Heldenwechsel. Vom "Stoßarbeiter" zum "mittleren Helden" - Lutz Marz - E-Book

Heldenwechsel. Vom "Stoßarbeiter" zum "mittleren Helden" E-Book

Lutz Marz

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fachbuch aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Kunst - Uebergreifende Betrachtungen, , Veranstaltung: Kunstwissenschaft, Sprache: Deutsch, Abstract: Ein bekanntes aber immer wieder diskutiertes Grundcharakteristikum moderner Gesellschaften besteht darin, dass die Bereiche Wirtschaft, Politik und Kunst einerseits eine strukturelle und funktionale Teilautonomie besitzen, andererseits aber miteinander wechselwirken. Aus dieser Gleichzeitigkeit von Teilautonomie und Wechselwirkung resultiert eine trilaterale Ko-Evolution von Wirtschaft, Kunst und Politik. Bei der Analyse dieser Ko-Evolution ist bislang eine Vermittlungsfigur nur unzureichend und einseitig analysiert worden, und zwar die Figur des Arbeitshelden. Dies erstaunt aus mehreren Gründen. Zum einen steht diese Figur seit der Antike im Zentrum der großen abendländischen Erzählungen. Zum anderen gibt es zwischen den teilautonomen Bereichen Wirtschaft, Politik und Kunst wohl kaum eine passendere Vermittlungsfigur als den Arbeitshelden. Und schließlich hat der Sozialismus den Arbeitshelden als Vermittlungsfigur zwischen Wirtschaft, Politik und Kunst geradezu unübersehbar und sinnfällig gemacht. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die zentrale Rolle der Arbeitshelden in der Ko-Evolution von Wirtschaft, Politik und Kunst exemplarisch herauszuarbeiten und zu plausibilisieren. Dabei wird gezeigt, dass diese Vermittlungsfigur nicht fix und unveränderlich ist, sondern dass sie sich in diesem trilateralen Ko-Evolutionsprozess wandelt, so wie sich auch die teilautonomen Bereiche Wirtschaft, Politik und Kunst und deren Wechselwirkungsgefüge wandeln. Empirisch wird die Doppelfunktion des Arbeitshelden in der vorliegenden Studie am Beispiel des Heldenwechsels vom „Stoßarbeiter“ zum „mittleren Helden“ in der DDR analysiert. Dabei greift die Analyse sowohl auf kliometrische als auch auf literaturwissenschaftliche Untersuchungen zurück.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum:

Copyright (c) 2015 GRIN Verlag / Open Publishing GmbH, alle Inhalte urheberrechtlich geschützt. Kopieren und verbreiten nur mit Genehmigung des Verlags.

Bei GRIN macht sich Ihr Wissen bezahlt! Wir veröffentlichen kostenlos Ihre Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten.

Jetzt beiwww.grin.com

Für Wolfgang Kuczynski, Max Trömel, Heinz Malzahn und Heinz Krause, vier mittlere Helden im Kombinat KWO.

Inhalt

 

1. Einleitung: Wirtschaft, Politik, Kunst und Arbeitshelden

2. DDR: Periodisierung und Trendbruchperiode

2.1. Periodisierung: Theorie und Empirie

2.2. Trendbruchperiode: Forschungsdefizite und Forschungshypothesen

3. Arbeitshelden: Mythologische und sowjetische Arbeitshelden

3.1. Mythologischer Heros der Arbeit: Herakles – Figur, Facetten und Funktionen

3.1.1. Figur: Herakles - Taten und Wirkungsgeschichte

3.1.2. Facetten: Herakles als Revolutions-, Arbeits- , Zivilisations- und Kulturheros

3.1.3. Funktionen: Herakles als Vermittlungs- und Identifikationsfigur

3.2. Sowjetische Heroen der Arbeit: Alexej Stachanow und die Winogradovas

3.2.1. Alexej Stachanow

3.2.2. Die Winogradovas

4. DDR-Arbeitshelden der ersten und zweiten Periode

4.1. DDR-Arbeitshelden der ersten Periode: Die preußischen „Stoßarbeiter“

4.1.1. Adolf Hennecke und Frida Hockauf

4.1.2. Hans Garbe und der Garbe-Stoff

4.1.3. Bearbeitungen des Garbe-Stoffes: Frühe, mittlere und späte Varianten

4.2. DDR-Arbeitshelden der zweiten Periode: Peter Hacks‘ „mittlere Helden“

4.2.1. „Eröffnung des indischen Zeitalters“ (1954): Columbus

4.2.2. „Moritz Tassow“ (1961): Mattukat

4.2.3. „Prexaspes“ (1968): Darios

4.2.4. „Omphale“ (1969): Herakles

4.2.5. „Numa“ (1970/71): Quirini, Lucia und Numa

4.2.6. „Die Binsen“ (1981): Justine

5. Heldenwechsel: Vergleich und Agenda

6. Danksagung

7. Literatur

 

1. Einleitung: Wirtschaft, Politik, Kunst und Arbeitshelden

 

Ein allseits bekanntes und immer wieder diskutiertes Grundcharakteristikum moderner Gesellschaften besteht darin, dass die Bereiche Wirtschaft, Politik und Kunst eine strukturelle und funktionale Teilautonomie besitzen[1]. Dabei stehen drei Fragen im Mittelpunkt der Debatte: Erstens, wie weit reicht die Teilautonomie eines jeden Bereiches? Zweitens, hat einer dieser drei Bereiche den Primat? Und drittens, wie wechselwirken diese strukturell und funktional teilautonomen Bereiche miteinander? Die zur Diskussion stehenden Antworten auf diese drei Fragen sind kontrovers und alles andere als trivial[2].

 

Was die Wechselwirkung von Wirtschaft und Kunst betrifft, so geben hier die Arbeiten von Hutter einen ebenso breiten wie differenzierten Einblick in die Thematik. Man denke nur an seine Aufsatzsammlung „Wertwechselstrom“[3] oder an Artikel wie „Structural Coupling between Social Systems“[4] und „Visual Credit“[5]. Darüber hinaus untersucht Hutter in einem noch laufenden Projekt an Hand historischer Fallstudien unterschiedliche Varianten der Ko-evolution zwischen Wirtschaft und Kunst[6].

 

Bei der Frage nach der Ko-evolution von Wirtschaft und Kunst und der allgemeineren Frage nach der Ko-evolution von Wirtschaft, Politik und Kunst, ist, soweit zu sehen, bislang eine Vermittlungsfigur nur unzureichend und einseitig analysiert worden, und zwar die Figur des Arbeitshelden. Dies erstaunt aus mehreren Gründen. Zum einen steht diese Figur seit der Antike im Zentrum der großen abendländischen Erzählungen[7]. Zum anderen gibt es zwischen den teilautonomen Bereichen Wirtschaft, Politik und Kunst wohl kaum eine passendere Vermittlungsfigur als den Arbeitshelden[8]. Und schließlich hat der Sozialismus den Arbeitshelden als Vermittlungsfigur zwischen Wirtschaft, Politik und Kunst geradezu unübersehbar und sinnfällig gemacht[9].

 

Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die zentrale Rolle der Arbeitshelden in der Ko-evolution von Wirtschaft, Politik und Kunst exemplarisch herauszuarbeiten und zu plausibilisieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Vermittlungsfigur nicht fix und unveränderlich ist, sondern dass sie sich in diesem trilateralen Ko-evolutionsprozess wandelt, so wie sich auch die teilautonomen Bereiche Wirtschaft, Politik und Kunst und deren Wechselwirkungsgefüge wandeln.

 

Als Vermittlungsfigur besitzen Arbeitshelden eine Doppelfunktion, nämlich eine Indikator- und eine Impulsfunktion. Eine Indikatorfunktion insofern, als in einer Veränderung der Arbeitshelden zugleich eine Veränderung des Ko-evolutionsprozesses aufscheint. Eine Impulsfunktion insofern, als eine Veränderung der Arbeitshelden auch eine Veränderung des Ko-evolutionsprozesses zwischen Wirtschaft, Politik und Kunst stimulieren kann. So gesehen ist die Vermittlungsfigur des Arbeitshelden sowohl Wirkung (Indikatorfunktion) als auch Ursache (Impulsfunktion) eines Wandels des trilateralen Ko-evolutionsprozesses.

 

Empirisch wird die Doppelfunktion des Arbeitshelden in der vorliegenden Studie am Beispiel des Heldenwechsels vom „Stoßarbeiter“ zum „mittleren Helden“ in der DDR analysiert. Damit baut die Untersuchung zwar auf den Helden-Analysen von Satjukow und Gries[10] auf, will aber zugleich deren konzeptionellen Engführungen aufzeigen und überwinden helfen. Eine dieser Engführungen besteht darin, die DDR-Arbeitshelden mehr oder weniger als bloße Propagandafiguren vorzustellen und deren skizzierte Vermittlungs- und Doppelfunktion zu übersehen.

 

Vom Wandel des trilateralen Ko-evolutionsprozesses und seiner drei teilautonomen Bereiche zu sprechen, wirft eine Vielzahl von theoretischen, empirischen und methodischen Problemen auf. Ein Grundproblem ist das der Periodisierung. Die Rede vom Wandel impliziert, dass es in der Entwicklung der drei teilautonomen Bereiche und in der Entwicklung ihres Ko-evolutionsprozesses verschiedene Perioden gibt, die sich voneinander unterscheiden lassen. Das Periodisierungsproblem ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint, denn obgleich gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Periodisierungen seit Jahrhunderten, um nicht zu sagen seit Jahrtausenden zum Kernbestand der Geschichtsschreibung gehören und permanent in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit Periodisierungen gearbeitet wird, sind grundlegende Facetten dieses Problems nach wie vor strittig.

 

Es stellen sich nämlich nicht nur Fragen, wie „Worin bestehen die Kriterien für Periodisierungen und gibt es überhaupt allgemein verbindliche?“[11], „Was nutzen Periodisierungen, insbesondere formale Periodisierungen?“[12] oder „Gibt es zuverlässige Periodisierungsstrategien, auf die man sich stützen kann?“[13], sondern es gibt ein Kernproblem, das jedweder Periodisierung zu Grunde liegt und das sich vielleicht am besten als Beliebigkeitsproblem bezeichnen ließe.

 

Dieses Problem hat Borchard einmal in einem Essay zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte sehr pointiert formuliert. Der Essay trägt den Titel „Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwei, drei oder vier Perioden?“ und der Autor schreibt: „Vermutlich wird man es frivol finden, wenn ich frage: ‘Wie viele Perioden hätten Sie denn gerne? Zwei, drei oder vier?‘ Aber es liegt in der Natur der Sache, daß für jede Antwort gute Gründe geliefert werden können. Und so finden sich denn auch in der Literatur zur deutschen Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit recht verschiedene zeitliche Gliederungen“[14].

 

2. DDR: Periodisierung und Trendbruchperiode

 

Dieses von Borchard aufgeworfene Beliebigkeitsproblem gilt auch und gerade für die Geschichte der DDR, insbesondere für ihre Wirtschaftsgeschichte. Das Spektrum der Periodisierungsvorschläge ist ausgesprochen breit. Neben expliziten Periodisierungsvorschlägen, die aus unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen konzeptionellen Perspektiven und empirischen Quellen entwickelt werden, gibt es eine Vielzahl impliziter Periodisierungen, derer sich DDR-Erforscher bedienen, um eine zeitliche Ordnung in die Geschichte ihres Untersuchungsgegenstandes zu bringen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kristallisieren sich aus diesem breiten Periodisierungsspektrum mindestens sechs große diskursive Ordnungen heraus, und zwar kalendarische, marxistisch-leninistische, wirtschaftliche, parteipolitische, staatliche und relationale Ordnungen. Innerhalb dieser Ordnungen gibt es verschiedene Untergruppen und zwischen diesen mehr oder weniger idealtypischen Ordnungen existieren wiederum diverse Kombinationen[15].

 

Der Beliebigkeit scheinen also in der Tat Tür und Tor geöffnet. Ganz so aussichtslos jedoch, wie es zunächst den Anschein hat, ist das Periodisierungsanliegen nicht. Einen möglichen Ansatz liefert eine Disziplin, die in den traditionellen Geistes- und Sozialwissenschaften eher weniger bekannt sein dürfte, nämlich die Kliometrie. Ich werde im Folgenden in sehr geraffter Form die Methode und Hauptergebnisse einer kliometrischen Periodisierungsanalyse der DDR-Wirtschaft referieren (Kapitel 2.1.) und dann ausgehend davon eine besondere wirtschaftsgeschichtliche Trendbruchperiode und die damit zusammenhängenden Forschungsdefizite und Forschungsfragen skizzieren (Kapitel 2.2.).

 

2.1. Periodisierung: Theorie und Empirie

 

Die kliometrische Periodisierungsanalyse der DDR-Wirtschaft, von der hier die Rede ist, erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten, theoretischen Schritt wird ein allgemeines Periodisierungstool entworfen, das dann in einem zweiten empirischen Schritt auf unterschiedliche volkswirtschaftliche Langzeitreihen angewandt wird.

 

Theorie

 

Dem kliometrischen Periodisierungstool, auf das sich die vorliegende Arbeit stützt, liegt zunächst eine ganz einfache, um nicht zu sagen simple Frage zugrunde. Sie lautet: Ist es möglich, aus der Entwicklungsdynamik von Prozessindikatoren charakteristische Entwicklungsperioden des Prozesses herauszufiltern, den diese Indikatoren beschreiben. Eine zweite, darauf aufbauende und schon nicht mehr ganz so simple Frage lautet: Ist es möglich, diese charakteristischen Entwicklungsperioden so herauszufiltern, dass sie weitgehend indikator- und filterinvariant sind. Das heißt: Gibt es ein Verfahren, das möglichst unabhängig von den ausgewählten Indikatoren und Filtern ist, so dass die Periodisierungsergebnisse wenig und im Idealfall gar nicht indikator- beziehungsweise filterbedingt sind. Der Sinn dieser Frage liegt auf der Hand. Periodisierungen, die beispielsweise hauptsächlich oder gar ausschließlich von dem gewählten Filter abhängen und sich von Filter zu Filter signifikant verändern, nutzen nichts, sondern führen in die Irre. Sie öffnen der oben von Borchardt erwähnten Beliebigkeit („Wie viele Perioden hätten Sie denn gerne?“) Tür und Tor.

 

Komprimiert zusammengefasst sind zwölf Schritte notwendig, um aus der Entwicklungsdynamik bestimmter Prozessindikatoren charakteristische, indikator- und filterinvariante Entwicklungsperioden dieses Prozesses herauszufiltern[16]. Diese zwölf Schritte sind in der folgenden Abbildung 1[17] zusammengestellt.

 

 

Abbildung 1: Die zwölf Schritte der kliometrischen Periodisierung

 

Den Ausgangspunkt des gesamten Verfahrens bilden die Auswahl der Indikatoren (Schritt 1) und das Auffinden entsprechender Langzeitreihen (Schritt 2) für diese Indikatoren. Dabei handelt es sich um einen iterativen Prozess, der in aller Regel mehrmals durchlaufen werden muss. Die besten Prozessindikatoren nutzen nichts, wenn dazu keine Langzeitreihen existieren, die sich weiter bearbeiten lassen und umgekehrt. Über die Güte der Periodisierungsergebnisse wird in diesen ersten beiden Schritten entschieden. Die folgenden mathematischen Algorithmen (Schritte 3-10) können unzureichendes oder unpassendes Datenmaterial inhaltlich nicht verbessern.

 

Gleiches gilt für die Schritte 11 und 12. Die Ergebnisse der in den Schritten 3-10 vollzogenen Berechnungen können nicht einfach gedankenlos übernommen werden, sondern bedürfen zunächst einer kritischen Diskussion (Schritt 11) und dann einer darauf aufbauenden Hypothesenbildung (Schritt 12), die auf die Erforschung der Ursachen für die vorliegenden Periodisierungsresultate gerichtet ist. Beides, die Diskussion und die Hypothesenbildung, sind nicht verzichtbar.

 

Dieses kliometrische Tool lässt sich nun auf Langzeitreihen der DDR-Wirtschaft anwenden.

 

Empirie

 

Wenn hier von Langzeitreihen die Rede ist, dann sind damit Datenreihen gemeint, die die jährliche Entwicklung volkswirtschaftlicher Kennziffern der DDR beginnend von ihrer Gründung 1949 bis zu ihrer Selbstaufgabe 1990 erfassen. Das bedeutet in aller Regel Langzeitreihen, die von 1950 bis 1989 reichen. Zeitreihen, die nur Teile dieses Intervalls erfassen, werden hier ausgeklammert[18].

 

Bei der Sichtung der Untersuchungen zur DDR-Wirtschaftsgeschichte kristallisieren sich sechs Gruppen von Langzeitreihen heraus, die diese Kriterien erfüllen, und zwar die „Jahrbuch“-Reihen, die „Steiner“-Reihen, die „Merkel/Wahl“-Reihen, die „Sleifer“-Reihen, die „van Ark“-Reihen und die „Heske“-Reihen.

 

Bei den „Jahrbuch“-Reihen handelt es sich um die von der „Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik“ beziehungsweise ihrem kurzzeitigen Nachfolger, dem „Amt für Statistik der DDR“, herausgegebenen Statistischen Jahrbücher und Statistischen Taschenbücher. Dabei haben diese Jahrbuchreihen im Laufe ihrer Entwicklung verschiedene inhaltliche und methodische Umbrüche erfahren. Einer dieser Umbrüche ist das 1990 vom Statistischen Amt herausgegebene „Statistische Jahrbuch 90 der Deutschen Demokratischen Republik“, in dem Langzeitreihen seiner Vorgänger einer Revision unterzogen werden[19].

 

Die „Steiner“-Reihen sind die Langzeitreihen im Band „SBZ/DDR“ der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen „Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“[20]. Dieser Band wurde wesentlich von Steiner erarbeitet, der sich auch in anderen Arbeiten intensiv mit der Wirtschaftsgeschichte der DDR auseinandergesetzt hat[21].

 

Bei den „Merkel/Wahl“-Reihen handelt es sich um die von beiden Autorinnen in ihrer Arbeit „Das geplünderte Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949-1989“ berechneten Langzeitreihen[22].

 

Die „Sleifer“-Reihen bezeichnen die vom Autor in seiner Arbeit „Planning Ahead and Falling Behind. The East German Economy in Comparison with West Germany 1936-2002“[23] vorgestellten Langzeitreihen. Im Unterschied zu den drei zuvor erwähnten Reihen, die sich alle in dieser oder jener Form auf die „Jahrbuch“-Reihen stützen und deren Daten übernehmen oder mit unterschiedlichen Methodiken transformieren, geht Sleifer einen völlig anderen Weg, indem er de facto auf die Erzeugnisreihenmethode zurückgreift, die nicht auf Preis-, sondern auf Naturalgrößen basiert.

 

Die „van Ark“-Reihen sind die vom Autor in seinem Artikel „The Manufactoring Sector in East Germany: A Reassessment of Comparative Productivity Performance 1950-1988“[24] berechneten Langzeitreihen. Ähnlich wie Sleifer stützt sich van Ark bei seinen Berechnungen nicht auf Preis-, sondern auf Naturalgrößen. Sein von ihm als „Adjusted Factor Cost Method“ bezeichnetes Verfahren ist primär an Produktionsmengenziffern orientiert.

 

Bei den „Heske“-Reihen handelt es sich um Langzeitreihen, die der Autor vor allem in zwei Publikationen vorgestellt hat, und zwar „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950-1989. Daten, Methoden, Vergleiche“[25] und „Wertschöpfung, Erwerbstätigkeit und Investitionen in der Industrie Ostdeutschlands 1950-2000: Daten, Methoden Vergleiche“[26]. Ausgangsbasis für die Heske-Reihen sind die Hefte 33 und 34 der Sonderreihe des Statistischen Bundesamtes[27]. Auf dieser Grundlage und weiteren eigenen Arbeiten berechnet Heske seine Langzeitreihen.

 

Wendet man nun das zuvor skizzierte kliometrische Tool auf diese sechs Gruppen von Langzeitreihen an, dann ergibt sich aus der Periodisierungsanalyse kurz zusammengefasst folgendes Resultat[28]: Die DDR-Wirtschaftsgeschichte weist an Hand unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Indikatoren und statistischer Daten im Zeitraum von 1950-1989 drei große Perioden auf, und zwar

 

1. Periode: 1950 – 1963/1964

2. Periode: 1963/1964 – 1972/1973

3. Periode: 1972/1973 – 1989

 

Dabei handelt es sich bei der 2. Periode um eine Trendbruch-Periode. Diese Periode besitzt eine deutlich andere Wachstumsdynamik als die 1. und 3. Periode. Berücksichtigt man nun ferner nicht nur die statistischen Daten, sondern bezieht in die Periodisierung auch die Sphäre der Wirtschaftspolitik mit ein, was für sozialistische Wirtschaften unerlässlich ist, dann liegt es auf der Hand, dass sich Veränderungen in dieser Sphäre nicht von einem Tag auf den anderen in veränderten Kennziffern niederschlagen. Für die Trendumkehr von der 1. zur 2. Periode und von der 2. zur 3. Periode müssen als ungefährer Schätzwert jeweils mindestens zwei bis drei Jahre wirtschaftspolitische „Vorlaufzeit“ veranschlagt werden. Damit würden sich folgende Perioden ergeben:

 

1. Periode: 1950 - 1961

2. Periode: 1961 - 1971

3. Periode: 1971 - 1989

 

Selbstredend handelt es sich dabei um ungefähre Werte. Die Häufigkeitsverteilung in den Wendepunktmatrizen[29] zeigt, dass es sich nicht um plötzliche, „ruckartige“, sondern um gleitende, prozessartige Übergänge von der 1. zur 2. sowie von der 2. zur 3. Periode handelt. Diese Übergänge vollziehen sich jeweils über mehrere Jahre.

 

Detaillierte Tests und Vergleichsrechnungen mit der Bundesrepublik zeigen, dass die Periodisierungsergebnisse sowohl filter- als auch indikatorinvariant sind[30].

 

Exemplarisch veranschaulicht die folgende Abbildung 2, in der die Entwicklung der jährlichen Veränderungsrate des DDR-Bruttoprodukts auf der Basis der „Merkel/Wahl-Reihen“ dargestellt ist[31], die drei Perioden der DDR-Wirtschaftsentwicklung:

 

 

Abbildung 2: Entwicklung der geglätteten jährlichen Veränderungsrate des DDR-Bruttoproduktes und Wirtschaftsperioden

 

Die 1. und 3. Periode zeigen deutlich das tendenzielle Sinken der geglätteten Wachstumsraten. In der 2. Periode wird diese Tendenz gestoppt und sogar umgekehrt – die Wachstumsraten steigen leicht an. Der Anstieg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre bedarf einer gesonderten Untersuchung[32], die nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, die auf den Übergang von der 1. zur 2. Periode und den damit verbundenen Wechsel der Figur der Arbeitshelden fokussiert ist. Um diesen Wechsel besser zu verstehen, ist es notwendig, die Spezifik der Trendbruchperiode wenigstens grob zu umreißen.

 

2.2. Trendbruchperiode: Forschungsdefizite und Forschungshypothesen

 

Die zuvor skizzierten Untersuchungsergebnisse bilden den Ausgangspunkt für Periodisierungsanalysen, nicht den Endpunkt. Die mit Hilfe des kliometrischen Tools aus statistischen Langzeitreihen ermittelten Perioden sind zunächst formaler Natur und bieten nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Chance einer soliden Hypothesenbildung. In dem hier untersuchten Fall der DDR-Wirtschaft steht dabei natürlich die Frage im Mittelpunkt, wie es zum Übergang von der 1. zur 2. und von der 2. zur 3. Periode kam. Sind diese Übergänge rein zufällig oder lassen sich dafür konkrete Ursachen benennen? Und: liegen diese Ursachen möglicherweise in exakt bestimmbaren gesellschafts- und speziell wirtschaftspolitischen Prozessen, und wenn ja, in welchen genau?

 

Um diese Frage zu beantworten werden im Folgenden zunächst einige Forschungsdefizite aufgezeigt. Ausgehend davon werden dann Forschungshypothesen formuliert, deren Prüfung dazu beitragen kann, diese Defizite zu beseitigen und die zugleich darauf fokussiert sind, die Entstehung, den Verlauf und das Ende der Trendbruchperiode zu erklären.

 

Forschungsdefizite

 

Im Falle der DDR stößt die Bildung von Periodisierungshypothesen im Allgemeinen und von Hypothesen zur Trendbruchperiode im Besonderen zunächst auf ein bemerkenswertes Phä-nomen. Im Verhältnis zur 1. und 3. Periode wird nämlich der Trendbruchperiode (2. Periode) im akademischen Wissenschaftsbetrieb, und zwar sowohl in der Forschung als auch in der Lehre, deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt.

 

Dies wird sehr anschaulich in einer wissenschaftspolitischen Untersuchung von Hüttmann und Pasternack deutlich, in der die Aufmerksamkeitsverteilung für unterschiedliche Phasen der DDR-Geschichte in Forschung und Lehre an deutschen Universitäten im Zeitraum von 1990-2002 analysiert wurde. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, in der insgesamt 1.200 Forschungsprojekte sowie die akademische Lehre zur DDR ausgewertet wurden, haben die Autoren in der folgenden Abbildung 3 komprimiert zusammengefasst[33]:

 

 

Abbildung 3: Aufmerksamkeitsverteilung für die Phasen der DDR-Geschichte in Forschung und Lehre an deutschen Universitäten 1990-2002

 

Ausgerechnet die Periode, die eigentlich wissenschaftlich hoch interessant ist, weil sich in ihr nicht nur eine andere, sondern eine geradezu gegensätzliche volkswirtschaftliche Wachstumsdynamik entfaltet als die, die für die DDR und auch für viele andere sozialistischen Länder typisch war, wird vergleichsweise wenig erforscht. Dabei spricht vieles dafür, dass gerade ein Vergleich dieser drei Perioden die Korrektur vereinfachender und schematisierender Sozialismusvorstellungen ermöglichen und befördern würde.

 

Trotz dieses eigentümlichen Forschungsdefizits gibt es ausreichend viele publizistische Darstellungen und wissenschaftliche Untersuchungen[34], die die Bildung plausibler Hypothesen zur Entstehung, zum Verlauf und zum schließlichen Ende der Trendbruchperiode ermöglichen[35] .

 

Im Hinblick auf den Beginn der Trendbruchperiode liegt eine Hypothese sofort auf der Hand, die ebenso grundlegend wie simpel ist: Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut und dies hatte auch erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen. So wichtig dieses Ereignis aber auch ist, so wäre es zu kurz gegriffen, die Ursachen für den Übergang von der 1. zur 2. Periode und die veränderte Wachstumsdynamik der Trendbruchperiode ausschließlich dem Mauerbau zuzurechnen. Der Bau der Mauer war Teil eines breiteren und tiefergehenden gesellschaftlichen Prozesses.

 

Bei diesem Prozess handelte es sich um eine „systemische Revolution von oben“. Mit diesem Begriff sind vier Charakteristika dieses Prozesses benannt. Erstens sein Ausgangspunkt: Dieser Prozess war eine „Revolution von oben“[36]. Zweitens sein Ziel: Diese Revolution von oben war darauf gerichtet, nicht nur diesen oder jenen Teil, sondern das gesamte Gesellschaftssystem umzugestalten. Insofern handelte es sich um eine „systemische Revolution“[37]. Drittens der Weg: Der Begriff „systemisch“ verweist darauf, wie diese grundlegenden Veränderungen erreicht werden sollten. Dieser Weg bestand darin, den gesellschaftlichen Teilsystemen wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Bildung, Medien etc. eine Teilautonomie einzuräumen und ihre jeweilige teilsystemische Eigenlogik zu entfalten[38]. Viertens der Diskurs, der sich um diese „Revolution von oben“ rangte[39]: Die Trendbruchperiode wurde später von vielen Menschen als „Systemzeit“ bezeichnet und erinnert.

 

Ausgehend von dieser knappen Charakteristik lassen sich folgende sieben Hypothesen formulieren, die einer detaillierten Prüfung bedürfen:

 

1. Hypothese: Die „systemische Revolution von oben“ war eine Revolution von ganz oben, die von Walter Ulbricht persönlich initiiert und geführt wurde[40]. Dabei stützte er sich auf einen vergleichsweise kleinen Stab von jungen Mitarbeitern und wissenschaftlich-technischen Experten[41], die nicht dem Partei- oder Staatsapparat entstammten und diesem auch nicht unterstanden.

2. Hypothese: Die „systemische Revolution von oben“ wurde Ende der 50er Jahre konzipiert und seit Beginn der 60er Jahre schrittweise durch ein breites Spektrum von Initiativen in Gang gesetzt. Hierzu gehörten beispielsweise die Gründung des Staatsrates (1960), ein neues Parteiprogramm (1963), eine neue Verfassung (1968), ein neues Arbeitsgesetzbuch (1961), das Jugend Kommuniqué (1963), das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“/NÖS (1963)[42], die Bitterfelder Konferenzen (1959/1964), die 3. Hochschulreform (1967-1972)[43], die Förderung der Kybernetik und Systemtheorie[44], die Gründung neuer wissenschaftlicher Disziplinen, wie die Organisationswissenschaften[45], die Bildung neuer Kombinate (1965/66)[46], ein neuer Typ von Fernsehsendungen und Fernsehfilmen[47], um hier nur einige dieser Initiativen zu nennen.

3. Hypothese: Die „systemische Revolution von oben“ wurde zunehmend durch eine „frondistische Konterrevolution bekämpft[48]. Der Begriff „frondistisch“ meint hier eine Negativkoalition, in der sich Akteure und Gruppierungen zusammenfinden, die sich eigentlich feindlich gegenüberstehen und die nichts weiter eint als das Bestreben, einen gemeinsamen Gegner zu vernichten. In der neueren soziologischen, speziell netzwerksoziologischen Forschung wird eine solche frondistische Struktur auch unter dem Begriff „negative ties“ diskutiert[49].