Heimliches Berlin - Franz Hessel - E-Book

Heimliches Berlin E-Book

Franz Hessel

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Beschreibung

Ein Schlüsselroman aus den Zwanziger Jahren Mit zahlreichen Fotoaufnahmen aus dem Berlin der 1920er. Zwischen den Weltkriegen gibt es nicht nur das arme, düstere, hoffnungslose Berlin eines Hans Fallada, es gibt auch das sprühende, lebendige, promiske Berlin eines Franz Hessel. Die "Wilden Zwanziger", in denen ein Taumel der Freiheit zelebriert wird. In kurzen Fragmenten erzählt "Heimliches Berlin" die ausschweifende Geschichte einer berühmten, und später zu filmischen Ehren gekommen Menage a trois zwischen Hessel, seiner Frau Helene Grund und dem Schriftsteller Henri-Pierre Roche – hier nur notdürftig mit anderen Namen und Berufsbezeichnungen der Protagonisten verschleiert. Bürgerliche und "Drop-outs" der damaligen Gesellschaft, losgelöst von den Standesdünkeln und befreit aus der Korsage des Wilhelminischen Zeitalters, vermischen sich in den Nachtklubs der damals aufregendsten Stadt des Kontinents. Alles scheint plötzlich möglich: Vergnügen, Freiheit, Zwanglosigkeit. Und immer wieder ist man beim Lesen dieses damaligen Szene- und Kultromans überrascht, wie frei die deutsche Gesellschaft vor Hitler war. Und man ertappt sich ein ums andere Mal bei dem Gedanken, wie Deutschland, wie Europa, ohne den österreichischen Gefreiten hätte gedeihen können. Null Papier Verlag

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Franz Hessel

Heimliches Berlin

Eine illustrierte Novelle über das schillernde Berlin der Zwanziger Jahre

Franz Hessel

Heimliches Berlin

Eine illustrierte Novelle über das schillernde Berlin der Zwanziger Jahre

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: E. Rowohlt, Berlin, 1927 (182 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-13-7

null-papier.de/599

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Xll

XIII

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Zwi­schen den Welt­krie­gen gibt es nicht nur das arme, düs­te­re, hoff­nungs­lo­se Ber­lin ei­nes Hans Fal­la­da, es gibt auch das sprü­hen­de, le­ben­di­ge, pro­mis­ke Ber­lin ei­nes Franz Hes­sel. Die „Wil­den Zwan­zi­ger“, in de­nen ein Tau­mel der Frei­heit ze­le­briert wird.

In kur­z­en Frag­men­ten er­zählt „Heim­li­ches Ber­lin“ die aus­schwei­fen­de Ge­schich­te ei­ner be­rühm­ten, und spä­ter zu fil­mi­schen Ehren ge­kom­men Me­na­ge a trois zwi­schen Hes­sel, sei­ner Frau He­le­ne Grund und dem Schrift­stel­ler Hen­ri-Pier­re Ro­che – hier nur not­dürf­tig mit an­de­ren Na­men und Be­rufs­be­zeich­nun­gen der Pro­tago­nis­ten ver­schlei­ert.

Bür­ger­li­che und „Drop-outs“ der da­ma­li­gen Ge­sell­schaft, los­ge­löst von den Stan­des­dün­keln und be­freit aus der Kor­sa­ge des Wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ters, ver­mi­schen sich in den Nacht­klubs der da­mals auf­re­gends­ten Stadt des Kon­tin­ents. Al­les scheint plötz­lich mög­lich: Ver­gnü­gen, Frei­heit, Zwang­lo­sig­keit.

Und im­mer wie­der ist man beim Le­sen die­ses da­ma­li­gen Sze­ne- und Kul­tro­mans über­rascht, wie frei die deut­sche Ge­sell­schaft vor Hit­ler war. Und man er­tappt sich ein ums an­de­re Mal bei dem Ge­dan­ken, wie Deutsch­land, wie Eu­ro­pa, ohne den ös­ter­rei­chi­schen Ge­frei­ten hät­te ge­dei­hen kön­nen.

I

Bis zum Früh­jahr 1924 leb­te in Ber­lin ein jun­ger Mensch, des­sen Er­schei­nung die Män­ner und Frau­en sei­nes Be­rei­ches er­freu­te, ohne dass sie sei­nem We­sen tiefer nach­forsch­ten. Erst als er fort­ging, er­reg­te er bei ei­ni­gen ein schwer zu er­klä­ren­des Ab­schieds­weh. Bei de­nen än­dert sich jetzt Mie­ne und Ton­fall, wenn sie von ihm spre­chen, sie den­ken oft an ihn und ord­nen ihn in Zu­sam­men­hän­ge und Schick­sa­le ein, die er kaum ge­streift hat.

Un­ver­ge­ss­lich ist Wen­del­ins Auf­tre­ten in der Gala­uni­form sei­nes Ur­groß­va­ters, des Kam­mer­herrn von Dom­rau, an dem Abend bei Mar­got kurz vor sei­ner Abrei­se. Mar­got hat­te ge­be­ten, man sol­le sich ver­klei­den. Das hat­ten aber nur ei­ni­ge von den Frau­en ernst ge­nom­men, von den Män­nern au­ßer Wen­de­lin kei­ner. Zwi­schen den dunklen Tu­chen und bun­ten Sei­den wirk­te sein sol­da­tisch eng­an­lie­gen­der Rock mit dem ver­schos­se­nen Braun­rot, wie man es nur noch in al­ten hand­ko­lo­rier­ten Kin­der­bü­chern fin­det, far­bi­ger als al­les um­her; in den en­gen wei­ßen Ho­sen, die mit Ste­gen um die Schu­he grif­fen, schie­nen sei­ne Bei­ne nicht durch­aus auf dem Bo­den, son­dern beim Ge­hen und Tan­zen in ei­ner Luft­schicht zu en­den, beim Still­ste­hen wie auf ei­nem Zinn­sol­da­ten­brett­chen zu ru­hen. Der hohe Tres­sen­kra­gen ver­mehr­te die schüch­ter­ne No­bles­se sei­ner Hal­tung und trenn­te schwert­scharf den rot­blon­den hell­häu­ti­gen Kopf vom Rump­fe.

Er trank nur we­nig, sah aber schon nach dem ers­ten Gla­se Men­schen und Din­ge in der flä­chi­gen Fer­ne, die ein glück­li­cher Rausch ih­nen gibt, fühl­te sich al­len, die ihn an­sa­hen, an­spra­chen, an­fass­ten, wun­der­bar und gleich­mä­ßig hin­ge­ge­ben, sprach selbst lei­se und we­nig und er­wi­der­te die Berüh­run­gen der an­de­ren kaum. So ver­ging ihm der Abend in schö­ner Un­deut­lich­keit, und was mit ihm ge­sche­hen, er­leb­te er ei­gent­lich erst, als er am nächs­ten Mor­gen er­wach­te. Schwer­mü­tig, weil er bald fort soll­te aus ei­ner ihm lieb­ge­wor­de­nen Welt, tauch­te er noch ein­mal zu­rück in die sanf­te Bran­dung des Schlafs und die Tie­fe des Traums, erst noch nicht des Au­gen­traums, son­dern nur des­sen, den Ge­hör und Ge­ruch, Haut und Blut träu­men, er fühl­te Weich­heit frem­der Kis­sen, duf­tend auf­stei­gen­den Staub und an der In­nen­hand nas­se Küh­le des Wein­gla­ses, er roch den Heu­ge­ruch in Mar­gots Haar und Ka­ro­las Kie­fern­duft. Dann fing sein Ge­sicht an zu träu­men, und er sah über weg­ge­wand­ten Schul­tern und nah her­schau­en­den be­freun­de­ten Köp­fen die Un­be­kann­te, die mit Se­bald ge­kom­men war, ih­ren ho­hen wei­ßen Fe­der­helm über dem läng­li­chen Ant­litz mit den Ba­cken­kno­chen ei­nes hel­di­schen Jüng­lings. Hat­te sie ihn ein­mal ins Auge ge­fasst? Zu ihm ge­spro­chen? Er wuss­te es nicht. Wie war ihre Stim­me?

Als er die­se Ge­stalt träum­te und ge­nau­er und nä­her träu­men woll­te, als er an­fing Hüf­ten auf­zu­bau­en, die er nur im Um­riss, nicht in der Tie­fe wuss­te, und nach der Form der Hän­de schon halb mit Be­wusst­sein such­te, wach­te er ganz auf und fand sich in dem schma­len Holz­bett des kleins­ten Zim­mers der klei­nen Pen­si­on, die vier Stock hoch über Lä­den und Kon­to­ren nahe der Fried­rich­stra­ße an den Lin­den lag und wohl noch liegt. Ge­dämpft und har­mo­nisch klang der wir­re Lärm der Stadt her­auf; das vie­ler­lei Le­ben da un­ten ward zum Herz­schlag ei­nes We­sens, das sanft em­por­drang in sei­ne kö­nig­li­che jun­ge Ruhe auf der arm­se­li­gen drei­ge­teil­ten Ma­trat­ze des Miet­bet­tes. Er rich­te­te sich auf und stütz­te den Kopf in die Hand. Auf dem Ses­sel lag der wun­der­li­che Fe­s­t­rock von ges­tern und als wei­ßer Fleck dar­auf der Brief der Mut­ter, der ihn fort­rief von hier.

Die lie­be Stadt ver­las­sen! Nicht mehr auf lan­gen Stra­ßen im La­ter­nen­schein das Pflas­ter se­hen vor den Schrit­ten der Freun­de, nicht mehr Do­naths hell­ge­mal­te Zim­mer voll Holz­hei­li­ger, Glas­tie­re, Por­zel­lan­chi­ne­sen und Spie­gel, nicht mehr Cle­mens’ ge­neig­tes Pro­fil un­ter der Stu­dier­lam­pe in dem ab­ge­le­ge­nen Hin­ter­zim­mer, Ka­ro­la nicht mehr auf dem tie­fen Di­wan un­ter dem Bild des stren­gen Rö­mer­kai­sers. Und Mar­got auf der Reit­bahn, Mar­got in ih­rem Pa­vil­lon! Er mach­te in Ge­dan­ken noch ein­mal den Weg von ges­tern Abend, von der Pots­da­mer Brücke in die stil­le Ne­ben­stra­ße, un­ter das lan­ge Tor­ge­wöl­be, das dunkle Stück Hof bis zu dem Hüh­ner­gar­ten und die Stie­ge hin­auf ins Par­terre des nied­ri­gen Gar­ten­hau­ses, das viel­leicht Über­bleib­sel ei­nes statt­li­chen Be­sit­zes an der al­ten Pots­da­mer Land­stra­ße war, kam auf den Vor­platz mit den zer­bro­che­nen Stein­va­sen, an die Holz­tür – klas­sisch ge­fel­dert wie Tem­pel­tü­ren, aber blass­grün alt­bür­ger­lich ge­stri­chen –, be­trat die Glas­ve­ran­da, Mar­gots Ess­zim­mer, mit Aus­sicht auf die grün­über­wu­cher­te Nach­bar­wand, und blieb dann in dem großen, matt er­leuch­te­ten, et­was kah­len Zim­mer mit der im­mer zum Tan­zen lee­ren Mit­te und den vie­len Pols­ter­bän­ken und Sit­zen rings an den Wän­den. Da ging Do­nath be­quem und ge­schäf­tig in sei­nem Smo­king, der ihn um­gab wie ein wei­ches Haus­kleid die rei­che Frau. Ka­ro­la kam wie­der im wei­ßen Tur­ban und eng um­wun­den von wei­ßen Tü­chern und fass­te ihn an. Sie schi­en ihn im Tan­ze zu über­wach­sen, ob­wohl sie klei­ner war als er. Ihr großer Blick war ihm so nah wie noch nie in den zwei Jah­ren ih­rer Freund­schaft. Wa­rum hat­te sie ihn dann so plötz­lich ver­las­sen? Was re­de­te Mar­got so eif­rig auf ihn ein von ei­ner rei­chen Fa­bri­kan­ten­frau, der er den Hof ma­chen müs­se? Er hör­te nicht ge­nau zu. Er sah ih­ren Hals röt­lich ge­sund aus dem weitof­fe­nen Kra­gen des Män­ner­hemds leuch­ten, die kur­z­en Be­we­gun­gen der gra­den Schul­tern, das köst­li­che et­was zer­ris­se­ne In­nen­le­der der Hose, die schma­len Füße in den ho­hen Stie­feln. Sie sprach so ener­gisch mit ihm, als woll­te sie ihn aus­schel­ten, und das war an­ge­nehm. –

›Auf die Reit­bahn könnt ich wirk­lich noch ein­mal ge­hen‹ dach­te Wen­de­lin. ›Vi­el­leicht macht Mar­got einen Ab­schieds­ritt mit mir durch den Tier­gar­ten, wenn ich ihr sage, dass ich fort muss.‹ Das hat­te er noch nie­man­dem ge­sagt, ges­tern.

Mit die­sem Ge­dan­ken fuhr er aus dem Bett und in ein Paar sehr bun­ter Haus­schu­he, de­nen es an­zu­se­hen war, dass sie nicht fer­tig ge­kauft, son­dern von lie­ben­der Hand ge­stickt wa­ren. Maja hat­te sie ihm ge­schenkt, Maja von der Tanz­grup­pe, und das war sehr an­zu­er­ken­nen, denn sie mach­te sonst nie Hand­ar­bei­ten. Maja war sei­ne ein­zi­ge ›Erobe­rung‹ in die­sen zwei Stu­den­ten­jah­ren. Die vie­len an­de­ren wohl­wol­len­den Frau­en, de­nen er nahe ge­kom­men war, hat­ten es ge­ra­de an der klei­nen Feind­se­lig­keit und Kampf­be­reit­schaft feh­len las­sen, die wohl zum Erobern not­wen­dig sein mag. Vie­le von ih­nen glaub­ten auch, er sei mehr ih­rer Freun­de als ihr ei­ge­ner Freund; und wie weit sie da­mit recht hat­ten, wuss­te Wen­de­lin nicht. Nur eben die­ses tüch­ti­ge Mäd­chen hat­te feind­lich mit ihm an­ge­fan­gen und dann lei­der auch feind­lich und plötz­lich auf­ge­hört, und er muss­te sich sa­gen, dass die Um­stän­de ihr recht und ihm Schuld ga­ben, ob­gleich er ei­gent­lich in die­se Schuld eben­so un­schul­dig ge­ra­ten war wie vor­her in Ma­jas Gunst.

Wen­de­lin ging in die Al­ko­ven­e­cke zum Wasch­tisch. Un­ter kal­ten Güs­sen schloss er die Au­gen. Das war im­mer eine se­li­ge Mi­nu­te, moch­te er auch vor- und nach­her noch so schwer­mü­tig sein. Das Frot­tier­tuch tat wohl wie der Mull von Ka­ro­las Tü­chern.

Es klin­gel­te drau­ßen, und nach ei­ner Wei­le klopf­te es an sei­ne Tür. Rasch zog er den Schlaf­an­zug über und öff­ne­te. Vor ihm stand nie­mand. In den mil­chi­gen Glas­schei­ben der Kor­ri­dor­tür war ein Schim­mer, an dem er spür­te, dass es Früh­ling wur­de. Und als er dann zur Sei­te sah, reg­te sich im Spie­gel schräg ge­gen­über ein pel­ze­ner Ab­hang von win­ter­schläf­ri­ger Süße. – Ka­ro­la wand­te sich zu ihm um.

»Gut, dass du da bist«, sag­te sie. »Wer weiß wo hin ich ge­lau­fen wäre, wenn ich dich nicht ge­trof­fen hät­te.«

›Es ist noch nicht Tag‹, dach­te er, ›der Traum geht wei­ter‹ und barg sei­nen Kopf an ih­rer Pelz­schul­ter. Er wäre so noch lan­ge in der Tür ste­hen ge­blie­ben, aber Ka­ro­la trat bei ihm ein.

»Was für ein jun­gen­haf­tes Zim­mer du hast!«

»Du kennst es noch gar nicht? Ich war so oft bei dir, du nie bei mir.«

Er tat die große ärm­lich ge­blüm­te Pen­si­ons­de­cke über das Bett und hol­te das Kis­sen vom Ses­sel.

»Ja, gib mir ein biss­chen zu lie­gen.«

Sie streck­te sich aus, Wen­de­lin brei­te­te ein Plaid über sie. »Das er­in­nert an Rei­sen«, sag­te sie und schloss die Au­gen.

Wen­de­lin leg­te sich zu ih­ren Fü­ßen quer über das La­ger und sah in ihr Ge­sicht hin­auf. Die Lip­pen wa­ren auf­ein­an­der ge­presst wie von ei­nem Ent­schluss, die Brau­en zo­gen sich her­risch und schmerz­lich zu­sam­men, aber in die gold­dunkle Bläs­se der Schlä­fen spiel­te weich und zärt­lich das hel­le Haar.

»Wie geht es dir seit ges­tern?« frag­te er et­was ver­le­gen, als sie die Au­gen auf­schlug. Die­se Fra­ge kam ihm selbst tö­richt vor, aber sie woll­te wohl so ge­fragt sein, denn sie ant­wor­te­te aus­führ­lich:

»Nicht gut, Wen­de­lin, ich kann nicht mehr so wei­ter­le­ben, es muss et­was ge­sche­hen, ich will fort. Kannst du mir nicht hel­fen, mit mir ver­rei­sen? Un­ter dei­nen On­keln und Vet­tern sind doch vie­le Di­plo­ma­ten. Kön­nen die dich nicht ins Aus­land schi­cken? Ich bin dann dei­ne alte Se­kre­tä­rin. Wenn es drauf an­kommt, bin ich si­cher ganz prak­tisch, man lässt mich nur nie et­was Ver­nünf­ti­ges tun. Ich kann gut Eng­lisch und Fran­zö­sisch, so­gar et­was Ita­lie­nisch, und Schreib­ma­schi­ne, lang­sam al­ler­dings. Du lachst, mir ist gar nicht zum La­chen. Nimm es lie­ber ernst, dass ich ge­ra­de zu dir kom­me. Das ist doch son­der­bar, da du so jung bist und noch gar nichts be­wie­sen hast. Aber ges­tern beim Tan­zen fühl­te ich, dass du viel­leicht der ein­zi­ge un­ter uns bist, der noch nicht re­si­gniert, noch nicht wei­se ist.«

Er woll­te nach ih­ren Hän­den fas­sen, aber sie leg­te sie un­ter den Kopf, die Arme auf den Pelz bet­tend.

»Jetzt siehst du mich an wie mein jun­ger Bru­der, der ver­stor­be­ne. Der hät­te es nicht zu­ge­las­sen, dass ich so ver­kom­me. Weg­ge­nom­men hät­te er mich von de­nen, die mich ver­kom­men las­sen. Das tun sie näm­lich alle zu Hau­se, mein Mann, mei­ne Schwes­ter, mein Kind, Cle­mens mit sei­ner ewi­gen Güte, Oda mit ih­rer täg­li­chen Sorg­falt und selbst mein klei­ner Er­win – sie er­lau­ben nicht, dass ich et­was Nütz­li­ches tue, sie wol­len, dass ich im­mer nur da sei und mich ver­wöh­nen las­se. Als ich mich an­zog ges­tern Abend, um recht gut aus­zu­se­hen bei Mar­got, denn bei ihr hat man den Ehr­geiz, mög­lichst schön und voll­kom­men zu sein, weil sie selbst so streng mit sich ist, – ihre Kri­tik ist mir viel maß­ge­ben­der als die Aner­ken­nung der Män­ner, die doch fast alle un­ge­nau sind, – als ich mich an­zie­hen woll­te und nicht das Rech­te fand un­ter die­sen al­ler­lei Tü­chern und Schals, die bei uns noch nicht ganz Ar­men und nicht mehr Kau­fen­den her­um­lie­gen und voll Erin­ne­run­gen sind wie alle Res­te, ging ich hin­über in das Zim­mer, wo das Kind schläft, und ge­riet über eine Schub­la­de, in der sein Ba­by­zeug zwi­schen La­ven­del­kis­sen auf­be­wahrt liegt – wozu auf­be­wah­ren? Man soll­te al­les Er­le­dig­te ver­schen­ken oder ver­kau­fen. Da kram­te ich her­um; der Klei­ne wach­te auf, hob sich in sei­nem Bett­chen in die Höhe. ›Schläfst du noch nicht?‹ frag­te ich hin­über. ›Darf ich dein Klein­kin­der­zeug an­zie­hen?‹ Und als ich dann vor dem Spie­gel an­fing, mich weiß zu um­wi­ckeln und zu schlei­ern, frag­te der Er­win ganz er­staunt: ›Willst du denn ein klei­nes Kind wer­den, Mama?‹›Ja‹, sag­te ich, ›ich will noch ein­mal von vorn an­fan­gen und ganz an­ders wer­den.‹ Da sah ich im Glas, wie sein Ge­sicht­chen, das erst ge­lacht hat­te, sich zu­sam­men­zog, wie er stutz­te vor dem Ge­dan­ken, dass ich noch an­de­re Mög­lich­kei­ten habe als nur – sei­ne Mut­ter zu sein.«

»– ei­gent­lich nur Mama. Die rich­ti­ge Mut­ter im Hau­se ist Oda. Ich woll­te mir eine Stirn­bin­de ma­chen. Denn wenn ich nun auch schon kur­z­es Haar tra­ge, so weiß ich doch nie, soll ich die Stirn nackt zei­gen oder das Haar hin­ein­käm­men. Fär­ben müsst ich es auch, ich habe schon wei­ße Sträh­nen.«

»Die sind be­son­ders schön in dei­nem hel­len Blond.«

»Oh, sag das nicht, sonst muss ich be­son­ders lei­den.«

»Er­zähl von der Stirn­bin­de.«

»Die wand ich mir aus Er­wins Ba­by­mull und ließ sie in Zip­feln auf die Schul­tern hän­gen. Da kam der Cle­mens hin­zu in sei­nem blau­en Schlaf­rock mit der Pfei­fe im Mund, die er im­mer leer raucht, du kennst sei­ne schreck­li­che Ge­wohn­heit; kenn­zeich­nend ist sie für ihn, die lee­re Pfei­fe. Er braucht kei­nen Ta­bak, er raucht Il­lu­si­on. Er ist ganz üp­pig vor lau­ter Ent­sa­gung. Ich sah mich nach ihm um und frag­te: ›Bin ich zu häss­lich so?‹ ›Du bist pha­rao­nisch, herr­lich wie eine Mu­mie‹, sag­te Cle­mens. Ist das nicht ein To­des­ur­teil?«

Wen­de­lin strei­chel­te an­däch­tig die De­cke über ih­ren Fü­ßen.

»Und Oda kam und pack­te mich in den Man­tel. Sie ist doch viel schö­ner als ich und geht nie auf ein Fest. Da führt sie den Haus­halt, er­zieht das Kind und macht noch oben­drein ihre Ta­pe­ten­mus­ter und Körb­chen und Pup­pen. Und mich schi­cken sie weg, ein un­nüt­zes Ding, zum Tan­zen.«

»Euer Zu­sam­men­sein ist mir im­mer vor­bild­lich er­schie­nen.«

»Ich bin so über­flüs­sig.«

»Du bist die Mit­te, du bist der Sinn des Gan­zen, bist wie ein Traum der drei an­de­ren.«

»Ach, wenn ich tot wäre, könn­ten sie bes­ser von mir träu­men. Ein Lu­xus bin ich und möch­te doch ei­nem Men­schen sein wie das täg­li­che Brot.«

Wen­de­lin fühl­te sein Herz ge­gen die Hül­le ih­rer Füße schla­gen. Er rich­te­te sich ein we­nig auf und sank dann mit dem Kopf in ih­ren Schoß. Wäh­rend er so lag, fiel ihm ein Wort sei­nes Freun­des Cle­mens ein: ›Je mehr wir rühm­lich ver­ar­men, umso mehr füh­len wir, dass der Lu­xus viel not­wen­di­ger ist als das täg­li­che Brot.‹ Das hät­te er ei­gent­lich ein­wen­den kön­nen, aber er lag so herr­lich, fühl­te ihre Hand auf sei­nem Haar und hör­te ihre wei­che Stim­me, die auch in der Kla­ge schmeich­le­risch klang.

»Cle­mens pflegt mich wie eine Pflan­ze, bald ängst­lich im Treib­haus, bald, ge­dul­dig auf die Jah­res­zeit ver­trau­end, im Gar­ten. Ich müss­te aber ge­hal­ten wer­den wie ein treu­es Tier, streng und lie­be­voll und im­mer in Be­we­gung. Ich muss fort, noch ein­mal fort in das, was wir die wei­te Welt nen­nen und die Frei­heit und die Ge­fahr, ehe ich mich end­gül­tig drein er­ge­be, de­nen zu Haus ihre Träu­me noch eine Wei­le vor­zu­spie­len und alt zu wer­den, ach, hof­fent­lich nicht zu alt.«

Wen­de­lin hob den Kopf, er­griff ihre Hän­de, die sie ihm jetzt über­ließ.

»Lie­be, lie­be Ka­ro­la, dass ich das al­les von dir nie ge­wusst habe! Und jetzt kommst du zu mir, jetzt da ich fort soll.«

»Du? Wo­hin denn?«

»Zu dem On­kel aufs Land, bei dem mei­ne Mut­ter lebt. Ich soll Land­wirt wer­den, soll das Stu­di­um auf­ge­ben.«

Da glitt ein Brief durch die Tür­spal­te. Wen­de­lin sah sich um, woll­te ihn dann aber nicht be­ach­ten. Al­lein Ka­ro­la sag­te: »Bit­te lies ihn.«

»Jetzt, wo du da bist; der hat doch Zeit.«

»Sieh we­nigs­tens, von wem er ist.«

Er stand auf und nahm den Brief. »Von mei­ner Cou­si­ne Jut­ta.«

»Lies ihn, sonst musst du im­mer­zu an ihn den­ken, und ich habe noch viel mit dir zu spre­chen.«

Er setz­te sich vor dem Bett auf den Bo­den, den Schopf an Ka­ro­las Knie ge­lehnt und las:

Lie­ber Wen­del!

Schil­le­nin­ken, den 25. April

So­lan­ge habe ich nichts von Dir ge­hört. Als ich auf der Hoch­zeits­rei­se war, schriebst Du mir an jede Post­sta­ti­on; seit ich zu­rück­ge­kehrt bin, ver­nach­läs­sigst Du mich. Ich sit­ze hier in dem Bel­ve­de­re, das mir die Schrö­ders tat­säch­lich auf Le­bens­zeit über­las­sen ha­ben. Sie sind wirk­lich rüh­rend, die gu­ten Leu­te, auch jetzt noch, nach­dem das ver­arm­te Fräu­lein von Dom­rau eine bür­ger­li­che Ban­kiers­gat­tin ge­wor­den ist. Heim­lich hat Eiß­ner sich wohl mit dem groß­zü­gi­gen Plan ge­tra­gen, das gan­ze Gut zu­rück­zu­kau­fen, aber er ist fein ge­nug zu ah­nen, dass die­se plötz­li­che Mor­gen­ga­be etwa nicht nach mei­nen Ge­schmack sein könn­te. Ein we­nig müs­sen wir doch die De­hors die­ser Nei­gungs­ehe wah­ren. Sei­ne Rit­ter­lich­keit ist üb­ri­gens un­an­fecht­bar. Er lässt mir, da ich es so möch­te, den gan­zen Früh­ling mei­ne lieb­ge­wohn­te Zu­rück­ge­zo­gen­heit. Du bist nicht hier ge­we­sen seit un­serm denk­wür­di­gen Ge­spräch über Ehe nach der ro­ten Jagd, weißt Du noch? Ach, Wen­de­lin, hät­test Du mir da­mals ernst­lich ab­ge­ra­ten – aber Du hast es ge­wollt, und ich habe Dei­ner blut­jun­gen und blu­tu­r­al­ten Weis­heit ver­traut, und viel­leicht war das gut so.