutter eine solche Glucke war. Sie war kein kleines Kind mehr. Sie wollte Faye nicht verletzen, nur musste sie ihr Leben langsam selber in die Hände nehmen, und es war allerhöchste Zeit, dass ihre Mutter das begriff.

Genau, wie Ella es vorhergesehen hatte, waren sie an Marcos Seite – Amber hatte den Atem angehalten, bis der strenge Blick des Türstehers sie nicht mehr hatte erreichen können – problemlos in den Club gelangt. Trotz ihrer äußeren Gelassenheit jedoch war sie hochgradig nervös gewesen, denn abgesehen von ein paar Sonnenbädern auf dem Dach der Turnhalle und ein paar verbotenen Zigaretten hatten sie und Ella bisher eher der Gruppe Mädchen-die-immer-pünktlich-ihre-Hausaufgaben-machen angehört. Der heimliche Besuch im Highway Seven war deshalb gleichermaßen aufregend wie beängstigend für sie.

Die Bässe der Musik hatten den düsteren Raum regelrecht vibrieren lassen, und die Mischung aus Parfüm und einem süßen Duft, den Amber von der manchmal nicht immer braven Fußball-Disko als den Geruch von Marihuana kannte, hatte das Atmen schwer gemacht.

»Hm ... und wie soll es jetzt weitergehen?«, hatte Marco gefragt. Es war ihm eindeutig zuwider, dass er sich dazu hatte überreden lassen, die beiden mitzunehmen. Selbst wenn sie alt genug aussahen, um nicht weiter aufzufallen, waren sie halt nach wie vor seine kleine Schwester und deren kleine Freundin. Ihm missfiel das alles gewaltig.

»Von jetzt an kommen wir allein zurecht«, hatte Amber ihm erklärt.

»Ja, triff du dich ruhig mit deinen Kumpels. Uns geht’s bestens«, hatte Ella Ambers unbesorgten Ton kopiert.

Marco schnaufte zweifelnd. »Wenn ihr sicher seid ...«

»Völlig sicher.« Beide Mädchen hatten gleichzeitig genickt.

Amber hatte sich lässig umgesehen und dabei leicht im Rhythmus der Musik mit einem Fuß gewippt. Ella hatte ihre legere Haltung nachgeahmt und Marco dadurch tatsächlich überzeugt.

»Schickt mir auf jeden Fall eine SMS, wenn ihr mich braucht«, hatte er gesagt und war in der Menge abgetaucht.

Sofort hatten die beiden Mädchen die coole Maske fallen lassen, waren sich kreischend in die Arme gefallen und hatten einen kleinen Siegestanz vollführt.

»Klo«, hatte Amber aufgeregt gekeucht und Ella mitgezerrt.

Auf der Toilette angekommen, hatten sie wieder die lässige Erwachsenenhaltung angenommen. Amber hatte etwas schwarzen Kajal um ihre Augen aufgetragen, wie sie es in einer Zeitschrift gesehen hatte, und sofort hatten ihre Augen deutlich größer und nahezu hypnotisierend gewirkt.

»Du siehst echt wie einundzwanzig aus.« Ella hatte kurz ihren glänzenden Lipgloss abgesetzt.

Die Frau, die sich am Nachbarbecken die Hände gewaschen hatte, hatte sie argwöhnisch angesehen.

»Tja«, hatte Amber zu Ella gesagt. »Dank meines Schönheitschirurgen sieht man mir die zweiunddreißig wirklich nicht mehr an.«

Stirnrunzelnd hatte die andere Frau den Raum verlassen, und sie beide hatten laut gelacht.

Sie hatten gerade genug Geld für jeweils einen Drink gehabt, der den ganzen Abend würde reichen müssen. Während sie mit ihren Wodkas an der Bar gelehnt hatten, hatten sie versucht, so zu wirken, als wären sie des gewohnten Clubs schon absolut überdrüssig.

Hinter der gelangweilten Fassade jedoch bebte Amber nahezu vor Spannung, hatte sich begeistert umgesehen und alle anderen darum beneidet, dass sie tatsächlich ausgesehen hatten, als gehörten sie hierher.

In einer mit einer roten Samtkordel abgeteilten Ecke hatte ein Dutzend Leute an einem Tisch gesessen und lässig Sekt getrunken. Die Beteiligten waren alle hinreißend attraktiv gewesen und hatten sich herrlich amüsiert. Eine schlanke Brünette in verblichenen, mit Ziermünzen bestickten Jeans hatte lachend Hof gehalten, und alle Übrigen hatten ihr fasziniert gelauscht. Wie gerne wäre Amber wie diese junge Frau gewesen: Wie gerne hätte sie dazugehört, statt nur vom Rand aus zuzusehen.

Plötzlich hatte einer der Typen sie bemerkt, ein junger Mann mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren und einem schicken Stoppelbart. Er hatte Amber derart durchdringend angesehen, dass sie sich verlegen abgewendet hatte. Scheiße, wie unglaublich peinlich, dass er sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn mit sehnsüchtigen Schülerinnenaugen maß.

Sie hatte sich bemüht, woandershin zu sehen, am liebsten aber hätte sie ihn weiter angestarrt. Nie zuvor in ihrem Leben hatte ein völlig Fremder sie derart magisch angezogen. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie nach einem kurzen Blick das Gefühl gehabt, jemanden zu kennen.