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Seit Jahren schwindet auf Heliopolis die Magie. Zurück von ihrem Ausflug auf die Erde müssen Akasha und ihre Freunde nun die beiden magischen Kristalle wieder vereinen, um der Bevölkerung die Magie zurückzugeben und die Menschen von der unheimlichen Krankheit zu heilen, der schon so viele zum Opfer gefallen sind. Aber Akasha weiß nicht, wem sie noch trauen kann: ihrem Vater, dem Herrscher von Heliopolis, oder ihrer Mutter, der Anführerin der Rebellen? Und noch weniger weiß sie, wen sie wirklich liebt: Riaz, dem sie seit Jahren versprochen ist, oder Dante, den sie seit ihrem Abenteuer in Arizona nicht vergessen kann? TOP-Bloggerin Stefanie Hasse begeistert ihre zahlreichen Fans auch mit dem zweiten Teil dieser rasant erzählten Romantasy voller Magie und Gefühl, in der zwei namenlose Liebende aus einem alten Märchen sich nun endlich finden. Die namenlosen Liebenden ist der letzte Band der Heliopolis-Dilogie.
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Seitenzahl: 481
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Inhalt
Was bisher geschah
Kapitel 1 Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30. Juni
Kapitel 2 Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30. Juni
Kapitel 3 Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30. Juni
Kapitel 4 Du’uzu 6945 nach Atum
Kapitel 5 2. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 6 Tašritu 6957 nach Atum
Kapitel 7 2. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 8 Ululu 6958 nach Atum
Kapitel 9 3. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 10 24. Tašritu 6958 nach Atum
Kapitel 11 3. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 12 27. Arahsamna 6958 nach Atum
Kapitel 13 3. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 14 3. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 15 Abu 6967 nach Atum
Kapitel 16 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 17 Abu 6978 nach Atum
Kapitel 18 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 19 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 20 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 21 1. Nabetu 6986, Neujahrsfest
Kapitel 22 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 23 1. Nabetu 6986, Neujahrsfest
Kapitel 24 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 25 Kurz nach Beginn der zweiten Ära der Erde
Kapitel 26 4. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 27 5. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 28 5. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 29 7. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 30 7. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 31 7. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 32 8. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 33 8. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 34 9. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 35 9. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 36 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 37 21. Kislĭmu 6968 nach Atum
Kapitel 38 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 39 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 40 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 41 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 42 10. Abu 6996 nach Atum
Kapitel 43 10. Abu 6996 nach Atum
Epilog Summit – Arizona, 17. September
Danke!
Über die Autorin
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Impressum
Für alle, die Opfer bringen
Was bisher geschah
Akasha Themis, die Tochter des Herrschers der Letzten Stadt, erhält an ihrem sechzehnten Geburtstag nur ein Leeres Zeichen. Der heilige Kristall Diĝir beschenkt sie, nicht wie erwartet, mit der magischen Gabe eines der acht Häuser von Heliopolis. In ihrem Nacken zeigt sich ein leerer Kreis, weiter nichts.
Als Unbegabte sind nun all ihre Zukunftspläne hinfällig, ihre einzige Hoffnung besteht in der Teilnahme an einer Mission zur Erde, um den Zwilling des Diĝirs aufzuspüren, wie es die Seher des Hauses Nephthys vorhergesehen haben. Ohne den Zwilling wird die Letzte Stadt dem Untergang geweiht sein, denn der Diĝir verliert an Macht, weil Teile von ihm für einen Impfstoff extrahiert werden, der die Magie in der Bevölkerung künstlich aufrechterhält.
Mit an Bord des Schiffes sind Akashas Freunde Yasmeen, Malak und überraschenderweise auch Akashas Verlobter Riaz sowie Dante, Sohn des finsteren Generals Leemal, der die Expedition leitet. Während der Reise finden die Freunde heraus, dass die Ausflüge zur Erde dazu dienen, die Rebellen der Letzten Stadt von Heliopolis zu verstoßen und auf der Erde auszusetzen.
Hailey Johnson hatte in den letzten Wochen immer wieder Blackouts, glaubt, sich an Dinge zu erinnern, die sie nicht wissen kann. In Nicolas, dem Neuen an der Schule, hat sie vielleicht einen Verbündeten, doch er scheint weder ihr noch sich selbst zu trauen. Dennoch kommen sich die beiden näher, und als Hailey eines Abends einen seltsamen leuchtenden Stein berührt, kann sie sich plötzlich wieder an alles erinnern: Seit ihrer Ankunft auf der Erde wurden sie und ihre Freunde getäuscht, haben ein falsches Leben gelebt. Sie ist Akasha, die Prinzessin von Heliopolis, und Nicolas ist Dante, General Leemals Sohn.
Anscheinend kann sich außer Akasha niemand an das Leben in Heliopolis erinnern. Sie weiß nicht, wem sie trauen kann und wem nicht, bis Akashas Mutter Lenora auftaucht. Seit ihrer Flucht von Heliopolis ist sie die Anführerin der Ausgestoßenen. Lenora behauptet, dass die Täuschung durch General Leemal und Akashas Vater Zaahir Teil eines ausgeklügelten Planes sei, damit Akasha den Zwilling aufspürt und an Leemal übergibt. Leemal aber wolle mit der Magie des Kristalls eine Sintflut auslösen und die Erde vernichten.
Lenora verrät noch mehr: Sechzehn Jahre zuvor hatte sie die Geburt ihrer Tochter zunächst nur vorgetäuscht. In Wahrheit vollendete Akasha ihr sechzehntes Lebensjahr erst in dem Moment, als sie auf der Erde den Zwilling berührte. Erst jetzt findet sie Zugang zu ihrer Gabe. Da sie auf der Erde initiiert wurde, ist ihre Magie überwältigend. Sie ist nicht nur auf besondere Weise mit dem Zwilling verbunden, sondern besitzt die Magie aller Häuser, muss jedoch trainieren, um ihre Gabe auch anwenden zu können. Insbesondere ihre widersprüchlichen Gefühle Riaz und Dante gegenüber stehen ihr dabei im Weg.
Letztendlich jedoch besiegen die Freunde Leemal, bringen den Zwilling an sich und kehren in die Siedlung der Ausgestoßenen zurück. Doch Lenora erklärt Akasha, dass die Erde nicht sicher sei, solange ihr Vater weitere Schiffe entsenden kann, um doch noch eine Sintflut auszulösen.
1
Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30.Juni
Die Bilder von Leemals Tod folgen mir in meine Träume. Wieder und wieder sehe ich vor mir, was ich getan habe, wie die Magie des Zwillings Leemal verschlingt. Weil ich es ihm befohlen habe.
In der ersten Nacht in der Siedlung der Ausgestoßenen bin ich schreiend aufgewacht. Habe um mich geschlagen, während ich versuchte, den grausamen Bildern zu entkommen. Jemand hielt mich fest. Yasmeen hatte Riaz gerufen, weil sie mich nicht aus meinen Albträumen reißen konnte. Er musste am nächsten Morgen zu der Heilerin der Siedlung. Die blauen Male zieren noch immer seinen Rippenbogen.
In der darauffolgenden Nacht hat meine Mutter über mich gewacht und mich wie früher mit Geschichten abgelenkt. Die Nächte danach waren erträglicher. Ich kann mich noch an die Bilder aus den Träumen erinnern, aber die damit einhergehenden Gefühle, die Schuld und die Angst vor dem, wozu ich in der Lage bin, ging nicht mehr so tief. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Erst seit zwei Nächten schlafe ich wieder allein in meiner Lehmhütte.
Das letzte Leuchten meines Traumes verblasst und ich blinzle in die Finsternis um mich herum. Es muss mitten in der Nacht sein. Durch das Fenster kann ich ein paar vereinzelte Sterne funkeln sehen. Nachts, in dieser alles umfassenden Dunkelheit der Everglades, ohne die Lichter der Großstadt Miami, kann ich am besten nachdenken. Nur wenn ich nicht schlafe, habe ich meine Träume so weit im Griff, dass es mir möglich ist, überhaupt zu denken.
Die Sommersonnenwende ist nun über eine Woche her. Anstatt die Hoffnung, die über der gesamten Siedlung hängt, in mich aufzunehmen wie die anderen und zuzulassen, über eine glückliche Zukunft nachzudenken und Pläne zu schmieden, stürze ich mich tagsüber in die Arbeit, suche mir neue Aufgaben und helfe, wo ich nur kann. Meine Magie ist allen hier sehr willkommen, Lenora und Mazen trainieren täglich mit mir, aber wirklich unter Kontrolle habe ich meine Fähigkeiten noch lange nicht.
Sobald das Tagwerk getan ist und alle anderen sich zu ausgelassenen Feiern in der Mitte der Siedlung treffen, verkrieche ich mich hier in der kleinen Lehmhütte, die Lenora mir zugewiesen hat. Ich schaffe es noch nicht, die Dunkelheit in meinem Inneren zu vertreiben, mein Leben wieder aufzunehmen wie die anderen.
Noch vor ein paar Wochen, direkt vor meiner Initiationszeremonie war mein Ziel klar: Ich wollte eine starke Insignie, wollte mich mit Riaz vermählen, damit wir gemeinsam die Letzte Stadt zu einem besseren Ort machen können. Doch was seither geschehen ist, hat mich verändert, meine Ziele sind zerronnen wie der Sand einer Sanduhr. Ich habe keine eigenen Träume mehr, wenn ich an die Zukunft denke. Alles, was ich vor mir sehe, ist undurchdringliches Schwarz. Mit jedem Tag habe ich Riaz, Yasmeen und Malak seltener gesehen. Wir haben uns immer weiter voneinander entfernt. Riaz ist mit den anderen Formwandlern unserer Expedition unterwegs, Yasmeen und Malak unterstützen Lenora bei neuen Ankömmlingen in der Siedlung. Die beiden haben bereits hier ihr Glück gefunden: Sie brauchen ihre Liebe nicht länger zu verstecken.
Doch ich bin dazu nicht in der Lage, und ich weiß, dass Riaz es spürt. Nach allem, was in Summit geschehen ist, kann ich nicht weitermachen wie zuvor. Was zwischen Nicolas und Hailey passiert ist, hat mich verwirrt. Wie konnte ich diese heftigen Gefühle entwickeln? War da doch mehr als nur eine Manipulation? Ich fürchte mich vor dem Kribbeln in meinem Inneren, wenn ich an die gemeinsame Zeit mit Dante denke, wie vor dem schleichenden Entfernen von dem, was ich immer für eine niemals endende Liebe zu Riaz gehalten habe. Ich frage mich, was uns wirklich aneinandergebunden hat. Ob es wirklich Liebe war.
Ich habe Riaz immer weiter von mir geschoben. Er hat versucht, mich von diesem zermürbenden Schuldgefühl zu befreien, indem er ebenfalls behauptet hat, dass ich das Richtige getan habe. Aber wenn es richtig war, Leemal zu töten, warum fühlt es sich dann manchmal so falsch an, dass ich mir wünsche, die Zeit zurückdrehen zu können und eine andere Lösung zu finden?
Riaz kann mich nicht verstehen und ich verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte. Dass ich mich ausgerechnet immer weiter von dem Menschen distanziere, der mich früher immer ergänzt hat, der Teil eines jeden Gedankens über meine Zukunft war. Nun ist unsere Zukunft ungewiss.
Ich starre zum Fenster hinaus in die Dunkelheit und die funkelnden Sterne über uns. Einer dieser leuchtenden Punkte ist Heliopolis. Meine Heimat.
Schon bald werden wir unsere Mission erfüllen und den Zwilling zurück in die Letzte Stadt bringen. Ich kann meiner Welt die Magie zurückbringen und so unzählige Leben retten. Doch was danach kommt, weiß ich nicht. Ich wende den Blick vom Fenster ab. Bis dahin gibt es noch viel zu tun.
Um die Ausgestoßenen hier in der Siedlung, ihre Familien und die Nachkommen mit ihren besonderen Fähigkeiten nicht schutzlos ohne Magie zurückzulassen, lässt Lenora die letzten Überreste der alten Magie der Erde hier zusammentragen. Seit der Sommersonnenwende gab es auf allen Kontinenten unzählige Diebstähle in Museen und Privatsammlungen. Die Ausgestoßenen und ihre Abkömmlinge haben weltweit dafür gesorgt, dass alle Artefakte, die auch nur einen Funken Magie in sich tragen, hier gesammelt werden, damit sie der Kraft des Zwillings nahekommen. Die Schutzmauer, die sie alle verborgen halten wird, ist nahezu fertiggestellt. Selbst die Magie der alten Bauwerke wurde in einzelne Steine von ihnen geleitet. Die Sonnen- und die Mondpyramide von Teotihuacán, das Mausoleum Qín Shǐhuángdìs, die chinesische Mauer oder Machu Picchu sind nur noch Bauwerke. Ohne die Magie des Hauses Nut, die ihnen nun entzogen wurde, werden sie bald zu dem werden, aus dem sie erschaffen wurden: Sand. Gestein. Erde.
Täglich treffen weitere Reisende hier ein. Die Siedlung hat sich mittlerweile um ein Vielfaches vergrößert. Ich habe nie auch nur zu träumen gewagt, so viele Magiebegabte auf der Erde zu finden, und doch fühlt es sich nicht wie das an, was unsere Ahnen immer erhofft haben.
Wieder und wieder kreisen meine Gedanken um meine Mission. Mein Vater hat mich damit beauftragt, den Zwilling zu finden und die Magie nach Heliopolis zurückzubringen. Aber er hat mir so vieles verheimlicht und noch immer habe ich das Gefühl, nur an der äußeren Hülle des Panzers zu kratzen, der die Wahrheit verborgen hält. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Niemand würde mich verstehen. Etwas, das ich als Hailey bereits kennengelernt habe.
Ich höre ein leises Rascheln ganz in der Nähe. Mein Puls beschleunigt sich und ich versuche angestrengt, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Leise setze ich mich auf und hebe die Hand, um die Magie von Tefnut aufzurufen. Ich brauche ein Feuer, um die Dunkelheit zu vertreiben.
Nein. Ich werde paranoid. Es muss ein Tier gewesen sein. Wir sind mitten in den Everglades. Die Natur besteht nun einmal aus zahlreichen Geräuschen.
Nach mehreren zitternden Atemzügen sacke ich wieder in mich zusammen. Müdigkeit gewinnt den Kampf über meine düsteren Gedanken, ringt meine Gefühle nieder, macht den Zwiespalt in meinem Herzen erträglicher. Ich kippe vor Erleichterung schier ohnmächtig zur Seite und falle erneut in meinen Albtraum. Nur dass es nun mein Vater ist, der an Leemals Stelle steht. Und ich lächle zutiefst befriedigt, als er endlich sein Leben loslässt.
Meine Mutter befreit mich aus dem Traum. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und spüre eine Veränderung in der Luft, die nach süßer Minze riecht. Eine strahlende Sonne malt kleine, unförmige Kleckse auf den Boden. Die Lehmhütten für uns wurden noch während der Siegesfeier von Erdelementaren des Hauses Tefnut erschaffen. Sie hatten keinen großen Wert auf Details gelegt und so waren die Fenster weder rund noch eckig, dafür ganz individuell. Ich finde sie genau richtig und setze mich mit einem Lächeln auf den Lippen auf und wende mich Lenora zu.
»Wie geht es dir, Amira?« Meine Mutter nennt mich immer noch bei meinem alten Spitznamen. Ein jedes Mal, wenn ihr dieses alte irdische Wort für Prinzessin über die Lippen kommt, verändert sich ihre Stimme, wird sanfter, hüllt mich ein und erweckt damit das Gefühl in mir, wieder klein und gut behütet an ihrer Seite in meinem Zimmer im Palast zu sitzen, wo sie mir Geschichten erzählte. Geschichten von einer kleinen Prinzessin, die am Ende immer siegte – ganz gleich, ob gegen ihre Ängste oder Feinde von außen. Eine schöne Vorstellung.
Weil ich nicht antworte, wiederholt sie ihre Frage. Ich brauche dennoch etwas länger, um in mein Inneres zu blicken. Ich fühle mich … leicht. Zu leicht.
»Zu gut«, spreche ich meine Vermutung aus und das Lächeln meiner Mutter verblasst zusammen mit meinem eigenen.
»Ich wollte dir nur helfen«, flüstert sie schnell, ehe sie ein »Martha!« zum Fenster hinausruft. Das beschwingte Gefühl, das mir aufgezwungen wurde, verschwindet sofort und die Dunkelheit kehrt zurück. Selbst über den Sonnenfleck auf dem erdigen Boden der Hütte zieht ein Schatten.
»Das ist keine Hilfe«, sage ich ehrlich und eine leichte Welle von Wut überkommt mich. »Du verabscheust Haus Seth für seine Gabe, aber ziehst selbst Nutzen daraus?« Sofort beiße ich mir auf die Zunge für meine Respektlosigkeit gegenüber Lenora.
Ihr tadelnder Blick ruht auf mir, bis ich meine Lider senke. Das stimmt auch sie milde. »Martha wollte dir nur helfen. Sie kann keine Gefühle manipulieren, sie kann einzig Leichtigkeit verbreiten. Ich wollte dir helfen, Amira. Du benötigst all deine Kraft, wenn ihr heute zurückreist.«
Sofort hat sie meine Aufmerksamkeit. »Wir gehen zurück nach Heliopolis?«
Lenora nickt und kommt vom Fenster auf mich zu. »Die letzten alten Artefakte sind in der Nacht eingetroffen. Wir haben hier nun alle Magie dieser Welt versammelt – zusammen mit all jenen, die Magie in ihrem Blut tragen. Wir werden uns schützen können, wenn du nun den Zwilling mitnimmst.«
Ich nicke nur, überwältigt von den Bildern des Albtraums, der mich nun wieder einholt. Ich werde bald meinem Vater gegenüberstehen.
Lenora setzt sich neben mich auf meine Bettstatt, eine erhöhte Erdschicht mit zahlreichen Fellen darauf, und wendet mir ihren Oberkörper zu. »Du weißt, dass all diese Menschen hier Teil unserer Familie geworden sind.«
Ich nicke ein weiteres Mal und meine Hände graben sich in das Fell unter mir.
»Ich muss sie – diese Welt – beschützen.« Mutter sieht auf meine Finger hinab, sie spürt meine Unruhe, dennoch spricht sie weiter. »Wenn Zaahir den Zwilling in die Hände bekommt, könnte Anus Vision sich doch noch erfüllen, auch wenn nicht Leemal es sein wird, der unser Ende einleitet.« Sie schluckt kurz hart und blickt mir dann wieder direkt in die Augen. »Ich möchte, dass du das Volk von Heliopolis beschützt und den Zwilling in die Letzte Stadt zurückbringst, damit er, wie Zaahir gesagt hat, den Diĝir heilen kann. Aber versprich mir, dass du ihn nicht an deinen Vater übergibst. Auch wenn das bedeutet, dass du deine Mission offiziell nicht erfüllt hast.«
Obgleich in ihren Worten ein flehender Ton mitschwingt, sind ihre Augen vollkommen ausdruckslos.
»Mir geht es nicht um die Ehre, den Zwilling zurückzubringen«, antworte ich sofort etwas lauter als beabsichtigt, wütend über das, was sie mir vorwirft: Eitelkeit. »Aber wenn ich Vater den Zwilling nicht aushändige, wird er eine weitere Mission anordnen«, gebe ich nun etwas ruhiger zu bedenken.
Ein sanftes Lächeln umspielt nun Lenoras Lippen und ihre Augen leuchten auf. »Mazen wird dafür sorgen, dass es nicht so weit kommt. Du weißt, dass du deine Mission erfüllt hast. Du stehst kurz davor, Heliopolis zu verändern.« Nun funkelt Stolz in ihren Augen, den ich regelrecht in mich aufsauge.
»Um Mazen seine Aufgabe zu erleichtern, muss Dante euch jedoch begleiten.«
Bei der Erwähnung seines Namens beginnt mein Herz schneller zu schlagen. »Wieso soll er mit uns zurückkehren?«
»Er ist Leemals Nachfolger. Wir können nicht riskieren, sämtliche Familien des Hauses Seth gegen die Rückkehrer aufzubringen. Es wird für Mazen schon schwierig genug, Leemals Tod zu erklären. Wenn auch Dante nicht zurückkommt, würde ein Streit um die Nachfolge entstehen, Chaos.«
Bei dem Gedanken daran, Dante wiederzusehen, dreht sich mein Magen um. Immerhin habe ich seinen Vater umgebracht. Er hat mir in all der Zeit auf der Erde geholfen, hat mich immer verstanden und zu mir gehalten. Er stand bis zuletzt an meiner Seite. Danach ist er verschwunden und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ob die Trauer über den Verlust seines Vaters ihn eingeholt hat oder die Schuld, für diesen Tod mitverantwortlich zu sein, ihn ebenso niederringt wie mich?
Ich vermisse ihn. Vermisse die Ungezwungenheit seiner Gegenwart. Er stellt keine Erwartungen an mich. Erwartungen, die ich womöglich nicht erfüllen kann. Für meine Mutter, die Siedler, ja selbst meine Freunde bin ich diejenige, die eine Wendung gebracht hat und die eine neue Ära einleiten wird, wenn ich die Magie zurückbringe. Für Dante bin ich Akasha. Zumindest hoffe ich es.
Langsam schiebe ich meine Beine über die Kante des improvisierten Naturbettes und stehe auf. Lenora reicht mir meine Kleidung und sieht sehr zufrieden aus.
Während sie mich kurz darauf in Richtung Badehaus schiebt, verlangt sie von mir, nach dem Frühstück in die Versammlungshalle zu kommen. Ich nehme ein kurzes, aber erfrischendes Bad, dann hole ich mir nur ein Brötchen und einen Kaffee aus der Gemeinschaftsküche. Die vielen Blicke der Menschen, die sich morgendlich auf dem Platz treffen, lasten wie ein schweres Gewicht auf mir. Ich habe Mühe, die auf mich eindringende Erwartung zurückzuhalten. Trotz des täglichen Trainings mit der Magie des Hauses Seth schaffe ich es nicht, mich abzuschirmen. Während ich mich zwischen den gemischten Gruppen der Neuankömmlinge verschiedenster Erdkulturen hindurchschlängle – alle so unterschiedlich in ihrer Kleidung und dennoch alle gleich –, halte ich Ausschau nach meinen Freunden. Doch sie sind nirgendwo zu sehen. Rund eine halbe Stunde nach Lenoras Aufforderung betrete ich die Versammlungshalle, von der aus wir nach Miami aufgebrochen sind. Es scheint Jahre her zu sein, dass ich zuletzt in dem Raum war, in dem noch immer Leemals Körper liegt, damit wir ihn mit nach Heliopolis nehmen können, wie es nach dem Tod eines Generals erwartet wird. Er sieht aus, als würde er schlafen. Sehr blass, aber nicht seit über eine Woche tot. Mazen muss die Zeit um ihn angehalten haben, um den Verfall seines Körpers aufzuhalten. Früher hat Haus Osiris seine Magie in die Leinenbinden gewirkt, um die Körper der Toten zu erhalten. Später hatten die nicht magischen Nachkommen mit Ölen und Harzen eine Variante der Konservierung geschaffen. Ein weiteres Beispiel dafür, was Menschen ohne Magie zu schaffen imstande sind.
»Wir müssen Dante finden, damit wir zurückkehren können«, sagt Mazen gerade, der mit dem Rücken zu mir neben Lenora steht. Auf einer der Bänke vor ihnen warten Allaz, Riaz, Yasmeen und Malak. Yasmeen lächelt mich vorsichtig an. Riaz entdeckt mich und hält für einen Moment inne, ehe er antwortet: »Wir haben ihn wirklich überall gesucht, haben ganz Miami durchkämmt. Wir haben sogar einen Flieger nach Tucson genommen und in seinem ehemaligen Zuhause in Summit nach ihm gesehen.« Seine Geste schließt Malak und Yasmeen mit ein. »Er könnte überall auf der Welt sein.«
Das erklärt, warum ich seit zwei Tagen gar nichts von ihnen gehört habe. Davor war Riaz mit Zedan und Elizaa unterwegs, um die Magie aus den antiken Bauwerken zu sammeln.
»Diese Frau, die zum Wind sprechen kann, hat uns gesagt, dass er nicht dort ist«, ergänzt Yasmeen. Sie verfolgt jeden meiner Schritte, als ich an ihnen vorbei zu den Bänken gehe. Allaz rückt von Riaz ab, sodass ich mich neben ihn setzen kann. Die wenigen Zentimeter, die uns trennen, könnten genauso gut ein tiefer Graben sein.
»Wir haben Feleez und Sameer wieder hierhergebracht«, erklärt Allaz. »Feleez wollte sich noch ausruhen, aber inzwischen müsste sie wieder so weit bei Kräften sein, um uns weiter bei der Suche zu helfen.« Lenora nickt ihm zu und Allaz erhebt sich von der Bank.
Ein kleiner Teil in meinem Inneren freut sich, dass Dante ihnen allen so lange entwischen konnte, auch wenn ich mir nicht sicher bin, aus welchem Grund. Aber es fühlt sich einfach richtig an, dass er Zeit für sich bekommt, damit er um seinen Vater trauern kann.
»Du musst Allaz begleiten«, weist mich Lenora an. »Feleez möchte mit dir sprechen.« Ihr Gesichtsausdruck ist nicht zu deuten. Riaz springt auf und reicht mir seine Hand. Ich zögere und bin beinahe erleichtert über Lenoras Ablenkung: »Feleez will sie allein sehen, Riaz. Das müssen wir respektieren.« Ihr freundlicher Plauderton passt nicht zu dem harschen Zug um ihre Lippen. Sie folgt nur widerwillig dem Wunsch der Windseherin. »Unternimm nichts auf eigene Faust.« Sie richtet ihre Worte zwar an mich, aber sieht Allaz dabei an. Er soll dieses Verbot vermutlich durchsetzen.
Riaz setzt sich zwar wieder, aber das Funkeln in seinen Augen ist zurück. Er hatte schon immer ein Problem mit Anordnungen und Regeln. Ich drücke kurz seine Hand. Die Berührung gleicht einem zarten Funkenschlag, so wie es schon oft der Fall war, und doch ist es nicht mehr dasselbe. Aber sie fördert Erinnerungen zutage. Erinnerungen an eine Zeit aus einem anderen Leben. Als ich noch Träume hatte. Der Knoten in meiner Brust lockert sich ein wenig, als er mir schnell einen Kuss auf die Stirn drückt wie früher, wenn sich unsere Wege getrennt haben.
Die Geste fühlt sich so vertraut an, dass ich ein wenig tiefer durchatmen kann, ehe ich mich erhebe und Allaz nach draußen folge, Lenoras letzte Worte schweben zwischen uns: »Ihr müsst bald zurückkehren. Oder alle bisherigen Opfer waren umsonst.«
Wortlos überquere ich mit Allaz den Platz vor der Versammlungshalle, der sich inzwischen geleert hat. Die Siedler gehen nun ihren Aufgaben nach. Ein Großteil von ihnen arbeitet an der Barriere, die die Siedlung verborgen halten soll, wenn der Zwilling die Erde verlässt. Lenoras Worte kreisen wieder und wieder in meinem Kopf. Allaz scheint meine Zweifel nicht zu spüren, vor den besonderen Kräften der Windseherin des Hauses Tefnut jedoch werde ich es nicht verbergen können.
Allaz führt mich an den kleinen Hütten vorbei, die meine Freunde und ich bewohnen, zu einem etwas abgeschiedeneren Platz hinter haushohen Gräsern. Erst beugen sich die Pflanzen, dann streicht mir eine sanfte Brise ums Gesicht. Erneut empfinde ich es als zarte Berührung, Feleez’ Berührung, ihre ganz besondere Verbindung zum Element Luft, die ihr Augenlicht ersetzt.
»Akasha«, ruft die alte Frau mit den weißen Augen und tritt aus einem Wohnmobil, wie sie es auch in Summit bewohnt hat, in die strahlende Sonne. Vielleicht wurde es in der letzten Woche hierher transportiert, vielleicht hat sie auch überall so einen Ort, indem sie sich blind orientieren kann. Sameer, ihren Mann, kann ich nirgendwo entdecken. »Wie schön, dich wiederzusehen.« Zahlreiche Falten rahmen das ehrliche Lächeln auf ihren Lippen ein und ihre leeren Augen zwinkern vergnügt über ihren Witz. Diese Frau strahlt so viel Güte aus, dass es mir warm ums Herz wird. »Komm rein, ich habe frischen Tee gekocht.«
Dann wendet sie sich an Allaz und ihr Gesichtsausdruck ist sofort weniger freundlich. »Krieger, du kannst Sameer zur Hand gehen. Er ist hinten auf dem Feld.«
Allaz nickt etwas steif, kommentiert das seltsame Verhalten der alten Frau jedoch nicht, sondern wendet sich ab und geht zwischen den Schilfgräsern davon. Ich sehe ihm noch einen Moment nach, ehe ich Feleez in ihr Wohnmobil folge. Die Einrichtung unterscheidet sich minimal von der in Summit, aber Feleez bewegt sich genauso sicher darin, als könne sie sehen, was ihre Hände tun. Sie stellt zwei Tassen und eine dampfende Teekanne auf den Tisch, setzt sich mir gegenüber und gießt uns Tee ein, ohne einen Tropfen zu verschütten. Sofort steigt ein intensiver Geruch nach Zitronengras mit dem Dampf aus den Tassen auf.
Ich trinke einen Schluck und verbrenne mich fast dabei, während Feleez in meine Richtung blickt, als könne sie mich sehen.
»Du hast uns alle gerettet«, sagt sie, kurz bevor mir ihr Blick unangenehm wird.
Ich verziehe den Mund. Erneut stieben meine Gedanken auf wie eine Schar aufgeschreckter Windlinge. Weil ich nichts sage, streicht mir die Luft zart übers Gesicht, tastet in einer einzigen Sekunde jeden Millimeter ab.
»Es ist gut, dass dich die Ereignisse nicht kaltlassen. Du hast einen sehr hohen Preis dafür bezahlt, uns zu beschützen«, fasst Feleez meine Gedanken in Worte. »Wer nicht mehr zur Trauer fähig ist, ist schon längst verloren.«
Ich versuche mich an einem Lächeln, das Feleez nach einem kleinen Windzug erwidert. Doch danach zeichnen sich Furchen in ihr Gesicht, die ich nur als Trauer interpretieren kann. Mit zitternden Atemzügen, die sie plötzlich alt und gebrechlich wirken lassen, sieht sie zur Seite. Einem solchen Moment beizuwohnen, fühlt sich unangenehm an, und ich senke kurz den Blick auf den Dampf, der aus meiner Tasse emporsteigt.
Schwäche, blitzt es in meinen Gedanken auf und, erschrocken über mich selbst, bin ich froh, dass sich Feleez mir wieder zuwendet.
»Ich soll dir helfen, diesen Jungen zu finden«, kommt sie nun aufs Wesentliche. »Möchtest du das denn überhaupt?«
In meinem Kopf ringen plötzlich zwei Stimmen. Die eine, die schreit, Dante in Ruhe zu lassen, weil er Zeit braucht, um zu trauern. Die andere, die ihn unbedingt sehen will, ihm beistehen will, sein Leid teilt.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Das ist genau, was ich hören wollte.« Auf Feleez’ Gesicht liegt nun ein stolzes Lächeln, das sich beinahe noch besser anfühlt als der Stolz in den Augen meiner Mutter. Dann rauscht ein Windstoß draußen vorbei und lässt die offen stehende Tür des Wohnwagens klappern.
»Folge dem Wind, dein Herz wird dir sagen, wenn du dein Ziel erreicht hast.«
Ich sitze noch mehrere Augenblicke da und bin unschlüssig, ob sie es ernst meint. Soll ich Dante tatsächlich zu Fuß finden? Die Everglades sind riesengroß, die vielen schmalen Pfade sind das reinste Labyrinth.
Feleez kommt meinem Einwurf zuvor: »Keine Angst. Der Junge war nie weit weg. Das könnte er gar nicht.«
Während ich noch über die Bedeutung ihrer Worte nachdenke, fordert Feleez mich mit einem Nicken erneut dazu auf loszugehen. Ich stehe auf und werde gleich außerhalb des Wohnwagens von einer weiteren Böe gestreift, die mich bis zu einem Gräsermeer schiebt. Unschlüssig bleibe ich stehen und sehe mich um. Allaz ist in die andere Richtung davongegangen und ich überlege, ob ich nach ihm rufen soll.
Als der Wind eine hüftbreite Schneise in das grüne Meer schneidet, lasse ich die letzten Bedenken ziehen und betrete das brusthohe Grün. Ich sehe Allaz’ Abwesenheit als Chance. Mein Wunsch, mit Dante sprechen zu können, wurde erhört. Hinter mir richten sich die Pflanzen sofort wieder auf und verbergen mich, nehmen mir aber auch die Chance, den Rückweg zu finden, sollten die Gräser höher werden. Ich spüre, wie sich Angst in mir breitmacht und meine Magie schärft. Ich könnte den Wind selbst befehligen, sage ich mir wieder und wieder und folge nun mit größeren Schritten dem Pfad, der in eine Senke hinabführt, sodass sich das Grün nun bis über meinen Kopf erhebt.
Mein Herzschlag wird schneller. Dann mischt sich ein Rascheln in das regelmäßige Knacken der Stängel unter meinen Füßen und Adrenalin rauscht durch meine Adern. Ich reiße meine Augen auf, mein Atem beschleunigt sich, und instinktiv manifestiert sich meine Magie, sodass die Luft vom Duft nach Minze getränkt wird.
Nur einen Schritt weiter verebbt das Gefühl von Gefahr urplötzlich und ich werde von rasender Neugier gepackt.
2
Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30.Juni
Was willst du hier?« Ich höre Dantes Stimme, kann ihn aber nirgends sehen. Rasch suche ich die Gräser um mich herum ab, will herausfinden, wo er sich versteckt.
»Ich …« Was will ich wirklich hier? Ich weiß, dass dies seine Frage war, und sie bringt mich zum Nachdenken. Will ich ihn wirklich dazu überreden, zurück nach Heliopolis zu gehen, oder will ich einfach wissen, ob es ihm gut geht?
Mit einem lauten Rascheln und Knacken teilen sich die hohen Stängel genau an der Stelle, wo ich Dante vermutet habe und der ich meinen Körper zugewandt habe. Mein Blick streift ihn, ich registriere die dunklen Schatten unter seinen Augen, die fahle Haut seines unrasierten Gesichtes und das wirre Haar. Er trägt noch dieselbe Kleidung wie zuletzt im Museum. Er hatte niemanden, der sich um ihn kümmert, der ihn mit Nahrung und neuer Kleidung versorgt. Seine Hände hängen seitlich herab.
Ein seltsames Gefühl überrollt mich. Es ist mir unangenehm, ihm so gegenüberzutreten, und ich zupfe nervös am Saum meiner schlichten Tunika herum. Erst dann bemerke ich es und lasse meine Hand fallen. Es ist nicht mir unangenehm. Es ist ihm unangenehm.
»Du willst nicht, dass ich dich so sehe«, spreche ich es aus und sofort verschließt er sich.
Dante presst die Lippen zusammen und verschränkt die Arme vor der Brust. Eine Geste, die mir so schmerzhaft vertraut ist. Er hat sich uns – Riaz, Yasmeen, Malak und mir; seinem gesamten Jahrgang – gegenüber immer so verschlossen.
»Was willst du?«, ignoriert er meinen Einwurf.
Weil mich seine distanzierte Haltung ärgert, behalte ich all die Fragen über sein Befinden tief in mir.
»Wir werden heute nach Heliopolis aufbrechen.«
Dante mustert mich so lange, bis ich den Wunsch hege, mich bedecken zu müssen. Sein Gesicht ist absolut reglos, sodass ich meine Gabe einsetze, um zu erspüren, was er wirklich fühlt. Doch ich pralle an einem Schutzschirm ab.
»Dann eine frohe Reise. Möge der Diĝir über euch wachen.« Sein Sarkasmus trifft mich mehr denn je. Denn ich kenne ihn besser. Dante hat in der Letzten Stadt immer nur seine schlechte Seite gezeigt, war der erfolgsverwöhnte Mustersohn, der in seiner Art sehr nach seinem Vater kommt. Der dachte, Anspruch auf einfach alles zu haben – mich eingeschlossen. In Summit jedoch, als unser aller Leben eine Lüge war, durfte ich den echten Dante kennenlernen, der hoffentlich irgendwo hinter den verschränkten Armen zu finden ist.
»Du sollst uns begleiten.« Ich beobachte ihn genau, um seine Reaktion abzuschätzen. Kurz flackert ein Leuchten in seinen Augen auf, der Ansatz eines Lächelns zeigt sich, doch ich vernichte es mit meinen nächsten Worten. »Lenora will …«
»Lenora will …?«
Er hat mich durchschaut. Es ist nicht nur der Wunsch meiner Mutter, dass er mit uns kommt, sondern auch meiner. Ich kann nicht ohne ihn zurückkehren.
»Schon gut«, erwidere ich geschlagen. »Ich möchte, dass du mit uns zurückkommst.«
»Und warum?« Dante macht einen Schritt auf mich zu und nun stehen wir beide in dem Kreis, den der Wind für mich ins grüne Meer gedrückt hat. Die Frequenz meines Herzschlages ändert sich, während die hier so dunkelgrünen Augen immer näher kommen.
Verwirrt, was ich selbst denke und fühle, plappere ich Lenoras Worte nach: »Du bist nun der Wissende von Haus Seth. Du musst die Nachfolge deines Vaters antreten.«
Kurz lässt Dante seine neutrale Miene fallen und Enttäuschung macht sich stattdessen breit.
»Ich will nicht zu den Wissenden gehören.«
Diese Antwort verwundert mich. »Aber du … Du wolltest immer mehr, deinen Stand erhalten, vielleicht regieren. Nun hast du die Möglichkeit mitzubestimmen.«
Er zieht kurz die Unterlippe zwischen die Zähne, atmet lange aus. »Das war nie mein Wunsch.«
Sofort verstehe ich. Ich habe keine Ahnung, was er wirklich gewollt, wovon er geträumt hat. Sein Vater schien all das für ihn zu wollen, von ihm zu erwarten. Nur deshalb war er immer so … ein Idiot gewesen.
»Du könntest jetzt alles verändern, Dante.« Mein Ton wird nahezu flehend, weil ich merke, wie sehr ich ihn dabeihaben möchte, wie wichtig es ist, dass er mit uns zurückkehrt und Leemals Stelle einnimmt. Ich rede mir ein, dass dies wirklich der Grund ist, und ignoriere den Teil meines Herzens, den er als Nicolas erobert hat und der lautstark danach ruft, ihn niemals von meiner Seite zu lassen. Den Teil, der überzeugt davon scheint, dass ich Dante brauchen würde. Mehr noch als Riaz.
»Und wie soll es weitergehen?« Er tritt zu den Gräsern und richtet scheinbar all seine Aufmerksamkeit auf eines der weichen Blütenbüschel. Doch seine Bewegungen sind steif, seine Schultern wirken angespannt, als mache er sich für eine Konfrontation bereit. Dann lässt er es heraus: »Wir kehren zurück und tun so, als wäre all das nicht passiert? Als wäre mein Vater wirklich von Menschen getötet worden? Ich bin nicht länger bereit, eine Lüge zu leben, und will Lenora nicht das geben, was sie will.« Dann gibt er auf. Er fährt sich mit der Hand durch die schon zerzausten Haare. Eine der halblangen dunkelblonden Strähnen gleitet sofort zurück vor sein Auge und bricht einen Bann. Ich kann irgendwie spüren, dass er nicht länger nur von der gemeinsamen Rückreise spricht, und ich versuche, es in Worte zu fassen, doch er kommt mir zuvor.
»Ihr habt nach eurer Rückkehr von der Expedition das Recht, euch offiziell zu vermählen.« Erneut zupft Dante an dem Grün an seiner Seite herum, damit ich nicht weiter in seinem Gesicht lesen kann. Doch das ist zwecklos, denn ein Teil meines Herzens hat es bereits verstanden. Er hat mir doch schon gesagt, was er für mich empfindet, immer empfunden hat. Nachdem ich ihn als Nicolas kennenlernen durfte, konnte ich ihm sogar glauben.
»Ich …« Was kann ich schon sagen? Genau das war mein Ziel gewesen. Die Mission war eine Hürde, die es zu überwinden galt, um das offizielle Einverständnis des Rates zu erhalten, um Riaz zu heiraten und eine Verbindung aus zwei hohen Häusern zu schaffen, die mit dem Segen des amtierenden Herrschers den Thron für sich beanspruchen kann, wie es schon etliche Generationen vor uns getan haben. Dante hat recht. Und doch schüttle ich den Kopf.
»Ich will nicht zurückkehren, um mich zu vermählen.«
Dantes Kopf schnellt in meine Richtung und eine sanfte Welle von Hoffnung umspült mich. Ich taste kurz meine Gefühle ab und lege sie in meine Worte: »Ich möchte unser Volk retten, die Magie beschützen, Dante. Ich möchte, dass all die Intrigen und die Täuschung ein Ende haben.«
Dante sieht mich lange an. Was er wohl gerade denkt? Sein Gesicht ist eine für mich unlesbare Hieroglyphe.
Es scheinen Stunden zu vergehen, in denen wir beide reglos dastehen, weniger als einen halben Meter voneinander entfernt. Meine Gedanken ziehen umher, halten bei unserem ersten Kuss auf dem Abschiedsball inne. Dem Kuss, den ich glaubte, Riaz zu geben. Ich war wütend gewesen, enttäuscht, beschämt. Als Hailey habe ich Dante freiwillig geküsst und es nicht bereut. Trotz der Schuldgefühle Riaz gegenüber denke ich auch jetzt noch positiv an unsere gemeinsame Zeit zurück. Dante hat mir in jener Zeit gegeben, was ich brauchte: Zuspruch, Unterstützung. Mir kommt erneut in den Sinn, wie ich gedacht habe, dass man diesen Dante wirklich lieben und ein gemeinsames Leben aufbauen könnte. Ich spüre die Hitze in meinen Wangen, als Dante scharf einatmet und dabei das zartgelbe Büschel vom Stängel reißt. Dann schließt er die Lücke zwischen uns fast vollständig.
»Du weißt, was ich für dich empfinde, Akasha.«
Ich schlage die Augen nieder. Es tut mir weh, ihm nicht das geben zu können, was er begehrt. Ich will, dass er glücklich ist. Und doch bin ich so egoistisch, ihn zu bitten, mich zu begleiten, um meine Aufgabe zu Ende zu bringen, ohne dass ich eine Entscheidung treffe.
Die Hitze, die Dante ausstrahlt, als er mir näher kommt, mir sein Atem sanft über das Gesicht streicht, befeuert etwas in mir, belebt den Teil meines Herzens, den Hailey Nicolas geschenkt hat.
»Du weißt, dass ich alles für dich tun würde«, flüstert er. »Aber …«
Ich unterbreche ihn, will, nein, kann es nicht hören. Daher spreche ich mit fester Stimme aus, was ich bislang niemandem gesagt habe: »Dante, ich weiß, dass du andere Ziele und Wünsche hattest, aber ich brauche dich in Heliopolis. Ich spüre es. Wir müssen nicht nur den Zwilling zurückbringen, damit endlich wieder ein Impfstoff hergestellt werden kann und die Krankheit, die Armut ein Ende hat. Ich kann noch immer nicht fassen, was unsere Väter getan haben, kann nicht glauben, dass mein Vater den Tod so vieler – unseren Tod – befohlen haben soll.« Ich hole tief Luft, um meinem Wunsch mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich will die Wahrheit herausfinden, muss wissen, wem ich glauben kann. Außer dir, Yasmeen, Malak und Riaz kann ich niemandem vertrauen. Bitte hilf uns. So wie du uns im Museum geholfen hast.«
Ich sehe seine innere Zerrissenheit. Sehe den Schmerz, den ich ihm zufüge, indem ich seine Mithilfe beim Tod seines Vaters erwähne. Er ringt mit sich und ich warte reglos auf das Ende des Kampfes.
»Du hast recht«, sagt er, eine kämpferische Entschlossenheit in den Augen. »Ich muss mich meiner Aufgabe stellen. Ganz gleich, wie schwer sie sein wird.« Er holt tief Luft und sein Gesicht kommt näher. Ich erstarre, obwohl ich Sekunden zuvor nichts als tiefe Erleichterung verspürt habe. Ich weiß, ich sollte zurückweichen, sollte nicht diesen erwartungsvollen Moment genießen, ehe sich unsere Lippen berühren. Sollte nicht die Augen schließen und seine geflüsterten Worte wie eine Liebkosung empfinden. Und dennoch tue ich es. Ich wage es nicht, Luft zu holen, sonne mich in der Hitze seines warmen Atems, der nun über meine Wange streift. Ich sehne mich nach der Berührung seiner Lippen und erfasse die fast lautlosen Worte an meinem Ohr erst, nachdem Dantes Wärme verschwunden ist.
»Wenn es dein Wunsch ist, werde ich so tun, als hätte es die Zeit in Summit nicht gegeben.«
Ich reiße die Augen auf. Er steht nun so weit von mir entfernt, wie es in unserem kleinen Kreis nur möglich ist. Seine Hand streckt sich mir noch entgegen. Als er es bemerkt, lässt er sie fallen.
Dante schluckt die Traurigkeit hinunter und versucht sich an einem Lächeln. Doch in mir zerreißt etwas und eine Träne rollt über meine Wange. Über die Stelle, die Dantes Atem eben noch gewärmt hat.
»Ich habe meine Bestimmung aus den Augen verloren.« Er strafft sich und wirkt wieder wie Dante Letos, der Sohn des mächtigen Generals Leemal. Mein Herz gerät ins Stocken und eine Stimme in mir würde am liebsten »Nein« rufen, will die andere Seite von ihm zurückhaben. Doch das würde ihm noch mehr Schmerzen bereiten, daher presse ich die Worte wieder zurück in mein Herz. Die eisige Maske legt sich endgültig auf sein Gesicht und mit ihr erkaltet mein Inneres.
»Lass uns zurückkehren.« Dante geht mit starrer Miene an mir vorbei, als hätte es die letzten Minuten, Stunden, Tage und Wochen nicht gegeben, schiebt die Gräser auseinander wie zuvor Feleez’ Böen, und ich habe Mühe, ihm völlig überrumpelt zu folgen.
3
Siedlung der Ausgestoßenen – Florida, 30.Juni
Am späten Nachmittag begleiten uns die Siedler auf einem verschlungenen Pfad zu dem Platz, an dem unser Schiff liegen soll. Vor uns endet der Pfad urplötzlich an einer sanften Erhebung, wie sie hier in den Glades nicht allzu selten ist. Eine junge Frau tritt neben Lenora und legt die Hand auf den Boden. Der große Stein, den sie in ihrer anderen Hand hält, beginnt zu leuchten. Die Erde zieht sich zurück und unser Schiff kommt zum Vorschein. Voller Ehrfurcht ziehe ich die Luft ein, ein Geräusch lässt mich nach rechts blicken, wo plötzlich Dante neben mir steht. Die Überraschung weicht schnell aus seinen Zügen, und nach einem kurzen Seitenblick zu mir strafft er seine Schultern und trägt die gewohnt finstere Miene zur Schau: arrogant und überheblich.
»Wie ist es hierhergekommen?«, murmle ich mehr zu mir selbst, aber Riaz beugt sich zu mir, in seinen Augen funkelt etwas lange nicht Dagewesenes. »Wir haben es hierhergebracht. Wir sind mit dem Flugzeug nach Summit geflogen, aber zurück sind wir mit ihm hier. Leemal war ohne Formwandler nicht in der Lage, es mit Energie zu versorgen. Wir konnten auf diese Weise aber auch Sameer und Feleez herbringen, die keinen irdischen Pass haben. Zedan, Elizaa und ich haben für genügend Energie gesorgt, die Reise dauerte nur einen Bruchteil von der mit menschlicher Technik.« Er klingt mindestens zehn Jahre jünger und sprüht nahezu Funken vor Aufregung. Sie ist regelrecht ansteckend. »Ich durfte es sogar kurz steuern!« In diesem kurzen Moment sehe ich den alten Riaz wieder –, die unbändige Neugier, stets ein neues Abenteuer erwartend – und wie von selbst spiegle ich sein Lächeln, ehe Mazen meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt.
Er berührt das Schiff und ein Teil der Außenhülle beginnt zu schimmern wie eine Wasseroberfläche, die leise Wellen schlägt. Um uns herum versammeln sich immer mehr Siedler, während unser Jahrgang direkt neben Mazen und Lenora steht. In vorderster Reihe stehen die vier Kinder der Siedlung und seitlich die wenigen Teilnehmer der Mission, die vor ein paar Wochen mit uns hierhergereist sind. Sie werden mit uns zurückkehren, um den Schein zu wahren und uns in Heliopolis zu unterstützen. Zedan, der Heiler, und Elizaa, die mich aus meiner Schlafkapsel befreit hat, sind die Einzigen, die ich bereits kenne.
Riaz nimmt beinahe besitzergreifend meine Hand und registriert mit einem kurzen Zucken seiner Mundwinkel, wie Dante auf meiner anderen Seite sofort den Blick abwendet.
»Die Generationen überdauernde Lüge hat bald ein Ende«, beginnt meine Mutter, und um uns herum wird es sofort still. Ich sehe zu Mazen, doch er scheint nichts damit zu tun zu haben. Lenora muss niemanden damit beauftragen, für Stille zu sorgen, um gehört zu werden. Die Menschen hier in der Siedlung, diese Sammlung an Ausgestoßenen und deren Familien hängen an ihren Lippen, als wäre sie die Inkarnation des Diĝirs. Sie ist diejenige, die sie alle gerettet hat – aus ihren falschen Leben.
»Lange mussten wir auf diesen Moment warten, doch nun liegt unser aller Schicksal in den Händen meiner Tochter Akasha und ihres Verlobten Riaz. Sie werden den Zwilling zurück in die alte Heimat bringen, werden die Magie des Diĝirs wiederbeleben und somit der Krankheit ein Ende bereiten, die so viele von euch hierhergebracht hat – als Ausgestoßene der Gesellschaft.«
Während ein kurzer Applaus erklingt, huscht mein Blick neben mich. Riaz lächelt. Es gleicht beinahe dem Strahlen wie am Abend unseres – meines – Abschiedes, als die Augen so vieler Magieloser auf uns gerichtet waren und er um meine Hand angehalten hat. In diesem Moment waren wir glücklich und all unsere Ziele – meine Träume – schienen zum Greifen nah. Riaz sieht ebenfalls zu mir, und ich sehe, dass er dieselben Bilder vor sich hat. Sanft streicht sein Daumen über meinen Handrücken und ich lasse mich von der so gewohnten Geste beruhigen.
»Mögen sie erfolgreich sein und uns endlich alle befreien! Mögen sie dafür sorgen, dass Zaahir keine weitere Expedition entsendet, um uns zu vernichten!« Lenoras Stimme erhebt sich und die darauffolgenden zustimmenden Rufe und der Jubel scheinen endlos.
Doch ich kann ihre Beschuldigung nicht kommentarlos stehen lassen. Ich straffe meine Schultern und blicke in die hoffnungsvollen Augen der Siedler. »Ich bedauere, was ihr erleben musstet, was euch angetan wurde, indem ihr aus eurer Heimat vertrieben und hierhergebracht wurdet.« Ich spüre die Unruhe meiner Mutter direkt neben mir. Sie würde mich am liebsten zurechtweisen und davon abhalten weiterzusprechen. Aber ich muss es aussprechen: »Ich glaube fest an die Unschuld meines Vaters, des großen Herrschers Zaahir. Und ich verspreche euch beim Diĝir, dass wir die Verantwortlichen finden und zur Rechenschaft ziehen werden. Euch droht nie wieder Gefahr.«
Erst ist die Menge unschlüssig, die Menschen sehen einander an, um zu sehen, wie ihr Gegenüber reagiert, werfen fragende Blicke in die Richtung meiner Mutter, die versucht, ihren Unmut zu verbergen. Dann beginnt jemand zu klatschen und der Rest stimmt mit ein. Ein wirklich berauschendes Gefühl. Yasmeen nickt mir anerkennend zu.
Es bildet sich eine Schlange, und die Siedler treten einzeln oder paarweise vor, um uns für unseren Einsatz Glück zu wünschen. In jedem einzelnen Augenpaar sehe ich die Hoffnung auf ein baldiges Leben ohne Angst. All diese Gesichter machen mir deutlich, dass es nicht weitergehen kann wie bisher. Der letzte Funke, der meinen Entschluss zu einem inneren Feuer werden lässt, kommt von den Kindern. Eins nach dem anderen tritt zu mir.
Egal, wie, ich werde diese Menschen hier beschützen. Ich stehe nicht hinter Lenoras Meinung, dass mein Vater erneut jemanden entsendet, um die Siedlung zu zerstören. Aber sollte es tatsächlich so sein, werde ich es verhindern. Ich werde die Wahrheit herausfinden. Die Letzte, die zu mir tritt, ist die kleine Maya, das Mädchen, das mir als Erstes gezeigt hat, welch wundersame Begabungen außerhalb der Letzten Stadt existieren. Ihre Nasenflügel beben, als sie sich von Riaz ab- und mir zuwendet. Sie reckt die Arme in die Höhe, und ich kann gar nicht anders, als in die Hocke zu gehen und sie an mich zu drücken, obgleich ich sie kaum kenne. Doch anstatt mir wie all die anderen Glück zu wünschen, flüstert sie mir ins Ohr: »Feleez lässt dir etwas ausrichten: Lass dich nicht von der Vergangenheit täuschen.«
Ich richte mich verwundert auf, aber ehe ich nachhaken kann, hat sie Dante schon kurz zugenickt, einen Glückwunsch gemurmelt und hopst nun mit einem kindlichen Lächeln im Gesicht davon, sodass ihre roten Locken nur so auf und ab springen.
Mazen stellt sich neben Lenora uns gegenüber auf. Hinter unserem Jahrgang aufgereiht, stehen die fünf erwachsenen Besatzungsmitglieder, die unsere Expedition überlebt haben. Fünf! Gemeinsam mit uns und Mazen sind wir elf. Ein kläglicher Rest, verglichen mit den rund vierzig Männern und Frauen, die hierher aufgebrochen sind. Was ist mit ihnen geschehen? Ich habe sie weder in Summit noch in der Siedlung gesehen. Wie konnte ich mir bislang keinerlei Gedanken darüber machen, wie dezimiert wir zurückkehren würden?
Beinahe so wie die früheren Expeditionen, bestätigt meine innere Stimme.
Die Dunkelheit in meinem Inneren hat einfach alles betäubt, sodass ich mir nicht ein einziges Mal Gedanken darüber gemacht habe. Ich will die Frage nach dem Verbleib gerade stellen, da räuspert sich Mazen und klärt uns über unsere Rückkehr in die Letzte Stadt auf: »Da wir nicht mehr so viele Formwandler bei uns haben, werden wir die gesamte Reise in den Schlafkapseln verbringen. Auf Heliopolis angekommen, werden uns weitere Angehörige des Hauses Nut erwarten und dabei helfen, uns wiederzuerwecken.«
Das Wort Schlafkapsel sorgt für Flashbacks und die Bilder greifen mit eiskalter Hand nach mir und ziehen mich zurück zu meinen bisherigen Kontakten mit den Kapseln, die scheinbar überlebenswichtig sind, um die Reise zur Erde zu überleben. Die Enge der geschlossenen Kapsel, als ich an Bord des Schiffes erwacht bin, nachdem ich in meinem Bett, in meinem Zimmer in Heliopolis eingeschlafen war. Dann zu dem Tag, an dem wir hier ankommen sollten. Wie Riaz von mir weggezerrt wurde, obwohl wir geplant hatten, den Übertritt auf die Erde nicht schlafend zu verbringen. Er wurde von Dante überwältigt, hat er erzählt. Instinktiv taste ich nach Riaz’ Hand, aber die Berührung beruhigt mich nicht mehr so sehr wie früher.
»Lasst uns gehen.« Lenora begleitet uns direkt bis zu dem Durchgang. Als ich näher trete, spüre ich das Kribbeln der Magie, die gewirkt wird. Verschwommen sehe ich hinter der äußeren Hülle des Schiffes einen der zahlreichen Flure im Inneren. Binnen Sekunden durchfluten mich die unterschiedlichsten Empfindungen. Freude, Hoffnung, aber auch … Angst. Nie hätte ich gedacht, dass Nach-Hause-Zurückzukehren beängstigend sein könnte.
Aber Heliopolis wird nie wieder dasselbe für mich sein. Weil ich mittlerweile eine andere bin.
Riaz zieht leicht an meinem Arm, bis ich mich von dem Bild vor mir losreißen kann. Mazen tritt vor die schimmernde Stelle, dreht sich noch einmal kurz zu uns und nickt Lenora ein letztes Mal zu, ehe er durch die wellenschlagende Fläche taucht und das Raumschiff betritt. Danach ist er etwas verschwommen, aber durch den reinen weißen Hintergrund des Schiffes klar zu erkennen.
Die erwachsenen Besatzungsmitglieder folgen einer nach dem anderen, grüßen meine Mutter zum Abschied und gehen an Bord. Mit Verwunderung verfolge ich Malak und Yasmeen, die keinerlei Anzeichen von Nervosität zeigen. Dann fällt mir ein, dass sie ja bereits von Summit hierhergereist sind. Riaz nickt mir aufmunternd zu und gibt mir einen sanften Stoß in Richtung der Öffnung.
Meine Mutter tritt zu mir, als ich direkt vor dem Flimmern stehe, das rundherum die Minze explosionsartig in die Höhe schießen lässt. »Amira«, sagt sie mit sanfter Stimme und das Wort umgarnt mich wie immer. »Unser aller Schicksal liegt nun in deiner Hand.« Sie löst einen Beutel von dem Gürtel an ihrer Hüfte. Behutsam, als halte sie ein Windling-Küken, legt sie ihn mir in beide Hände. Sofort fühle ich die pulsierende Magie des Zwillings durch meine Adern rauschen und wundere mich über das samtartige Material des Beutels, der das Supernova-gleiche Leuchten des Zwillings nicht nach außen dringen lässt. Meine Sinne sind geschärft, nahezu überfordert, sodass ich Mühe habe, mich nur auf Lenora zu konzentrieren. »Du bist die Einzige, die es schaffen kann, uns zu befreien. Ich übergebe dir den Zwilling, damit du Heliopolis rettest, dem Volk die Magie zurückbringst, indem der Zwilling in die Stadt zurückkehrt und den Diĝir auflädt. Mazen wird euch dann dabei helfen, den Impfstoff herzustellen.« Sie macht eine kurze Pause, und ich sehe, wie sie mit den nachfolgenden Worten ringt, ehe sie sie herauslässt. »Ich kann dich zu nichts zwingen, kann dir nicht befehlen, den Zwilling nicht an deinen Vater auszuhändigen.« Sie schluckt kurz. »Aber ich kann darauf hoffen, dass du die richtigen Entscheidungen triffst und deinen Gefühlen folgst. Für die Freiheit aller und … um uns hier vor einer erneuten Sintflut zu schützen.«
Sie nimmt mich kurz in den Arm und streicht mir über den Rücken. Dann trete ich schnell durch das Tor. Der Übertritt fühlt sich an wie ein leichter Stromstoß und schon befinde ich mich im künstlich erschaffenen Licht der Schiffsflure. Mazen steht direkt vor dem allumfassenden Weiß.
»Wo sind Malak und Yasmeen?«, frage ich, nachdem ich festgestellt habe, dass außer ihm niemand zu sehen ist.
Mazen deutet auf den Flur hinter sich. »Sie sind bereits im Schlafsaal. Folge ihnen, damit man deine Schlafkapsel vorbereiten kann.«
»Ich warte noch auf Riaz und Dante«, ist meine knappe Antwort, und ich stelle mich neben ihn. Ich höre, wie er schwer einatmet, er gibt jedoch keinen Kommentar dazu ab. Jenseits des Portales zeichnen sich nun zwei dunkle Schemen vor dem blauen Himmel über den Everglades ab. Es dauert entsetzlich lang, bis die beiden endlich nacheinander hindurchtreten. Noch kurz blitzt hinter Dante meine Mutter auf und winkt mir ein letztes Mal zu, dann schließt Mazen den Eingang, der nun nicht mehr von den anderen Wänden des langen weißen Flurs zu unterscheiden ist.
»Folgt mir«, weist Mazen mich an. »Wir müssen alles für unsere Reise vorbereiten.«
Riaz legt mir eine Hand auf den Rücken und schiebt mich zu dem Raum, in dem unsere Schlafkapseln stehen. Er drückt mir einen sanften Kuss auf die Stirn, als ich mich mit Unbehagen auf die Liegefläche setze. Es ist dieselbe Geste wie so viele Male in der Vergangenheit. Und doch fühlt sie sich vollkommen anders an, obwohl ich das Warum nicht genau benennen kann.
Leise wiederholt Riaz noch einmal die Worte von zuvor und reißt mich aus den Gedanken: »Alles wird gut. Wir werden alles verändern, Ash.« Das erste Mal seit Leemals Tod sind unsere Gesichter so nah. Ich sehe, wie er schluckt, als ihm bewusst wird, dass wir dieselbe Luft atmen. Dann schlägt er die Augen nieder. Ich denke an die Zeit zurück, in der jeder Kuss ein gestohlener Moment war, und von Nostalgie überwältigt, bewegen wir uns instinktiv aufeinander zu, mein Herz pocht und meine Lippen sehnen sich nach den seinen. Kurz vor der Berührung verharrt er, als bitte er um Erlaubnis. Da ich nicht zurückzucke, überwindet er die letzten Millimeter und presst seinen Mund auf meinen. Nur eine flatternde Berührung, mit der er mich sanft niederdrückt, doch sie fühlt sich falsch an. Ebenso falsch wie das gehauchte »Ich liebe dich«, das wie ein Echo aus einer vergangenen Zeit klingt, ehe er die Kapsel schließt und mir die Augen zufallen.
4
Du’uzu 6945 nach Atum
In einem der größten Gemächer des Palastes rennt ein kleines Mädchen im Raum umher, als suche es nach etwas. Die Sonne geht gerade jenseits der Stadtmauer auf und die ersten Strahlen hellen Lichtes brechen durch das Fenstergitter. Das Mädchen ist noch in seine Schlafgewänder gehüllt und flüstert unentwegt ein Wort. Vielleicht einen Namen.
»Taz?« Seine Stimme klingt verängstigt. Die dunklen Augen sind groß, und die ersten Tränen rollen über die Wange, als es sich nun rückwärts unter dem Bett hervorschiebt.
Auf den reich verzierten Neoferrumbalken, die den Betthimmel stützen, ist der Name des Mädchens eingraviert. Ea. Sie ist die Prinzessin von Heliopolis, Tochter des Herrschers José Toras.
»Taz?« Eas Stimme hallt durch den Raum. Von jenseits der Tür erklingt ein Geräusch und Ea verharrt in ihrer Bewegung. Niemand tritt ein. Sie atmet erleichtert aus. Die Sorge in ihrem Gesicht weicht Entschlossenheit, und sie geht auf eines der Regale zu, in denen Sandklötze und Feuerkugeln neben etlichen Wasserpuppen und anderem Spielzeug lieblos aufeinanderliegen.
Ihre kleine Hand tastet den Rand des Regals entlang und kurz darauf öffnet sich die Wand neben ihr. Einer der Fluchttunnel. Ea schlüpft hinein und rennt auf nackten Füßen durch den von erstarrten Flammen beleuchteten Gang. Dabei sieht sie sich ständig um, bleibt aber erst vor einer Wand stehen und holt dort mehrmals tief Luft, ehe sie den Ausgang über ein Panel öffnet. Sie steckt zuerst den Kopf durch die Öffnung, eilt dann hinaus in die lärmerfüllte Stadt. Sie scheint zu wissen, wo sie hinmuss, verwendet jedoch überwiegend Seitengassen und vermeidet die großen Plätze wie den Basar oder das Heilzentrum. Sie geht zielstrebig auf den westlichen Außenbezirk zu, ihr Schatten eilt ihr voraus und versteckt sich mit ihr, wenn Wachposten ihres Vaters zu sehen sind.
Wenig später passiert sie den Hauptweg der Oase und erreicht die Stallungen. In der westlichen Oase werden einige Tätigkeiten, die sonst durch Magie betrieben würden, durch Tiere erledigt. Eas Haltung ist vollkommen entspannt, als sie nun auch noch den Stall passiert und sich zwischen der Außenmauer des langen Gebäudes und der Stadtmauer hindurchschiebt.
Es ist eng, für einen Erwachsenen wäre es vermutlich unmöglich, ihr zu folgen. Ein leiser Ruf erklingt und Eas Gesicht beginnt regelrecht zu strahlen.
»Taz!«, ruft sie.
Die Erleichterung ist ihr anzumerken. Die Sonne ist noch nicht über die Stallungen geklettert, in dem schmalen Durchgang ist es finster wie in der Dämmerung. Ea jedoch zögert nicht, sondern setzt ihren Weg fort. »Taz, du musst zu mir kommen. Taz!« Ihre Stimme wird lauter und hallt von der Stadtmauer wider. Sie zuckt zusammen, sieht sich mit verängstigtem Gesicht um und reibt sich über die nackten Arme, auf denen sich Gänsehaut abzeichnet.
Dennoch geht sie entschlossen weiter, auf den Laut zu. Sie bleibt kurz an einer Stelle stehen und betrachtet mit gerunzelter Stirn die Stadtmauer. Das dicke Mauerwerk wirkt an dieser Stelle seltsam dunkler, anders und Ea erschaudert. Ein Rascheln in den tiefen Schatten, wo ein weiteres Gebäude auf die Stallung trifft und der Weg endet, lenkt nun ihre Aufmerksamkeit vollkommen auf sich.
Ein kleines vierbeiniges Tier streckt sich und stößt einen weiteren Ruf aus.
»Taz! Da bist du ja endlich!« Ea rennt auf das mit geflecktem Fell bedeckte Etwas zu, nimmt es auf den Arm und drückt es an sich. Es ist eine Katze von der Erde. Eine der Züchtungen zu Beginn der zweiten Ära. In diesem Moment erklingt eine Stimme aus den Schatten.
»Heißt er Taz?«
Ea lässt das Tier beinahe fallen und weicht mehrere Schritte stolpernd zurück. Aus dem finsteren Winkel zwischen Stallung, Stadtmauer und der Fassade des benachbarten Gebäudes tritt ein Mädchen, gekleidet in eine verwaschene graue Tunika. Es lächelt, während es immer näher kommt und die Hand nach Ea ausstreckt. Nein, nach der Katze.
Ea dreht sich leicht zur Seite, beschützt das Fellbündel in ihren Armen.
»Taz ist ein Mädchen«, sagt sie bestimmt, wie es nur Kinder können. »Sie ist meine Freundin.« Eas kleine Hände sind fest im Fell der Katze vergraben.
»Kann sie auch meine Freundin sein?«, fragt das Mädchen. »Ich habe keine Freunde.« Es senkt den Kopf.
Ea antwortet: »Ich habe auch keine Freunde. Können wir Freunde sein?« Das Mädchen hebt den Kopf. Seine Augen leuchten trotz der Dunkelheit.
»Wir können Schwestern sein«, sagt es beim Nähertreten. »Schwestern lassen einander nie allein.«
Ea nickt, als würde sie die Tiefgründigkeit dieser Aussage verstehen.
»Dann lass uns Schwestern sein.«
Das Mädchen lächelt bei einem Nicken.
»Ich heiße Anu, und du?«
5
2. Abu 6996 nach Atum
Ich erwache von mehreren Stimmen, die aufgeregte Anweisungen rufen. Hinter meinen Lidern herrscht gleißende Helligkeit, es ist nicht wie in all den Nächten zuvor. Ich horche in mich, versuche, mich an den Traum zu erinnern, der mich Nacht für Nacht verfolgt hat, doch er ist ausgeblieben. Habe ich etwa die ganze Nacht durchgeschlafen, bin nicht aufgeschreckt wie all die geplagten Nächte zuvor? Ich blinzle und hebe langsam die Lider, um mich an die entsetzliche Helligkeit zu gewöhnen. Erst dann bin ich mit einem Schlag munter. Ich liege in der geöffneten Schlafkapsel und im Hintergrund herrscht geschäftiges Treiben.
Dann verdunkelt ein Gesicht das Licht über mir und Riaz’ blaue Augen funkeln mich an. »Willkommen zurück.« Ich spüre seine Hand an meinem Arm entlanggleiten und wie er ihn fest umgreift. Langsam versuche ich, mich zu erheben, Riaz hilft mir dabei, ein ehrliches Lächeln auf den Lippen.
»Ich bin froh, dass du aufgewacht bist, während ich hier warte. Es war nicht einfach, Elizaa zu überreden, mich über dich wachen zu lassen. Willkommen zurück auf Heliopolis.«
»Wir sind … zurück? Warum wurden wir nicht kurz zuvor geweckt? Meine Mutter meinte, Mazen würde uns instruieren …« Meine Stimme ist rau, als hätte ich sie tagelang nicht benutzt. Wenn Riaz die Wahrheit sagt, habe