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Inzwischen ist Martin Sonneborn nicht mehr so naiv: Als er 2019 zum zweiten Mal ins Europaparlament gewählt wird, weiß er bereits, wie in der EU Politik gemacht wird – und kennt alle Tricks. Das ist auch gut so, denn in seiner zweiten Amtszeit geht es in Europa um alles. (Fast). Die Legislaturperiode beginnt mit einer Überraschung. Ursula von der Leyen wird Kommissionspräsidentin. Martin Sonneborn beschreibt, wie es dazu kommen konnte und stellt gleich noch die seltsamsten Kommissare vor. Und dann wird Politik gemacht: In Brüssel (und Straßburg) wird der Green Deal verhandelt, Position bezogen im Bergkarabach-Konflikt und die digitale Überwachung der Bürger in der EU neu geregelt. Hunderte Entscheidungen, die für Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger Alltag werden – und bei denen man gelegentlich sehr, sehr viel Humor braucht, um nicht in der MEP-Bar zur Flasche zu greifen. Oder die Sinnfrage zu stellen. Zum Glück hat Martin Sonneborn gute Ideen, um Europa in die richtige Richtung zu bewegen. Sein Vorschlag: EU-Verkleinerung statt EU-Erweiterung, Nobelpreise für Assange, Europa nicht den Leyen überlassen … Das Buch ist eine Reise in ein paralleles Universum. Sie führt Leserinnen und Leser in die Büros der EU-Verwaltung, in das Londoner Hochsicherheitsgefängnis "Hellmarsh" und sogar nach Ostdeutschland (mit Gregor Gysi). Sie ist informativ, schockierend und lustig.
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Seitenzahl: 474
Martin Sonneborn
Neue Abenteuer im Europaparlament
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Über Martin Sonneborn
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
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zur Kurzübersicht
Martin Sonneborn, Mitherausgeber von Titanic; geboren 1965 in Göttingen; Studium der Publizistik, Germanistik und Politikwissenschaften in Münster, Wien und Berlin; Magisterarbeit über die absolute Wirkungslosigkeit moderner Satire. Hält es für witzig, trotz seinerzeit schlüssiger wissenschaftlicher Argumentation heute im EU-Parlament zu sitzen.
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Inzwischen ist Martin Sonneborn nicht mehr so naiv: Als er 2019 zum zweiten Mal ins Europaparlament gewählt wird, weiß er bereits, wie in der EU Politik gemacht wird – und kennt alle Tricks. Das ist auch gut so, denn in seiner zweiten Amtszeit geht es in Europa um alles. (Fast).
Die Legislaturperiode beginnt mit einer Überraschung. Ursula von der Leyen wird Kommissionspräsidentin. Martin Sonneborn beschreibt, wie es dazu kommen konnte und stellt gleich noch die seltsamsten Kommissare vor. Und dann wird Politik gemacht: In Brüssel (und Straßburg) wird der Green Deal verhandelt, Position bezogen im Bergkarabach-Konflikt und die digitale Überwachung der Bürger in der EU neu geregelt. Hunderte Entscheidungen, die für Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger Alltag werden – und bei denen man gelegentlich sehr, sehr viel Humor braucht, um nicht in der MEP-Bar zur Flasche zu greifen. Oder die Sinnfrage zu stellen. Zum Glück hat Martin Sonneborn gute Ideen, um Europa in die richtige Richtung zu bewegen. Sein Vorschlag: EU-Verkleinerung statt EU-Erweiterung, Nobelpreise für Assange, Europa nicht den Leyen überlassen …
Das Buch ist eine Reise in ein paralleles Universum. Sie führt Leserinnen und Leser in die Büros der EU-Verwaltung, in das Londoner Hochsicherheitsgefängnis „Hellmarsh“ und sogar nach Ostdeutschland (mit Gregor Gysi). Sie ist informativ, schockierend und lustig.
Motto
Vorwort
»Europa nicht den vonderLeyen überlassen«
Juli 2019
Straßburg, EU-Parlament
April 2019
Berlin
Mai 2019
Westerngrund, Spessart
Tübingen, Marktplatz
Autobahnraststätte A 2
Autobahn A 2
Bielefeld
Internet
Chemnitz
Halle (Saale)
Berlin, SO36
Juni 2019
Berlin, Gasthaus Lentz
Belgien
Brüssel, Parlament
Juli 2019
Straßburg, Parlament
Straßburg, Plenum
Luxemburg, Tankstelle
Straßburg, Büro
Straßburg, Parlament
Straßburg, EU-Parlament
Straßburg Büro
Straßburg, MEP-Bar
Straßburg, Plenum
Brüssel, Parlament
Brüssel, Beer Factory
August 2019
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Büro
September 2019
Straßburg, Parlament
Deutschland
Oktober 2019
Straßburg, Parlament
Brüssel, Parlament
Parlament, Sitzungssaal
Brüssel, Parlament
Brüssel, Parlament
Syrien, Rojava
Berlin, Kreuzberg
Brüssel, Parlament, Ausschussraum
Straßburg, Plenarsaal
November 2019
Brüssel, Büro
Brüssel, Bunker
Brüssel, Plenarsaal
Straßburg, vor dem Plenarsaal
Brüssel, Parlament
Brüssel, MEP-Bar
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Parlament
Straßburg, EU-Parlament
Dezember 2019
Brüssel, MEP-Bar
Deutschland
»Es gibt kein richtiges Grün im falschen.«
Januar 2020
Brüssel, Büro
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Ratsgebäude
Brüssel, Parlament
Brüssel, Place Lux
Februar 2020
Brüssel, Schuman-Kreisel
Brüssel, Parkbank
Brüssel, Homeoffice
Straßburg, Parlament
Straßburg, Plenarsaal
Brüssel, Büro
Autobahn Brüssel–Straßburg
Straßburg, Parlament
Augsburg, Schwabenhalle
Brüssel, Café Belga
Berlin, Gaststätte Zum Hecht
London, Hellmarsh
Griechenland
Belgien
März 2020
Brüssel, Parlament
Brüssel, Büro
Brüssel, Parkbank
April 2020
London, Berlin
Brüssel, Parlament
Deutschland
Mai 2020
Brüssel, Parkbank
Brüssel, Homeoffice
Brüssel, Parkbank
Juni 2020
Berlin, Leipzig
Juli 2020
Brüssel, Parlament
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Parlament
Brüssel, Büro
Brüssel, Homeoffice
Brüssel, Parlament
Brüssel, Parlament, LIBE-Ausschuss
Brüssel, Homeoffice
Brüssel, Bois de la cambre
Brüssel, Büro
August 2020
Budapest
Berlin
Brüssel, Park Dings
Berlin, Wilhelmstraße
Irrland
September 2020
Brüssel, Parlament
Griechenland, Lesbos
Düsseldorf
Straßburg, Plenum
Brüssel, Büro
Brüssel/Kaukasus
Oktober 2020
Brüssel, Plenarsaal
November 2020
USA/Slowenien
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Plenarsaal
Berlin, Reichstag
Brüssel, Homeoffice
Berlin, ARD
Dezember 2020
Brüssel, Homeoffice
Brüssel, Place Flagey
Deutschland
Athen
Brüssel, Café Belga
Deutschland
Brüssel, Büro
»Schnaps für die portugiesischen Sozialisten!«
Januar 2021
Deutschland
Belgien/Deutschland
Brüssel, Homeoffice
Februar 2021
Brüssel, Homeoffice
März 2021
Kuba/Irland
Brüssel, Büro
April 2021
Brüssel, Parlament
Ankara
Brüssel, Büro
Mai 2021
Brüssel, Büro
Berlin, Büro
Dortmund
Juni 2021
Berlin, Geschäftsstelle
Brüssel, Büro
Juli 2021
Brüssel, Büro
Brüssel, Café Belga
August 2021
Berlin, Spiegel-Redaktion
Berlin, Hackbart’s Bar
Berlin, Homeoffice
Berlin, PARTEI-Zentrale
September 2021
Ostberlin
Straßburg, Plenarsaal
Brüssel, Büro
Leverkusen
Straßburg, Büro
Berlin-Charlottenburg, Wahllokal
Berlin, PARTEI-Zentrale
Oktober 2021
Frankreich
Brüssel, Büro
Straßburg, Parlament
November 2021
Bayern
Dezember 2021
Berlin
Brüssel, Parlament
Straßburg, Parlament
»Wer macht hier eigentlich Politik?«
Januar 2022
Brüssel, Parkbank
Brüssel, Parlament
Brüssel, Büro
Brüssel, Büro
Brüssel, Homeoffice
Berlin, Unter den Linden
Februar 2022
Straßburg, Académie de la Bière
Straßburg, Plenarsaal
Straßburg, Plenarsaal
Brüssel, Café Belga
März 2022
Brüssel, Büro
Katar, in Bodennähe
April 2022
Brüssel, Parlament
Brüssel, Le Murmure
Brüssel, Plenum
Brüssel, Place de la Monnaie
Mai 2022
Brüssel, Büro
Leverkusen, BayArena
Straßburg, Parlament
Brüssel, Parlament
Juni 2022
Brüssel, Straßburg
Brüssel, Parlament
Brüssel, Café Belga
Juli 2022
Brüssel, Café Karsmakers
August 2022
Brüssel, Café Belga
September 2022
Brüssel, Café Belga
Brüssel, Büro
Straßburg, Plenarsaal
Straßburg, Büro
Straßburg, Plenarsaal
Brüssel, Le Murmure
Oktober 2022
Brüssel, Parlament
Straßburg, Büro
November 2022
Brüssel, Café Karsmakers
Dezember 2022
Brüssel, Parlament
Brüssel, Homeoffice
Straßburg, Parlament
Brüssel, Le Murmure
Brüssel, MEP-Bar
Berlin, Reinickendorf
Straßburg, Parlament
»Andrea Kiewel rastet aus«
Januar 2023
Berlin, Gasthaus Lentz
Brüssel, Parlament
Februar 2023
Berlin, Gasthaus Lentz
Berlin
März 2023
Straßburg, MEP-Bar
Brüssel, Büro
Straßburg, MEP-Bar
März 2023
Straßburg, MEP-Bar
Drolshagen, Gästehaus
Juni 2023
Brüssel, Parlament
Brüssel, Le Murmure
April 2023
Freiburg, Hotel zur Post
Brüssel, Parlament
Mai 2023
Brüssel, Büro
Berlin, Gasthaus Lentz
Straßburg, Penarsaal
Straßburg, Parlament
Juni 2023
Berlin, Bundestag
Berlin, Gasthaus Lentz
Afrika, Sahelzone
Berlin, Hackbarth’s
Juli 2023
Straßburg, Büro
Brüssel, Büro
Berlin/Karlsruhe
August 2023
Brüssel, Le Murmure
September 2023
Bergkarabach
Straßburg, Plenarsaal
Mainz, Fernsehgarten
Brüssel, Café Belga
»Das Überleben der Menschheit hängt ab von ihrer Fähigkeit, Unordnung zu schaffen und Ordnung zu verhindern.«
Heiner Müller
»Ach Europa!«
Hans Magnus Enzensberger
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn ich in der Öffentlichkeit gefragt werde, was ich beruflich mache, behaupte ich immer, dass ich gerade aus dem Gefängnis komme und mich noch orientiere. Es ist mir ausgesprochen unangenehm zuzugeben, dass ich dem EU-Parlament angehöre.
Eigentlich sollten in Brüssel die Besten aus 450 Millionen Bürgern sitzen, in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament. Dass sie das nicht tun, dafür bin ich ein sehr gutes Beispiel. Und nicht einmal das beste.
Vorbestrafte Staatspräsidenten, korrupte Kommissare, Abgeordnete mit Handtaschen voller Bargeld, Milliarden-Verträge, die per SMS ausgehandelt werden. Und eine Politik, die weniger für 450 Millionen als für 450 Millionäre gemacht wird.
Dieses Buch ist entstanden aus der Verantwortung den rund 900.000 PARTEI-Wählern gegenüber, die mir in der vergangenen EU-Wahl den Schlamassel eingebrockt und mich (zurück) nach Brüssel geschickt haben.
Aber auch, weil es so viel Lustiges und Skurriles zu berichten gibt. Von der maltesischen Parlamentspräsidentin, die »Korruption, Interessenkonflikten & Vetternwirtschaft« den Kampf ansagt und danach ihren Schwager als Generalsekretär einstellen will, über den bulgarischen Abgeordneten, der in der laufenden Hitlergruß-Challenge im Plenarsaal souverän führt, bis zu meinem ungarischen Kollegen, Vizepräsident der christlichen EVP, der nach einer Razzia nackt und mit Drogen im Rucksack am Ende einer Regenrinne von der belgischen Polizei in Empfang genommen wird.
Begleiten Sie mich in die (subventionierte) MEP-Bar, in die »Delegation für die Beziehungen zur Halbinsel Korea«, durch Shitstürme im Internet und dabei, wie ich Kommissionspräsidentin vonderLeyen auf ihrem unaufhaltsamen Weg nach unten begleite (in Straßburg, im Fahrstuhl) …
Brüssel, im Winter 2023/24
Martin Sonneborn
2019
Der Plenarsaal ist brechend voll, die Pressetribüne ebenso. Heute ist ein großer Tag für Europa, eine skandalumwitterte deutsche Ministerin soll zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt werden.
»Mr Sonneborn, one minute please!«, sagt Vizepräsidentin Mairead McGuinness, die die Sitzung leitet, und blickt hoch zu mir in die letzte Reihe.
Eine Minute? Verdammt. Eine Minute, um all das zu sagen, was ich hier auf dem Zettel habe? Ich überschlage kurz, dass ich entweder das letzte Drittel umgehend streichen muss, jedes dritte Wort auslassen oder alles mit anderthalbfacher Geschwindigkeit sprech…
»Ah, anderthalb Minuten, tut mir leid«, verbessert sich die Irin freundlicherweise. Puh, Glück gehabt!
Ich erhebe mich und schalte mein Mikrofon ein. Mein Blick fällt auf die rosafarbene Bluse unten in der ersten Reihe. Jetzt bleiben mir exakt 90 Sekunden, um Ursula vonderLeyen in der EU willkommen zu heißen. Zeit läuft.
»Liebe Frau von der ähem, Leyen, herzlich willkommen!
Es freut mich sehr, dass ich ab sofort nicht mehr der unseriöseste Vertreter der europäischen Demokratie bin.
Das Personal-Tableau, das der Rat vorgelegt hat, hat es in sich.
Josep Borrell: Ein spanischer Tüp, der als Präsident des Europäischen Hochschul-Instituts zurücktreten musste, weil er vergessen hatte, eine jährliche Gratifikation von 300.000 Euro zu erwähnen, soll als Außenbeauftragter die europäischen Werte in der Welt vertreten?«
VonderLeyen dreht sich um, blickt suchend nach oben ins Plenum, findet mich und wirft mir dann einen leicht irritierten Blick zu.
»Christine Lagarde: Eine Juristin, die wegen Veruntreuung von 400 Millionen Euro öffentlicher Gelder schuldig gesprochen wurde und noch nie eine nationale Notenbank geführt hat, soll die EZB leiten?
Charles Michel: Ein Belgier, der nicht einmal in Belgien eine funktionierende Regierung bilden konnte, soll Ratspräsident werden und für den Ausgleich in einem immer komplexeren Geflecht nationaler Interessen sorgen?
Und dazu Sie, Frau vonderLeyen: Eine europapolitisch völlig kenntnisfreie deutsche Ministerin, …«
Bei der Diagnose »kenntnisfrei« zuckt die deutsche Verteidigungsministerin unmerklich zusammen und hebt, was von ihren Augenbrauen noch beweglich ist.
»… die lediglich durch einen irren Hang zu überteuerten Beratern, Missmanagement und Euphemismen aufgefallen ist – ›Trendwende Finanzen‹ für die größte deutsche Aufrüstungskampagne seit Kriegende.
Um diese Parade von Inkompetenz und moralischer Wurstigkeit[1] abzusichern, paktieren Sie mit der illiberalen (polnischen) PISS-Partei, dem Möchtegernfaschisten Orbán und Benito Salvini?
Wir sollten Europa nicht den Leyen überlassen. ZwinkerSmiley!«
Im Plenarsaal bleibt es ruhig. Zwei oder drei vereinzelte Klatscher sind zu hören, vermutlich freut sich ein rechtsradikaler Italiener über die Umbenennung seines Innenministers Matteo Salvini. Die Tochter des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht selbst macht gute Miene zum bösen Spiel und lächelt. Jedenfalls mit der unteren Gesichtshälfte, die leichter zu kontrollieren ist.
Ohne erkennbare Regung ruft Vizepräsidentin McGuinness den nächsten Redner auf: »Mr. Deutsch!« Dessen Beitrag dürfte gleich etwas freundlicher werden, denn Tamás Deutsch gehört zu den ungarischen Fidesz-Abgeordneten von Viktator Orbán, und deren Stimmen, so weiß man in Brüssel, haben sich Bundeskanzlerin Merkel und Frau vonderLeyen für die anstehende Wahl gesichert.
Nicht, dass Mr. Deutsch, ein hochgewachsener, bulliger Fußballertyp mit schulterlangen Haaren, nicht auch anders gekonnt hätte. Bei innenpolitischen Auseinandersetzungen jedenfalls ließen seine Wortmeldungen oftmals wenig Interpretationsspielraum.
Deutsch wurde eine »biologistische« und »hygienistische« Sprache vorgeworfen, weil er über den ehemaligen Ministerpräsidenten gesagt hatte: »Es gibt hinterhältige Verrückte, es gibt eklige Spermien, es gibt widerliche Verfaulte, und dann gibt es dort noch den Ferenc Gyurcsány. Dieser erbärmliche Eiweißklumpen könnte sich ein für alle Mal verdrücken zurück in Mutters Fotze.«
Und falls Sie, liebe Leser, jetzt unwillkürlich eine Form von Mitleid oder Sympathie dem Eiweißklumpen gegenüber verspüren sollten, bitte sparen Sie’s sich. Er war in Veruntreuungen verwickelt, die Ungarn an den Rand des Bankrotts katapultierten, während sie ihn zu einem der reichsten Männer des Landes machten. Und zu einem zielorientierten Politiker zudem.
Allerdings gelangte eine parteiinterne Rede Gyurcsánys an die Öffentlichkeit, in der er seiner Fraktion nicht nur darüber berichtete, wie er und seine engeren Vertrauensleute die Öffentlichkeit jahrelang durchweg belogen hatten, um die jüngsten Parlamentswahlen zu gewinnen, sondern auch anmahnte, dass nunmehr die gesamte Regierung größte Mühe haben werde, all dies auch weiterhin geheim zu halten. Die Rede rief nach ihrem Bekanntwerden bei großen Teilen der ungarischen Bevölkerung Wut und Empörung hervor.
Er selbst hatte in einer Rede auf dem Kongress der MSZP seine Wirtschafts- und Finanzierungsmethodik[2] erläutert: »Wie kann man diese öffentlichen Einnahmen – das werden so um die 22–23 tausend Milliarden Forint sein – so verteilen, zumindest den Anteil, den wir beschlossen haben, von den Menschen wegzunehmen, weil wir die Stärkeren sind, weil die Staatsmacht uns gehört und wir das wegnehmen können, dass das, was wir ihnen wegnehmen, wir wenigstens so verteilten, dass die Mehrheit denkt, dass es so, na ja, so in etwa in Ordnung ist.«
Heeee, Moooment mal, was geht hier eigentlich vor? Wer oder was bin ich, und warum schwinge ich große Reden im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg?
Hatte mich »Politclown« (Süddeutsche Zeitung) denn eigentlich jemand gefragt, ob ich der lustigen ersten Legislaturperiode im Europäischen Parlament überhaupt eine zweite folgen lassen wollte? Sicher, eine kostenfreie BahnCard 100 ist nicht zu verachten, und die Leute brachten mir mehr Respekt entgegen, wenn ich an der Theke im Kreuzberger Trinkteufel »Lassen Sie mich durch, ich bin EU-Abgeordneter!« rief und mit meinem Diplomatenpass wedelte. Aber die Deutsche Bahn ist kaputt, genau wie die Infrastruktur hierzulande – das merke ich durchaus, wenn ich die belgisch-deutsche Grenze überquere –, und mehr Respekt bringt man mir auch entgegen, wenn ich mit einer SS-Uniform über die Frankfurter Buchmesse laufe, um eine Buchvorstellung von Björn Höcke zu sprengen.
Im Grunde hatten wir die Entscheidung gar nicht selbst getroffen, Büroleiter Hoffmann[3] und ich. Frank-Alter Steinmeier und die SPD hatten für uns entschieden. Steinmeier, als er seine Partei angetrieben hatte, eine Sperrklausel für die gesamte EU zu installieren, bloß um die PARTEI wieder aus dem Parlament zu kicken. Mit lässigen 0,6 Prozent der Stimmen in der EU-Wahl sollte nicht noch einmal jemand ein Mandat in Brüssel erhalten.
Frank-Walter Steinmeier regt das auf. Auch wegen Sonneborns »Jux-Partei« müsse man sich fragen, »ob es wirklich für alle Zeiten unzulässig sein soll, über eine Sperrklausel für das Europaparlament nachzudenken«. Wenn dies über das nationale Recht nicht gehe, müsse man halt überlegen, eine Hürde auf europäischer Ebene einzuführen.
Und die SPD in Gestalt von Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Der hatte bis zu seinem Burn-out über Jahre hinweg 27 Staaten diplomatisch & undiplomatisch nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, damit die einer Wahlrechtsänderung zustimmen, die praktisch nur für die Europawahl in Deutschland Konsequenzen hat. Um schlussendlich bei einem offenbar eher zufälligen Blick ins Grundgesetz festzustellen, dass man hierzulande eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat braucht, um das Wahlrecht in Deutschland zu verändern. Eine Mehrheit, die man – hüstel – auch mit der CDU zusammen nicht hatte.
Offenbar hat die deutsche Bundesregierung vor der Europawahl mehr Energie darauf verwendet, Kleinstparteien per Sperrklausel aus dem Parlament zu verdrängen, als den versprochenen »Aufbruch für Europa« zu organisieren.
Zwei Jahre lang hatten wir uns trotzig mit den antidemokratischen Umtrieben auseinandergesetzt, einfach weil wir uns nicht von einem derart uncharismatischen Bundespräsidenten und seinen Erfüllungsgehilfen in der Groko Haram vor die Parlamentstür setzen lassen wollten. Dann hatten wir für die EU-Wahl die »Eichmann«-Liste aufgestellt, mit Nico Semsrott und mir an der Spitze, und einen plakativen, inhaltsarmen US-Wahlkampf inszeniert.
Im Gegensatz zur gängigen Praxis hatten wir die Kandidaten für unsere offizielle Europaliste ausschließlich anhand ihrer Namen ausgewählt. Namen, die man kannte, die einen Klang hatten in Europa. Vielleicht keinen guten, aber immerhin einen Klang: Bombe, Krieg, Bormann, Eichmann, Keitel, Heß und Speer. Und Göbbels mit Ö. Es war erstaunlich, was sich da alles tummelte unter den 50.000 PARTEI-Mitgliedern. Nur ein Hitler hatte sich nicht rechtzeitig gemeldet und Stauffenberg keinen Bock gehabt. (Vielleicht besser so … Smiley.) Die ersten zehn Kandidaten werden auf den Wahlzetteln aufgeführt – und wer kannte schon Namen von CDU- oder SPD-Kandidaten?
T: Wie kommt eine solche Kriegslist bzw. Kriegsliste in Europa an?
MS: Ich hoffe, gut. Stellen Sie sich das lebhafte Interesse in Österreich und Ungarn vor!
T: Gibt es noch weitere Motivation für eine solch martialisch anmutende Liste?
MS: Die Besetzung zeigt unseren Respekt vor der Remilitarisierung Europas. In Deutschland wird das bisher kaum thematisiert, aber wir haben einen Paradigmenwechsel in der EU. Im nächsten Haushalt wird erstmals mehr Geld für die Aufrüstung stehen als für Entwicklungshilfe. Anfang Juli hat das EU-Parlament grünes Licht gegeben, 500 Millionen Euro aus dem Bereich »Friedenssicherung« in die Rüstung umzuleiten.
So will die PARTEI in eigenen plötzlich sehr ernsten Worten »mehr Aufmerksamkeit auf die schleichende Militarisierung der EU« lenken. Es ist Satire wie aus dem Schulbuch: Hinter jedem Witz steckt auch eine hässliche Wahrheit.
Den Humor Sonneborns teilen einige Politiker allerdings nicht. Gegenüber dem RND sagte Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe des Bundestages: »Was wir hier erleben, ist eine Hakenkreuzschmiererei auf dem Wahlzettel.«
Und auch noch eine mit Hintergedanken.
»Eventuell könnte dies auch ›verwirrte CSU-Wähler‹ oder ›demente CDU-Wähler‹ zu einem Kreuz bei der ›Partei‹ verleiten.«
Offener Brief an den Kollegen Lambsdorff von der FDP
Lieber Graf, hier schreibt das Volk.
Einem Bericht des RND musste ich entnehmen, dass Ihnen die ersten zehn Namen unserer EU-Liste nicht gefallen. Abgesehen davon, dass mir persönlich schon der Name »FDP« auf Wahlzetteln nicht gefällt, weil Tüpen wie Christian Lindner für vieles stehen, was die klugen liberalen Köpfe, die es in Ihrer Partei ja auch mal gegeben hat (Hirsch, Baum, die Schnarrenberger, der schöne Erich Mende), verachten dürften, muss ich Sie korrigieren:
Wir haben die Namen nicht wirklich aus der Mitgliederliste der PARTEI herausgesucht, weil wir verwirrte CSU- oder demente CDU-Wähler zu einem Kreuz bei uns verleiten wollten. Das war nur Spaß.
Wir haben diese Liste aufgestellt, weil wir damit auf eine vertragswidrige Militarisierung und finanzintensive Aufrüstung des »Friedensprojektes« EU hinweisen wollen, die in Deutschland gar nicht thematisiert wird.
Dass Sie sich als ausgebildeter Diplomat nicht schämen, dem intellektuell preiswertesten Assoziationsreflex Ihrer ersten Empörung nachzugeben, ohne in Betracht zu ziehen, dass hier ein kritischer Hinweis versteckt sein könnte, bestärkt mich in meiner Entscheidung, am 26. Mai nicht die FDP zu wählen.
Martin Sonneborn
Leider wurden Witz & Wahrheit auch nicht von allen CDU-Kollegen goutiert. Rainer Wieland, überzeugter Schwabe und einflussreicher Vizepräsident des Europäischen Parlaments, war sich nicht zu schade, bei einer Tagung der Europäischen Volkspartei (EVP) – das ist der Zusammenschluss von CDU, CSU und ihren konservativen bis rechtsnationalen europäischen Freunden – als Beleg für die Notwendigkeit einer Sperrklausel mit vor Ekel & Empörung bebender Stimme die Liste der PARTEI-Kandidaten auf Schwäbisch vorzulesen: »Bombee, Krieag, Gebbels, Speer, Bormoa, Eichmoa, Keidl, Hesch …« Kein Wunder, dass konservative Politiker aus der gesamten EU sich durch die Bank angewidert gezeigt hatten!
Und das, obwohl die Bandbreite in der EVP relativ groß und die Einigkeit oftmals klein ist, seitdem Helmut Kohl die Parteienfamilie strategisch und aus profanem Machtstreben heraus weit nach rechts geöffnet hatte.
MS: Viktor Orbán (EVP) hat seine EVP-Kollegen – u.a. Manfred Streber (CSU, Vorsitzender der EVP) – als »nützliche Idioten« bezeichnet. Eine Unverschämtheit, Manfred Strebers Nutzen für Europa hat sich mir noch nicht offenbart … Smiley
Es kann kein Zufall sein, dass die Nachrichtenagentur dpa den heute in Berlin stattfindenden Wahlkampfauftakt der Satirepartei Die PARTEI zur Europawahl ganz selbstverständlich in der Rubrik »Politik Deutschland« ankündigt – so wie den ebenfalls heute anstehenden Wahlkampfauftakt der Linken. PARTEI-Chef Martin Sonneborn und Linken-Chef Bernd Riexinger spielen für die dpa in derselben Liga. Gut zu wissen.
Medienberichten zufolge planen sämtliche etablierten Parteien, ihren Wahlkampf sehr zurückhaltend zu gestalten. Viel Geld will niemand investieren. Großveranstaltungen werden ausgeschlossen, zu geringes Interesse herrsche bei den Bürgern. Da kommt Nico Semsrotts Idee zu einer ordentlichen Auftaktveranstaltung gerade recht: Wir mieten uns vier Wochen vor der Wahl die Volksbühne in Berlin, inszenieren dort einen an Trumps US-Wahlkampf orientierten Jubelabend, filmen das Ganze mit und stellen es dann als »Die große Europa-Show« bei YouTube ein, wo es 1,2 Millionen Mal angesehen wird. Alle Medien müssen darüber berichten und danach können wir uns entspannt zurücklehnen. Ein guter Plan!
Um die Sache zu finanzieren, nehmen wir einfach Eintritt (18 Euro, PARTEI-Mitglieder die Hälfte), spenden den Gewinn an die PARTEI, die das Geld über die – extrem unseriöse – Parteienfinanzierung verdoppelt, und davon die Filmaufnahmen bezahlt. Auf Facebook lässt Semsrott aus drei Vorschlägen (»Europa stärken. Deutschland schwächen.« / »Für Europa reicht’s« / »Europa vom Ende her denken«) noch kurz ein Wahlkampfmotto abstimmen, dann laufen die Vorbereitungen an.
Auf keinen Fall theaterpreisverdächtig: PARTEI-typisches Understatement an der alten Arbeiterbühne
»Für Europa reicht’s« steht auf dem Schild, das Martin Sonneborn vor der Volksbühne Berlin in die Kameras hält. Mit diesem Slogan zieht die Satire-Partei »Die PARTEI« in die Europawahl. Zum Wahlkampfauftakt hatten sich die Macher offenbar nicht lumpen lassen. Neben dem offiziellen Wahlslogan zieren auch die Nachnamen des Kandidatenduos Sonneborn und Nico Semsrott auf riesigen Bannern das Theater am Rosa-Luxemburg-Platz.
Emotionsmaschine auf Hochtouren
Nico Semsrott: »Ihr habt das vielleicht vor der Bühne und auch hier gemerkt: Wir setzen auch ein bisschen auf das Stilmittel der Übertreibung. Wir brauchen jeweils nach dem ersten Satz unserer Bewerbungsreden einen völlig angemessenen Standing-Ovations-Applaus.«
Nico Semsrott hat es kaum ausgesprochen, da macht das Publikum schon mit. Im Saal sitzen vor allem Fans. Kritische Distanz? Null. Auf Semsrotts Handzeichen endet der Applaus so abrupt, wie er angefangen hat.
»Und weil wir es wirklich übertreiben, haben wir auch noch 300 Schilder fürs Publikum.«
Auf den Schildern stehen Wahlkampfslogans und die Namen der Kandidaten. Geboten wird eine Show im amerikanischen Stil – mit Cheerleadern auf der Bühne, Luftballons und einem bereitwillig aufs Stichwort jubelnden Publikum. Die Emotionsmaschine läuft auf hohen Touren – erschreckend effizient.
»Europa ist am Arsch«, öffnet ein Einspieler auf der großen Leinwand.
»An der Spitze steht ein perverser Lüstling« – der busselnde Jean-Claude Juncker wird eingeblendet.
»Zu viele Brandschutzverordnungen« – der Bruchflughafen BER erscheint –, »zu wenig Brandschutzverordnungen« – die brennende Notre-Dame.
Der halbe Saal lacht. Eltern haben ihre Kinder mitgebracht, Kinder ihre Eltern. Metal-Kuttenträger im Rollstuhl mischen sich mit Comedians/Stand-uppern und PARTEI-Mitgliedern.
»Unsere Kinder verblöden auf Demos« zu Bildern der Klimastreiks, »Menschen trauen sich nicht mehr ohne Sicherheitswesten auf die Straße« zu Bildern der Gelbwesten in Paris.
Die Tonalität ist stets zwischen alarmistisch und gaga. Aber zum Glück, so wird es verkauft, naht die Rettung: Sonneborn-Semsrott, zwei mittelalte weiße Männer, die Europa aus den Händen der alten weißen Männer befreien wollen.
Als der Clip endet, betritt das »Politiker«-Duo die Bühne. Sonneborn im biederen grauen »Partei«-Anzug, Semsrott wie immer im schwarzen Hoodie.
Aufgezeichnet wurde das Ganze Ende April mit etwa 800 Menschen in der Berliner Volksbühne – die offensichtlich gebrieft waren. Denn als Martin Sonneborn und Nico Semsrott im Video die Bühne betreten, rasten die Leute im Publikum aus. Sie jubeln und halten Plakate hoch. Dabei steht auf denen eher semibegeistert: »Besser als nix« oder »Für Europa reicht’s«. In seiner Bewerbungsrede für den Posten als Präsident der Europäischen Kommission kritisiert Nico Semsrott dann noch einmal den Europawahlkampf: »Jede Klassensprecher-Wahl elektrisiert mehr Menschen als die Europawahl.«
Martin Sonneborn zeigt, was er in den vergangenen Jahren getan hat. Wahlplakate mit klugen Sprüchen, das ist für die Lacher, und Videos von seinen Reden im Parlament, meist zu später Stunde, wenn außer dem fraktionslosen Abgeordneten und dem Parlamentspräsidium kaum noch jemand die leeren Abgeordnetenreihen bevölkert.
Es sind Reden für die Generation YouTube, gehalten für irgendwen da draußen, sagen wir: das Volk – manchmal zehntausendfach, manchmal hunderttausendfach geklickt. Irgendeine Stimme, die im Europaparlament Tacheles redet, Zusammenhänge aufzeigt oder Witze reißt; auch wenn dort gar niemand zuhört.
Gut zwei Stunden Show, Gags und politische Witze, zwei Stunden Kabarett und Aufklärung. Da jubeln sie und lachen auf den Rängen. Zwei Stunden und eine Versuchsanordnung: Ist es das nicht vielleicht wert, zwei Abgeordnete ins Europaparlament zu entsenden, die dem Mosaik europäischer Stimmen noch weiteres Kolorit hinzufügen? Vor allem: eine kritische, eigene Öffentlichkeit?
Provokation und Klamauk als Mittel der Aufklärung
Es ist die Form, die hier den Nerv im Publikum trifft: anarchisch, unerschrocken, albern, kritisch und glaubwürdig. Besonders junge Männer in größeren Städten fühlen sich davon angesprochen.
Sie vereint der Protest gegen drohende Uploadfilter durch die EU-Urheberrechtsreform, gegen militärische Aufrüstung in der EU und für hohen Datenschutz. Und sie nutzen überdurchschnittlich viel das Internet. Kein Wunder, dass dieser Abend mit Kameras aufgezeichnet wird und anschließend in portionierten Clips im Internet landen soll. Die Tour durch 27 Städte ist da fast nebensächlich.
Natürlich ist die Tour nicht nebensächlich. Und sollte sie es doch sein, dann ist sie die schönste und anstrengendste Nebensache der Welt. Vor bundesweiten Wahlen ist es Tradition, dass rund zwei Dutzend handverlesener PARTEI-Mitglieder auf eine 14-tägige Wahlkampfreise kreuz & quer durchs ganze Land gehen. Ortsvereine aus Groß- und Kleinstädten bewerben sich um Aufnahme in den Tourkalender und organisieren Wahlkampfaktionen. Die Plätze für Mitfahrer sind begehrt und werden in einem undurchsichtigen parteieigenen Klüngelverfahren vergeben, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Schlaf ist unterwegs nicht vorgesehen und wenn doch, dann unter unwürdigsten Bedingungen in zumeist kostenfreien Unterkünften, die von den Ortsvereinen organisiert werden. Oder in dem fiesen PARTEI-Anzug von C&A, grau, aus bestem Vollpolyester, der in der PARTEI uniform getragen wird. Wer überlebt, erhält einen beliebten billigen Blechorden und darf nach einer angemessenen Rekonvaleszenzzeit (bis zur nächsten Wahl) wieder mitfahren.
Zum Glück müssen wir Spitzenkandidaten immer nur punktuell anwesend sein.
Unseren EU-Wahlkampf starten wir mit zwei angemieteten schwarzen Mercedes-Transportern (Vollkasko, Strafzettel übernimmt der Bundesvorstand) in voller PARTEI-Beklebung in Westerngrund, Spessart, Bayern. Hier im grünen Nichts ist der geografische Mittelpunkt der EU – bis die Briten gehen, dann wird der Touristenmagnet (Spaß) mit seinen fünf trostlos in der Gegend herumstehenden EU- und Deutschland-, Bayern- und Spessart-Flaggen rund 70 Kilometer Richtung Würzburg wandern. Wir geben der menschenarmen, nassen Gegend das Versprechen, den Mittelpunkt an seinem traditionellen Ort zu belassen, falls wir je Mehrheiten im EU-Parlament stellen sollten. Dann geht’s los.
In den heimgesuchten Städten organisieren die Ortsvereine kleine Demonstrationen mit Kommunalthemen. Das geht von nächtlichen »Anwohner nerven! Sperrzeiten abschaffen! Kein Bier ist illegal!«-Demos in der Heidelberger Altstadt bis zu Kranzniederlegungen mit Kniefall an irgendeinem »Denkmal für das Internet« in Słubice, der Partnerstadt von Frankfurt an der Oder.
In Tübingen erhalten wir eine kompetente Stadtführung, die uns auch am Rathaus vorbeiführt. Nachdem die Aufforderungen eines PARTEI-Freundes mit Megafon – »Achtung, Achtung, Borrris Palmer, das Haus ist umstellt! Komm Sie raus, mit erhobenen Händen und ohne Hosen!« – keinen Erfolg gezeigt haben, gehen wir kurzerhand rein und ich bitte darum, Boris Palmer sprechen zu dürfen. Eine freundliche Vorzimmerdame sagt uns, dass Palmer verreist sei. Aber kurz nachdem wir das Rathaus verlassen haben, hat der Oberbürgermeister offenbar seine Reise beendet und kommt zu uns heraus. Ein bisschen steif fragt er nach dem Zweck unseres Besuchs. Ich drücke ihm einen nicht mehr voll funktionsfähigen Schirm, den ich nicht länger herumschleppen möchte, in die Hand: »Ich möchte Ihnen diesen Schirm überreichen.«
Palmer schaut mich nachdenklich an: »Wegen Shitstorm? Oder was?«
»Ja, genau. In PARTEI-Grau.«
Der Grüne spannt den Schirm prüfend auf, denkt nach, sucht einen Pferdefuß: »Was dagegensprechen könnte, wenn er mehr wert ist als 5 Euro, muss ich …«
Ich kürze die Sache ab: »Ist er garantiert nicht.«
Zum Abschied biete ich ihm noch einen »extrem unsicheren hinteren Listenplatz bei der PARTEI an, für den Fall, dass es mit den Grünen nichts mehr wird«, und verabschiede mich. Die Tübinger PARTEI-Freunde bedanken sich artig, dass Palmer so gut Wahlkampf für sie macht, dann ziehen wir weiter. Nächster Halt ist Karlsruhe. Dort hat der Ortsverein an einer viel befahrenen Straße eine Menge Bierkisten bereitgestellt und ein großes Transparent gespannt: »Du hupst – Die PARTEI trinkt!« Es kommt, wie es kommen muss: Die Autofahrer hupen, PARTEI und Passanten prosten zurück und trinken, Autofahrer hupen mehr, wir trinken mehr.
Ein Anruf aus der Geschäftsstelle der PARTEI. Das Justiziariat des ZDF hat gerade erklärt, dass man sich weigern werde, unseren zweiten Wahlwerbespot auszustrahlen. Das überrascht mich. Inhaltlich haben wir auf den vier Sendeplätzen, die wir als Kleinpartei vor Wahlen regelmäßig im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugewiesen bekommen, vollkommen freie Hand. Das hatten wir auch schon reichlich ausgenutzt, u.a. durch den Verkauf unserer Spots zur Bundestagswahl 2005.
Nachdem sich damals kurz vor der Wahl herausgestellt hatte, dass ARD und ZDF im Vorabendprogramm Schleichwerbung und Product Placement betrieben, versteigerten wir unsere vier Spots öffentlichkeitswirksam auf eBay. Für 25.000 Euro erwarb sie der sehr, sehr gute Billigflieger HLX (heute TUIfly) – für den wir dann mit jedem Spot penetranter werdende Schleichwerbung zeigten. Das wiederum ärgerte die Herren Bosbach (CDU) und Ramsauer (CSU) so sehr, dass uns Bundeswahlleiter Roderich Eseler (CDU) zur nächsten Bundestagswahl unter fadenscheinigsten Begründungen einfach nicht zuließ. Das wiederum ärgerte uns, und wir konnten so viel Öffentlichkeit herstellen für diesen Skandal, dass im Nachgang das Wahlrecht im Grundgesetz geändert wurde. Heutzutage hat der Bundeswahlleiter bei Zulassungsentscheidungen zwei Juristen an seiner Seite, und eine willkürlich zurückgewiesene Partei kann mit einem Eilantrag sofort vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Wir hatten seitdem nie wieder Probleme, zu einer Wahl zugelassen zu werden.
Aber diesmal wollen wir keinen Scherz auf Kosten des Senders machen. Um dem anhaltenden Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer und an den Außengrenzen Europas zumindest etwas mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, hatten wir Sea-Watch gebeten, einen der Spots zu gestalten. Der Kurzfilm, den die Seenotretter produziert haben, ist brutal und bricht radikal mit der Tradition inhaltsleerer Schönwetterclips, die vor Wahlen üblicherweise versendet werden.
48 Sekunden lang kämpft der Junge, dunkle Haare, rote Trainingsjacke, gegen das Ertrinken an. Dann stößt er eine große Luftblase aus, der Blick wird starr, und er gleitet aus dem Bild.
Die Kamera taucht aus dem Wasser auf, der Zuschauer ist auf offener See. Eine Rettungsweste schwimmt einige Meter weiter im Bild. Es erscheint der Schriftzug »Ertrinken dauert so lange wie dieser Film«, also eine Minute und 22 Sekunden.
Da wir das furchtbare Thema nicht für einen plumpen Wahlaufruf nutzen wollen, haben wir auf jegliches PARTEI-Logo verzichtet und der Spot endet mit einem Spendenaufruf für Sea-Watch. Und das ZDF moniert nun, es handele sich nicht um Wahlwerbung.
Tatsächlich begann das fragliche Video mit der Erklärung: »Die nachfolgende Wahlwerbung ist keine Wahlwerbung. Für den Inhalt dieses Films ist ausschließlich die EU verantwortlich.«
Und weil wir das Verhalten des Senders als ebenso arrogante wie unzulässige Einmischung sehen, stellen wir nachmittags eine kurze Presseerklärung ins Netz. Wenn das ZDF den Spot für seine überalterten Zuschauer deutlicher als Wahlwerbung deklariert haben will – was soll’s, können sie bekommen. Wir bieten an, den Spot zu überarbeiten, fügen irgendwo ein Logo ein und noch einen entsprechenden Aufruf ans Ende: »Wählen Sie Die PARTEI. Denn sie gibt den wichtigen Themen Aufmerksamkeit.«
Große Empörung in den sozialen Medien folgte prompt. Das ZDF sah sich gezwungen, eine Erklärung abzugeben. So sei »der Spot für den Zuschauer in keiner Weise als Wahlwerbespot zu erkennen gewesen«. Es habe sich daher nicht um Wahlwerbung gehandelt, sondern um einen Aufruf, Sea-Watch zu unterstützen. Nach der Zufügung des PARTEI-Logos strahlte der Sender den Spot am Mittwochabend aus. Sonneborn hat sein Ziel erreicht: Das Thema Seenotrettung ist durch den jetzt noch prominenteren Wahlspot wieder mehr in den Fokus gerückt.«
Manche Fernsehzuschauer dürften von dem Programm kalt erwischt worden sein, das ihnen das ZDF am Mittwochabend bot. Angekündigt wurde eine Wahlwerbung. Stattdessen war ein Junge in Sportjacke dabei zu beobachten, wie er ertrank. Eine eingeblendete Botschaft parodierte den üblichen Zusatz, wonach nur die Parteien für die Spots zuständig seien: »Für den Inhalt dieses Films ist ausschließlich die EU verantwortlich.«
Zweifellos eine Pointe – und was für eine. Serviert wurde sie von der für Spaßpolitik bekannten »PARTEI«, verfertigt haben sie die gemeinnützigen zivilen Seenotretter von »Sea Watch«.
Eine Provokation? Selbstverständlich. Muss man das ernst nehmen? Man kann. Eine Satire? Auf jeden Fall. Mit einer Anklage zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer in die geschönte Wahlwerbewelt der Parteien einzudringen, bricht Routinen, entzieht sich Kategorien und weitet die Perspektive: Die Verletzung von Anstandsgefühlen, wie sie in instinktiver Abwehr spürbar wird, ist bloß kalkulierte Folge. Die Wahlwerber wollen, dass sich die Wählerinnen und Wähler auf etwas besinnen. Dass sie den Wahlen ihre Aufmerksamkeit schenken. Die »PARTEI« mag dabei schlecht abschneiden, für Europa hat sie etwas erreicht.
Auf einmal erscheint alles in diesem Wahlkampf nichtig und albern – nur nicht der Werbespot einer Satirepartei.
Der nächste Spot ist dann wieder etwas konventioneller gehalten. Und auch er findet seine Freunde.
Beatrice Richter: Ich habe diese Spaßpartei gewählt. Die machen sich lustig über sich selbst und über uns.
Zeit: Sie meinen »Die PARTEI« des Kabarettisten Martin Sonneborn?
Richter: Ja. Ich lache nicht viel, auch nicht über mich, da gibt es nicht viel zu lachen, aber bei einem Wahlwerbespot von denen musste ich lachen. Da saß ein dürrer Mann und präsentierte einen AfD-Blocker, den man installieren kann, wenn man keine AfD-Inhalte sehen will. Das fand ich super, ich wusste: Die wähle ich. Zu meiner Tochter habe ich gesagt, wenn sie die CDU wählt, gebe ich sie zur Adoption frei.
Zeit: Wie alt ist Ihre Tochter?
Richter: Vierzig.
Mit dem Blocker sollen Nachrichtenseiten von AfD-Inhalten befreit werden. »Für eine seriösere Nachrichtenlage und ein humaneres Klima im Lande«, heißt es aus der Parteizentrale. Denn: Ein Leben ohne AfD sei möglich.
PARTEI-Chef Martin Sonneborn hat watson vorab erklärt, was es mit dem AfD-Blocker denn genau auf sich hat: Der AfD-Blocker sei eine komplizierte Software, sagt Sonneborn, »ein Plug-in, das die wichtigsten Nachrichtenseiten – außer watson natürlich – von sämtlichen Inhalten der AfD befreit«. Für ausgewählte Nachrichtenseiten gibt es den AfD-Blocker bereits für Firefox und Chrome. »Im Grunde ein AD-Blocker mit einem f dazwischen.«
Auf der Fahrt nach Bielefeld (gibt es wieder) ruft meine Europapolitische Beraterin an: »Es geschehen noch Zeichen und Wunder, der Spiegel ruft zur Wahl der PARTEI auf! Also nicht der Spiegel, sondern Ferda Ataman in einer Kolumne, und nicht zur Wahl der PARTEI, sondern zur Wahl von Kleinparteien, aber …«
»Wir sind keine Kleinpartei, wir sind die sechst- oder siebtstärkste Partei, je nachdem ob wir gerade vor oder hinter der FDP liegen!«
»… aber immerhin. Lies es dir durch.«
Seit 1999 geht nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten in Deutschland bei der Europawahl an die Urne. Würden die Nichtwähler ins EU-Parlament einziehen, wäre die Leckt-mich-Fraktion die größte. Nur scheint es die meisten Parteien wenig zu jucken, wenn die Leute sie nicht wählen – solange sie ihre Stimme nur niemand anderem geben.
Die Spaßpartei »Die PARTEI« bringt diese Herangehensweise mit ihren apodiktischen Wahlkampfslogans auf den Punkt: »Besser als nix« und »Für Europa reicht’s«.
Falls Sie also nicht wissen, ob Sie sich bei der Europawahl nächste Woche aufraffen sollen, weil Ihnen keine der üblichen Parteien zusagt, dann kommt hier meine Empfehlung: Wählen Sie trotzdem, aus Protest. Nur so kommt Ihr politischer Stinkefinger zur Geltung, nur so drängen Sie die Platzhirsche zum Handeln. Machen Sie Ihr Kreuz bei einer sympathischen Kleinpartei. Es lohnt sich: Denn anders als bei Bundestags- oder Landtagswahlen gibt es bei der Europawahl in Deutschland keine Sperrklausel.
Gestärkt von der Lektüre und mit leichter Verspätung fahren wir in Bielefeld ein. Die PARTEI-Freunde aus Ostwestfalen haben telefonisch angekündigt, dass schon einige interessierte Bürger vor Ort seien und dass sie uns vorsichtshalber eine weibliche Eskorte mit Wasserpistolen stellen werden.
Zwischenstopp in Dings
Sein Wahlkampfauftritt am Donnerstag in Bielefeld war wie ein XXL-Sketch in der »heute-show«. Und eines muss man Martin Sonneborn, dem Kopf der Satirepartei »Die PARTEI«, lassen: Er versammelte mit rund 400 Zuhörern auf dem Siggi deutlich mehr Anhänger um sich, als es die etablierten Parteien bei ihren bisherigen Europawahlkampf-Veranstaltungen in der Stadt vermochten.
Er begrüßt sein Volk »in Dings, äh Bielefeld« und schmäht den hiesigen CDU-Europaabgeordneten Elmar Brok unter dem Gejohle des Publikums als »Elmar Brocken«. SED-Kampflieder (»Die Partei, die Partei, die hat immer recht!«) werden adaptiert, geschickt auf die NS-Zeit angespielt. Auf der Liste der PARTEI stehen Menschen mit den Nachnamen alter Nazi-Größen ganz vorn.
Die ausgelassene Stimmung wird nicht merklich schlechter, als ich nach einer kurzen Ansprache und etwas gepflegtem Bürgerdialog 30 oder 40 Bierflaschen signiere und im Publikum verteile. Mit Aufklebern und Wahlkampfflyern haben sich die Bielefelder schon selbst eingedeckt.
Über den gesamten Verlauf der Wahlkampftour stellen wir kleine Berichte, Fotos oder Filme ins Netz. Nach dem Tourstopp in Erfurt kann ich spektakuläre Aufnahmen einer mittäglichen Straßenbahn-Sonderfahrt posten: Sämtliche Fahrgäste, es müssen über 100 sein, schwenken Bierflaschen und skandieren »EU – RO – PA, EU – RO – PA!« und »Man – fred Stre – ber, Kommissions – präsident!«. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen bei der Vorstellung, wie fassungslos die etablierten Parteien auf derart ungebrochene Politikeuphorie und EU-Begeisterung reagieren werden.
Als Parteichef gelingt es Sonneborn, besonders junge Leute zu politisieren.
Laut Umfragen liegt die PARTEI mit ihren abstrusen Forderungen sogar bei 2 Prozent.
Natürlich gibt es auch absolute Tiefpunkte auf der Tour. Nach Sachsen kommen wir verkatert und viel zu spät. Es ist kalt und nass.
Johannisplatz, Chemnitz
Die Sohlen der Wartenden graben sich in den feuchten Kiessand auf dem kleinen Platz vor einer Vapiano-Filiale. Es ist 13:42 Uhr, Sonneborn kommt über drei Stunden zu spät. Mehr als hundert haben im Nieselregen ausgeharrt: Lederkutten-Punks, ein beleibter Mann mit Pfeife und zwei Neuntklässler, von einem Vater vor drei Stunden hier abgesetzt.
Sonneborn legt los: »Kennen Sie überhaupt einen Namen aus dem Europaparlament?« – »Martin! Martin!«, schallt es durch die Innenstadt bis zum Spargelfest um die Ecke. »Kennen Sie ZWEI Namen aus dem Europaparlament?«
Schuldbewusst bitte ich bei den Chemnitzern um Entschuldigung für die Verspätung und verspreche ihnen, ihre Stadt nach der Machtübernahme in Karl-Marx-Stadt zurückzubenennen. In Bielefeld schien die Sonne, es gab Musik, die Stimmung war gut, da kann man schon mal zu spät kommen. Hier ist das Wetter fies, und es tut mir leid für die Leute, die hier auf uns gewartet haben.
Guckt man die ganzen ein Meter neunzig an Martin Sonneborn herunter, sieht man, wie wenig er sich mit seinem Job in den letzten fünf Jahren gemein gemacht hat. Sonneborn trägt Boots, immer. Schwarz, mit Stahlkappen, Logo von einem Baumaschinenhersteller, zerkratzt wie eine IKEA-Pfanne nach drei Jahren in einer Studi-WG.
Seit Sonneborn vor elf Jahren für den Film Heimatkunde 250 Kilometer durch Ostdeutschland gewandert ist, trägt er das Modell. Jetzt steht er wieder im Osten und spult sein Wahlkampfprogramm runter, lokal angepasst. Uploadfilter? Hätten hier keine Bedeutung: »Ihr habt ja noch 56K-Modems.« Die NS-Namen auf der Liste? Finden in der Hetzjagd-Stadt Chemnitz sicher mehr Anklang als anderswo in Deutschland. Ausschluss von Ungarn aus der EU? Er arbeite auch am »Säxit«, lässt Sonneborn wissen. Die Sachsen lachen.
Sven Giegold und Cem Özdemir werden bei ihrem Wahlkampfbesuch in Halle von einem Social-Media-Spezialisten so geschickt gefilmt, dass man nur die eine Hälfte des Publikums sieht. Ich zähle rund acht Zuschauer, als ich die Bilder auf Facebook ansehe. Auf der anderen Seite sind es vermutlich weniger, die Kamera scheut sich zu schwenken. Am demütigendsten aber finde ich, dass die beiden Spitzenkandidaten der Grünen nicht mal eine ordentliche Gegendemonstration auf sich ziehen!
Die Veranstaltung in Halle ist wohl die euphorischste der ganzen Tour. Sonneborn lächelt über den Marktplatz, als hätte er einen Heizstrahler verschluckt. Gut 300 Menschen strahlen zurück. PARTEI-Genossinnen ballern Konfetti in die Luft.
Aber was sich 50 Meter weiter abspielt, hätte sich nicht mal Sonneborn ausdenken können. Ein lokaler Rechtsextremist ist mit der »Merkeljugend« zur Gegendemo aufmarschiert. Inklusive »HEIL MERKEL«-Banner und roter Fahnen mit weißem Kreis, in dem statt eines Hakenkreuzes das Eurozeichen prangt. Sonneborn greift den wirren Auflauf dankend auf: »Willkommen bei unserer kleinen Nazi-Demo.«
Beim Abendessen im Gasthaus »Zum Schad« bleibt später Zeit zu reflektieren. Die Rechten nennen dieses Theater auch Satire. Ist es das? Nein, auf keinen Fall, sagt Sonneborn. Er hält die Satire für die fünfte Gewalt im Staat. In den 90ern hat er seine Magisterarbeit über die »Wirkungsmöglichkeiten von Satire« geschrieben. Satire, so Sonneborn, brauche einen moralischen Startpunkt, eine künstlerische Umsetzung und eine gewisse Aggression. Aber: Nazis, die Kunst machen? Guter Witz.
Endlich Wahltag. Nach zehn Tagen Wahlkampftour weiß ich natürlich, wo ich mein Kreuz machen muss. Nachdem ich meine staatsbürgerlichen Pflichten recht fix erfüllt habe – ich kann definitiv sagen, in den heutigen Zeiten erleichtert es die Wahlentscheidung ungemein, wenn man seinen eigenen Namen auf dem Wahlzettel findet –, mache ich mich auf in Richtung Kreuzberg. Ab 17.30 Uhr ist Wahlsiegesfeier im traditionsreichen Punkschuppen SO36, ich bin mit Nico Semsrott verabredet. Als ich in die Oranienstraße einbiege, sehe ich relativ viele Leute mit demselben Ziel.
Die meisten derer, die am Sonntag in den Kreuzberger Club wollen, haben die beiden gewählt. Es sind viele. Gut 200 Meter lang ist die Schlange, sie kommt nur zäh voran. Angesichts der Zuwachszahlen, sagt Sonneborn, »glaube ich schon, dass wir die angehende Volkspartei sind«, mit Betonung auf »die«. Schließlich verlören die großen Volksparteien schon »rein mortal«. »Wir wissen, dass uns die biologische Lösung in die Hände spielt«, doziert Sonneborn. Seine Gleichung geht so: »Die SPD ist tot, die Grünen sind die neue SPD, und wir sind die neuen Grünen.« Im Unterschied zu den Grünen wolle »Die PARTEI« zwei Jahre länger an ihren Prinzipien festhalten.
Eigentlich ist es noch ein bisschen zu früh und frühlingshaft, um in überfüllte dunkle Punkschuppen zu gehen. Ich spaziere noch etwas draußen herum, lasse mich mit gut gelaunten Leuten fotografieren und telefoniere ein bisschen. Die großen Parteien erhalten die Wahlprognosen rund zwei Stunden früher, damit sie in Interviews die passenden Statements aus der (richtigen) Schublade ziehen können. Wir werden mit rund 2,4 Prozent ausgewiesen. Auf jeden Fall unser bestes Ergebnis seit Kriegsende. Wir erhalten zwei Mandate und Nico Semsrott geht mit nach Brüssel!
Die »PARTEI« des Satirikers Martin Sonneborn stellt nun zwei Sitze im Europa-Parlament und sieht sich als »angehende Volkspartei«. Aber das heißt gar nichts.
898386 Menschen haben »Die PARTEI« am Sonntag ihre Stimme gegeben – fast fünfmal so viele wie 2014. Einer Partei, die Satire zum Programm macht, die eine deutsche Atombombe fordert (»Damit wir sie als Erste gefordert haben. Smiley«), die »Letztwählern« für die letzten 18 Lebensjahre das Wahlrecht und Klimaleugnern den Führerschein entziehen will.
Besonders interessant: In Berlin überholte die Partei mit einem Ergebnis von 4,8 Prozent sogar die FDP, die lediglich 4,7 Prozent holen konnte.
Satirepartei liegt in sieben Stadtteilen vor der CDU.
Unter den Erstwählern wurde sie mit 9 Prozent drittstärkste Kraft.
Auf der Bühne stehen an diesem Abend die beiden Männer. »Schluss mit lustig«, ist hinter ihnen in großen weißen Lettern zu lesen. Doch »lustig« geht es auf der Bühne trotzdem zu.
Dass »Die PARTEI« gestärkt aus dem Wahlabend hervorgeht, ist ohnehin die wichtigste Nachricht. Semsrott werde von nun an die Arbeit für Sonneborn übernehmen, sagt der. Denn er, Sonneborn, wolle sich in Brüssel zur Ruhe setzen. Es sind die typischen Witze im Stil des Satire-Magazins »Titanic«, die das »PARTEI«-Publikum zuverlässig zum Lachen bringen. Die Zuschauer klatschen, johlen, recken Bierflaschen in die Höhe. Ein Hauch von Punk-Konzert liegt in der Luft.
Zum Wählerpotenzial hatte Sonneborn vor der Wahl erklärt, seine Organisation sei »eine Partei für intelligente Protestwähler«. Das seien etwa Menschen, »die eigentlich die SPD wählen würden, wenn diese noch sozialdemokratische Inhalte vertreten würde«. Oder Unterstützer der Grünen, »wenn sie nicht zu einer zu gut gelaunten Partei der Besserverdienenden geworden wären«.
E: Warum, denken Sie, haben Sie so viele bei der Europawahl gewählt?
MS: Ich habe mich bedankt bei den Kollegen der Groko Haram (Anm.d. Red.: Sonneborns Bezeichnung für die Große Koalition in Deutschland). Die großen Parteien haben viel dafür getan, dass man sie nicht mehr wählen kann: CDU, SPD, FDP, CSU, Grüne, Linke, AfD (er überlegt). Wer möchte die schon wählen? Und dann bleibt einfach nicht mehr viel auf dem Wahlzettel. Wir bemühen uns, relativ substanzlos, standpunktarm und einigermaßen sympathisch in der Öffentlichkeit rüberzukommen. Das ist, glaube ich, eine gute Strategie.
Hätten wir nicht in den letzten Jahren so erfolgreich gegen die Zwei-Prozent-Sperrklausel gekämpft, die die Groko Haram einführen wollte, hätten wir jetzt sogar einen Sitz mehr: Dann wären nämlich Kleinparteien wie Piraten, Familienpartei, Tierschutzpartei und ÖDP gar nicht ins Parlament gekommen.
Nach der letzten Wahl bin ich frühzeitig nach Brüssel gefahren, diesmal fährt Büroleiter Hoffmann vor, um Nico Semsrott bei den tagelangen Formalitäten im Parlament zu unterstützen. Ist ja doch ein bisschen unübersichtlich, das Ganze, wenn man von außen kommt. Ich bleibe noch ein paar Tage in Berlin.
Und lese in der Mitteldeutschen Zeitung, dass zwei stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU in Sachsen-Anhalt das Szenario für eine Koalition mit der dämlichen AfD entworfen haben: »Es muss wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen.« Im Netz gibt es eskalierende Diskussionen. Nun, wenn ich helfen kann, ein zukunftsweisendes Projekt zu unterstützen, immer gern!
MS: Ich hätte auch schon einen guten Namen: SOZIALNATIONALISMUS … HitlerbärtchenSmiley!
Ruprecht Polenz: Antwort an Martin Sonneborn: Es gibt einen für alle Mitglieder verbindlichen Parteitagsbeschluss d. CDU: keine Zusammenarbeit mit der AfD. Wer dagegen verstößt, verhält sich parteischädigend. Das sollte allen klar sein, die jetzt laut nicht zu Ende denken. #FreiheitstattFaschismus #NoAfD
MS: Antwort an Ruprecht Polenz: Ist ja nur ein einfach… Pardon: sind ja nur zwei einfache stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ihrer Partei. Hat wahrscheinlich gar nichts zu sagen … ZwinkerSmiley!
Noch bildstärker weisen die Grünen in diesen Tagen auf den Umbruch hin, den wir gerade erleben. Ein Bild von Cem Özdemir und einem weiteren Bundestagsabgeordneten in Uniform prangt mir entgegen. Die beiden Grünen haben ein viertägiges Praktikum bei der Bundeswehr absolviert und ein paar uniforme Bilder für die Presse sind dabei herausgesprungen. Lustig, das hätte es früher nicht gegeben. Jedenfalls nicht bis Joschka Fischer die seltsame – und in seinen Kreisen bis dato geradezu rufschädigende – Idee hatte, nicht länger Pflastersteine auf Polizisten zu werfen, sondern NATO-Bomben auf Jugoslawien.
MS: Liebe militäraffine Kollegen von den Grünen, eine Studie der Brown University hat gerade herausgefunden, dass der CO2-Ausstoß allein des US-Militärs 2017 größer war als der ganzer Industriestaaten (DK, SWE). FriedensbewegungsSmiley!
Die unfassbare Hässlichkeit des EU-Sitzes in Brüssel fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Das riesige Konglomerat aus tristen Bürogebäuden und später davorgesetzten Erweiterungsblöcken wurde ab Mitte der 90er-Jahre offensiv in ein historisches Jugendstilviertel gepflanzt. Geplant wurde es offenbar als Einkaufs- oder Kongresszentrum, weil man auf die Langlebigkeit der EU noch nicht so recht vertraute, und so gehe ich seit fünf Jahren mittags in ein »hässliches Monstrum mit Büros und zentraler Glashalle unter einem Tonnendach« (Bauwelt). Ein verwirrender, unpraktischer Grundriss, stark veraltete Haustechnik und bedrohliche Risse in den Dachbalken schon nach 15 Jahren haben dazu geführt, dass seit 2012 über Renovierung/Neubau/Luxusneubau diskutiert wird (345/380/500 Millionen).
Risse in irgendwas aus Beton haben Belgier übrigens noch nie bekümmert. Das gilt für die von den Decken der zahlreichen Tunnel herabfallenden Betonbrocken ebenso wie für ihre Atomkraftwerke. In Tihange, nahe der deutschen Grenze, gilt belgischen Behörden alles, durch das noch eben ein Traktor passt, als unbedenklicher Haarriss. Der Reaktordruckbehälter des Kernkraftwerks Tihange 2 hatte Tausende davon. Seit 2012 waren sie bekannt, 2017 wurden in der Region Jodtabletten verteilt, für alle Fälle.
Viel netter wirkt der Standort Brüssel sofort nach Feierabend. Hat man das Parlament abends im Rücken, sieht man vor sich den kleinen Place du Luxembourg. Ein Denkmal für den belgischen Unternehmer John Cockerill thront auf der Rasenfläche in der Mitte und kleine, dreigeschossige, fast britisch anmutende, alte belgische Häuschen mit Restaurants und Bars im Erdgeschoss stehen drumherum.
Im Parlament selbst hat sich nicht viel verändert. Die Gesichter der livrierten Saaldiener sind mir vertraut. Einige Dienstältere unter ihnen dürften aufgrund ihrer Jahrzehnte überdauert habenden alten Verträge über die Höhe meiner Diäten[4] nur höflich lächeln. Ein bisschen lebendiger scheint es mir zuzugehen als in den letzten Monaten vor der Wahl, in denen das Parlament traditionell wie ausgestorben wirkt.
Jetzt ist die Zeit, in der die Fraktionen mit potenziellen neuen Mitgliedern verhandeln. Die sieben Abgeordneten der anderen Kleinparteien aus Deutschland – Piraten, ÖDP, Freie Wähler, Familienpartei, Volt und Tierschutzpartei – schließen sich alle Fraktionen an. Nico Semsrott und ich vorerst nicht.
Kurz vor der EU-Wahl hatte mich in Straßburg der Vorsitzende der Grünen-Fraktion, der nette Belgier Philippe Lamberts, den ich mal für die »heute-show« interviewt habe, eingeladen, seiner Fraktion beizutreten. Jetzt erneuern Sven Giegold und die Co-Vorsitzende Ska Keller diese Einladung nachdrücklich. Hintergrund ist das Kopf-an-Kopf-Rennen um den Status der viertgrößten Fraktion hinter Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen, das sich die europäischen Grünen gerade mit den rechten Parteien liefern. In deren neu gegründeter Fraktion »Identität und Demokratie« tummeln sich 73 Identitäre, Vertreter von AfD und FPÖ, von Vlaams Belang und den Wahren Finnen, von Marine Le Pens Rassemblement National und der italienischen Lega, vormals Lega Nord. Die Grünen/Europäische Freie Allianz bringen es im Moment mit drei Mandatsträgern der deutschen Kleinparteien ÖDP, Piratenpartei und VOLT ebenfalls auf exakt 73 Abgeordnete. Da es um den ersten Zugriff bei der Übernahme von Berichten, um mehr Redezeit und die Verhinderung von rechtsradikalen Vizepräsidenten in den Ausschüssen geht, tritt Semsrott nach kurzer Bedenkzeit in die Fraktion der europäischen Grünen ein. Sehr zum Ärger der AfD: Obwohl Salvini und die AfD vollmundig eine rechte »Superfraktion« angekündigt hatten, reicht es für die Rechten nur zum fünften Platz.
BI: Apropos Grüne, was halten Sie von denen?
Sonneborn: Die Grünen sind so erfolgreich, weil sie unser Konzept kopieren: keine Inhalte, sympathisch, gut aussehend. Nur leider sind sie so krampfhaft gut gelaunt. Mit Nico Semsrott haben wir ja extra einen depressiven Kandidaten aufgestellt, um dieser unbegründeten Fröhlichkeit etwas entgegenzusetzen.
BI: Ihr Parteikollege hat sich ausgerechnet der Grünen-Fraktion angeschlossen. Ist das Verrat?
Sonneborn: Nein, das ist strategische Unterwanderung. Wir nutzen die Möglichkeiten, die das bringt. Wenn wir künftig noch mehr legislativ arbeiten wollen, kann das nur von Vorteil sein.
Ich bewahre mir meine Unabhängigkeit, bitte aber meine gut vernetzte belgische Assistentin, die Information zu streuen, dass ich auch in dieser Legislatur bereitstehe, in jede beliebige Fraktion einzutreten. Für eine Million (netto).
Tatsächlich kommt in letzter Minute vor Transferschluss noch eine Anfrage: Einer der zurechnungsfähigeren Abgeordneten der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung bittet um ein Gespräch, ohne allerdings direkt auf meine Ablösesumme einzugehen. Er erklärt mir, dass die Cinque Stelle ihre ungeliebte Zusammenarbeit mit dem Briten Nigel Farage aufgekündigt habe, um eine eigene Fraktion zu gründen. Einen Tag vor Meldeschluss fehlen ihnen noch zwei Mandatsträger zur Mindestgröße. Höflich lehne ich ab. Die Fünf Sterne koalieren in Italien mit der rechtsnationalen Lega von Benito Salvini. Das ist mir selbst für eine Million (netto) zu schmutzig; ich bin ja nicht von der CDU.
Einen Vorteil hat Nicos Eintritt in eine Fraktion: Wir beide erhalten von der Verwaltung Büros auf einem Flur der Grünen zugeteilt. Ich steige auf vom siebten Stock im Nebengebäude in den achten des Hauptgebäudes. Angekommen im Zentrum der Macht! (Spaß) Hier sieht es aus wie im Berliner Bürgeramt, aber der Weg zum Plenarsaal ist drei Minuten kürzer.
Auch die Legionellen in den Leitungen haben den Wiedereinzug geschafft, obwohl sie noch nicht einmal offiziell zur Wahl standen, in den kommenden fünf Jahren wird es daher wie gehabt kein warmes Wasser am Hauptsitz der Europäischen Union geben.
Einmal im Monat findet weiterhin der Umzug nach Straßburg statt. Rund 5000 Abgeordnete, Beamte, Mitarbeiter, Journalisten und Lobbyisten machen sich dann montags auf den Weg zur EU-Filiale in Frankreich. Für die Abgeordneten (MEP – Mitglieder des Europäischen Parlaments) geht die Straßburger Arbeitswoche wie üblich von Montagabend bis Donnerstagmittag. Die zwölf Umzüge im Jahr produzieren rund 20.000 Tonnen CO2 und kosten geschätzte 220 Millionen Euro. Ich darf das nicht kritisieren, ein Teil des Geldes geht in meine Taschen, und der Straßburg-Montag ist mein bestbezahlter Arbeitstag: Für jede Fahrt mit dem eigenen Wagen erhalte ich 53 Cent. Pro Kilometer. Steuerfrei. Zuzüglich einer »Zeitaufwandsvergütung« in Höhe eines halben Tagegeldes[5] – und eines ganzen Tagegeldes, auf das ich Anspruch erhalte, wenn ich mich bis 22 Uhr in die Anwesenheitslisten im Plenarsaal eintrage – ergibt das eine derartige Menge Geld, dass ich davon meinen 25 Jahre alten Audi A6 am Leben halten kann.
Ein paar Kurven und Ampeln, wenn man von der französischen Autobahn kommt, dann taucht im Europaviertel am Rand von Straßburg das Parlamentsgebäude auf. Optisch steht es in starkem Gegensatz zum EU-Sitz in Brüssel, der von außen, innen, oben und unten eine ästhetische Zumutung ist. Auf der einen Seite schmiegt sich nicht unelegant ein ellipsenförmiger, voll verglaster Flügel direkt an das fast idyllische Flüsschen Ill, auf der anderen ragt ein runder Turm aus Glas und Sandstein 60 Meter in die Höhe, der auf seiner abgestuften Ostseite wirkt, als sei er noch nicht bis zur vollen Höhe fertiggebaut. Er soll ein sich weiterhin im Aufbau befindliches Europa signalisieren, erinnert aber gleichzeitig auch ein wenig an den Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel (dem Älteren); je nachdem wie positiv man die Zukunft der EU sieht.
Dazwischen befinden sich sechs oder sieben Etagen mit Büros, Konferenzräumen, Sälen, Besucherbereichen, Souvenirshops, Europaflaggen, Restaurants und Bars. Es gibt viel natürliches Licht, einen lang gestreckten Wintergarten mit einem Philodendronwald auf der unteren Ebene und überhaupt viel Holz und Glas.
Schlichter Scherz: Ich mogle mich in eine Letztwählerbesuchergruppe von Elmar Brocken (Mitte).
Das Herzstück ist der hölzerne runde Plenarsaal mit Platz für knapp 800 Abgeordnete und über 600 Besucher. Aber nicht nur die Architektur[6] ist hier freundlicher als in Brüssel, auch die Stimmung in Straßburg ist wesentlich entspannter, es fühlt sich immer ein wenig nach Schulausflug an.
An diesem ersten Sitzungstag der neuen Legislaturperiode ist es ungewöhnlich voll, weil viele nicht wiedergewählte Abgeordnete ein letztes Mal angereist sind, um Abschied zu nehmen. Über 60 Prozent der Abgeordneten sind neu. Meine alten Kumpels Elmar Brocken, Pannen-Jo Leinen, der polnische Monarchist Korwin-Mikke und Alessandra Mussolini haben es leider nicht wieder geschafft. Um »Mister Europa Elmar Brok« (Mindener Tagblatt) tut es mir besonders leid, er war mir ans Herz gewachsen, und ich hatte große Freude daran gehabt, den selbst ernannten & ungekrönten König des Europaparlaments in seinem 40. Dienstjahr hier und da ein bisschen zu ärgern.
Michael H: Habe ihn mal im Flieger von Paderborn nach München in der 1. Reihe gehabt. 7.00 Uhr. E.B. pennt und schnarcht den ganzen Flieger zusammen. Die arme Stewardess musste ihn wecken, weil sich andere Fluggäste gestört fühlten. Ich finde, E.B. sollte jetzt endlich Privatier werden.
So freue ich mich schon, als ich vor der MEP-Bar David McAllister von der CDU sehe, den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten, immerhin ein bekanntes Gesicht. Auf seine Frage, ob ich mich diesmal einer Fraktion anschließen will, entgegne ich: »Wenn ich das je tun sollte, dann komme ich zu Ihnen in die EVP.«
Minuten später kommt mir Hans-Olaf Henkel entgegen, vormals AfD, vormals Präsident des BDI. »Hi, Henkel! Auf dem Weg in den verdienten Ruhestand?« »In den Ruhestand? Erst mal werde ich jetzt den ZDF-Skandal recherchieren, aufarbeiten, wie das ZDF Ihnen Wahlkampfhilfe geleistet hat!« Da ich Henkels regungsloses Gesicht auf eine großzügig dosierte Ladung Botox zurückführe, nehme ich das für einen guten Witz und lächle höflich. Ich hatte lediglich ein einziges Mal für ein paar Minuten als Interviewgast in der »heute-show« gesessen, ganz regulär vor Beginn der sechswöchigen Karenzzeit, in der Vertreter obskurer kleiner Oppositionsparteien vor Wahlen dann nicht mehr in Unterhaltungssendungen von ARD & ZDF auftauchen dürfen. Wenn Henkel wüsste, dass wir diverse Einladungen ausgeschlagen haben, weil wir mit linearem Fernsehen praktisch keine PARTEI-Wähler erreichen!
Welke: