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"Sei mein Liebhaber. Nur diese eine Nacht!" Eine geflüsterte Aufforderung, der Matthew Wheeler nur zu gerne nachkommt. Die geheimnisvolle Schönheit auf dem venezianischen Maskenball weckt in ihm eine brennende Leidenschaft, die er schon lange vermisst hat. Nach einer geradezu unglaublich erotischen Nacht in ihren Armen will er Evangeline am liebsten nicht wieder gehen lassen. Doch die ehemalige Sängerin hat kein Interesse an einer Zukunft mit dem Millionär - und Matthew weiß nicht, wie er sie davon überzeugen kann, dass sie nur gemeinsam glücklich werden können …
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Seitenzahl: 201
Kat Cantrell
Heiße nacht in Venedig
IMPRESSUM
BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2014 by Kat Cantrell Originaltitel: „Pregnant by Morning“ erschienen bei: Harlequin Books, Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARABand 1852 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Susanna Mewe
Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733720889
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Matthew Wheeler stürzte sich nicht in das muntere Karnevalsgetümmel, um zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein, sondern weil er ein anderer werden wollte.
Venedig zog Menschen aus allen Teilen der Erde wegen seiner Schönheit, seiner Geschichte und vieler anderer Dinge an, doch ganz bestimmt war keiner der Feiernden auf dem Markusplatz aus demselben Grund hierhergekommen wie er.
Matthew rückte die enge Maske zurecht, die seine obere Gesichtshälfte verbarg. Sie war unbequem, aber notwendig. Jeder hier war verkleidet. Manche trugen lediglich schlichte Smokings und schwarze Verhüllungen vor den Augen, andere ausgefallene Marie-Antoinette-Kleider und gefiederten Kopfschmuck. Dazu hatten alle ein Lächeln auf den Lippen, doch das brachte Matthew beim besten Willen nicht zustande.
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Komm, mein Freund.“ Es war Vincenzo Mantovani, sein Nachbar. „Wir gehen jetzt alle zur Party im Caffè Florian.“
„Va bene“, antwortete Matthew. Vincenzo hatte sich am heutigen Abend zu seinem Karnevalsführer ernannt und verstand es, ausgelassen zu feiern – solange es nur unvernünftig und möglichst waghalsig war. Genau diese Kombination machte ihn zum perfekten Gefährten für einen Mann, der sich verzweifelt nach Ablenkung sehnte.
Tatsächlich war Matthew schon zufrieden, wenn er Amber für wenige Stunden vergaß. Doch die Erinnerung an seine Ehefrau verfolgte ihn sogar hierher nach Italien, über fünftausend Meilen von ihrem Grab entfernt.
Vincenzo redete in gebrochenem Englisch auf Matthew ein, während sie sich durch die Menge auf dem Markusplatz drängten. Schließlich landeten sie im überfüllten Caffè Florian. Hier war es zu laut, um sich zu unterhalten, was Matthew nur recht war.
Wie die meisten Venezianer hatte Vincenzo nie viel Kontakt zu Fremden gepflegt. Umso freudiger hatte er die Ankunft des Amerikaners begrüßt, der ganz allein in den großen einsamen Palazzo neben seinem gezogen war.
Um dieses Anwesen zu erwerben, hatte Matthew einen arabischen Prinzen überbieten müssen. Es lag direkt über dem Canal Grande und war ein Hochzeitsgeschenk für seine Frau Amber gewesen. Doch in den ersten elf Monaten nach ihrer Trauung hatten sie es nicht nach Italien geschafft, weil er zu sehr mit der Arbeit beschäftigt gewesen war.
Und danach war es zu spät gewesen.
Matthew nippte an dem Cappuccino, den sein Freund wundersamerweise herbeigezaubert hatte, und versuchte, zumindest ein fröhliches Gesicht zu machen. Wenn er weiter über Amber nachdachte, würde ihm das nie gelingen. Sie hätte es gehasst, ihn so zu sehen. Sie hätte gewollt, dass er mit seinem Leben weitermacht, und das versuchte er ja auch.
An diesem Abend bestand sein einziges Ziel darin, ein anderer zu werden. Ein Mann, der nicht trauerte und nicht die drückende Last der Erwartungen seiner Familie auf den Schultern spürte.
Keine leichte Aufgabe – er war nun einmal von Geburt an ein Wheeler. Zusammen mit seinem Bruder, seinem Vater und seinem Großvater hatte Matthew das Unternehmen Wheeler Family Partners geleitet, ein millionenschweres Immobilienunternehmen in Nordtexas, dessen Geschichte ein ganzes Jahrhundert zurückreichte.
Matthew hatte stets an die Kraft von Familie und Tradition geglaubt. Doch dann hatte er seine Frau verloren, und kurz darauf seinen Großvater. Die Trauer war so lähmend gewesen, dass er nur noch einen Ausweg gesehen hatte: Er war abgehauen.
Seitdem lief er davon, quer über den Erdball.
An den Stränden Mexikos hatte er keine Antworten gefunden. Die Zeit in Machu Picchu hatte ihn nur erschöpft. Und die Namen der anderen Orte, an denen er gewesen war, begannen in seiner Erinnerung bereits zu verschwimmen.
Vor einem Monat war er schließlich in Venedig gelandet. Und hatte entschieden: Bis das echte Leben ihm wieder machbar vorkam, würde er sich hier aufhalten.
Gegen elf Uhr führte Vincenzo den Trupp seiner hundert engsten Freunde – Matthew war einer von ihnen – zu seinem Haus, wo ein Maskenball stattfinden sollte. Durch die engen Straßen kamen nur wenige Partygänger gleichzeitig. Matthew lief am Ende des Zuges, und als er endlich den Palazzo seines Nachbarn erreichte, war der bereits hell erleuchtet und voller Menschen. Der Anblick bot einen scharfen Kontrast zu Matthews düsterem Haus direkt nebenan.
Er erklomm die steinernen Stufen, die zu Vincenzos Hintereingang führten. Der Karnevalslärm dröhnte aus dem Palazzo und übertönte das leise Plätschern des Kanals, der von der anderen Seite des Hauses zu hören war.
Drinnen nahm ein verkleideter Diener seinen Mantel entgegen. Ein kunstvoller antiker Tisch verstellte Matthew den Weg zum Hauptraum. In der Mitte stand eine riesige Glasschüssel voller Handys, ein kurioser Anblick.
„Es ist eine Telefonparty“, erklang eine raue Stimme in seinem Rücken, und er drehte sich sofort um.
Eine Frau. Sie trug natürlich eine Maske, dazu ein kostbar besticktes Kleid in Hellblau und Weiß mit riesigen Reifröcken. Ihr Ausschnitt war nicht so tief wie bei vielen anderen Frauen im Raum, doch in Kombination mit dem voluminösen Kleid zogen die sanften Rundungen ihrer Brüste seine Aufmerksamkeit auf sich. Niedliche, silberne Schmetterlingsflügel sprossen aus ihren Schulterblättern.
„War meine Verwirrung derart offensichtlich?“, fragte er, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie lächelte. „Sie sind Amerikaner.“
„Ist das die Erklärung dafür, dass ich nicht weiß, was eine Telefonparty ist?“
„Nein, vermutlich besitzen Sie einfach mehr Reife als die meisten Leute hier.“
Folglich musste sie mit den Gästen bekannt sein. Matthew selbst kannte, abgesehen von Vincenzo, der gerade nirgends zu sehen war, nicht einen Menschen.
Der größte Teil ihres Gesichts war unter der Maske verborgen. Er sah nur ihre vollen, rosa bemalten Lippen und ihr karamellfarbenes Haar, das ihr in üppigen Locken auf die nackten Schultern fiel. Bezaubernd. Und erst ihre Stimme … sie war sinnlich, tief und dabei seltsam gebrochen. Der Klang wühlte sich tief in sein Inneres.
Er hatte nach einer Ablenkung gesucht. Vielleicht hatte er sie ja gefunden.
„Jetzt bin ich neugierig. Lust, mich aufzuklären?“, fragte er.
Sie zuckte die Achseln. „Frauen lassen ihr Handy in die Glasschüssel fallen, und Männer wählen eins aus. Voila: Affäre auf Knopfdruck. Leichter geht’s nicht.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich weiß ehrlich nicht, was ich dazu sagen soll.“
„Also werden Sie sich am Ende des Abends keins herausfischen?“
Eine schwierige Frage. Der wahre Matthew hätte auf jeden Fall Nein gesagt. Er hatte noch nie in seinem Leben einen One-Night-Stand gehabt. Sachen dieser Art passten eher zu seinem Bruder Lucas.
Der hätte wahrscheinlich gleich zwei Handys aus der Glasschüssel gezogen und die beiden Frauen irgendwie davon überzeugt, dass ein Dreier das Größte wäre. Nun, der alte Lucas hätte das zumindest getan … Doch durch eine bizarre Wendung des Schicksals war ausgerechnet sein Bruder jetzt glücklich verheiratet. Und ein Baby war auch auf dem Weg.
Was Frauen anging, konnte Matthew es mit dem Talent seines Bruders nicht aufnehmen. Er wusste nur, wie man Millionen-Dollar-Geschäfte unter Dach und Fach brachte, besonders wenn es um erstklassige Immobilien in Dallas ging. Aber das war auch schon alles. Es hatte ihn in seinem Leben wenig weitergebracht. Und auf ein Dasein als zweiunddreißigjähriger Witwer hatte es ihn gewiss nicht vorbereitet.
Nach Ambers Tod hatte sich Matthew unbewusst Lucas zum Vorbild genommen. So, wie er gewesen war, bevor er seine Frau Cia geheiratet hatte. Im Leben seines Bruders hatte sich immer alles um Spaß gedreht, die Folgen waren ihm egal gewesen. Matthew hingegen hatte bereitwillig die Last der Verantwortung für die Familie auf seine Schultern genommen, wie sein Vater und Großvater vor ihm. Ungeduldig hatte er den Tag erwartet, an dem seine Frau den ersten Sprössling einer neuen Generation Wheelers auf die Welt bringen würde. Und dann war alles in sich zusammengestürzt.
Was also würde der alte Lucas an seiner Stelle tun?
„Kommt ganz darauf an.“ Matthew wies mit dem Kinn auf die Glasschüssel. „Liegt Ihr Handy drin?“
Sie lachte heiser und schüttelte den Kopf. „Nicht mein Stil.“
Er spürte eine eigenartige Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. „Meiner auch nicht. Obwohl ich in diesem speziellen Fall vielleicht eine Ausnahme gemacht hätte.“
Ihr Lächeln wurde breiter, sie trat einen Schritt näher, und er hörte, wie ihre Flügel raschelten. Die Vorderseite ihres Kleids streifte seine Brust, als sie ihm mit seltsam rauchiger Stimme ins Ohr flüsterte: „Ich auch.“
Dann floh sie.
Leichtfüßig lief sie in den Festsaal von Vincenzos Palazzo und wurde im nächsten Moment von der Menge verschluckt. Ihre faszinierende Stimme klang noch immer verführerisch in Matthews Ohren nach. Sollte er ihr nachlaufen? Wie sollte er das nicht tun, nachdem sie ihm so eindeutig ihr Interesse signalisiert hatte?
Vielleicht hatte sie nur einen Scherz gemacht, und das Ganze hatte nichts zu bedeuten. Er stieß einen leisen Fluch aus. Seine letzte Affäre mit einer Frau war schon zu lange her. Schon kannte er die Regeln nicht mehr. Vielleicht hatte er sie auch noch nie gekannt. Aber das hier war Venedig, nicht Dallas, und er war ein anderer als sonst.
Matthew lief seiner Schmetterlingsfrau durch die Menge hinterher.
Die schnellen, elektronischen Beats standen im seltsamen Gegensatz zu den altmodischen Kostümen, aber niemanden schien das zu stören. Viele Tänzerinnen bevölkerten das Erdgeschoss des Palazzo, aber keine von ihnen hatte Flügel.
Am Rand der Tanzfläche versuchten Partygäste ihr Glück bei Roulette und Siebzehnundvier, aber er beachtete sie gar nicht. Glücksspiel war etwas für Leute, die keine Ahnung von Gewinnchancen hatten und keinen gesunden Menschenverstand besaßen. Und falls seine geheimnisvolle Schmetterlingsfrau in diese Kategorie fallen sollte, suchte er sich lieber eine andere Ablenkung.
Etwas Silbernes blitzte in der Menge auf, und er konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf ihre Flügelspitzen erhaschen, bevor sie im anderen Raum verschwand.
„Entschuldigen Sie mich.“ So höflich er konnte, bahnte sich Matthew einen Weg durch die Menge der Tänzer, um dem Wesen nachzujagen, das seit achtzehn langen kalten Monaten das erste war, das sein Interesse geweckt hatte.
Unter dem gewölbten Türbogen zwischen den beiden Zimmern blieb er stehen und blickte sich suchend um. Dann entdeckte er sie. Die Fremde stand am Rand einer Gruppe, die sich gebannt um etwas geschart hatte, das er von seiner Position aus nicht sehen konnte. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie inmitten all dieser Menschen ebenso einsam war wie er.
Tarot-Fans drängten sich so eifrig um Madam Wong, als hielte sie die Zahlen der nächsten Lottoziehung in den Händen. Evangeline La Fleur hatte eigentlich weder etwas für Tarotkarten noch für Lotterielose übrig, doch sie fand es immer faszinierend, das Verhalten anderer Menschen zu beobachten. Madam Wong drehte eine weitere Karte um, und die Menge hielt kollektiv den Atem an. Evangeline verdrehte die Augen.
Plötzlich spürte sie ein Kribbeln in ihrem Nacken. Jemand beobachtete sie.
Es war der Typ aus der Eingangshalle.
Ihre Blicke trafen sich, und ein Schauer durchlief ihren gesamten Körper. Er schien wirklich Interesse an ihr als Person zu haben.
Alle anderen hatte in letzter Zeit immer nur eines interessiert: „Was wirst du jetzt tun, wo du nicht mehr singen kannst?“
Der Anzug, den der Typ trug, war gut geschnitten, und auch das, was sich darunter verbarg, machte einen äußerst vielversprechenden Eindruck. Seine Lippen unter dem Rand der schwarzen Samtmaske waren voll, und seine Hände wirkten … kraftvoll.
Die Musik im Hintergrund wurde leiser, als er zielstrebig auf sie zuschritt. Er achtete gar nicht auf die anderen Leute, sondern hatte nur Augen für Evangeline. Sie spürte ein heftiges Kribbeln in einer Region ihres Körpers, die normalerweise für Männer reserviert war, die sie länger kannte.
Scheinbar ungerührt sah sie zu, wie er näher kam, sie blickte ihn offen und direkt an.
Die Tatsache, dass eine Maske die Hälfte seines Gesichts verbarg, ließ ihn irgendwie noch attraktiver erscheinen. Auch er konnte nicht ahnen, wer sich hinter der Maske verbarg. Wann war sie das letzte Mal jemandem begegnet, der nicht wusste, dass ihre Karriere zerstört war? Oder wie viele Grammys in ihrem Regal standen?
Eine Zeit lang war sie ein Star der Entertainmentbranche gewesen – so erfolgreich, dass sie sogar ohne Nachnamen ausgekommen war. Die ganze Welt hatte sie gekannt als Eva.
Doch dann hatte man sie ausgestoßen.
„Da sind Sie ja wieder“, sagte sie leise. Sie wollte möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.
„Ich hatte schon befürchtet, sie seien davongeflogen“, erwiderte er.
Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie lachen. Das passierte ihr nicht oft in letzter Zeit. „Die Flügel funktionieren nur nach Mitternacht.“
„Dann sollte ich wohl besser schnell meinen Zug machen.“ Seine Augen waren schön, von einem beinahe durchsichtigen, kristallklaren Blau, das im scharfen Kontrast zum schwarzen Rand seiner Maske stand. „Mein Name ist …“
„Nein.“ Beschwörend legte sie ihm den Finger auf die Lippen. „Keine Namen. Noch nicht.“
Da er sie ansah, als wollte er ihren Finger am liebsten gleich ganz in den Mund nehmen, zog sie ihn vorsichtshalber schnell wieder weg. Dieser Fremde war zweifellos aufregend, aber auch gefährlich, und ihr Selbsterhaltungstrieb war stärker. Leute aus Vincenzos Bekanntenkreis konnten ihrer Erfahrung nach ziemlich wild sein.
Vor Kurzem war sie mit Vincenzo und seinen Freunden ein paar Monate lang durch Europa gereist, einfach weil ihr nichts Besseres eingefallen war. Ganz offensichtlich suchte sie nach Neuem. Sehnte sich nach etwas. Aber was konnte das sein?
„Wollen Sie mehr über Ihr Schicksal erfahren?“ Der Fremde deutete mit dem Kinn auf Madam Wong, und die Menge teilte sich.
Madam Wong mischte die Karten. „Kommen Sie. Setzen Sie sich.“
Der heiße Typ rückte ihr einen Stuhl zurecht. Evangeline wusste nicht, wie sie höflich ablehnen konnte, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also setzte sie sich einfach. Dabei war sie sich der kraftvollen Hände, die auf der Rückenlehne ihres Stuhls, nur wenige Zentimeter von ihrem Nacken entfernt, ruhten, nur allzu bewusst.
Madam Wong schob den Kartenstapel über den Tisch zu Evangeline.
Nachdem ihre Stimmbänder zerstört worden waren, hatte Evangeline drei Monate lang nach einem Heilmittel gesucht und war dabei auf der Türschwelle jeder rumänischen Zigeunerin, jedes asiatischen Akupunkteurs und jedes nepalesischen Wunderheilers gelandet.
Nicht einer von ihnen hatte ihr die verlorene Stimme wiedergeben können. Geschweige denn die verlorene Seele.
Das einzig Positive im Albtraum der letzten Monate war, dass sie den Prozess gegen den Quacksalber gewonnen hatte. Er hatte seine Lizenz verloren und durfte nie wieder als Arzt praktizieren.
Die verkleidete Menge drängte sich dichter um den Tisch, und Madam Wong begann, die Karten zu legen. Sie zog die Augenbrauen zusammen und blickte Evangeline an. „Sie haben ein großes Problem, ja?“
Oh, wie haben Sie das nur erraten? dachte Evangeline spöttisch. Geduldig wartete sie auf den Rest von dem ganzen verlogenen Quatsch.
Die alte Frau mit dem verwitterten Gesicht drehte einen der vielen Ringe an ihren Fingern und betrachtete nachdenklich die Karten. „Man hat Ihnen eine schlimme Verletzung zugefügt, und Sie haben etwas Wertvolles verloren.“
Die kraftvollen Hände des Fremden streiften Evangelines Haar. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und runzelte die Stirn.
Verletzt.
Ja, das war sie, in mehr als einer Hinsicht.
„Diese Karte …“ Madam Wong klopfte mit dem Finger darauf. „Verwirrt mich. Versuchen Sie, schwanger zu werden?“
„Ein Baby?“ Evangeline würgte die Worte beinahe hervor und holte noch einmal tief Luft, um ihren plötzlich rasenden Puls zu beruhigen. „Nicht einmal annähernd.“
„Empfängnis kann in vielen Formen vorkommen und auch einfach nur ein neuer Anfang sein. Es ist der Schritt nach der Inspiration. Sie sind inspiriert worden und müssen jetzt etwas daraus erschaffen.“
Inspiration? Die war in letzter Zeit Mangelware gewesen. Evangeline musste unwillkürlich schlucken. Nach ihrer Höllenoperation hatte sie nicht den leisesten Anflug von Kreativität verspürt. Die Musik in ihr war einfach verstummt.
Madam Wong raffte die Karten zu einem Haufen zusammen und begann, sie neu zu mischen. „Ich möchte es ein zweites Mal probieren.“
Stumm versuchte Evangeline, den Kopf zu schütteln, doch sie fühlte sich wie gelähmt. Ihre Augen brannten, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
Sie hätte ein Safeword, ein Sicherheits-Wort, gebraucht, um sich aus dieser Situation zu befreien. Ihr Manager hatte ihr immer eins gegeben, wenn die Fragen der Presse zu unangenehm wurden.
Nun hatte sie weder einen Manager noch ein Safeword. Sie hatte gar nichts mehr.
„Ich glaube, Sie haben mir den nächsten Tanz versprochen.“
Der blonde heiße Typ ergriff ihre Hand und zog sie in einer anmutigen Bewegung vom Stuhl hoch.
„Danke“, sagte er zu Madam Wong. „Aber wir haben genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Guten Abend.“
Und einfach so führte er sie weg vom Tisch und all den neugierigen Blicken.
Als er endlich in einer Nische zwischen der Tanzfläche und dem Hinterzimmer stehen blieb, hatte sich ihr Puls beruhigt. Verwirrt blickte sie zu ihrem Retter auf. „Warum haben Sie das gemacht?“
Er tat gar nicht erst so, als würde er sie nicht verstehen. „Sie waren so angespannt, dass Ihr Stuhl vibriert hat. Ich schätze, Sie machen sich nicht so viel aus dem Kartenlegen.“
„Nicht besonders. Danke.“ Als sie erkannte, dass er ihr keine weiteren Fragen stellen würde, war sie beinahe zu Tränen gerührt.
„Ich kann uns ein Glas Champagner holen“, schlug er vor.
Beim Gedanken an Alkohol wurde ihr eher übel. Andererseits brauchte sie jetzt mal eine Minute für sich. „Sicher. Gerne.“
Schon war er in der Menge verschwunden und Evangeline allein.
Ob sie die Party verlassen und auf ihr Zimmer flüchten sollte? Ein bohrender Kopfschmerz hatte sich hinter ihren Augen eingenistet.
Unglücklicherweise befand sich ihr Zimmer direkt über der Tanzfläche. Sie seufzte. Da würde sie eh nicht zur Ruhe finden.
Der Fremde war schnell mit zwei Champagnerflöten zurück. Sie stieß mit ihm an und lächelte ihm mit gespielter Fröhlichkeit zu. Ja, er sah großartig aus, und er war einfühlsam, aber heute Abend war sie keine gute Gesellschaft. Sie nippte an ihrem Getränk und suchte krampfhaft nach einer Ausrede, um sich zurückziehen zu können … bis sie über seine Schulter plötzlich einen Blick auf ihren schlimmsten Albtraum erhaschte.
Rory war da! Mit Sara Lear. Ausgerechnet.
Natürlich war er mit ihr zusammen. Saras Debütalbum voller Bubblegum-Popsongs und zuckersüßer Liebesliedchen war in den Charts hochgeschossen und beanspruchte nun schon seit Wochen fest die Nummer eins. Das Sternchen hatte es natürlich vorgezogen, keine Maske anzulegen, sondern sonnte sich lieber im Glanz ihres neu gewonnenen Ruhms. Rory trug ebenfalls keine Maske, zweifellos wollte er sichergehen, dass auch jeder wusste, wer Saras Begleiter war. Er war ziemlich gerissen, wenn es um seine Karriere und die seiner Band ging.
Evangeline hatte seinen Verlobungsring die Toilette heruntergespült, nachdem er sie sitzen gelassen hatte. Und sie hatte ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren solle, als er ihn zurückhaben wollte.
Rory und Sara stolzierten durch den Festsaal, als ob er ihnen gehörte, und wer konnte es ihnen verübeln. Beide hatten tolle Stimmen und noch lange, großartige Karrieren vor sich. Vor sechs Monaten hatte Evangeline selbst an Rory Cartmans Arm gehangen, war glücklich verliebt gewesen, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und blind für die Grausamkeit der Welt.
Der bohrende Kopfschmerz hinter ihren Augen nahm zu.
Sie trank ihren Champagner in einem Zug leer und überlegte fieberhaft, wie sie an Rory und Sara vorbeikommen konnte, ohne von ihnen erkannt zu werden. Um Sara machte sie sich keine Gedanken, offiziell waren sie sich nie begegnet. Doch ihr Exverlobter würde sie ohne zu zögern bloßstellen, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen sollte. Ihre Maske hatte da nur einen begrenzten Tarneffekt.
Sie würde weder die Fragen noch die mitleidigen Blicke ertragen können, wenn sie unter den Augen der Öffentlichkeit dem Kerl begegnete, der ihr das Herz gebrochen hatte. Oder der Frau, die sie in seinem Bett ersetzte. Und in den Charts.
„Mehr Champagner?“, fragte ihr Begleiter.
Rory und seine neue Pop-Prinzessin blieben nur wenige Meter von der dämmrigen Nische stehen, in der sich Evangeline aufhielt. Sie brauchte dringend ein Schutzschild.
Glücklicherweise machte Not erfinderisch.
Kurzentschlossen nahm sie ihrem Retter das halb leere Glas aus der Hand und stellte beide Gläser auf dem Sims hinter ihnen ab. Dann ergriff sie den Aufschlag seines Revers, zog ihn nah zu sich heran und küsste ihn.
In dem Moment, als ihre Lippen sich trafen, verlor der Name Rory Cartman jede Bedeutung.
Matthew hatte nur einen kurzen Moment, um sich auf das, was gleich geschehen würde, vorzubereiten. Es war nicht lang genug. Als die Frau mit den Flügeln ihre Lippen auf seine drückte, entfachte sie eine Glut in ihm, die seinen ganzen Körper durchflutete. Es war wie die Explosion eines Atomkraftwerks, kam einer Kernschmelze gleich.
Plötzlich wusste er genau, was Lucas an seiner Stelle tun würde.
Er fasste Evangelines Gesicht mit beiden Händen, neigte seinen Kopf und nahm ihren Mund voller Leidenschaft in Besitz. Mit einem Seufzer glitten ihre Lippen auseinander, und ihr Griff um sein Revers wurde fester. Fordernd zog sie ihn näher zu sich heran.
Das Ganze fühlte sich seltsam vertraut an. Als hätten sie dies schon einmal getan, genau auf diese Art, versteckt in einer dunklen Nische. Ihre Lippen und Körper schienen intuitiv zueinanderzufinden. Dabei küsste er eine Fremde – er kannte noch nicht einmal ihren Namen.
Überhaupt entsprach diese Frau gar nicht seinem Typ – sie war zu schillernd für ihn, zu sinnlich, zu schön.
Doch zum ersten Mal seit Ambers Tod fühlte er sich wieder richtig lebendig. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust, und er spürte, wie das Blut durch seine Adern strömte.
Nach einem Moment, der ewig schien, tatsächlich wohl aber nur wenige Sekunden gedauert haben konnte, löste sie ihre Lippen von seinen. Ihr Atem ging stoßweise. „Es tut mir leid.“
„Das muss es nicht.“
Er hielt sie noch immer fest umschlungen.
Sie sog scharf die Luft ein, ihr Busen stieß gegen seinen Brustkorb, und die Berührung entfachte schon wieder das Feuer in ihm. „Ich muss dir die Wahrheit gestehen“, sagte sie. „Mein Ex ist auf der Party, und das hier war mein armseliger Versuch, mich vor ihm zu verstecken.“
„Für einen Versuch war das gar nicht schlecht.“
Sie lachte nervös und fuhr sich verlegen mit der Hand über ihre vom Kuss geröteten Lippen. Dann befreite sie sich aus seinen Armen. „Normalerweise küsse ich keine fremden Männer.“
„Dieses Problem lässt sich leicht beheben. Mein Name ist Matt.“
Es ging ihm mühelos über die Lippen, dabei hatte ihn noch nie in seinem Leben jemand Matt genannt. Aber in diesem Moment erschien es ihm äußerst verlockend, einfach nur Matt zu sein. Matt war nicht vor seinen Verpflichtungen zu Hause davongelaufen, ebenso wenig quälte er sich mit Schuldgefühlen. Matt genoss das Leben, küsste verkleidete Frauen auf Partys und würde heute Nacht vielleicht sogar noch zum Zug kommen.
Sie lächelte. „Schön, dich kennenzulernen, Matt. Du kannst mich Angie nennen.“
Angie. Das klang viel zu gewöhnlich für ein derart zartes, beinahe ätherisches Geschöpf. Ihre Formulierung ließ ahnen, dass es sich nicht um ihren wahren Namen handelte. Doch da er sich zu einem ähnlichen Täuschungsmanöver entschieden hatte, konnte er sich kaum beschweren.
„Welcher hier ist dein Ex? Damit wir ihm aus dem Weg gehen können.“
Da sie sich unbedingt verstecken wollte, nahm er an, dass die Trennung nicht von ihr ausgegangen war.
Sie blickte verstohlen hinter sich. „Er sitzt da drüben auf der Couch, neben der kleinen Blondine.“
Matthew entdeckte die beiden sofort. Sie küssten sich leidenschaftlich, während die Hand des Typen langsam unter das Kleid der Blondine wanderte. Autsch. Von Zurückhaltung in der Öffentlichkeit hielt ihr Ex anscheinend nicht viel.
„Haben sie die Einladung nicht bekommen? Das hier ist ein Maskenball.“
„Ich mag dich“, sagte sie und nickte entschieden.
Er grinste. „Ich dich auch.“