Herz - Alfred Goubran - E-Book

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Alfred Goubran

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Beschreibung

Der Theaterdisponent Muschg versucht, Licht in das Dunkel der möglichen Ursachen und Anlässe für seinen Aufenthalt in der Psychiatrie zu bringen. Niemand vom Personal ist bereit, ihm Auskunft zu geben. Er, Muschg, sei nur eines Tages hier aufgewacht und alle hätten so getan, als sei es nie anders gewesen – heute am 17. März wie an jedem Tag … War der Anlass ein Selbstmordversuch, der eskalierte Streit mit einem anderen Kunden in einem Supermarkt? – Und die Ursache? – Ein simples Burn-out, nach den langen Jahren der Überanstrengung in seinem Beruf, dem Stress, den ständigen Änderungen in den Proben- und Aufführungsterminen, dem Gejammer der Schauspieler und Regisseure, den Klagen der Debütanten, Diven, des unfähigen Direktors, der Bühnenarbeiter, Musiker und Beleuchter – oder war es doch, als Tüpfelchen auf dem i, die Dramatisierung der Biographie des Leprapriesters Pater Damian, die er sich aufgehalst hatte, die ihn letztlich in den Irrsinn getrieben hat? – Auch eine Verschwörung ist nicht ganz auszuschließen, hatte er doch nach dem Tod des Dichters Aumeier dessen brisante Recherchen über Zwangsarbeiterinnenheime und die heute noch mächtigen Höllerschen Glaswerke an die Nationalbibliothek weitergeleitet, wo sie, nach Auskunft der zuständigen Sachbearbeiterin, nie angekommen waren. HERZ ist die Geschichte Muschgs, von ihm selbst erzählt, die von der Erforschung der möglichen Ursachen und Anlässe für seinen Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung handelt. Hinzu kommen Beobachtungen zum Alltagsleben, seinen Schicksalsgefährten und dem „großen Blabla", wie er den Stationsvorsteher nennt.

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Seitenzahl: 153

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Alfred Goubran

HERZ

Eine Verfassung

Orthographie und Grammatik entsprechen in weiten Teilen Muschgs Originalaufzeichnungen, nur offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die Unterstreichungen durch Kursivierung ersetzt und manchmal die Dialoge, zur besseren Lesbarkeit, in Einzelzeilen gesetzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printed in Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2017

© 2017 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Covergestaltung: Nicolas Mahler

ISBN der Printausgabe: 978-3-99200-183-5

ISBN E-Book: 978-3-99200-184-2

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

I

Heute am 17. März wie an jedem Tag sehe ich die kleinen Bipeden über die Weltbühnen flimmern, Männer wie Frauen, menschlicher Flitter, der mir vor den Augen tanzt, seelenloser Firlefanz, jung & alt, Ramschmenschen, laut & roh, Trödelkinder & Rummelvieh, laut & billig – billiger die einen, die anderen ermäßigt, Pfandflaschen, Rabattmarken, Rubbellose, Umsessene & Berittene, Wichtel & Hilfsteufel aller Art, die Herde, der Schwarm, ein Gewimmel von Fleischrosen, ein Fang silberner Fische, der im Bootsrumpf zappelt, während rundum das Meer freundlich gleißt & in den Aborten der Parlamente die Abgeordneten ihre Hände in Chlorwasser & sich das Gemeinwohl wie Reste geronnener Milch aus den Augen waschen,

|: heute am 17. März wie an jedem Tag :| tönt ihr Geschrei & Geplapper aus den Laut- & Lautersprechern der Welt, fast möchte man sagen – nein, so spricht man nicht, immer hast du den falschen Pullover & nie die richtigen Schuhe an, menschliches Geräusch überall, hier in der Anstalt & draußen in der Stadt, ein Keuchen & Ächzen, ein Scheuern & Schaben, das Gemurmel der Verdauungssäfte, die Flatulenzen & Schlafgeräusche, das Zähneknirschen & Knacken der Gelenke, die Schritte, das Händeklatschen,

und keinen stört der Gestank, die Ausdünstungen der Furunkelköpfe in den U-Bahnen, der Fäulnisgeruch in den Markthallen, der Pestilenzatem der Wurstverkäuferin, das freundliche Lächeln der Stationsschwester, während sie meine Tagesration Tabletten aufs Nachtkästchen stellt & mir aus ihrem morschen Gebiß die schwärzeste Zahnfäule ins Gesicht lacht, Schwester Anke, die Fröhliche, der die Lebenslust aus den Augen blitzt, im Strahlenkranz ihrer Lachfalten & Fältchen unter den Augenrändern, oben ein Fächer ergrauter Wimpern, dazwischen das Augenweiß, milchblau schimmernd, ein Muschelgrund, das Rätselbild ihrer samtgrünen Iris, die schwarzen & nußbraunen Makel wie Blätter auf die Regenbogenhaut gestreut, ein Zwillingsmandala, in dessen Anblick ich mich versenke, während sie mit den Worten „Guten Morgen, Herr Muschg – Ihre Medizin“ ihren Fäulnisatem verströmt, daß ich zu schielen beginne und ihr mitten auf der Stirn aus den zwei Augen ein drittes erblüht;

|: heute am 17. März wie an jedem Tag :| presse ich die Lippen zusammen & halte die Luft an, bis sie mit ihren Verrichtungen fertig ist & das Zimmer verläßt, dann springe ich auf, öffne das Fenster und flüchte vor der eisigen Luft in den angrenzenden Waschraum, um mir, zum zweiten Mal an diesem Morgen, die Zähne zu putzen & die Pillen aus dem Plastikbecher in die Kloschüssel zu leeren, pastellfarbene Köttel, die ich wieder der Allgemeinheit zuführe, wobei ich mich keiner Sekunde der Vorstellung hingebe, ich hätte mir oder der Welt damit etwas Gutes getan,

denn die Vergiftung ist eine Sache, der Ekel eine andere, und die Tabletten, die mir Schwester Anke |: heute am 17. März wie an jedem Tag :| aufs Nachtkästchen stellt, sind für mich untrennbar mit dem Pestatem, den sie mir allmorgendlich ins Gesicht haucht, verbunden, auch jetzt, während ich dies niederschreibe & vor meinem inneren Auge den Plastikbecher auf dem Nachtkästchen stehen sehe, halte ich unwillkürlich die Luft an wie ein Säugling, der erschrickt, wenn man ihm ins Gesicht bläst – kein Wunder also, daß ich diese Tabletten weder anfassen noch in den Mund nehmen oder hinunterschlucken will, stellen sie für mich doch die Essenz & das Konzentrat der allmorgendlichen Geruchsbelästigung dar,

eigentlich ist diese Schwester Anke & alles, was sie mir bringt, nur ein schlechter Geruch, den ich als notwendige Heimsuchung hinnehme, nicht unähnlich dem Dunst aus geschmortem Fett & Bratensäften, der allabendlich aus den Hinterhofküchen der Gaststätten & Restaurants in den Lichthöfen aufsteigt & durch die geöffneten Fenster in die Wohnungen dringt, wo er zu kleinen Fetttröpfchen kondensiert, sich in den Gardinen festsetzt, auf die Tische, Möbel & Böden sinkt, ein zäher, klebriger Niederschlag, der sich mit dem Hausstaub mengt, den mikroskopisch kleinen Haar- & Hautresten, den Milben & Rädertierchen, dem Dreck & Straßenabrieb, den man an seinen Schuhsohlen in die Wohnung trägt, sodaß es unmöglich ist, seiner Berührung zu entgehen & die mit Palmöl & Innereien gesättigte Luft über die Haut oder die Lungen nicht in sich aufzunehmen,

doch kaum einer brächte den schlechten Geschmack in seinem Mund, die Ekzeme & allergischen Hautreaktionen in Zusammenhang mit dem Gestank, und so ist auch Schwester Anke, mit der ich sonst weiter nichts zu tun habe, im letzten ein Gestank & ein übler Geruch für mich, der menschliche Gestalt angenommen hat & mir als Morgengruß ins Zimmer weht, wobei es keinen Unterschied macht, ob ich hernach das Fenster öffne oder die Tabletten ins Klo schütte, um mich des Gestanks zu entledigen, denn Lokus & Orkus sind in diesem Moment, zumindest für mich, kommunizierende Gefäße eines miasmatischen Systems, an das ich nicht angeschlossen sein will,

vor den Wirkungen & Nebenwirkungen der Tabletten fürchte ich mich jedoch nicht – längst habe ich mich mit der Vergiftung abgefunden, wenn sie keinen Ekel in mir auslöst, auch hege ich den Verdacht, daß eine gewisse Grundschädigung |: heute am 17. März wie an jedem Tag :| der Gesundheit durchaus förderlich ist, denn ein gesunder Organismus, wie er vielleicht noch vor fünfhundert Jahren auf diesem Planeten existiert hat, würde an den Belastungen, denen wir heute täglich ausgesetzt sind, innerhalb weniger Wochen zugrunde gehen, das gilt auch für einen geistig gesunden Menschen: Ohne die Verdrängungsmechanismen, die bereits in frühester Kindheit eingeübt werden, ohne den Schutz der Neurosen, Komplexe, Psychosen & Aufmerksamkeitsdefizite würde er unter der Flut der Propaganda & Idiotologien, der ständigen Reizung der Nerven & Sinne in kürzester Zeit verrückt werden – die Geisteskrankheit, an die wir uns allmählich, dem öffentlichen Bildungsauftrag folgend, gewöhnt haben, würde ihn mit einem Schlag treffen & eine Art Kurzschluß auslösen, was einer Aufnahme in unsere Gesellschaft in nuce gleichkäme,

danach, denke ich mir, würde sich auch für ihn schon noch ein Plätzchen finden, wo er sein Leben fristen & der Allgemeinheit als Studienobjekt oder Psychopharmakaprobant dienlich sein könnte, vielleicht in einer Anstalt wie dieser hier,

obgleich der große Blabla es sich ausdrücklich verbeten haben will, von diesem Haus als einer Anstalt zu sprechen, „Das ist keine Anstalt“, sagt er, „sondern ein Sanatorium“, & sagt es nicht nur einmal, sondern zwei- oder dreimal, eindringlich will er sein, das merkt man, beide Hände hat er auf die Stuhllehnen gestützt, die großen Eulenaugen blicken starr, „Ein Sanatorium, verstehen Sie …“ – als ob das einen Unterschied macht, wir haben auch das Theater immer nur die Anstalt genannt, etwas anderes war es nicht, und daß mich der große Blabla als vertrauensbildende Maßnahme & Beschäftigungstherapie den Dienstplan schreiben läßt, trägt auch nicht dazu bei, daß ich diesen Ort als Heilstätte empfinde, im Gegenteil, das Theater war für mich immer ein Unheilsort, man hat dort nicht gearbeitet, sondern gelitten, was nur natürlich ist, geht doch niemand ohne Ideale & Idealismus ans Theater, jeder hat doch zumindest eine Vorstellung vom Theater im Kopf, zu der wir uns auf die eine oder andere Art verhalten,

so seien „die Theater & Konzertsäle, aber in erster Linie die Theater, die Kirchen & Kathedralen unserer Zeit, in denen sich die Kulturgläubigen versammeln, um sich im Glauben an eine Kultur, die es in unserer Gesellschaft längst nicht mehr gibt, zu stärken“, wie es der Dichter Aumeier einmal ausgedrückt hat, das Theater sei die Heilige Kuh & das Goldene Kalb, das der Herdenmensch heute verehrt, die Vergötzung sei Bestandteil der Liturgie, die Schauspieler, Regisseure & Autoren würden zu Idolen verklärt, denen gehuldigt wird, die angebetet, ja manchmal auch vergöttert werden, wie es heißt, Priestern nicht unähnlich, die der Seligsprechung teilhaftig werden,

und natürlich, wann immer die Kultur zur Religion & die Religion zum Kult & der Kult zum Götzendienst degeneriert, sei die Wirkung auf das reale Leben durch das Theater – und im weitesten Sinn durch Kunst & Kultur – von höchster Wichtigkeit, etwa wenn ein Stück zum Skandal wird, das sei der größte Erfolg, der sich denken läßt, weil er ein Beweis für die Wirkmächtigkeit des Kulturglaubens sei – wie in den Kirchen ja auch jedes Wunder im letzten ein Gottesbeweis sei, so Aumeier,

wobei mir auffällt, daß stets die Gläubigen der Beweise bedürfen, eine Bedürftigkeit, die, denkt man an die moderne Wissenschaft, doch ein mehr als deutlicher Hinweis darauf ist, daß wir es dabei eher mit einer Quasi-Religion als mit einer Wissenschaft zu tun haben, doch sind das Abwege, was geht mich die moderne Wissenschaft an, die Wissenschaft überhaupt, natürlich sind das Quasi-Religionen in einer gottlosen Zeit, „Kulte“ – meinetwegen, die Nation, der Staat, die Universitäten, die Zeitungen, die Parteien, dann ist auch der Theaterkult eine Selbstverständlichkeit, wenngleich ich das Wort Kult noch zu stark finde & es für mich, der Empfehlung des Dichters Aumeier folgend, doch eher als „ritualisiertes Getue“ bezeichnen will, als Überbegriff für das, was uns heute als Kultur gilt,

„Getue“, denke ich, reicht auch schon aus, kein Tun, sondern ein Getue, das ist ein Unterschied, man weiß es ja, wo immer man auf solche Menschen trifft, der große Blabla, wenn er seine Eulenaugen macht, man weiß, das ist Getue, auch wenn das Wort nicht gleich zur Hand ist, man wird sofort zum Publikum, eigentlich sollte man applaudieren, wo immer man auf das Getue trifft, ist das Gespräch zu Ende, egal ob im Bett mit einer Frau oder im Zimmer des Direktors, regelrechte Privatvorstellungen werden da jeden Tag in den Schlafzimmern gegeben, was, denke ich, auch in Ordnung ist, solange eine Frauendarstellerin auf einen Männerdarsteller trifft, in jeder anderen Kombination wird es mühsam,

das hat uns vorher auch keiner gesagt, denke ich mir, das darf man sich selber zusammenbuchstabieren, bei den Menschendarstellern, Männern wie Frauen, nimmt das Vorspiel ja kein Ende, und ich kenne viele, die in der Vorspielhölle gelandet sind & sich den Aufenthalt durch Affären erträglicher gestalten wollen, doch auch das ist mir kein Thema, jetzt wo ich in der Anstalt gelandet bin, das ist ein in jeder Hinsicht ent-erotisierter Ort, vielleicht versetzen sie den Tee mit Brom wie in den Kasernen, man weiß es nicht, was soll ich hier mit meiner Libido, die kann mir so egal sein wie die moderne Wissenschaft & der Staat & die Politik & die Medien, der einzige Ehrgeiz, der mir geblieben ist, falls man das überhaupt Ehrgeiz nennen kann, ist herauszufinden, wie & weshalb ich hier gelandet bin, wo mir ein Tag wie der andere ist, bevor ich das nicht weiß, brauche ich mich mit den „großen Fragen“ gar nicht abzugeben, das überlasse ich dem großen Blabla, der vom Leben & Tabus schwadroniert, von Träumen & Trieben, Eltern & Kindheit, Komplexen & Depressionen, bis mir die Ohren bluten, redet er seinen Katalog des Gedachten & Angelernten in mich hinein, doch es erreicht mich nicht, ich habe mich, um seiner Behandlung zu entgehen, in meinen inneren Konferenzraum zurückgezogen, von dessen Existenz er nichts weiß, dort ist er nur ein Geräusch, oft nicht einmal das, überhaupt, denke ich, daß der große Blabla von den Innenräumen, die wir bewohnen, keine Ahnung hat, er hat nur Begriffe, tote Worte, Schall & Rauch, mehr ist sein Sprechen nicht, & ich sehe keinen Grund, das zu ändern, falls das überhaupt möglich ist, im Gegenteil, ich denke, es ist wichtig, daß ich mich ihm gegenüber verschweige – so gut, daß er keinen Zugang findet,

also ziehe ich mich zurück, wie ich es vom Theater gewöhnt bin |: heute am 17. März wie an jedem Tag :|, während der große Blabla gestikulierend & plappernd ums Haus streicht, & lasse meine Ansichten über das Theater Revue passieren – ja, denke ich, ja, das ist alles wahr & im Sinne des Dichters Aumeier gedacht, der, obschon vor mehr als zehn Jahren gestorben & wiewohl er mir in den letzten Monaten nicht mehr gewogen war, mein Denken bis heute nachhaltig beeinflußt, um nicht zu sagen besetzt, was mir nicht angenehm ist, doch wenn ich ehrlich bin, habe ich mich immer gerne von den Gedanken & Vorstellungen anderer besetzen lassen, einzelner, um genau zu sein, das war mir lieber, als die herrschenden Ideologien & Tageslosungen wiederzukäuen – ich bin doch kein Radio oder Informationsblatt, das sich freiwillig verteilt, ob das besser ist, kann ich nicht sagen, denn es hat mich beim Funktionieren nicht gestört, ich war ein tadelloser, ja mehr als tadelloser Disponent, das Denken hat keine Auswirkungen auf mein Leben gehabt, wenn man das ein Leben nennen will, das Scheitern habe ich mir erspart, so gut es ging – nur einmal nicht, doch will ich jetzt nicht davon sprechen, lieber will ich dem Aumeier in mir antworten, das Theater betreffend, das natürlich ein Leidensort für mich war, weil sich meine Ansprüche & Ideale im Alltag nicht erfüllten,

diese Kindervorstellung & der Wunderglaube, das Theater sei ein Ort für Höheres, ein Ort der Magie & Verzauberung, an dem die Verwandlung auf die eine oder andere Art noch möglich ist – wer solche Vorstellungen im Kopf hat, muß sie schmerzlich revidieren, sobald er am Theater angekommen ist, doch ist das leichter gesagt als getan, die Theaterliebe, der Glaube ans Theater ist durch keine Lächerlichkeit auszutreiben, man ist & bleibt ein Theaternarr, denn wer einmal erlebt hat, was Theater sein kann … – und das ist das eigentliche Wunder, denke ich: ein gutes Stück, eine gute Aufführung, das ist das Wunder, das gesucht & immer wieder aufs neue versucht wird & nicht alle Tage erreicht werden kann, das ist die Norm: von tausend Aufführungen vielleicht eine, die gelungen ist, das ist bei den Büchern nicht anders, bei der Musik, in der Kunst, das ist die Norm – ich weiß nicht, ob es jemals anders gewesen ist, die Enttäuschung ist die Norm, das Mindere & Mittelmäßige, wie sollte es auch anders sein, das Theater ist ein Ort der erbärmlichsten Selbstdurchsetzungsrituale, der von Eitelkeiten & niedrigsten Instinkten dominiert wird, die furchtbarsten Anmaßungsmenschen & Selbstinszenierer finden sich dort ein,

und wer den Betrieb kennt, wer das Haus kennt, der weiß, daß es eigentlich unmöglich ist, daß unter solchen Voraussetzungen überhaupt etwas gelingen kann, wenn etwas funktioniert, ist man schon zufrieden – und das war ja im Grunde meine Zuständigkeit, für das Gelingen ist jedoch niemand zuständig, ein gelungener Theaterabend ist immer gegen den Betrieb errungen, gegen die Schauspieler & den Regisseur, gegen den Direktor & das Publikum, niemand hat ihn gemacht, keiner könnte ihn wiederholen, es ist ein Glück & wie jedes große Glück unverdient, der Rest ist Arbeit, Abrieb, Verschleiß, ein sich Mühen & Ableben am Verdorbenen, Notwendigen, Alltäglichen,

und sosehr ich den Dichter Aumeier auch schätze, so weiß ich doch aus zahlreichen Gesprächen mit ihm, daß er diese Erfahrung, was Theater auch sein kann, nie gemacht hat, würde er seine eigenen Worte, „daß die Kirche voller Menschen ist, die an Gott glauben, weil sie seine Gegenwart nie erfahren haben“, auf sich selbst & seine Ansichten vom Theater anwenden, hätte er zugeben müssen, daß ihm diese Erfahrung fehlt – und über Erfahrung läßt sich nicht diskutieren, man hat sie oder hat sie nicht, und ich habe diese Erfahrung, „was Theater sein kann“, gemacht, keine zwanzig war ich, als ich in einer Scheune am Land Justus Neumann mit dem Monolog „Hamlet & so“ gesehen habe, das war meine Initiation, und wie viele, die sich einmal mit dem Theatervirus angesteckt haben, bin ich später im Siechenhaus gelandet, in der Anstalt, im Theateralltag & Betrieb,

das „Wunder“ jedoch, das mir mit zwanzig widerfuhr, habe ich seither nur noch zweimal erlebt, alles übrige war Reprise, Astronautennahrung, Studentenfutter, was man zunächst natürlich nicht glauben & wahrhaben will, trotz der Tristesse der Verhältnisse redet man sich ein, dem gelungenen Theaterabend zuzuarbeiten, ihn vorzubereiten, mitzuhelfen, so etwas in die Welt zu bringen, ja, ich glaube, man kann aus der eigenen Erfahrung heraus gar nicht anders, ich jedenfalls sah da für mich keine Wahl, für die Musik, an der ich mich seit der Volksschulzeit versucht hatte – mein Vater war Musiklehrer –, mangelte es mir an Talent, ich spielte Flöte wie andere in diesen Jahren Fußball, nie war ich durch mein eigenes Spiel dem auch nur nahegekommen, was ich mir in der Musik erhörte, das war Heimat, ein Zuhause, das mir nicht genommen werden konnte: Händel, Bach, Vivaldi, Telemann, Devienne, Quantz, Corelli …, doch würde ich in der Musik immer ein Liebhaber bleiben, auch in der Literatur, in der ich mich nie versuchte, das zumindest habe ich mir erspart,

doch natürlich, wie sich nach einigen Jahren zeigte, war es unmöglich, den gelungenen Theaterabend, nach dem meine Sehnsucht ging, in die Welt zu bringen mit diesem Theaterpack, diesem Geschmeiß an exhibitionistischen Neurotikern & selbstverliebten Tölpeln – zum anderen: das Geglückte, den Zauber & die Magie, das wird sich immer irgendwo ereignen, solange es Schauspieler & Possenreißer & Menschen die spielen gibt, dazu braucht es keine Theater, auch das hat mich später die Erfahrung gelehrt, es braucht nur die Bühne, & die kann überall stehen,

dem Theatervirus, mit dem ich infiziert bin, der Theatersucht, an deren Entzugserscheinungen ich leide & am schlimmsten während meiner Zeit am Theater gelitten habe, liegt die Erfahrung einer erfüllten & völlig verwandelten Gegenwart zugrunde, einem in der Welt sein, das es so nicht gibt,

und wer das einmal erfahren durfte, ist danach nicht mehr derselbe, das ist keine Übertreibung & keine Schwärmerei, wer das denkt, hat es nie erlebt, doch wer es erlebt hat, weiß, wovon ich spreche, ich möchte nicht behaupten, daß es etwas Höheres ist, jedoch etwas anderes, ein Geschmack, ein Geruch, den man nicht mehr vergißt, und sagte nicht Thomas von Aquin, daß jedes Glück & jede Freude, die uns hier auf Erden widerfahren, ein Vorgeschmack auf die ewige Seligkeit sei, die uns erwartet … – das trifft es gut, denke ich, überirdisch ist es in jedem Fall, ein Schmerz & eine Erleichterung,

schon ein solches Glück zu wollen