Henkersmahlzeit - K. D. Beyer - E-Book

Henkersmahlzeit E-Book

K. D. Beyer

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Beschreibung

Worum geht es? Ein eiskalter Serienkiller sorgt für Angst und Schrecken im Ruhrgebiet, vor allem bei Sophie. Mike, ihr neuer Nachbar erscheint ihr verdächtig. Gemeinsam mit dem Wissenschaftler Johannes macht sich Sophie auf Verbrecherjagd und wird selbst zur Gejagten. Wasserleichen zwischen Essen und Duisburg werden zu Schlüsselfiguren und ein kluger Kopf kämpft bis zum bitteren Ende. Wer soll dieses Buch lesen? Nichts für zarte Gemüter! Die Sogwirkung des Krimis führt den Leser in die dunkelste Vergangenheit der Protagonisten, lässt das Unwahrscheinliche Wirklichkeit werden und das Blut in den Adern gefrieren. Was macht es spannend und einfach unwiderstehlich? Ein Thriller wie guter Champagner zu einem edlen Mahl: geistreich und prickelnd, so süffig, dass man ihn bis zum letzten Tropfen genießen möchte.

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K. D. Beyer

Henkersmahlzeit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Alpha

Bravo

Charlie

Delta

Echo

Foxtrott

Golf

Hotel

India

Juliet

Kilo

Lima

Mike

November

Oscar

Papa

Quebec

Romeo

Sierra

Tango

Uniform

Victor

Whisky

Xanthippe

Ypsilon

Zeppelin

Impressum neobooks

Alpha

Alpha ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets und steht für „Anfang“.

Eine Führungspersönlichkeit wird manchmal als „Alphatier“ bezeichnet, um ihre besondere Stellung innerhalb einer Gruppe zu charakterisieren.

Das Alphatier kann selbstbewusst und engagiert oder kompromisslos, machthungrig und grausam sein.

Durch seine Dominanz kann ein einzelnes Alphatier ganze Weltbilder auf den Kopf stellen und prallen Alphatiere aufeinander, können hochexplosive Mischungen entstehen, mit fatalen Folgen.

Sophie war alles andere als ein Alphatier.

Deshalb war ihr Leben weder spektakulär noch schillernd, wie das der meisten Zeitgenossen.

Bravo

„Bravo, na bravo …!“ Sophie schaute ärgerlich auf das rohe Ei, das sich gerade gemächlich und eiskalt über ihren rechten, vollständig nackten Fuß ergoss. Das braune Ei war ihr vor Schreck aus der Hand gerutscht, als ein ohrenbetäubender Knall ihr beinahe das Trommelfell zerriss. Wahrscheinlich ging es mal wieder um missachtete Vorfahrtsregeln an der übersichtlichen kleinen Kreuzung in der Nähe. Doch darum konnte sie sich jetzt unmöglich auch noch kümmern. Die dunkle Eierschale war beim Aufprall in zwei Hälften zersprungen. Während sich das Eiweiß um ihre Zehen schleimte, thronte das Eigelb wie eine orangegelbe Signallampe auf Sophies Fußrücken. Sophie hatte die Hoffnung auf ein Spiegelei noch nicht aufgegeben. Sie schaute sich vorsichtig um. Die Pfanne stand schon auf dem Herd. Sie müsste sich nur hinüberbeugen … Entschlossen knallte Sophie heftiger als sonst die Kühlschranktüre zu und das Schwäbische Kochbuch, das auf dem eierschalenfarbenen Kühlschrank mit den abgerundeten Ecken gelegen hatte, landete auf dem Eigelb und zerstörte Sophies Traum von einem unkomplizierten Frühstück.

„Bravo …!“ zischte Sophie. Während sie nun nach der Küchenrolle in der Nähe der Pfanne angelte fragte sie sich, weshalb sie ständig bravo ausrief, obwohl es doch nichts zu bejubeln gab.

Sie hatte den Ausdruck wahrscheinlich unbewusst von ihrem Chef übernommen. So begann er seine Predigten immer, wenn er jemanden zur Schnecke machen wollte.

Sorgfältig befreite Sophie ihren Fuß grob vom Glibber und hüpfte dann auf dem linken Bein zum Spülbecken. „Bravo … Aaauuaah …!“ Schnell zog sie den Fuß unter dem kochend heißen Wasserstrahl zurück.

Mit Spülmittel, lauwarmem Wasser und Tränen in den Augen schrubbte Sophie ihren Fuß. Anschließend kroch sie auf dem Küchenfußboden umher wie eine Schnecke, um ihre Schleimspur zu entfernen.

Dabei hatte der Morgen so angenehm begonnen.

Ihr Wecker hatte sie zuverlässig mit niedlichem Vogelgezwitscher geweckt. Nachdem sie ihn ausgeschaltet hatte, lauschte sie noch ein paar Minuten dem Life-Konzert vor ihrem Schlafzimmerfenster.

Während sie darauf wartete, dass sich das Wasser in ihrer Kaffeemaschine aufheizte, schaute Sophie in ihrem Online-Duden nach.

„Bravo“ war ursprünglich der Beifallsruf der Zuschauer in der Italienischen Oper und bedeutete „hervorragend“ oder „Kompliment“.

„Wieso hat es bei uns mittlerweile eine so abwertende Bedeutung?“, fragte sich Sophie, während sie sich eine dicke Vollkornbrotscheibe mit Himbeermarmelade bestrich.

Gedankenverloren las sie die Bedeutung von brav: sich so verhaltend wir andere es erwarten oder wünschen. Nachdem sie die Synonyme gelesen hatte, beschloss sie, „bravo“ und „brav“ aus ihrem Wortschatz zu streichen. Wer will denn schon bieder, gefügig, fantasielos, hausbacken oder spießig sein?

Nach einem herzhaften Biss ins Marmeladenbrot und dem ersten Schluck Kaffee ging es Sophie schon viel besser. Sie hatte die Marmelade mit einem tüchtigen Schuss Himbeergeist und zarten Mandelblättchen selbst gemacht.

Als Sophie ihr Smartphone wegpacken wollte, tippte sie versehentlich auf das großgeschriebene „Bravo“.

„Oha …“„ entfuhr ihr leise. Mit gerunzelter Stirn las sie: italienische Bezeichnung für Räuber, Meuchelmörder.

Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster und ließ ihren Blick über das idyllische Ruhrtal gleiten.

Charlie

Charlie erhob den Kopf und blinzelte in den dunklen Himmel.

Dicke Schneeflocken fielen in jener Nacht.

Die weißen Flocken legten sich schützend auf Zäune und Bäume. Eine glitzernde Decke erhellte die Straße und den Weg zum Fluss.

Charlie liebte diese kleine Bucht hinter der alten Eiche noch immer. So oft war sie schon hier gewesen. Mit ihren Freundinnen hatte sie hier gebadet, gespielt und in der Sonne geträumt.

Vom Weg aus war die Bucht nicht zu sehen. Kleine Büsche versperrten die Sicht auf ihren Lieblingsplatz.

Hier war das Ufer flach und mit kleinen Kieseln bedeckt. Das Wasser war klar und an warmen Tagen konnte man die winzigen Fische beobachten, die sich ganz nah ans Ufer trauten.

Der Vollmond spiegelte sich im Wasser.

Das Mädchen schloss die Augen und atmete tief aus.

Sie lauschte andächtig der weißen Stille und sog die reine Luft in sich auf wie ein zerbrechlicher, ausgetrockneter Schwamm.

Die Eiskristalle benetzten ihre dunklen Haare.

Dann öffnete sie ihre Augen und musterte ihre schweren Schuhe. Es waren die Schuhe ihres Großvaters. Sie waren schwarz und viel zu groß. Sie bewegte ihre Zehen langsam und bedächtig auf und ab. Ihr Großvater war Bergmann gewesen. Seine Lunge war früh vom feinen Staub der Kohle zerfressen und Charlie war noch ein Baby, als er starb. Ihre Mutter hatte seine Kleidung aufbewahrt wie eine Reliquie. In einem großen Kleiderschrank im Keller, der nach Mottenkugeln duftete, waren alte Kleider, Fotos und Erinnerungsstücke von ihm und ihrer Großmutter aufbewahrt. Die Großmutter hieß Charlotte, genau wie sie. Doch schnell war der ganzen Familie klar, dass dieser Wirbelwind, zu dem sie sich rasch entwickelt hatte, unmöglich Charlotte heißen konnte.

Charlie passte viel besser zu diesem kleinen, bezaubernden Frechdachs.

In dem großen Kleiderschrank im Keller hatte die 14jährige Charlie nun die viel zu großen Schuhe gefunden und sich darin auf ihren Weg gemacht.

Sie starrte auf die Steine am Boden. Wie unterschiedlich in Größe und Form sie doch waren! Sie waren so unterschiedlich, wie die Menschen, die sie kannte: manche waren klein, andere waren groß, einige fühlten sich gut an und andere waren gefährlich, verletzend, tödlich.

Geschickt suchte sie sich mit ihren schmalen Händen die größten Kiesel aus und packte sie in ihre tiefen Manteltaschen.

Der Mantel war schwarz und lang. Er reichte ihr bis an die Knöchel und war viel zu weit. Ihre Großmutter war eine große, stattliche Frau gewesen. Sie hatte sehr viel Wert auf teure, gute Kleidung gelegt. Ihre Sonnenschirmchen mit silbernen Griffen, die edlen Pelze und zahlreichen kunstvoll verzierten Hüte waren fein säuberlich in der obersten Ablage im Kellerschrank verstaut.

Charlie hatte sich den schweren Wollmantel mit den 5-Mark-Stück-großen Knöpfen aus Perlmutt ausgesucht. Schon als kleines Mädchen mochte sie diese Knöpfe. Sie schillerten warm in den unterschiedlichsten Pastelltönen. Charlie packte den Knopf zwischen Brust und Bauchnabel mit Daumen und Zeigefinger und rieb ihn sanft zwischen den Fingern. Das Material fühlte sich fest und zerbrechlich zugleich an.

Die Last der Steine und der Erinnerung verlangsamten ihre Schritte zum Ufer.

Sie schluchzte und Tränen verschleierten ihre Sicht als sie sich langsam dem Wasser näherte.

Das Kreuz stand noch da. Es hatte ihre Größe. Sie hatte gestern Abend hier an einem abgebrochenen Birkenstamm einen kürzeren halb verfaulten Ast mit einem rostigen Stacheldraht im oberen Drittel befestigt. Dabei hatte sie sich die Finger blutig gerissen.

Liebevoll strich sie über das Holz und schlang hastig ihren schwarzen Seidenschal darum.

Mit einem entschlossenen Lächeln setzte das Kind seinen Weg fort zum kalten Fluss, um nie mehr zurückzukehren in das Grau der 60er Jahre.

Delta

Delta - der dreieckige Großbuchstabe des griechischen Alphabets gab im 5. Jahrhundert vor Christi ursprünglich dem Nildelta und später jedem Flussdelta seinen Namen. Es handelt sich dabei um eine Flussmündung in ein anderes Gewässer, bei der sich der Hauptstrom in mehrere Mündungsarme gabelt.

Der griechische Komödienautor Aristophanes jedoch bezeichnete im Jahre 411 v. Chr. in seiner „Lysistrata“ mit Delta die weibliche Scham.

Ruhig und gemächlich fließt die Ruhr seit vielen tausend Jahren Kilometer um Kilometer vom Sauerland in den Rhein. Sie fließt durch eine abwechslungsreiche Landschaft, vorbei an malerischen Dörfern mit schiefen Fachwerkhäusern, großen Städten mit beeindruckender Industriekultur und abwechslungsreiche Natur.

Nach ungefähr 220 Kilometern mündet die Ruhr bei Rheinkilometer 780 in Duisburg in den Rhein. An dieser Stelle befindet sich eine 25 Meter hohe leuchtend orangefarbene Landmarke aus Stahl. Die Skulptur „Rhine Orange“ ist 7 Meter breit und einen Meter tief. An diesem Ort scheint die Weite des Himmels unendlich zu sein. An sonnigen Tagen ist der Himmel besonders strahlend blau im Kontrast zu „Rhine Orange“. Ist der Himmel bewölkt, bieten die vorbeiziehenden Wolken ein ganz einzigartiges Schauspiel und die Weite des Himmels wird jedem Betrachter an diesem Delta besonders bewusst.

Nach über einem halben Jahrhundert war das Holzkreuz am Ruhrufer verwittert, vermodert, verschwunden. Die Leiche des Mädchens wurde damals nicht weit von der Stelle, an der Charlotte ins Wasser gegangen war, wenige Wochen später gefunden. Im Morgengrauen hatte die Ruhrwacht sie kurz vor der Schleuse aus dem Wasser geborgen. Die schlimmsten Befürchtungen der Eltern wurden zur traurigen Gewissheit und auch der kleinste Hoffnungsschimmer war für immer erloschen durch die bittere Wahrheit.

Die kleine Familie zerbrach an diesem traurigen Schicksal. Charlottes Verzweiflung steckte alle an. Sie hatte sich doch zunächst so gut erholt nach dieser schlimmen Zeit. Schien wieder glücklich und zuversichtlich zu sein. Zurück blieben ein Vater, der immer mehr dem Alkohol verfiel, eine Mutter, die sich immer weiter hinter ihren Zwängen, Ritualen und Depressionen versteckte und ein noch sehr kleiner Bruder, der von nun an immer mit dem Schatten der großen Schwester leben musste. Sie musste ihn sehr geliebt haben. Seine Mutter versicherte es ihm immer wieder und zeigte ihm Schwarz-Weiß-Fotos von seiner großen Schwester, die sie hütete wie einen kostbaren Schatz. Seine Charlie war so schön und strahlte so viel Wärme und Liebe aus. Der winzige Knirps strahlte vor Glück neben ihr. Dieses Familienidyll wurde jäh zerstört, als Charlie eines Tages einfach verschwunden war und für den kleinen Michael nur noch eine Mauer eisigen Schweigens übrig ließ.

Die eigentliche Zerstörung begann jedoch bereits viel früher. Sie begann, als Vater und Mutter verlernt hatten, sich zu achten, zu lieben und zu ehren.

Die Zeit hatte den Schmerz und die Erinnerung an Charlies frühen Tod gelöscht. Der Vater war tot und die Mutter lebte in ihrer eigenen Welt, jenseits aller Erinnerungen. Michael, der beinahe von Anfang an nur Mike genannt wurde, war weg gezogen, weit weg. Dort gelang es ihm halbwegs, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Es war Herbst, ein angenehmer Altweibersommer und es war noch lange kein Schnee in Sicht.

„Für die Jahreszeit zu warm!“, meldete der Wetterbericht.

Sophie saß mit geschlossenen Augen auf einer Holzbank am Fluss und ließ sich die wärmende Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen. Diesen Tag, der so hektisch begonnen hatte, wollte sie in Ruhe ausklingen lassen. Sie lauschte andächtig den zwitschernden Vögeln. Neben ihr lag ein altes knallgelbes Büchlein. Sie hatte es neben einer zum Öffentlichen Bücherschrank umgebauten Telefonzelle gefunden.

Sophie hatte die Lektüre aufgehoben und mit dem Taschentuch abgewischt.

„Lysistrata“ von Aristophanes.

Titel und Autor kamen ihr irgendwie bekannt vor. Sie überlegte kurz. Nein, sie hatte vergessen, um welches Thema es ging. Daher überflog Sophie schnell die kurze Zusammenfassung.

Aha – eine Geschlechterkampf-Komödie!

Allerdings schien dieses Werk anders zu sein, als die unzähligen modernen Titel in den Buchhandlungen. Diese Variante hörte sich frisch an, obwohl sie doch uralt war.

Sophie steckte das Büchlein, sorgfältig, wie einen kostbaren Schatz, in ihre Jackentasche, um es in Ruhe unten am Fluss zu lesen. Es ging um den Kampf einiger Frauen aus Athen und Sparta gegen die Männer als Verursacher von Krieg und seinen schrecklichen Folgen. Unter der Führung von Lysistrata besetzten sie die Akropolis und verweigerten sich ihren Männern. Nach zahlreichen Verwicklungen führte der Liebesentzug in der Komödie dann tatsächlich zum Frieden.

„Wenn das so einfach wäre, gäbe es längst keine Kriege mehr. Wie naiv und romantisch!“, dachte Sophie, während sie mit ihrem Buch zum Fluss schlenderte.

Sie konnte sich später nicht daran mehr, was sie dazu veranlasst hatte, ihr Smartphone nach geraumer Zeit aus ihrer Tasche zu wühlen. Vielleicht hatte sie gehofft, irgendeine nette, liebevolle Nachricht von einem wohlgesonnenen Menschen darin zu entdecken. Dies war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich.

Dummerweise war es eine Nachricht ihres Chefs, der ihr mitteilte, dass ihr Urlaub im Dezember leider gestrichen werden musste. Auf Grund einer Gesetzesänderung erwartete die Geschäftsleitung einen höheren Auftragseingang. Das bedeutete: Urlaubssperre für die letzten Wochen des Jahres. Der Resturlaub sollte unbedingt bis zum 30. November genommen werden. Sophie hatte sich beinahe ihren kompletten Jahresurlaub für diese vierwöchige Reise nach Mexiko und Peru im Dezember aufgespart. Und darauf sollte sie nun verzichten? Für den Rest der Woche könne sie zunächst gerne ihre Überstunden abbauen.

Hätte er nicht bis morgen mit dieser Nachricht warten können?

Nun war Sophies Laune auf dem Nullpunkt angekommen und ihr Feierabend versaut.

Das Bild, das sie vorher noch von ihrem Chef hatte, der ihr einen schönen Feierabend gewünscht hatte, verwandelte sich im Nu. Wie bei diesem berühmten Kipp-Bilder: aus der Schönen wird das hässliche Biest.

Mit einer weit ausholenden Armbewegung wollte Sophie das sündhaft teure Smartphone in die Ruhr werfen. Dieses blöde Ding, das nichts als Hiobsbotschaften für sie bereit hielt!

„Mist - mein Umgang mit technischen Geräten – was sagt er über mich und meine Beziehungen aus …“

„Na, gut – wer weiß wofür es gut ist. Dann gehe ich eben in den Bunker!“ sagte sie trotzig. Seit die Kinder aus dem Haus waren, verbrachte sie mit anderen Sozialromantikern fast jede freie Minute in einem 75 Jahre alten Hochbunker, um aus dem alten, grauen Gemäuer einen Kulturbunker zu machen. Dort gab sie auch in einem gemütlich eingerichteten Raum auf der obersten Etage ein Mal in der Woche Yogaunterricht. Als Geburtstagsüberraschung hatten Freunde aus dem Verein diesen Ort der Meditation für sie renoviert. Der Boden war mit einem weichen grünen Teppichboden ausgestattet und die Decke war mit orangegelben Tüchern abgehängt. Es duftete immer nach Räucherstäbchen.

Der Koloss aus Stahl und Beton gehörte einem Kletterverein. Die Außenwände waren mit kunterbunten Klettergriffen übersät. Nur das geübte Auge erkannte Routen, die bis nach oben auf das flache Dach führten. Sophie war erstaunt, wie beliebt dieser alpine Sport hier im Ruhrgebiet war. Bei gutem Wetter war die Anlage immer sehr gut besucht. Man konnte glatt vergessen, weshalb diese meterdicken Mauern damals aus dem Boden gestampft wurden.

Sophie drosch enttäuscht mit der Faust auf den Baumstamm. Doch der körperliche Schmerz hatte keine Chance. Er konnte den verletzten Teil in ihr nicht überlagern und zum Schweigen bringen.

„Wo der Geist ist, ist die Energie … verdammt – ändere deine Gedanken!“ befahl sie sich ungeduldig.

„Ändere sie und du wirst dir selbst das Glück erschaffen, das du möchtest. Versuche es jetzt, gleich sofort! Ich weiß, dass du das kannst.“

Sophie schlich mit hängenden Schultern und gesenktem Blick langsam weiter.

„Hör auf so grimmig zu glotzen!“ Schimpfte sie laut vor sich hin. „Wenn du so grimmig glotzt, musst du dich nicht wundern, dass du so miese Laune hast. Akzeptiere endlich, dass es Dinge gibt, die du nicht ändern kannst.“ Sie hatte sich so sehr auf die Reise nach Mittel- und Südamerika gefreut! Und sie fühlte sich so urlaubsreif. Sophie seufzte und setzte nach. „Eine ganz, ganz tolle Yogalehrerin bist du! Wie glaubwürdig ist dein Geschwafel eigentlich, wenn du es selber nicht umsetzen kannst. Du scheinst von deinen eigenen Worten nicht wirklich überzeugt zu sein, wenn es wirklich darauf ankommt!“

Wieso, wieso, wieso immer ich?

Resigniert glitt sie auf die regennasse Bank.

„Lass‘ es einfach geschehen – du wirst es nicht ändern und du kannst es auch nicht ändern! Was genau mache ich eigentlich immer falsch? Was habe ich noch immer nicht kapiert?“

„Hallo Sophie, meditierst du?“ Sophie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nur stur geradeaus auf das Wasser gestarrt hatte und gar nicht mitbekommen hatte, dass ihre Freundin Vera von links mit dem Fahrrad angebraust kam. Mit geröteten Wangen und zerzausten Haaren sprang Vera vom Rad. Sie lehnte es an einen Baum und ging mit ausgebreiteten Armen auf Sophie zu.

Sophie erhob sich schnell, um sie zu umarmen.

„Du wirkst absolut tiefenentspannt!“

Ach, wenn Vera wüsste …

Was nützte denn der ganze Groll? Sie nahm sich mal wieder selbst viel zu wichtig.

„Hast du Lust auf eine Tasse Tee bei mir zu Hause?“

Veras gute Laune übertrug sich allmählich auf Sophie.

„Sehr gerne! Ich wollte jetzt gerade auch nach Hause gehen.“

Vera war beinahe 20 Jahre jünger als Sophie. Obwohl die beiden Frauen so unterschiedlich wie Tag und Nacht waren, verband sie eine tiefe, herzliche Freundschaft.

Vera schob ihr Fahrrad lässig mit der rechten Hand neben sich her. „Schau mal, der große schwarze Fleck ist immer noch da“, sagte Sophie, als sie am Wanderparkplatz vorbei kamen.

„Ja, und es ist mir noch immer unbegreiflich, wie man so blöd sein kann, mit brennenden Spiritus-Rechauds im Kofferraum Auto zu fahren. Der Mann vom Partyservice stand wohl ziemlich unter Zeitdruck.“

In einer lauen Sommernacht war gegen 23 Uhr innerhalb kürzester Zeit ein Auto an dieser Stelle in Flammen aufgegangen. Auf dem Asphalt war noch immer die große Brandspur zu sehen. Sophie und Vera machten einen ihrer gemeinsamen Nachtspaziergänge, als sie schon von weitem die Flammen, den Rauch und den Gestank geschmolzenen Gummis bemerkten. Kein Fahrer war weit und breit zu sehen. Die Autokennzeichen fehlten, Fahrgestell-Nummer und Motornummer waren unkenntlich gemacht und brauchbare Fingerabdrücke gab es auch nicht. Das ausgebrannte Wrack konnte somit keinem Halter zugeordnet werden. Die verkohlten Brötchen ließen auch keinerlei Rückschlüsse auf irgendeinen bestimmten Bäcker zu, den man hätte fragen können.

Die Brandursache waren offensichtlich die brennenden Spiritus-Rechauds, die die Nudeln, das Gemüse und das Fleisch auch während der Fahrt warm halten sollten. Nachdem die Ermittlungen nach möglichen Feiern in der Umgebung, die kein bestelltes Essen erhalten hatten, keine Ergebnisse brachten, wurde das Verfahren eingestellt.

„Seltsam“, meinte Sophie nachdenklich, „manchmal glaube ich, dass mit diesem mysteriösen Auto alles angefangen hat. Seither passieren Dinge, die vorher noch nie hier passiert sind. Verbrechen passieren immer anderswo, nie vor der eigenen Haustür.“

„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Du siehst Zusammenhänge, wo gar keine sind. Hier wird bestimmt auch wieder bald Ruhe einkehren! Wir geben unser Bestes“, sagte Vera und legte ihrer Freundin beschwichtigend den linken Arm um die Taille.

„Erzähl mir lieber, wie denn dein neuer Nachbar so ist!“ sagte sie, um sie vom Thema abzulenken.

„Keine Ahnung ... er hat sich bei mir noch nicht vorgestellt. Hast du ihn schon gesehen? Wie sieht er denn aus?“

„Interessanter Typ – grau meliert, fährt immer sehr früh morgens mit seinem Porsche los …“

„Dann weiß die neugierige kleine Polizistin ja schon mal wieder viel mehr als ich! Du solltest dich lieber um deine Frauenleichen kümmern, als um quicklebendige Männer! Zwei Tote innerhalb eines Monats sind schon ungewöhnlich, findest du nicht?“

Vera blickte sie ernst an und nickte leicht.

Sie waren bei ihr zu Hause angekommen. Vera stellte das Fahrrad in die Garage, bevor die beiden in die kleine Dachgeschosswohnung im vierten Stock stiegen. Auf dem Küchentisch stand eine große Blechdose, die Vera geschickt öffnete. Sofort strömte ein feiner Hafer-Karamell-Duft in Sophies Nase, während Vera sich um den Tee kümmerte.

„Haferplätzchen – greif‘ zu …“

Wieso konnte das Leben nicht nur aus Haferplätzchen und Tee bestehen? Nach dem dritten Keks seufzte Sophie und wiederholte:

„Zwei tote Frauen innerhalb von vier Wochen … und das auch noch genau hier, praktisch direkt vor deiner Nase!“

Vera legte ihr angebissenes Haferplätzchen, auf ihre Serviette und sagte beschwichtigend:

„Glaub‘ mir, wir tun alles, was in unserer Macht steht. Mehr darf ich dir dazu, wie immer, nicht sagen, Süße!“

„Da bin ich ja nun überhaupt nicht beruhigt. Man erfährt ja aber auch gar nichts: wie wurden sie ermordet, war es derselbe Täter …?“ bettelte Sophie.

„Du schaust zu viele Krimis.“

„Mag ja sein … aber, ganz ehrlich Vera, wie soll ich mich denn verhalten, wenn zum Beispiel ich morgen diesem Monster begegnen würde? Wenn ich wüsste, wie der tickt, was der plant und vorhat, könnte ich mich vorbereiten, gewisse Orte meiden. Dann müsste ich auch nicht mehr hinter jedem Busch Gefahr wittern. Oder jedem mit Misstrauen begegnen. Da wohnt doch dieser komische Typ in dem alten einbruchgefährdeten Häuschen. Kürzlich habe ich ihn dabei erwischt, wie der seinen Müll in unseren Mülleimer gestopft hat. Sieht der nicht furchterregend aus, dieser komische Kerl? Er könnte doch ….“

„Sophie, beruhige dich, der alte Hansen ist harmlos. Er ist kauzig, aber harmlos …“

Vera blickte ernst, beinahe streng. „Sei bitte immer vorsichtig, vertrau‘ deinem gesunden Menschenverstand und sei immer auf das Schlimmste vorbereitet.“

Sie hatte keinen besseren Rat für ihre Freundin. Die Opfer gaben so viele Rätsel auf. Wahrscheinlich hatten sie überhaupt keine Zeit und keinerlei Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Sie wurden von ihrem Mörder eiskalt erwischt. Auch das dritte Opfer nicht, das erst gestern von Spaziergängern im Wald entdeckt worden war. Alle drei waren auf bestialische Art zugerichtet. Es fehlten verschiedene Organe und Körperteile.

Und heute war dann auch noch ein viertes Opfer aufgetaucht.

Ein Mitarbeiter eines Museums hatte sie heute, kurz vor zwölf, ganz aufgeregt angerufen. Vera hatte sich gerade Gedanken über ihr Mittagessen gemacht, als das Telefon schrillte und sie aus ihren kulinarischen Überlegungen jäh herausgerissen hatte.

„Hier ist Gregor!“ meldete sich eine aufgeregte Männerstimme und Vera brauchte nur einen kurzen Moment, um ihn als den zuvorkommenden jungen Mann aus dem Museum wieder zu erkennen. Sie hatte ihm vor wenigen Tagen ihre Visitenkarte gegeben. Er solle sich melden, falls er etwas Auffälliges beobachten würde, hatte sie ihm gesagt und ihm dabei lächelnd ganz tief in die Augen geschaut. Offensichtlich hatte er nun etwas Verdächtiges bei einer seiner Vorführungen mit der Camera Obscura entdeckt. Seine Stimme, die sich beinahe überschlug, verriet ihr den Grund seines Anrufs. Vera vergaß ihren Appetit und notierte sich aufmerksam Gregors Bericht. Sein Arbeitsplatz, das Museum, befand sich in einem ehemaligen Wasserturm. In der Kuppel des historischen Gebäudes befindet sich eine begehbare Camera Obscura. Diese Camera Obscura projiziert gestochen scharfe Bilder von draußen in den dunklen Raum auf den Projektionstisch. Vera besuchte regelmäßig mit Sophie die Ausstellungen im Museum und sie dachte kurz an ihren letzten Besuch, bei dem Sophie beinahe die Treppe hinunter gefallen wäre, wenn Gregor sie nicht fest gehalten hätte. Gregor schilderte kurz und knapp den Grund seines Anrufs und bat Vera darum, seinen Verdacht umgehend zu überprüfen. Er hatte heute Vormittag aufgeweckten, neugierigen Grundschulkindern einen spektakulären Rundumblick auf ihre Heimatstadt gezeigt. Ein wolkenloser Himmel und strahlender Sonnenschein ermöglichten einen besonders guten Panoramablick und die Livebilder von einer Katze auf Mäusejagd sorgten für großen Spaß. Die Kinder wurden immer ausgelassener und waren kaum noch zu bändigen. Gregor lenkte die Rasselbande ab, indem er langsam auf die Suche nach einem neuen interessanten Objekt ging.

Plötzlich rief ein Junge, der die ganze Zeit auffallend still gewesen war: „Schau mal – da!“ und deutete auf einen dunkeln Fleck, der vor ihm, am äußersten Bildrand, zu sehen war. Gregor wollte dem Kind, wie gewohnt, eine Freude machen und das undefinierbare Etwas, das das Interesse des Jungen geweckt hatte, für alle näher heranzoomen. Doch sein geübter Blick hatte im Bruchteil einer Sekunde realisiert, dass dieser Anblick ganz und gar nicht für Kinderaugen bestimmt war. Schnell ließ er den Fleck ganz verschwinden und die Mäusejagd stand wieder im Focus. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte auch er sich diesen verstümmelten Torso in der Nähe des Schrottplatzes nicht unbedingt genauer anschauen.

Dafür war er definitiv nicht zuständig.

„Finn-Lukas, komm‘ sofort da runter!“ Ein Junge hatte sich von der Gruppe entfernt und turnte auf den Sitzen herum. Die Lehrerin war zum Glück abgelenkt gewesen und hatte, wie beinahe alle Kinder, nichts gesehen.

Ohne Zweifel hatte das Monster schon wieder zugeschlagen.

Als die quirlige Schulklasse gegangen war, wählte er hastig Veras Nummer.

„Gesunder Menschenverstand – als ob ich den noch hätte in dieser Welt. Was würdest du denn tun, Vera? Ihm in die Eier treten? Kämpfen? Wie soll ich mich denn vorbereiten auf diese wilde Bestie, die da draußen frei umher spaziert? Ich kann doch nicht nur noch zu Hause bleiben!“

Bei diesen schrecklichen Mordfällen, die die Polizei so sehr in Atem hielt, gab es jede Menge Ungereimtheiten: vieles wies auf einen Täter hin und doch sprach einiges dagegen.

Jede Antwort wirbelte eine Fülle neuer Fragen auf. Und nichts, aber auch gar nichts durfte an die Öffentlichkeit dringen, um eine Massenhysterie zu vermeiden.

„Schluss jetzt“, sagte Vera energisch, „mein Chef hat mir morgen frei gegeben, damit ich mich mal wieder ordentlich ausschlafen und meinen Akku wieder aufladen kann!“

Sophie blickte zur Uhr: „Was für ein Zufall – ich habe sogar bis Freitag frei. Aber das ist eine andere Geschichte … Du hast recht! Wieso soll ausgerechnet ich diesem Meuchelmörder über den Weg laufen?“

„Ja, warum ausgerechnet du? Der würde Angst vor die bekommen und schreiend vor dir weglaufen, bei deinem Knoblauchkonsum!“

„Dumme Kuh!“

Sie lachten und machten sich erneut über die Plätzchen her.

„Und was hast du denn heute noch Schönes vor an deinem freien Abend? Lass mich raten – du hast ein Date mit einem Unbekannten!“

„Ach ja, genau – beinahe hätte ich diesen Eberhard vergessen. Wir treffen uns um halb sieben zum Essen beim Italiener. Wartest du bitte kurz, ich zieh mich schnell um.“

„Na klar …!“ In dieser Zeit konnte sie schnell nachschauen, ob ihr Chef sich erneut gemeldet hatte, um ihr mitzuteilen, dass er es sich anders überlegt hat und sich nur einen geschmacklosen Witz erlaubt hatte. Sophie glaubte nicht wirklich daran. Jede Menge Nachrichten waren eingegangen. Darunter kam keine aus dem Büro. Sie hatte noch nicht mal die Hälfte gesichtet, als warme, weiche Hände ihre Augen zuhielten.

Sie konnte die angenehme Wärme von Veras Körper spüren.

„Überraschung!“

„Hey!“ knurrte Sophie und rutschte reflexartig vom Stuhl, um sich aus Veras Händen zu lösen. Mit einem Ruck drehte sie sich um.

Ihre Freundin sah sehr verführerisch aus in ihrem kurzen, roten Kleid.

Ihre noch kürzeren schwarzen Haare betonten ihre klassisch schöne Kopfform. Sie sah aus wie ein zu klein geratenes Top Model, nicht wie eine Polizistin auf Verbrecherjagd.

„Whow!“ hauchte Sophie und Vera kicherte zufrieden. Dann musterte sie Sophie aufmerksam und bemerkte, dass ihre Freundin beinahe so verwaschen wirkte, wie die alte Jeans, die sie trug.

„Du solltest dich auch mal wieder mit jemandem verabreden. Dann bekommst du zumindest mal wieder was Ordentliches zwischen die Zähne. Vorher gehen wir allerdings shoppen.“

„Die Jagd auf Männer überlasse ich dir. Dafür bin ich zu alt – ich lege mich lieber auf die Couch vor dem Fernseher und knabbere Chips. Du kannst nach deinem Date übrigens, wie immer, bis spätestens zehn Uhr noch zu mir kommen und mir Bericht erstatten – bei Bedarf“.

„Falls es allerdings ….“

„Na klar, dann sollt ihr natürlich den Abend ganz für euch alleine haben. Viel Spaß, kleine Hexe!“ flüsterte Sophie Vera ins Ohr, als sie ihre Freundin zum Abschied herzlich umarmte.

Echo

Echo ist in der griechischen Mythologie der Name einer Bergnymphe, wohnhaft in Grotten, Wäldern und Bergen.

Nymphen sind mystische Wesen und können Hexe und Fee zugleich sein.

Nach dieser Bergnymphe ist das bekannte Phänomen des Echos benannt.

Es entsteht, wenn Reflexionen einer Schallwelle so stark verzögert sind, dass man diesen Schall separat wahrnehmen kann – zum Beispiel an Felswänden.

Echos werden vom Gehör genutzt, um Raumgrößen und Entfernungen zu schätzen. Sophie hatte davon gehört, doch sie konnte es nie so richtig verstehen. Sie war ja keine Fledermaus. Nach dem Tod von Max im Meer verbrachte sie ihre Urlaube nur noch in den Bergen.

Manchmal musste sie dann ganz laut schreien und freute sich, wenn sie ein Echo bekam. Raum, Zeit und Entfernung spielten dabei für sie keine Rolle mehr. Nur die verlässliche Antwort auf ihren Hilfeschrei zählte. Dann wusste sie, dass sie sich wieder etwas weiter von ihrem Schmerz entfernt hatte.

Damit Göttervater Zeus Zeit für seine Schäferstündchen hatte, unterhielt die Nymphe Echo dessen Gattin mit dem Erzählen von Geschichten. Als die betrogene Gattin das Spiel durchschaute, verhexte sie Echo zur Strafe. Die arme Nymphe konnte von nun an nicht mehr sprechen, sondern nur noch die letzten an sie gerichteten Worte wiederholen.

Als ob das nicht schon schlimm genug wäre. Nein, Echo verliebte sich auch noch in den schönen Jüngling Narziss, der ihre Liebe jedoch nicht erwiderte.

Echo war darüber so traurig und gedemütigt, dass sie sich in einer Höhle versteckte, keine Nahrung mehr zu sich nahm und schließlich verkümmerte, bis sie nur noch Stimme war. Ihre Knochen wurden zu den Felsen, die das Echo zurückwerfen, und zugleich das Aussehen einer wunderschönen jungen Frau haben.

Narziss, dieser Dummkopf, wurde später von einer Rachegöttin damit bestraft, dass er sich hoffnungslos in sein schönes Spiegelbild verliebte.

Es war noch früh am Abend und Sophie wollte noch nicht nach Hause gehen. Sie wollte nach dem Ärger über das Büro und dem Gespräch mit Vera noch einen kleinen Spaziergang am Fluss machen.

Es dämmerte bereits leicht.

Noch immer waren zahlreiche Sportler unterwegs in den Ruhrauen.

Auf der Ruhr dümpelte ein Schlauchboot. Zwei Angler hatten es sich darin gemütlich gemacht, tranken Bier und unterhielten sich. Sie schienen es nicht eilig zu haben. Vielleicht wollten sie ja auch in der Dunkelheit weiter angeln oder einfach nur weg von zu Hause sein.

Der Wind stand so, dass Sophie ihr lautstarkes Gespräch mithören konnte. Sie stritten und unterhielten sich in bekannter Ruhrgebietsmanier. Plötzlich hörte Sophie ein lautes:

„Hey – wat is dat denn?“

Die Frage schallte durch das Ruhrtal und warf ein schallendes Echo zurück.

„Dat denn, dat denn …?“

Zwei Jogger hatten ihre Geschwindigkeit gedrosselt und neugierig ihre Köpfe gedreht. Auch sie schienen etwas hinter dem Busch entdeckt zu haben.

„Was’n los, Kalle?“

„Jetzt schau doch nur – da vorne!“ Kalle, der mit den offensichtlich schärferen Augen, war ruckartig aufgestanden und deutete ans Ufer.

Das Schlauchboot wackelte bedenklich

„Idiot – du bringst ja unser Boot zum kentern. Bleib‘ doch sitzen, du Hornochse!“

„Siehste dat denn nich‘? Da liegt wat, wat da nich‘ hingehört. Dat is‘ kein Müll!“

Nun sprang auch der andere auf und die beiden landeten beinahe im Wasser. Die beiden Jogger waren stehen geblieben und näherten sich neugierig dem Busch.

„Seht euch das mal an!“

Kalle streckte die Hand aus.

Sophie konnte nun von ihrer Bank aus nichts mehr sehen. Die Männer verstellten ihr die Sicht.

Es war beängstigend leise geworden. Sophie hielt den Atem an. Um sie herum war es totenstill, nur ihr eigener Puls drohte ihre Ohren zum Bersten zu bringen.

Während die beiden Jogger und Kalle in die Knie gegangen waren und an irgendetwas zogen, blieb der zweite Angler wie angewurzelt stehen und betrachtete sich das Ganze von oben.

Kein Wort drang herüber. Es herrschte entsetztes Schweigen. Dann entstand lebhafter Aktionismus. Ein Marathonläufer informierte lautstark die Polizei, die kurze Zeit später auch schon zu hören war.

Sophie erhob sich und machte sich schleunigst auf den Heimweg. Sie hatte genug gesehen und gehört und verspürte absolut keine Lust darauf, in der Dunkelheit alleine nach Hause zu gehen. Nicht nach dieser Welle des Entsetzens, die zu ihr herüber geschwappt war.

Oh nein! Das war ganz bestimmt nichts für ihre schwachen Nerven.