Herabschauender Tod - Helmut Ziegler - E-Book

Herabschauender Tod E-Book

Helmut Ziegler

0,0

Beschreibung

Der spannendste Roman zum Thema Entspannung! Wegen seiner Rückenschmerzen soll Werbetexter Hendrik Scharf mit Yoga beginnen. Sein Start in die Kunst der Verrenkung und Versenkung ist ungelenk und kein Spaß, außer für alle anderen Kursteilnehmerinnen. Lediglich Kato, die schöne Yoga-Lehrerin und ehemalige Kriminalpsychologin, bleibt gelassen. Plötzlich aber taucht ein bewaffneter Attentäter auf und alles ist anders: Statt Schweiß fließt Blut, viel Blut. Der Osten ist plötzlich im Westen. Und Kato und Scharf müssen sich auf eine riskante Reise begeben - zur düsteren Seite der Spiritualität ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 434

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vom selben Autor

Peng, der Penguin

Die schönsten-Filmweisheiten

Die Rückkehr der schönsten Film-Weisheiten

Peng – Weihnacht am Vulkan

Die Rache der schönsten Film-Weisheiten

Brüste – das Buch

Inhaltsverzeichnis

Vom selben Autor

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zwischenspiel: Das Manifest des Attentäters

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zwischenspiel: Der Brief der Schulpsychologin

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Zwischenspiel: Katos indisches Tagebuch

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil II

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Zwischenspiel: Widerspruch gegen die „unehrenhafte“ Entlassung

Kapitel 26

Zwischenspiel: Zwei Briefe von Hendrik Scharf

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Zwischenspiel: Drei Meldungen, zwei Anleitungen

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil III

Kapitel 36

Kapitel 37

Zwischenspiel: Kowalewskis Hymne auf das Böse

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Zwischenspiel: Elams kurzer Vortrag zur Angst (Redigiert)

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Zwischenspiel: Scharfs Grabrede

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Epilog

Namasté

Prolog

Wie viel Blut er verloren hat, weiß er nicht. Auch nicht, wie lange er im Wasser bleiben kann, ohne auszukühlen. In die dürftig verbundene Risswunde an seinem linken Bein, zu aufgeweicht, um sich zu schließen, spült der Ozean stetig Bakterien.

Sicher ist nur, seine Kraft wird erlahmen. Schon jetzt kommen ihm seine Bewegungen steif vor, Finger- und Zehenspitzen fühlen sich taub an. Als zöge sich das Blut in den Körper zurück, um die lebenswichtigen Organe zu schützen.

Noch immer ist es dunkel. Sein Zeitgefühl hat er verloren, er muss seit Stunden im Meer treiben. Die hauchdünne Sichel des Neumondes ist nicht zu sehen, und die Wolken hängen tief, als könnten sie auch nicht mehr. Um ihn herum Wellen, wölbende, ziehende, sich überschlagende Wellen.

Er müsste weit genug hinausgeschwommen sein. Das Licht der Stablampe reicht nicht so weit. Man kann ihn nicht aufspüren, nicht auf ihn schießen. Hoffentlich.

Mehr Sorgen als sein Körper macht ihm sein Geist. Der springt wild hin und her: Kämpfe, ruft er in der einen Sekunde, gib nicht auf! Ach, kontert er sofort, die Welt dreht sich auch ohne Dich, wen kümmert es, wenn der Meeresboden Deine Knochen poliert? Um dann erneut umzuschalten und zu abstrahieren, als könne sein Hirn das Unvermeidliche aufschieben. Wer bist Du, kommt ihm ein altes, zuletzt oft gehörtes Kōan in den Sinn, wer bist Du, wenn niemand zuschaut?

Er versucht, sich mit gleichmäßigen Armzügen und Beinschlägen abzulenken, die Atmung zu beruhigen. Lässt sich als toter Mann an der Oberfläche treiben, obwohl manche Welle über seinen Kopf läuft und ihn aus dem Rhythmus bringt.

Aber alles hilft nicht gegen die Ebbe, mit der er nicht gerechnet hatte. Unerbittlich zieht ihn der Atlantik raus, ohne Mitspracherecht.

Panik ersetzt nun Kontrolle. Sein Hals wird eng, die Arme rudern unkoordiniert. Da ist Todesangst, nichts sonst.

Er zwingt sich, wassertretend beide Hände vor den Mund zu halten, ausgeatmete Luft wieder einzuatmen. In seiner Nase ein Geruch nach Tier. Nach einem Tier, das weiß, es stirbt. Aber sein Atem verlangsamt sich.

Dafür krampft sein verletztes Bein.

Er sackt einfach ab. Wasser fließt in Nase und Mund, er würgt, muss schlucken.

Ein hektischer Schlag mit dem gesunden Bein bringt ihn kurz wieder zur Oberfläche, gurgelnd spuckt er aus. Knochenhart stößt etwas gegen seine Schläfe, im Reflex schlägt er mit der Faust danach. Sein Handballen wird dabei aufgeschlitzt, ein gleißender Schmerz, als stecke seine Hand in einem Schraubstock, der immer fester zugedreht wird.

Wieder sinkt er.

Sehr langsam, fast schwebend.

Aber er sinkt.

Er sieht die helleren Schlieren der Luftblasen an der Oberfläche, die sich um sein Handgelenk verteilen. Den Arm sieht er doppelt. Darüber zwei verzerrte Fäuste mit je vier Fingern, aus denen Blut rinnt, als würden sie schmelzen.

Er erreicht die Oberfläche nicht.

Erschöpft wie nie denkt er an zwei Sätze, die während einer Trauerfeier gesagt wurden.

Wir alle müssen sterben.

Niemand stirbt wie Du.

Er würde gern die Augen schließen, bitte. Dann muss er ausatmen.

Teil I

»Das Glück ist arm an Phantasie, sein Repertoire ist ziemlich klein. Das Unglück aber – ein Genie, ihm fällt stets etwas Neues ein.«

Mascha Kaléko

1

Hendrik Scharf kannte die Abkürzung nicht.

»L4 L5«, sagte der Notarzt. Nachdem er in seinem Koffer die passende Ampulle gefunden hatte, zog er auf Knien Einweghandschuhe über, entfernte das Zellophan der Spritze, durchstach den Gummistopfen. »Der Klassiker, Herr Scharf.«

Dass seine ausgehärtete Rückenmuskulatur zur selben Kategorie zählte wie die Mona Lisa, das konnte sich Scharf zwar nicht vorstellen, angesichts der Hilfeschreie seines Körpers war es ihm aber auch egal. Der Schmerz hatte ihn gestürmt wie eine Spezialeinheit. Direkt nach dem Staubsaugen – eine Peinlichkeit, auf ewig zu verschweigen.

Als er sich zur Entspannung hinlegen wollte, blieben nur zwei Möglichkeiten: ausgestreckt oder Embryonalstellung. Der Wechsel zwischen beiden gelang nicht mehr. Darüber hinaus war der Schmerz neu. Kein aufgeschlagenes Knie, kein gebrochener Arm, kein Faustschlag in den Magen, das kannte er. Dieser hier glühte graurot.

Irgendwann schlief er erschöpft ein.

Als er erwachte, war es dunkel, nur der Schmerz glühte nach wie vor. Scharf robbte zu seinem Smartphone.

»In einer halben Stunde ist der Notarzt da«, versprach der medizinische Bereitschaftsdienst.

»Dann gehe ich mal zur Tür.«

Die Stimme lachte leise.

Dabei hatte er gar keinen Witz machen wollen. In Zeitlupe schleppte er sich zum Türrahmen, krallte sich fest, stemmte sich hoch. Jeder Zentimeter riss an seinem Rückgrat.

Endlich stand er – mit pumpendem Herz, tränenden Augen und krumm wie in einer früheren Stufe der Evolution. Tapste so steif wie schweißbedeckt durch den Flur zur Wohnungstür. Sekunden später klingelte es.

Und nun lag er hilflos auf dem Bauch, ließ zu, dass seine Unterhose ein Stück tiefer gezogen und eine Spritze eng neben dem Rückenmark in sein Fleisch gedrückt wurde. Der kleine Schmerz lenkte den großen ab, versprach, alles würde besser werden. Vielleicht sogar gut. Für einen Moment wurde ihm weiß vor Augen.

»Der nächste Orthopäde ist um die Ecke, in der Uferstraße«, sagte der Notarzt und ließ die Verschlüsse seiner Tasche einrasten. »Die Praxis öffnet um acht, bis dahin sollte das Schmerzmittel wirken.« In einer fließenden Bewegung federte er mühelos in die Höhe. »Bleiben Sie liegen, ich finde allein raus.«

Wenige Meter von der Praxis entfernt, während eisiger Wind Regen von der Seite reinreichte, wurde Scharf von einer alten Frau überholt. Die Rücklichter ihres Rollators versetzten ihn mit einem Schlag zu breiten Türen, orange gestrichenen Wänden, überheizter Luft und das Odeur jener Frau, die nach der Blasen-OP ihren Beckenboden trainieren sollte, was nicht immer gelang.

Während seines Zivildienstes auf der Geriatrischen dosierte er Pillen in Plastikboxen, leitete Hocker-Gymnastik, wärmte Fertiggerichte auf. Freute sich, wenn er aktivieren konnte, war genervt von denen, die aufgaben. Als sein Gedächtnis bei jenem Alten ankam, der nach einem Hirninfarkt lernen musste, Messer und Gabel zu benutzen, ohne sich ins Auge zu stechen, blieb er stehen, wischte sich Feuchtigkeit aus dem Gesicht.

Würde er jetzt auch so pergamenten? War er schon ein Gespenst, einsam, unbelebt? Und wollte er das wissen? Zu oft hatte er erlebt, dass geistige Klarheit nicht in jedem Fall zu feiern war. Andererseits war er froh, dass sich diese Erinnerung aufdrängte.

Nicht die andere. Nicht die, die er unbedingt verdrängen wollte.

Als neuer Patient musste er ewig warten. Die Sitzposition alle zwei Minuten verändernd, googelte er Orthopäden-Witze. Stehen ein guter und ein schlechter Orthopäde gleich weit von einem Topf Gold entfernt. Der Startschuss ertönt. Frage: Wer gewinnt? Antwort: Es gibt keine guten Orthopäden.

Irgendwann steckte man ihn in eine Kammer mit einer Rotlichtlampe. Deren Wärme sollte die Durchblutung fördern und Verspannungen lösen. Zwanzig Minuten später kehrte mit der Kälte auch der Schmerz in den Ring zurück und schlug die Fäuste zusammen, weil diese Runde an ihn ging.

»Können Sie aufrecht stehen?«, fragte die Röntgen-Assistentin. Scharf wollte lachen, doch aus ihm kam ein klägliches Geräusch, ein Auauau.

»Iliosakralgelenk«, sagte der Orthopäde eine Stunde später und zeigte mit seinem Finger auf eine Stelle des Röntgenbildes.

»Der Klassiker?«, fragte Scharf. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.

»So schön«, antwortete der Arzt, »dass er als zeitlos gilt, würde ich ihren Rücken nicht einstufen.« Er legte das Bild auf die mit Papier bezogene Liege, griff nach seiner Aktentasche und holte eine Plastikdose hervor, aus der er eine Klappstulle nahm. Irgendein Rotschmiere-Käse, Tilsiter vermutlich. Biss ab. »Keine Mittagspause«, sagte er mit vollem Mund. Kaute, schluckte, atmete aus und sagte übergangslos in die Ammoniak-Wolke: »Bei Spinalkanalstenose empfehle ich Thermoläsion.«

Scharf zuckte zusammen. »Eine OP?«

»Ich führe einen Katheder in Ihre Bandscheibe. Der Schlauch wird erhitzt, das Gewebe verschmurgelt, schrumpft und entlastet so die Wirbelsäule. Unter Röntgenbeobachtung natürlich.«

Bei dem Wort Röntgenbeobachtung flogen Graubrotkrümel aus dem Mund und landeten auf dem weißen Kittel. Der, wie Scharf bemerkte, so weiß nicht war.

Er sagte am Empfang, er würde sich melden und dachte, die Krankschreibung in der Hand: Es gibt keine guten Orthopäden.

»Lendenwirbelsyndrom«, sagte die Osteopathin, die eingeholte zweite Meinung. Sie hatte Scharf vom Nacken bis zu den Fersen abgetastet und einen Blick auf das Röntgenbild geworfen. »Dazu muss ich kurz ausholen.«

In ihrer Praxis gab es weder Plastikhandschuhe noch Ultraschallgeräte, nur Plakate des menschlichen Körpers und des Knochenskeletts. An ihnen erklärte sie, dass sich Beschwerden der Wirbelsäule in dem komplexen System aus Muskeln, Gelenken und Bändern selten auf eindeutige Ursachen zurückführen lassen. »Wann haben Sie die Schmerzen zum ersten Mal gespürt?«

Scharf zögerte. Dann gestand er das Staubsaugen doch nicht. »Beim Transport einer Waschmaschine.«

Die Osteopathin nickte verständnisvoll. Erläuterte, dass überforderte Muskeln eine eigentlich sinnvolle Schonhaltung annehmen, dafür dann jene krampfen, die ungewohnt viel arbeiten müssten. Daraus resultierende Gewebespannungen schränkten die Beweglichkeit weiter ein. Fragte dann: »Spüren Sie Ihre Füße?«

»Klar.«

»Keine Taubheit, kein Kribbeln in den Beinen?«

»Nein, wieso?«

»Dann ist kein Nerv eingeklemmt. Schon mal gut. Was machen Sie beruflich?«

»Werbetexter.«

»Klingt nach langem Sitzen vor dem Computer.«

Er nickte.

»Nach Terminstress und entfremdeter Arbeit.«

Er nickte wieder. »Aber ich bin oft an Geräten.«

»Sieht man. Gut definierte Muskulatur.«

»Danke.«

»Nutzt aber bloß dem Spiegel, nicht der Haltung.«

Sie befahl Scharf auf ihre Liege. Ächzend wälzte er sich in Bauchlage. Minutenlang knetete sie sanft im unteren Rücken, zog die Arme nacheinander hoch, bis er stöhnte, und an jedem einzelnen Finger.

»Chronischer Rückenschmerz«, sagte sie, »hat oft mehr mit der Psyche zu tun als mit der Wirbelsäule selbst. Frust, Stress, Wut speist man ja in den eigenen Gefühlshaushalt ein. Sind Sie Perfektionist?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ja oder nein?« Sie zog an jedem einzelnen Zeh.

»Na, ja. Ich will das, was ich mache, schon so gut wie möglich machen. Gelingt nur nicht oft.« Scharf scheuchte die eine Geschichte aus seinem Kopf, als es überhaupt nicht gelungen war.

Die Osteopathin lachte. »Perfekte Beschreibung eines Perfektionisten. Es gibt Begriffe für diese Einstellung: hartnäckig etwa. Oder halsstarrig. Sie arbeiten doch mit Sprache, merken Sie was? Prüfen Sie mal, ob sie Angst davor haben, sich gerade zu machen? Sitzt Ihnen jemand im Nacken? Haben Sie Angst vor einem Hinterhalt? Das knackt jetzt.«

Sie hockte sich über ihn, zog die rechte Hand dehnend Richtung linkes Schulterblatt und drückte dabei mit ihren Knien die Oberschenkel auseinander. Er hatte Angst vor zusätzlichen Schmerzen, irgendetwas knackte, aber da kam nichts nach.

»Perfektionismus ist gut geeignet für Abwärtsspiralen. Man muss die Latte ja jedes Mal höher legen. Die Gefahr, sie zu reißen, steigt. Die Neigung, dann härter mit sich ins Gericht zu gehen, ebenfalls.

Hoher Anspruch, Druck, Scheitern, zertrümmerter Rückhalt des Selbst – erkennen Sie das Muster?«

Etwas anderes knackte. Der Schmerz öffnete die Tür und ließ die Erleichterung hinein, die draußen lange ausgeharrt hatte.

»Ich rate zur konservativen Behandlung«, sagte die Osteopathin. »Massagen und Analgetika, damit das Schmerzgedächtnis schnell vergisst. Bloß keine OP, das kriegt man so hin. Stellen Sie sich noch mal gerade hin.« Sie ging um ihn herum, justierte seine Haltung, ließ ihn sanft auf der Stelle traben. »Und dann beginnen Sie mit Yoga.«

»Gymnastik?«, fragte Scharf. »Ernsthaft jetze? Warum nicht gleich angeln?«

Sie lachte fröhlich auf. »Angeln ist eine der wenigen Therapien, die auch sättigt. Im Ernst: Sie entscheiden, was Ihr Gehirn aus dieser Situation macht. Nicht nur der Körper benötigt Entspannung, auch die Seele, Herr Scharf.«

Ihre Stimme klang gelassen, dabei so unumstößlich, als verkünde sie eine uralte Weisheit vom Gipfel eines schneebedeckten Achttausenders. Scharf fragte sich, wie sie diese Autorität erlangt hatte. So etwas bräuchte er für Präsentationen.

»Stammen Sie aus der DDR?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie sind nett.«

Die Osteopathin lächelte. »Charmeur. Sie auch?«

Er schüttelte den Kopf. Dabei hatte sie sicher Zugang zu seiner Patientenakte. Warum log er sie zum zweiten Mal an?

Sie gab ihm die Hand. »Trotzdem: Yoga!«

»Verstehe«, sagte er.

Mal sehen, dachte er.

2

Die Selbstdarstellung des Institut Inmir klang schlaff. Die Website versprach »Körper, Geist und Seele zu erfrischen«, die »Entwicklung des Einzelnen zu fördern« und »seit über dreißig Jahren indische Yoga-Wissenschaft mit westlicher Psychologie zu verbinden«.

Es heißt mehr als, nicht über, dachte Scharf. Trotzdem buchte er den Anfängerkurs, zehn Stunden à neunzig Minuten.

Der Weg war nicht weit, das Studio lag in einem Hinterhof, ein Stockwerk über einer Kampfsportschule, die bei offener Tür eine Reihe imposanter asiatischer Schwerter präsentierte. Der Eingangsbereich des Inmir war weniger martialisch: weiß gestrichene Backsteinwände und ein Holztresen, auf dem ein Strauß kunstvoll angewelkter Blumen stand. Scharf erhielt seine Zehnerkarte und zog sich in der Unisex-Garderobe um.

Er war einen Meter dreiundachtzig groß, wog sechsundachtzig Kilo. Schaffte fünfundzwanzig Liegestütze in enger Handhaltung am Stück. Seine Torwart-Tore beim Tischfußball waren gefürchtet. Und ging es auf Kanutour, hatte er am Zielort bereits ein Zigarillo geraucht, wenn der Letzte in Sichtweite kam. Jetzt betrat er in T-Shirt, Jogginghose und Socken als Erster den Großen Saal und wusste nicht, was nun.

Weiße Wände. Sanft federndes Parkett. Hohe Fenster hinter bodenlangen weißen Vorhängen, die das Licht milde stimmten. Zehn Matten im Halbkreis, auf jeder ein Sitzkissen, neben jeder eine Decke, alles tannengrün. Im Zentrum des Kreises eine blaue Matte, daneben eine gläserne Bodenvase mit Magnolienzweigen.

Nacheinander betraten Frauen den Raum. Barfuß und jünger als er suchten sie sich eine Matte und legten sich auf den Rücken. Er ließ seine quarkweißen Füße in den Socken und nahm schließlich die, die am Rand übrig blieb, setzte sich. Ibuprofen 600, Fango-Packungen und Massagen erlaubten inzwischen aufrechte Bewegungen, der Schmerz hielt sich im Hintergrund.

Der Lehrer kam als Letzter und nickte kurz. Alle Frauen erhoben sich in den Schneidersitz. Der Lehrer führte die Handflächen vor der Brust zusammen und senkte den Kopf.

»Namasté.«

»Namasté«, antworteten die Frauen unisono.

Der Lehrer blickte Scharf an, der stumm geblieben war. »Namasté«, erklärte er langsam, »ist unsere rituelle Begrüßung. Das Wort stammt aus dem Sanskrit, der heiligen indischen Sprache, und bedeutet: Das Göttliche, das in meinem Herzen wohnt, verbeugt sich vor dem Göttlichen, das in Deinem Herzen wohnt.«

Dann wartete er.

Eine Sekunde.

Zwei Sekunden.

Drei Sekunden.

»Namasté«, nuschelte Scharf. Motherfucker fügte er in Gedanken hinzu und kam sich bescheuert vor. Namasté, das klang doch wie Fugenmörtel aus dem Baumarkt. Was war das denn für ein Heini?

»Dann können wir beginnen.«

Der Lehrer – er hieß Michael Graf, wie Scharf dem Netz entnommen hatte – drehte sich zu jeder Teilnehmerin und befragte sie. Wie sie heiße, warum sie hier sei, ob sie Erfahrung mit Yoga habe, was sie sich erhoffe. Scharf hörte Worte wie Fokussierung, Ganzheitlichkeit, Spiritualität, Tiefe. Wenigstens zwei Frauen klagten auch über Rücken- oder Nackenschmerzen.

Als Letztem kam der Lehrer zu ihm. Graf musste, wie Scharf selbst, um die Fünfzig sein. Eher der sehnige Typ denn der muskulöse. Den kahl geschorenen Schädel hatten sie gemeinsam, auch den angegrauten Dreitagebart. Den Blick, als ob er jemanden beim Abschreiben erwischte, besaß der Trainer aber exklusiv. Vermutlich, dachte Scharf, schabt der sich morgens mit einem Teelöffel die Zunge. Yoga ist Meditation in Aktion stand in zerfransten Buchstaben auf dem Rücken seiner Jacke. Darunter eine kleine Zahl, die Scharf nicht lesen konnte. Dafür die Füße des Mannes riechen.

»Hendrik«, stellte er sich vor. »Ich muss meinen Rücken stärken.«

»Dann streck doch mal im Sitzen Deine Beine lang aus, Hendrik.« Mit einem Schlag klang Graf vergnügt. »Können Deine Fingerspitzen die Zehenspitzen berühren?«

Scharf versuchte es. In seiner Hüfte knackte es, als bräche ein dünner Zweig. Zudem spürte er ein stechendes Ziehen in den Waden. Die Finger waren noch weit von den Zehenspitzen entfernt, demütigend weit.

Der Lehrer seufzte theatralisch. Zwei der Frauen unterdrückten ein Kichern.

Insgesamt verliefen die Stunden ähnlich.

Es begann mit dem Ankommen. Scharf lag auf den Rücken, atmete tief in den Bauch. Graf sagte etwas wie: »Euer Geist wird still und ruhig – wie ein klarer See, auf dem sich der Himmel spiegelt. Verliert die Anhaftung an Gedanken und Gefühle.«

Im Sitzen folgte Pranayama. Scharf schloss mit dem Daumen das rechte Nasenloch, atmete vier Sekunden durch das linke ein, schloss mit dem Zeigefinger auch das linke, hielt den Atem vier Sekunden an, löste den Daumen, atmete vier Sekunden aus. Ab da im Wechsel. Genug Zeit, um sich zu fragen, warum das nicht einfach Atemübung hieß. Der Lehrer referierte: »Pranayama hilft, verbrauchte Luft zu entfernen und frische Energie zu tanken.«

Aufwärmübungen, meist als flüssig ineinander übergehende Positionen. Grafs Anweisungen wurden launiger: »Wir starten mit dem Sonnengruß, Sonnenbrillen auf!«

Sogenannte Asanas nahmen den Großteil der Stunde ein. Es gab die Berg-Haltung, den Tisch, den Stuhl, verschiedene Krieger-Positionen. Der Lehrer machte die Übung vor, drückte etwa für den Baum den linken Fuß an die Innenseite seines rechten Oberschenkels, breitete die Arme aus und führte die Handflächen über dem Kopf so zusammen, dass die Ärmel der Jacke seine Ohren berührten. Die Schüler bemühten sich um korrekte Nachahmung.

Scharf kam mit dem linken Fuß minimal über den rechten Knöchel und schwankte trotzdem wie ein Halm im Wind. Der gleichmäßige Fluss aus Atmung und Bewegung gelang ihm ebenfalls nicht.

Einmal erreicht, waren alle Stellungen für mehrere Atemzüge zu halten, auch bei schmerzhaften Dehnungen. Bei den Vorbeugen konzentrierte sich Scharf darauf, den Hintern zusammenzukneifen, um nicht zu furzen. Und seine Muskulatur begann bei fast jeder Übung zu zittern, obwohl er keine Gewichte hob.

Graf wurde konkreter. »Hendrik, ich sehe an den Falten Deines T-Shirts, dass der Bauch nicht angespannt ist.« »Hendrik, Du musst nicht rot anlaufen, Du darfst ruhig atmen.« Schließlich fing er sich einen Tadel ein, als er im Drehsitz – angeblich »die einzige asymmetrische Übung im Yoga« – aufstöhnte: »Hendrik, wenn Du nicht positiv sein willst, sei wenigstens leise.«

Die Frauen kicherten jetzt alle.

Dabei lag der Sack doch falsch. Was war vor zehn Minuten? Im Krokodil? Auf dem Rücken liegend mit seitlich ausgestreckten Armen sollten die Beine aufgestellt werden, die Fersen nah am Hintern. Beide Knie sollten zu einer Seite fallen, der Kopf zur anderen. Was war daran symmetrisch, du Vogel?

Kurz vor Schluss ging es um Tiefenentspannung. »Shavasana wird oft unterschätzt«, hatte der Trainer gemeldet. »Nichtstun ist für aktive, moderne Menschen wie uns ziemlich schwer. Nichtstun heißt: nicht bewegen, nicht denken, nicht fühlen.«

»Atmen ist erlaubt?« Scharf konnte sich die Frage nicht verkneifen. Er lag auf dem Rücken, sodass er die Reaktion des Trainers nicht sehen konnte. Aber er konnte sie sich denken, was er aber nicht sollte.

Die Antwort kam leise zischend. »Wenn Du es richtig machst, Hendrik, wird der Atem flach, fast unhörbar.«

Also trat Scharf auf die Bremse, bemüht, kontrolliert Kontrolle abzugeben, fühlte sich aber so gelassen wie eine an den Strand gespülte Qualle. Als ausgerechnet in der Position sein Smartphone im Rucksack vibrierte, wurde Graf ernsthaft sauer: »Hendrik, bist Du Notarzt?«

Untätigkeit, Versenkung genannt, war Pflicht. »Spannt eure Kopfhaut an – und entspannt sie«, sagte der Lehrer. »Spannt eure Augen an – und entspannt sie. Spannt eure Zunge an – und entspannt sie.« Lange bevor er bei dieser Reise durch den Körper bei den Zehen anlangte, schlief Scharf. Durch den Klöppel, dreimal gegen eine Klangschale geschlagen, erwachte er wieder.

»Auf Shavasana, die Totenstellung, läuft letztlich alles im Yoga hinaus«, sagte Graf.

Im Schneidersitz rieb sich Scharf das zerknautschte Gesicht. Der Lehrer entzündete im Lotussitz ein Räucherstäbchen, bedankte sich für das Geschenk der Yoga-Praxis, verbeugte sich mit einem »Om shanti om«, einem Friedens-Mantra, wie er sagte, und berührte dabei mit der Stirn den Boden. Es sah aus, als wäre es leicht.

»Hendrik, reinigst du bitte Deine Matte für die Nächsten?«, fragte Graf, als Scharf sie zusammenrollte. »Und warum grinst Du so? Nimmst Du Yoga nicht ernst?«

»Äh, angeboren«, antwortete Scharf. »Leichte einseitige Lähmung eines Kiefermuskels.«

Der Lehrer schien irritiert. Schließlich legte er Scharf die Hand auf die Schulter: »Hab’ Vertrauen zum Universum. Es mutet Dir nur so viel zu, wie Du tragen kannst.«

Nun war Scharf verwirrt. Was redete der? Besaß Graf geheimes Wissen? Und wieso sollte er dem Universum vertrauen? Das Universum war luftleer und arschkalt, ein unendliches Nichts, welches sich irrerweise auch noch ausdehnte und irgendwann zerreißen oder verdampfen würde oder was auch immer.

Er wurde das Gefühl nicht los, fehl am Platz zu sein.

3

Aber er nahm privat hin, was er im Beruf nie zulassen würde. Galt nicht, wie er inzwischen gelesen hatte, beim Yoga der Lehrer als bester, den man nicht schätzte? Weil er die eigenen Grenzen aufzeigte?

Ohne Frage wirkten auch die Übungen. Der Schmerz blieb auf Distanz. Er saß breitbeinig auf der Bank, die Hände lächelnd hinter dem Kopf verschränkt, bereit zur Einwechslung. Aber eben außen vor.

Taugte also das Produkt? Oder wenigstens die Kampagne? Es war bestimmt eine Berufskrankheit, aber Scharf schaute oft so auf die Welt – von oben. Teils, teils, lautete sein Ergebnis. Bestenfalls.

Zugegeben, er fühlte sich besser. Erfrischt, standfester, geschmeidiger. Fast fiel es ihm wieder leicht, in der Hocke die Schuhe zu binden.

Das war nicht wenig.

Das wars aber auch.

Von den anderen Versprechungen – weniger Stress, erholsamerer Schlaf, gesteigertes Selbstbewusstsein – war keine eingetreten. Angeben konnte er mit Yoga ebenfalls nicht. Humpelte er nach einem fiesen Foul beim Fußball-Training der sechsten Herren vom Platz, war er im grasverschmierten Shirt wenigstens ein Kerl. Atmete er in einem sanft beleuchteten Raum zwischen Frauen tief ein, die in der Garderobe Rezepte für Grünkohl-Smoothies austauschten, war er in seinem verschlissenen Sportzeug nur Fremdkörper. Und Atemübungen? Bitte, ging es basaler? Machte er zwanzigtausendmal am Tag.

Die anderen Teilnehmerinnen trieben ihn auch nicht nach vorn. Keine wirkte, als könne sie ihm gefährlich werden. Mit ihren praktischen Pferdeschwänzen strahlten sie trotz ihrer Jugend Mütterlichkeit aus.

Auch kam er nicht dahinter, was Yoga wollte. Pflege und Stärkung des Körpers, klar. Also Selbstoptimierung. Zugleich ging es aber auch um Selbstauflösung, das Ego sollte nicht mehr Herr im eigenen Haus sein. Was ihm einerseits entgegenkam, da er sein wahres Ich nicht sonderlich mochte, andererseits jedoch kein anderes zur Verfügung hatte. Erschwerend kam hinzu, dass man zwar nach Erleuchtung streben sollte, jedes Begehren aber, wie Buddha und Graf betonten, wiederum nichts als Leid erzeugte.

Scharf probierte Sätze wie Es geht nicht um Work-out, es geht um Work-in, doch sie schmeckten schal. Als ginge es um Gymnastik, der man einen tieferen Sinn unterjubelte, obwohl da keiner existierte. Als zöge man mit dem Schlagwort der Spiritualität, mit dem Verweis auf uralte Weisheiten eine Brücke über den eigenen Mist, um nicht durchwaten zu müssen.

Nicht, dass er begierig auf den Dreck war, gar nicht. Er hatte ihn gut abgedeckt. Doch immerhin war ihm bewusst, dass er, nur weil er verdrängte, nicht zugleich ganzheitlich mit dem Universum verbunden war.

Seine Ziele waren daher glanzklar. Zuerst musste er seinen Rücken stabilisieren. Im Anschluss könnte er mit seinem Leben weitermachen.

Der Trainer war auch kein Vorbild. Wenn es nach den auf dem Tresen ausgelegten Flyern ging, wollte er wohl eines sein, gar ein eigenes Studio gründen. Doch er verführte nicht, zog den Unterricht vielmehr durch wie ein Pädagoge, den die Dummheit seiner Schüler seit Jahren frustrierte. Seine Häme hatte er reduziert, doch, wie Scharf vermutete, eher aus Trägheit denn aus Respekt. Vielleicht wollte er, wie Scharf auch, bloß in Ruhe gelassen werden.

Doch Scharfs Geist weigerte sich, bockte, lockte. Lange nicht mehr hatte er in so kurzer Zeit von einem Doppel-Whopper mit Käse fantasiert, von einer griechischen Insel oder den aufgeplatzten Handknöcheln nach einer Schlägerei.

Schlimmer noch: Sein Geist führte ihn nach der ersten Stunde, in der Scharf noch gnädig weggedämmert war, im eigenen Leben umher. Gut gelaunt klopfte dieser Geist an jene Türen, die verrammelt waren, marschierte auf Bereiche zu, die gesichert sein sollten wie militärisches Sperrgebiet.

4

»Moin«, sagte die Neue. »Ich bin die Vertretung für Michael und heiße Kato.«

Moin? Nicht Namasté?

Die Mädchen, gut erzogen, antworteten trotzdem: »Namasté.«

Scharf grinste irritiert, sagte: »Moin.«

Nach der fünften Stunde war Graf erkrankt. Eine heftige Grippe, hieß es. Innerlich jubelte Scharf. Aber Kato, war das nicht ein Männername?

Der Ablauf ihrer Stunden unterschied sich kaum von den vorhergehenden. Ankommen, Atmen, Aufwärmen, Asanas, Abschalten. Trotz des Rituals aber wandelte sich die Stimmung komplett, zumindest für Scharf.

Nach dem Ankommen schob Kato stets einen kurzen Vortrag ein. Ihre Stimme klang weich, ihre Sprache dagegen härter, abgehackter, eine lustige, vielleicht skandinavische Melodieführung. Genauer konnte Scharf es nicht zuordnen.

Als Kato feststellte, dass der Kurs nie etwas vom achtgliedrigen Pfad gehört hatte, erschien eine leichte Zornesfalte auf ihrer Stirn. »Das wird nachgeholt.«

Für heute habe sie etwas über yogische Ernährung vorbereitet: »Die unterscheidet sich von anderen Ernährungsformen, weil das Essen nicht nur Energie liefern, sondern den Körper emotional und intellektuell stärken soll. Aber keine Angst, niemand muss in Zukunft wie eine Feldmaus Nüsse sammeln.«

»Nüsse machen fett«, warf eines der Mädchen ein.

»Nüsse machen schlank«, konterte Kato freundlich. »Sie senken das Krebsrisiko und die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ich bringe Dir zum nächsten Mal eine Studie mit, okay?«

Wie ihr Vorgänger machte sie die Übungen vor. Ihre Sprache war jedoch bildhafter, so sollte man seine Wirbelsäule auswringen wie ein nasses Handtuch. Auch unterbrach sie sich in den Asanas und ging umher, statt die Ausführungen zu begutachten wie eine Personalchefin beim Einstellungsgespräch. Kato fragte sogar, ob sie berühren dürfe, korrigierte dann mit sanftem Griff eine Haltung, aber so, dass man den Unterschied spürte: Ah, so war das gemeint.

Als sie Scharf fragte, ob er im unteren Rücken steif sei, wurde wieder gekichert.

»Jeder Mensch ist unterschiedlich«, führte Kato aus. Ihre Hände öffneten sich wie eine Blüte. »Die weibliche Anatomie ist zudem in der Hüfte oft flexibler als die männliche. Außerdem: Korrekturen haben im Yoga nichts mit roter Tinte, mit Wettbewerb zu tun. Sie bedeuten nicht mal, dass was falsch gemacht wurde. Werft Ihr dem Fisch vor, dass er nicht auf Bäume klettern kann? Es geht darum, auf der Matte herauszufinden, was Euch guttut.«

Tatsächlich fühlte sich Scharf nach ihren Stunden belebter und entspannter, stabiler und leichter, auch wenn das Gegensätze waren. Der Schmerz war nicht verschwunden, aber er stand vor einer roten Ampel, wurde kleiner im Rückspiegel. In Scharf glomm die Hoffnung, ihn abzuhängen.

Jede ihrer Stunden schloss Kato mit einem Zitat. Nie breitgewalzte Sätze wie Werde der, der du schon bist. Eher Weisheiten, die kristallkluge Fragen stellten, statt ausgelatschter Antworten zu geben.

In einer Stunde trug sie ein Kōan vor. »Stellt Euch vor, Ihr trefft auf der Straße den Meister der Wahrheit. Man darf ihn nicht ansprechen, aber auch nicht schweigend an ihm vorübergehen. Was tun?« Kato wartete, drehte dann ihr Blatt mit Notizen um. »Der Zen-Meister Wu-men meinte, das Beste wäre, man schlägt ihm ins Gesicht.« Sie lächelte, als sie in die leeren Gesichter sah. »Seine Begründung: Wer alles versteht, muss auch dies verstehen.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, entzündete Kato ein Stück helles Holz, dessen Rauch nach Kokosnussschalen duftete. Pustete die Glut aus, als kein Rauch mehr aufstieg, und drückte das Holz kurz gegen eine Hand. Verneigte sich vor ihren Schülerinnen und ihrem Schüler, dem kleinen Altar am Boden und sagte etwas, was wie »Aitäh« klang, aber auch so, als hätte sie das Wort für sich gesagt.

Scharf registrierte den kleinen Messing-Elefanten und die Schale mit den Blüten erst dank dieser Verbeugung – kostete es ihn doch Mühe, die Augen von Kato abzuwenden. Sie hatte schöne Füße, die flüchtig nach Salz rochen. Mit runden Zehen, ihre leicht knubbelige Nase spiegelnd. Sie trug immer eine graubraune Hose mit breitem Bund und ein weißes Trägertop, auf dem nichts stand. Keine Botschaft wie Hip, hot & holy, kein Yin-und-Yang-Symbol und, wie angenehm, keine Werbung. Die Kleidung umschmeichelte einen schlanken Körper mit Fleisch zum Knabbern, der stets nach oben zu streben schien. Ihr ovales Gesicht wirkte so bodenständig wie zart, schien zugleich Gefühle, Selbstzweifel oder Ärger nie ganz verbergen zu können. Die Augen waren Saugnäpfe, dazu ein Lächeln, bei dem immer offenblieb, wem es galt. Ihr Bob, dessen Haare an den Enden wie vom Surfen gebleicht waren, gab ihr etwas Flapperhaftes, einen Spritzer letztes Jahrhundert.

Zum ersten Mal bedauerte Scharf, dass die Stunde vorbei war.

»Ich bin ruhig«, sagte Kato zu der Frau hinter dem Tresen, als Scharf zur Stunde erschien. Kato trug, was sie draußen offenbar immer trug: schwarze Lederjacke, weißes T-Shirt, verwaschene Jeans, Chelsea-Boots. So selbstverständlich, als hätte sich Marlon Brando von ihr inspirieren lassen.

Er hatte sie und ihren Namen gegoogelt. Das Tolle am Internet, man fand für alles Belege: Kato entsprang dem Japanischen, bedeutete der Schlaue, sogar eine Firma für Modelleisenbahnen hieß so. Zugleich gab es die Ableitung des ungarischen Mädchennamens Katalin, die Katze. Selten war er in jedem Fall: Platz 1681 im Ranking der Vornamen.

Katos Stimme klang sandiger als sonst. »Ich helfe Euch gern. Aber wenn Ihr es nicht schafft, den Termin rechtzeitig zu stornieren, müsst Ihr mein weltliches Honorar zahlen. Sonst verklage ich Euch. Ganz entspannt im Hier und Jetzt.«

»Huch«, sagte Scharf.

»Ja, huch. Dein Lehrer ist wieder gesund und besteht auf seiner Stunde. Dabei war ich gebucht.«

Scharf reichte seine Karte über den Tresen. »Stunde Neun?«, fragte er.

Die Frau prüfte, stempelte ab, nickte.

»Wie viele muss ich für den Zuschuss der Krankenkasse nachweisen?«

»Acht.«

»Ah, okay, passt doch«, sagte Scharf und steckte seine Karte weg. Er drehte sich zu Kato um.

Sie war gerade stinksauer, offenbar verstand er so gar nichts von Timing. Trotzdem: jetzt oder nie. Er atmete tief ein. Noch länger aus. Und fragte mit kaum belegter Stimme: »Hast Du Lust auf einen Spritzer achtsamen Alkohols?«

»Dabei war ich so froh«, sagte er gut eine Viertelstunde später, »dass der Lehrer ein Mann war.«

Sie saßen im Olivenbaum, einem Restaurant neben einem Kiosk, der fast rund um die Uhr geöffnet war, zwei Minuten vom Inmir-Institut entfernt. Die Wände zierten orientalische Mosaiken, auf dem Tisch standen ein Glas Riesling und ein herbes Angeber-Bier.

»Kein Lehrer sollte so mit Anfängern umgehen«, gab ihm Kato Recht. »Und er sollte Anfängern beibringen, sich nie zu überfordern. Auch im Yoga kann man sich verletzen. Aber im Ernst, hast Du auf männliche Solidarität gehofft? Von jemandem, umgeben von jungen Frauen in engen Leggings, die selbst beim Sport heiß wirken wollen?« Kato grinste und biss in ihre mit Falafel und Humus gefüllte Teigrolle. Kaute in Ruhe. Schluckte ohne Hast. Erst dann fuhr sie fort: »Und soll der Dich loben, weil Du die Position stehender älterer Herr fehlerfrei schaffst?«

»Danke für das Mitgefühl. Wie Du das sagst, klingt es fast nett.«

»Durchaus so gemeint.«

»Vielleicht hätte ich ihm den aufgehenden Mittelfinger präsentieren sollen.«

»Darf ich Dir einen Tipp geben?«

»Fürs Yoga?« Scharf führte die Gabel in sein Taboulé.

»Fürs Leben. Wenn Du mit einer Frau essen gehst, von der Du was willst: Lass Taboulé weg.« Sie schaute ihm unverblümt auf den Mund. »Zu viel Petersilie zwischen den Zähnen.«

Ob er rot wurde? Wieder einmal atmete Scharf tief ein, tief aus. Das wurde langsam zur Marotte. Er legte die Gabel ab. »Du bist ziemlich direkt«, sagte er.

»Liegt vielleicht am Beruf.«

»Lehrt Yoga nicht Sanftmut und Zurückhaltung?«

»Ich meinte meinen eigentlichen Beruf. Was machst Du so?«

Ein leises Knattern mischte sich unter die Musik im Hintergrund. Es klang wie ein weit entferntes Motorrad mit Löchern im Auspuff, das nicht von der Stelle kam. Scharf hätte das monotone Geräusch nicht bemerkt, hätten nicht Katos Ohres gezuckt. Mit einem Finger rieb sie sich unter dem rechten Auge. Die kleine Narbe dort war ihm bisher nicht aufgefallen.

Sie schloss beide Augen.

»Ich schreibe«, beantwortete er dennoch ihre Frage.

Sie reagierte nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Die Hände ruhten wie Schalen auf den Knien, die Spitzen der Zeigefinger berührten die Daumen. Eine Mudra, eine kraftvolle Geste, die, wenn Scharf es sich richtig gemerkt hatte, das innere Feuer anfachte. Was bedeutete, dass sie offenbar mitten in seiner Antwort begonnen hatte zu meditieren.

»Worte«, fuhr er fort, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.

Sie reagierte nicht. Das Knattern ging gleichmäßig weiter.

»Aber keine Werke.« Scharf machte einfach weiter.

Sie war klar auf etwas anderes konzentriert.

»Auch keine Wahrheiten.«

Er drang nicht durch.

»Werbung. Ich wollte mal mehr. Aber …«

Kato hörte etwas, was ihr nicht gefiel, das konnte er spüren. Auch dass nach wie vor nicht er es war, dem ihre Aufmerksamkeit galt. Er beendete seine Rede.

Sie öffnete ihre Augen.

Das Knattern war verstummt.

Schlagartig war sie wieder da. Ihr Blick holperte kurz, gab dann Gas. Sie sprang auf, zog ihre Lederjacke von der Stuhllehne, holte einen Geldschein aus dem Portemonnaie, warf ihn auf den Tisch, alles in einer fließenden Bewegung. »Ich muss los.«

»Okay«, sagte er und lehnte sich zurück, ging automatisch auf Abstand. »Wow!«

Aber da war sie schon aus der Tür, begann auf der Straße zu laufen.

Scharf spürte den Schwall frischer Luft. »Scheiße«, murmelte er. Dann biss er sich auf die Unterlippe. So desaströs hatte er sich nicht benommen, oder? Hatte Kato einen wichtigen Termin vergessen? Kaum, sie musste die Stunde doch einkalkuliert haben.

Schließlich zuckte er mit den Schultern. Da es nicht mehr darauf ankam, aß er den Bulgursalat auf, Petersilie zwischen den Zähnen hin, Petersilie zwischen den Zähnen her. Sein Bierglas war noch nicht leer, da leuchtete die Straße im Blaulicht der Streifenwagen.

Zwischenspiel

Das Manifest des Attentäters

Bis auf Sturmhaube, schwarze Gummihandschuhe und die Helmkamera ist alles eingepackt, was ich benötige. Reizgas. Drei Magazine. Die eingeklappte SIG 550. Das Feldmesser.

Das Feldmesser, dies für Fetischisten, ist ein Fairbairn-Sykes-Kommando-Dolch mit 17,5 Zentimeter langer geschwärzter Klinge. Wer mit diesem Messer im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geriet, wurde unverzüglich als Spion erschossen. Wenn er Glück hatte. Wenn er Pech hatte, dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS übergeben. So sah es Hitlers persönlicher Befehl vor.

Wie auch immer.

Ich bin bereit.

Ihr fragt, weshalb.

Fragt ihr das wirklich?

Gut. Der Erste, der mit Yoga anfing, war Patañjali. Über ihn weiß man wenig, der indische Gelehrte soll vor rund 1500 Jahren gestorben sein, vielleicht auch vor 2000. Seither hat die Menschheit einiges gelernt. Dass sich die Erde um die Sonne dreht. Dass der Mensch einen Blutkreislauf besitzt. Dass Frauen gleichberechtigte Wesen sind. All das galt zu Patañjalis Zeiten nicht.

Vielleicht fiel er aber auch, wie es die Legende behauptet, als Schlange vom Himmel. Geschickt vom Gott der Abendsonne, der einer Einsiedlerin den Wunsch erfüllte, ihr Wissen weiterzugeben. Denn die Schlange verwandelte sich in einen Jungen und der, Patañjali eben, schrieb ihre Regeln auf. Die Übungen des rechten Handelns, der rechten Gesinnung, des rechten Sitzens, des rechten Atems und des Rückzugs der Sinne.

Welche Variante man wählt, vertrauenswürdig erscheint keine. Die erste dürfte inzwischen längst überholt sein, altes Wissen ist vor allem: alt. Die zweite klingt nach einem Märchen wie aus der Bibel. Bedenkt man, dass Patañjalis Regeln von Mund zum Ohr überliefert wurden – Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Falschübersetzungen inklusive –, sollte man den Anfängen besser wehren denn vertrauen.

Es gibt eine zweite Entstehungsgeschichte. Sie könnte noch weniger gefallen. Ihr zufolge sind die uralten Lehren eine Erfindung der Moderne, 1893 erstmals im Westen vorgetragen von Swami Vivekananda. Der Hindu strich dabei alle negativen Seiten. Aufdringlich bettelnde Mönche? Yogis, die im Sold der Herrschenden kämpften? Kali, die Göttin der Zerstörung mit ihrer Kette aus geköpften Männerschädeln? Alles unter den Teppich gekehrt.

Stattdessen erzählte Vivekananda all jenen, denen die christliche Kirche mit den Mächtigen zu verstrüppt war und die moderne Wissenschaft zu kalt, es gebe Erlösung auch ohne Erlöser. In einem selbst. Bereits im Diesseits. Klingt verführerisch, oder?

Das Mittel dazu: Meditation. Die Kunst der Versenkung war anscheinend das Einzige, was übrig blieb, ließ man Tempeldienste, Kastensystem und den göttlichen Segen für die Familie weg, wenn die Tochter noch vor der ersten Menstruation verheiratet wurde.

Zur Kunst der Verrenkung fanden die Inder nämlich erst spät. Alles Turnerische ist ein Re-Import, als amerikanische Wrestler um die Jahrhundertwende auf dem Subkontinent posierten. Sie sahen einfach gesünder und eleganter aus als abgehungerte Asketen. Zeitgleich kam über die britische Armee auch die sogenannte »schwedische Gymnastik« ins Land, eine Lehre, die auf Gewichte verzichtete, nur den eigenen Körper einsetzte.

Nach dieser These wäre Yoga ein Produkt des kapitalistischen Westens. Er nahm etwas, was es schon gab, veredelte es mit exotischen Mustern und verkaufte es teuer weiter.

Ich weiß, ich weiß, Ihr sagt: Aber Yoga hat mir doch geholfen. Ich bin beweglicher. Ich bin ruhiger.

Ich komme darauf zurück.

Und werde ehrlich sein: Ich bewundere die, die als Erste die Idee vom Yoga aufbrachten oder die Fackel weitertrugen. Starke, stolze Männer: Sie waren überzeugt und nicht bereit, sich für ihre Existenz zu entschuldigen.

Ebenso wenig kann ich es ihnen verübeln, dass sie sich im satten, müden Westen ansiedelten. Wo wir zu kraftlos und unserer selbst zu unsicher sind, um zu sagen: Eure Idee taugt vielleicht für Indien. Hier taugt sie nichts!

Denn worin besteht die rattige Grundidee? Patañjalis achtgliedriger Pfad – in Wahrheit viel mehr Regeln und Übungen, aber geschenkt, jeder Heilsbringer neigt nach Bedarf zu Unter- oder Übertreibungen – zielt darauf ab, alle Attribute einer individuellen Persönlichkeit verschwinden zu lassen.

Durch Besitzlosigkeit.

Enthaltsamkeit.

Durch Verzicht auf äußere Reize.

Konzentration auf sich selbst.

Durch Hingabe an die Schöpfung.

Zufriedenheit mit dem, was ist.

Durch Aufgabe des Denkens.

Hat man all das erreicht, erreicht man ein Selbst-Exil, in dem keine Identität mehr vorhanden ist. Ein Bewusstseinszustand, der über das Träumen hinausgeht, in dem alles Diskursive, das Erörtern von Pro und Kontra, das Bewältigen von Widersprüchen – Fortschritt also – aufgehört hat.

»Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.« So heißt es in der Yoga-Sutra, Kapitel Eins, Vers zwei. Und in Vers drei: »Dann ruht der Sehende in seinem wahren Wesen.«

Wer einmal in einem Möbelhaus serienmäßig produzierte Plastikvasen gesehen hat, alle gleich, alle glatt, alle leer, hat demnach Vasen gesehen, bei denen alles Sinn ergibt.

Die Idee wird natürlich mit einem verlockenden Versprechen verbreitet: Körper, Geist und Seele in Harmonie vereint. Wer will das nicht?

Aber wie? Auf miefigen umweltschädigenden Matten? In Schlampen-Leggings mit Blumen- oder Mondphasen-Mustern?

Und was ist, wenn der Körper sagt, dass die eigenen Arme zum »Durchspringen« zu kurz sind? Man als Langschläfer keine Lust verspürt, sich vor Sonnenaufgang aufzurappeln?

Überhaupt, wie soll der Geist Harmonie erfahren, wenn der Kursleiter vom Tau auf dem Schieferdach einer Berghütte schwärmt, obwohl man in Gedanken unter Palmen am Strand lag, rauschenden Wellen lauschte?

Will die Seele nicht aufjaulen, wenn alles in einem Fantasie-Sanskrit aufgesagt wird? Chaturanga Dandasana, Anjali Mudra – man könnte auch Liegestütz oder Respekt sagen. Klänge weniger eitel. In einer Sprache, die lebt.

Und das ewige Geklöppel im Hintergrund, an- und abschwellende Klänge, die den im Universum waltenden Gesetzen gleichen sollen.

Schlimmer nur, wenn im Studio zu Bummel-Techno gegriffen wird, garniert mit Bootcamp-Ansagen wie »Da geht noch mehr!« Was übrigens meist geschieht, wenn man schon diverse Positionen auf einem Bein durchgestanden hat. Wenn leichte Krämpfe den Körper durchzittern, trotz Bananen und Magnesium.

Müssen wir von Detox-Saftkuren reden, also davon, Geld dafür auszugeben, dass man hungert? Vom Dopaminfasten, bei dem öder Alltag durch Verzicht auf äußere Reize interessant werden soll? Vom stillen Sitzen in der Meditation, als befände man sich in der Schule? Vom Omm, dem Urklang, dem Weltwort, der ersten Äußerung aus der Tiefe der Zeit? Warum, bitte, sollte man das brummen?

Ihr entgegnet, all die Argumente seien nur ästhetische. Lest genauer. Welches Wort findet Ihr in ästhetisch? Ethisch. Man muss natürlich suchen.

Darüber hinaus: Yoga kann man wirklich hassen. Diese Snobs. Yoga-Studios finden sich in den Hip-Vierteln der Stadt, selten in grauen Vorstädten oder auf dem Land. Und wer kennt sie nicht, die Instagram-Posts von normschönen Menschen bei schlichten Leibesübungen, aber am Strand von Mauritius, in 130 Euro teuren Hosen, deren Mikroplastik in die Ozeane gespült wird?

Katzen dehnen und strecken sich den ganzen Tag. Doch kämen sie nie auf die Idee, anderen Katzen einzureden, diese müssten Mäuse für sie fangen, um zu erfahren, wie sie sich am besten dehnen und strecken.

Yoga ist Turnen für Leute, die glauben, sie seien etwas Besseres, obwohl sie nur an sich arbeiten.

Der entscheidende Punkt aber ist ein anderer. Es gibt etwas, das alle Yoga-Schulen verbindet, so unterschiedlich und sich widersprechend sie auch sind. Alle eint der Kult um das Selbst. Versprechen die Loslösung vom alten Ich, was toll klingt: Das eigene Ich gefällt ja den wenigsten wirklich.

Yoga, so wird behauptet, hilft, Fett, Stress und Zweifel loszuwerden. Yoga hilft morgens, fit durch den Tag zu kommen, abends besser einzuschlafen. Aber all das macht man auf der Matte mit sich allein aus – the inner space, heißt es, is more important than the outer space. Und vertreibt die Frage – so man sie sich gestellt hat –, woher das Fett, der Stress, die Zweifel kommen.

Yoga sagt auch: Du kannst es ohne Gesellschaft schaffen, alles ist bereits in Dir. Yoga sagt damit zugleich: Wenn Du es nicht schaffst, selber schuld, Pech. Yoga entlässt Dich nicht aus der Verantwortung, Yoga bürdet sie Dir auf.

Yoga sagt also: Es ist nicht die Arbeit, die einen kaputt macht, die sinnlos scheint. Du bist es! Es ist nicht die Gesellschaft, die einen auslaugt und verrückt macht. Du bist es! Nichts im Außen ist es, nur Dein Inneres. Aber: Du kannst Dich doch anders entscheiden, jederzeit.

Dazu passt: Yoga machen zumeist Frauen. Während Frauen sich so ruhigstellen, machen Männer weiter. Mit dem, was Männer so machen. Krieg, Profit, Zerstörung.

Und schließlich: Das Heil erreichst Du mit einer positiven Einstellung. Wenn Du Deinen Ärger annimmst. Je inniger deine Selbstliebe, desto reicher bist du.

Aber zahlt Selbstliebe die Miete? Ist Überdehnen dasselbe wie Überdenken? Ist Kompensation der Folgen dasselbe wie der Kampf gegen sie? Beugen Vorbeugen vor?

Es hilft kein Mantra, kein gemurmeltes Omm gegen Altersarmut. Man kann die Klimakrise nicht wegatmen. Nachspüren reicht auch nicht, wenn einem etwas genommen wird, die Gesundheit, der Besitz, die Identität, die Würde. Stattdessen gibt man das letzte Territorium auf, wo die Gesellschaft nicht hinkam. Rennt man als Einzelner im kollektiven Hamsterrad, nützt es nichts, zu entschleunigen: Das Rad läuft trotzdem weiter. Du stolperst. Du fliegst auf die Schnauze. Du wirst rausgeschleudert.

Gern wird als Variation des inner space gesagt, Yoga sei ein inside job. Unterschlagen wird, dass so auch eine Straftat bezeichnet wird, begangen durch nahestehende Personen.

Mit dem Einbalsamieren des Bewusstseins, mit Loslassen kommt man also nirgendwo hin, es macht vielmehr richtungslos. Und wir sind keine Autisten – erst am Du, in der Mitte der anderen, gewinnt das Ich. Aber das ist anstrengender, als sich in seiner Blase gut zu fühlen.

Übrigens: Selbst dieses Wohlgefühl ist verräterisch. Untersuchungen zufolge besitzen Profis der Achtsamkeit eine geringere Motivation, ihr Verhalten zu überprüfen. Sie sind überzeugt, sowieso alles richtig zu machen. Dabei kann schon eine zehnminütige Meditation das Gewissen dimmen: Im Anschluss an ein Video über Schlachthöfe wiesen Meditierende signifikant weniger Mitgefühl für andere Lebewesen auf als Vergleichsgruppen ohne die Übung. Man übertrage dieses Wissen auf Unternehmensberater, die gelassen entlassen. Oder auf Scharfschützen, die achtsam abdrücken. Weshalb viele Armeen entsprechende Übungen in ihre Ausbildung integriert haben.

Yogis denken nur daran, nicht zu denken. Doch die Beschneidung von Intelligenz führte noch nie weit. »Gestern war ich klug, also wollte ich die Welt verändern«, sagte B. K. S. Iyengar, einer der führenden Yoga-Lehrer, Autor des Klassikers Licht auf Yoga. »Heute bin ich weise, also verändere ich mich selbst.«

Im alten Griechenland hatte man für die, die sich von der Welt abwandten, sich nicht um die Gemeinschaft, nur um das Eigene sorgten, einen speziellen Begriff: Idioten.

Yoga – ob nun Märchen, uralte Tradition, kapitalistische Erfindung oder alles zusammen – macht weich in einer harten Welt. Verhindert als spiritueller Zahnbelag jeden Biss. Macht, dass Du Dich geiler fühlst als Du bist – und entspannst. Aber wer entspannt, der erschlafft. Wer entspannt, ist anfällig und wehrlos.

Deshalb.

Ich werde denen zeigen, die denken: Es wird schon. Nein, wird es nicht. Ich werde sie wegwischen, diese dekadent Angepassten, die das Verrottende stützen. Diese »Yogis«. In Anführungszeichen, da ihren spirituellen Fressanfällen alles Menschliche fehlt.

Alles Göttliche sowieso.

Es ist Dienstag, der 25. September, 19.50 Uhr. Das hier ist mein letzter Eintrag. Wenn ihr aufwacht, wird die Welt, die ihr kennt, nicht mehr existieren.

6

Neugierig trat Scharf vor die Tür des Restaurants. Ein Krankenwagen bremste so, dass die Räder blockierten, die Reifen Spuren auf dem Asphalt hinterließen. Ähnlich rasant hielt schräg dahinter ein Kleinbus mit Anhänger, die Fahrbahn versperrend. Aus der Seitentür sprangen mehrere Polizisten in Montur: schwarz von Kopf bis Fuß, Helm, schusssichere Weste, Gewehr im Anschlag. Zwei von ihnen wuchteten einen Lichtmast vom Anhänger.

Scharf kannte solche Szenen nur aus dem Fernsehen. Entsprechend neugierig mischte er sich unter die Schaulustigen auf dem Bürgersteig, versammelt hinter dem schwarz-gelb gestreiften Band, das den Weg zum Hinterhof absperrte. Zwei grimmig schauende Uniformierte bewachten den Zugang.

»Gott, was’ denn hier los?«

Ein Mann neben ihm antwortete, ohne den Blick vom Einsatzort abzuwenden. »Anschlag«, sagte er in die flackernden Lichter hinein. »Auf die Hippies.«

»Welche Hippies?«

Der Mann bewegte seinen Kopf keinen Millimeter. »Na, die sich selbst suchen, aber nie finden.«

»Das Yoga-Studio?«

»Alle erschossen. Angeblich.«

»Wie bitte?«

»Erschossen. Hab’ ich doch gesagt.« Der Tonfall wurde barsch. »Mehr weiß ich auch nicht.« Das Interview war beendet.

Mit einem Schlag hatte Scharf den Geruch frisch aufgeworfener Erde in der Nase, sein Unterleib krampfte. Alle ausgelöscht? Schon wieder? Um Gottes willen.

Die Schatten des Sonderkommandos verschwanden in dem Treppenhaus, welches er vor keiner Stunde verlassen hatte. Mit einem Knall wurde das Licht angeschaltet, der Hinterhof hart ausgeleuchtet.

Er bedeckte seine Augen mit den Händen.

Ein Rascheln. Ein Ächzen. Der Duft änderte sich. Die Bettlerin, die neben dem Kiosk an ihrem Stammplatz hockend die Hand aufhielt, hatte sich aufgerappelt, drängte an ihm vorbei. Fusel, Fäulnis und Krustiges überdeckten den Geruch von Erde.

Häufig war er nach dem Yoga an der Frau vorbeigegangen. Normalerweise umgab sie eine Wolke billigen Rotweins aus dem Tetra Pak neben ihr. Stets hatte er die Szene vor Augen, wie er ihr einen Zehner gibt und den Satz sagt: Aber nicht alles für Essen ausgeben. So zynisch mochte er sich nicht, der Satz war vermutlich nicht einmal von ihm, folglich gab er gar nichts. Mit seinem Yogi-Anspruch war es echt nicht weit her.

Die alte Frau sagte etwas zu einem der Polizisten. Der Polizist sagte etwas zu seinem Jackenkragen. Einige Minuten passierte nichts, alle warteten gespannt.

Offenbar hatte jemand Sanitäter ins Haus beordert. Sie drängten sich, jeder eine zusammengeklappte Liege tragend, durch die Zuschauer. Zwei Mediziner folgten mit Notfallkoffern, wie er sie schon kannte.

Rechts von ihm blitzte ein Feuerzeug auf. An das grelle Licht hatten sich seine Augen inzwischen gewöhnt. Er roch frischen Rauch, spürte, wie das irrsinnige Verlangen nach einer Zigarette in ihm hochkroch.

Von einem Tag auf den anderen hatte er damals aufgehört. Damals, als das Leben mit einem Schlag zu viel war, weil zu wenig Leben um ihn war. Mit zwei Schlägen, schnell und hart aufeinander folgend, um genau zu sein. Damals, als er umgeben von umgekippten leeren Flaschen, überquellenden Aschenbechern und eingesponnen in sein eigenes, nicht enden wollendes, ihn anwiderndes Lamentieren, schließlich beschloss, seine Strafe anzunehmen.

Vom Verstand her war es einfach: Warum sollte er Herz und Atem in Angst versetzen? Warum eine Droge konsumieren, die nicht mal knallte? Vom Körper her war es überraschend ähnlich simpel: Nach ein paar Tagen war das Gift ausgespült, vom System vergessen. Trotzdem entwickelte er Gegenstrategien. Spürte er das Bedürfnis nach Nikotin, erinnerte er sich, dass er dem Staat seinen Anteil an den Milliarden verlogener Tabaksteuer entzog. Half das nichts, griff er nach den Hanteln, die damals sowohl im Büro wie in seiner Wohnung lagen. Ersetzte eine Sucht durch eine andere.

In Momenten wie diesen aber ging ihm der wahre Grund für seine Gier auf. Wie ein Schnuller war eine Zigarette für fünf Minuten der Ausschluss der bösen Welt, sie löste sich selbstvergessen im Nichts des Rauches auf. Ordnete die Hände – auch wenn man nichts tun konnte, tat man so, als täte man was. Und war wagemutig, man riskierte etwas, ziemlich viel sogar, für ziemlich wenig.

»Entschuldigung«, sagte Scharf, »darf ich von Ihnen vielleicht eine schnorren?«

»Aber klar.« Der Mann neben ihm hielt ihm die Schachtel hin. Nachdem sich Scharf bedient hatte, reichte er ihm noch ein Einwegfeuerzeug.

»Danke«, sagte Scharf. »Falls ich Schwierigkeiten beim Austreten der Kippe habe, melde ich mich, okay?«

Der Mann verzog das Gesicht zu einer Art Lächeln.

Scharf ließ das Feuerzeug klicken und zündete sich die Zigarette an, sog den Rauch tief in seine Lunge. Es schmeckte widerlich, er hatte es so vermisst. Er reichte das Feuerzeug zurück, der Mann nickte, streckte die Hand aus und es klickte erneut. Scharf spürte Kälte an seinem Handgelenk. Dann klickte es noch einmal.

»Entschuldigung«, sagte der Mann, während auf der linken Seite ein anderer Mann aufrückte und jede Möglichkeit zur Bewegung unterband. »Dürfen wir Sie im Gegenzug vielleicht festnehmen?«

Er war viel zu konsterniert, um zu reagieren.

»Wir nehmen Sie jetzt mit, keine Scherereien bitte«, sagte der Mann rechts. Dann rief er: »Polizei, lassen Sie uns durch!«

Als ihn die beiden Zivilfahnder unter die Arme griffen und wegzerren wollten, sich die Menge öffnete, Handys plötzlich auf ihn gerichtet wurden, begriff Scharf immer noch nicht. Er wehrte sich nicht, er versteifte sich nicht einmal, sondern fragte nur: »Was soll das? Ich habe doch nichts getan!«

Solche Szenen kannte er schließlich nur aus dem Fernsehen. Die beiden Beamten drückten seine Arme schmerzhaft nach oben und schoben ihn zu einem Streifenwagen. Öffneten eine hintere Seitentür. Drückten ihn hinunter und hinein.

»Das war jetzt einfach«, sagte der Mann an seiner linken Seite. Es klang fast enttäuscht. Als ob er auf mehr Spektakel gehofft hatte: Fluchtversuch, Waffe ziehen, in den Rücken schießen und trotz Disziplinarverfahren von den Medien als Held gefeiert werden. So in der Art.

Das Getuschel der Umstehenden, ein inzwischen angerücktes lokales Fernsehteam, die vorfahrenden Leichenwagen, all das nahm Scharf kaum wahr, als die offene Handschelle mit dem Gitter verbunden wurde, welches den Innenraum teilte. Einrastete.

7

Natürlich bekamen die beiden Polizisten von ihrem Chef Einläufe.

»Okay, dringender Tatverdacht. Trotzdem war es nicht vorschriftsmäßig. Die Rechte hätten dem Verdächtigen früher vorgetragen werden müssen.«

Natürlich wurde die Bettlerin nicht vorgelassen.

»Sagen Sie ihr, es ist gar keine Belohnung ausgeschrieben. Selbst wenn, ihr Hinweis muss sich als entscheidend herausstellen. Vor Gericht.«

In der Untersuchungshaftanstalt, einem mächtigen Backsteinbau mit Stahltüren und vergitterten Fenstern, bekam Scharf beide Zurückweisungen mit. Das Abwimmeln der Schmarotzerin hielt er für eine versteckte Drohung, schließlich wurde ein langwieriger Prozess angedeutet. Den Anpfiff der Beamten für Show, ihn zu beruhigen, damit er sich nicht beschwerte. Zumal der Mann, der links gestanden hatte, danach aus seiner Hand eine Pistole formte und über die Spitze seines Zeigefingers blies.

Zuckerbrot und Peitsche aber waren sowieso gleichgültig. Als man Scharf aus dem Streifenwagen zog und in einem schmucklosen Raum in die Knie zwang, um eine der Handschellen um das Tischbein zu schließen, wurde dem Schmerz die Tür geöffnet. Fröhlich pfeifend zog er ein, war wieder Herr im Haus.

In die erkennungsdienstliche Behandlung ergab sich Scharf widerspruchslos, ließ Personalien auf- und Fingerabdrücke abnehmen, sich fotografieren.

»Irgendwelche Tätowierungen?«, fragte der Fotograf. »Sag’s gleich, wir finden die eh.«

Scharf schüttelte vorsichtig den Kopf.

»Bist kein Gangster, was?«

Erneut schüttelte Scharf den Kopf.

»Sagen alle. Aber Du bist ein Süßer mit den Teddybär-Augen und dem ironischen Lächeln. Einmal um neunzig Grad nach links.«

»Das Lächeln ist angeboren«, sagte Scharf leise. »Leichte, einseitige Lähmung eines Kiefermuskels.«

»Musst Du denen drinnen erklären, nicht mir. Viel Glück. Und wieder zurück …«