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Dengelbach, Oberfranken. Seit Generationen in Familienbesitz steht Kristin Cordas kleiner Verlag mit Druckerei kurz vor der Insolvenz. Da erinnert Kristin sich an ihre erste große Liebe Larissa Marzell, die schon früh der Provinz den Rücken gekehrt hatte und in Frankfurt als Investmentbankerin hinter Wänden aus Glas täglich mit Millionen jongliert. Kristin überwindet sich, nach Frankfurt zu fahren, doch Larissa schlägt ihre Bitte um ein Darlehen aus. Nach einer gemeinsamen Nacht allerdings bietet sie plötzlich einen Kredit an – Kristin wendet sich empört ab, denn sie empfindet es so, als ob Larissa sie für den Sex bezahlen wollte. Sie will nichts mehr mit Larissa zu tun haben. Larissa hat jedoch ihre eigenen Methoden, um Kristin doch noch davon zu überzeugen, dass nicht nur Larissas Unterstützung, sondern auch Larissa selbst das Richtige für Kristin ist. Die wehrt sich allerdings mit Händen und Füßen gegen diese Erkenntnis...
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Seitenzahl: 325
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Roman
© 2019édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-291-6
Coverfotos: istock.com/defun
Kristin saß in einem eleganten Wartezimmer vor einem Büro, in dem sie noch nie gewesen war. Sie hatte sich auch nie gewünscht, an einem solchen Ort zu sitzen, um Geld betteln zu müssen, und das auch noch bei einer alten Schulfreundin. Das ganze Gebäude gehörte ihr, Larissa Marzell, ein Hochhaus aus Glas mitten in Frankfurt.
Das war nicht immer so, Larissa war nicht immer reich gewesen, im Gegenteil, sie kam aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Früher war Kristin diejenige gewesen, der es materiell weit besser ging. Aber das hatte sich geändert. Der kleine Verlag, den Kristin von ihrem Vater geerbt hatte, lief nicht mehr. Wie so viele andere kleine Verlage konnte sie nicht mehr mit den großen mithalten, die mittlerweile den ganzen Markt beherrschten und alle anderen schluckten. Kleine Verlage gab es praktisch überhaupt nicht mehr. Selbst wenn die Namen noch existierten, waren sie mittlerweile nur noch Stempel für Unterabteilungen eines großen Konzerns.
Damit konnte Kristin sich nicht abfinden. Es war das Lebenswerk ihrer Großmutter, das sie übernommen hatte und dem sie sich verpflichtet fühlte. Ihre Großmutter hatte diesen Verlag zu Zeiten, als das für Frauen noch kaum möglich gewesen war, gegründet, während ihr Großvater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, ständig abwesend und mit anderen Frauen beschäftigt gewesen war. Möglicherweise hatte ihre Großmutter ihren eigenen Geschäftssinn nur aus Verzweiflung über ihre unglückliche Ehe entwickelt, aber dann hatte sie wohl auch Spaß daran gefunden und war sehr erfolgreich damit geworden.
Da sie keine Töchter gehabt hatte, sondern nur Söhne, hatte der jüngste der drei, Kristins Vater, ihr am nächsten gestanden, denn er war der sensibelste von allen, selbst ein Künstler, er malte. Das hatte ihre Großmutter dazu bewogen, ihm den Verlag zu übergeben, obwohl er den Geschäftssinn seiner Mutter leider nicht geerbt hatte. Eine Weile hatte er noch von dem gut eingeführten Namen profitiert, aber dann war es stetig bergab gegangen, und als er bereits mit fünfundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, erbte Kristin eigentlich nur Schulden.
Sie hätte das Erbe ablehnen können, dann wäre sie schuldenfrei gewesen, aber das hätte ihr Herz bluten lassen. Sie wusste, mit welcher Leidenschaft ihre Großmutter bis zum Schluss an diesem ihrem vierten Kind, wie sie es immer nannte, gehangen hatte, und wollte nicht so schnell aufgeben.
Obwohl Kristin Larissa schon seit dem Schulabschluss nicht mehr gesehen hatte, wusste sie, dass sie mittlerweile mehrfache Millionärin war. Jeder in ihrer gemeinsamen Heimatstadt, die weit kleiner war als Frankfurt, wusste das, und vielleicht reichte Millionärin noch nicht einmal. Schon als Kind war Larissa sehr zielstrebig gewesen, wollte in der Schule immer die Beste sein, hatte sich dadurch ein Universitätsstipendium erarbeitet, das ihr ihre Mutter, die mehr getrunken als gearbeitet hatte, nie hätte bezahlen können. Ihren Vater hatte sie nur kurz gekannt. Er war ebenfalls Alkoholiker gewesen und hatte die Familie verlassen, als Larissa noch nicht einmal drei Jahre alt war.
Schon allein aus diesem Grund hatte Larissa nie etwas getrunken, selbst wenn sie dafür ausgelacht wurde. Sie wollte nicht enden wie ihre Mutter und ihr Vater und war überzeugt davon, dass sie das Alkoholiker-Gen bei dieser doppelten Vorbelastung geerbt hatte, weshalb sie Alkohol selbst in kleinsten Mengen mied. Die Leidenschaft, aus diesen Verhältnissen herauszuwachsen, hatte sie vorangetrieben, und nun war sie eine erfolgreiche Investmentbankerin. Sie hatte immer schon gut rechnen können.
Kristin hingegen hatte sich als Kind keinerlei Sorgen um Geld machen müssen, zudem hatte sie die künstlerische Begabung ihres Vaters geerbt und hätte am liebsten den ganzen Tag gemalt. Sie hatte nach dem Abitur Kunst studiert. Allerdings hatte sie das Studium beim Tode ihres Vaters sehr abrupt abbrechen müssen, weil ihre Mutter allein absolut nicht in der Lage gewesen war, den Verlag weiterzuführen. Ihre Mutter hatte ihren Vater eigentlich nur geheiratet, weil sie ein angenehmes Leben an seiner Seite führen wollte, mit vielen Künstlern um sich herum und vor allem den dazugehörigen Partys. Sie konnte das Wort Bilanz noch nicht einmal buchstabieren.
Als Kristin zur Beerdigung ihres Vaters nach Hause gekommen war, hatte ihre Mutter sie hysterisch begrüßt, völlig aufgelöst und in Tränen. Aber nicht, weil sie ihren Vater so geliebt hatte, sondern weil sie mittlerweile erfahren hatte, dass kein Geld mehr vorhanden war, das ihren aufwendigen Lebensstil finanzieren konnte.
»Wie soll ich denn so weiterleben?«, hatte sie geschluchzt.
Worauf Kristin nichts anderes antworten konnte als »Du wirst es müssen, Mutter.«
Trotzdem hatte sie die Verantwortung für ihre Mutter gespürt, auch wenn sie nie ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis gehabt hatten. Eigentlich hatten sie überhaupt kein Verhältnis gehabt, denn ihre Mutter hatte sich nie für ihre Tochter interessiert. Kristin war ihrem Vater viel näher gewesen.
»Frau Corda?« Die Sekretärin, die irgendwie genauso steril wirkte wie das Glas dieses Gebäudes und genauso herablassend, sprach sie an. »Sie können jetzt hineingehen. Frau Marzell erwartet Sie.« Sie stand nicht auf, um Kristin die Tür zu öffnen. Anscheinend fand sie sie dafür nicht wichtig genug.
Kristin hatte schon ihren ganzen Mut aufbringen müssen, um überhaupt hierherzukommen, nun bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Noch hatte sie Larissas Büro nicht betreten, sie konnte immer noch gehen, weglaufen.
Unwillkürlich erinnerte sie sich an einen Bericht über Larissa, den sie gelesen hatte. In einer Wirtschaftszeitung. Selbstbewusst und kühn hatte der Journalist sie genannt, wagemutig, mit einer eindeutigen Vorliebe für das größte denkbare Risiko.
Sonst hätte sie – das war Kristin völlig klar – auch nicht so viel Geld in so kurzer Zeit machen können. Die Möglichkeit, dabei alles zu verlieren, hatte sie offenbar nicht einmal in Betracht gezogen. So war sie immer schon gewesen, wild und ungestüm, ohne nach links und rechts zu schauen. Sie hatte nur ihr Ziel vor Augen, ein einziges Ziel, und dafür ließ sie alles andere stehen.
Das hatte sie reizvoll und attraktiv für viele gemacht – neben ihren blauen Augen und dunklen Haaren, die einen atemberaubenden Kontrast bildeten –, aber auch das hatte Larissa nicht interessiert. Es war, als ob sie diejenigen, die hinter ihr her waren, gar nicht sehen würde. Als wären sie nur Figuren hinter Glas, die sie gar nicht beachtete. Einige Jungs und auch Mädels hatte das fast zur Verzweiflung getrieben, denn so sehr sie auch versuchten, ihr nahezukommen, sie schafften es nicht.
Ja, das waren Erinnerungen . . . Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen, als sie sich alle noch nicht mit den Zwängen des Lebens hatten herumschlagen müssen.
Nervös strich Kristin sich über die Haare. Wahrscheinlich sah sie unmöglich aus. Ihr Tag hatte schon vor Stunden begonnen, denn der Weg aus dem kleinen Städtchen, in dem sie immer noch wohnte, nach Frankfurt war weit, und ihr Auto hatte sie vor kurzem im Stich gelassen. Die Reparatur würde Unsummen kosten, weshalb der Werkstattbesitzer, ebenfalls ein alter Schulfreund, ihr geraten hatte, sich doch ein neues Auto zuzulegen. Darüber hatte Kristin nur gelacht, denn woher sollte sie das Geld dafür nehmen?
Deshalb war sie heute Morgen sehr früh mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt gefahren, um dort die Regionalbahn zu nehmen, die über sämtliche Dörfer gebummelt war und nie anzukommen schien. Sie hatte nichts gegessen und getrunken, nur darauf gewartet, endlich Larissa gegenübertreten zu können, um sie um ein Darlehen zu bitten, das für die jetzt Millionärin wahrscheinlich wie ein Betrag aus der Portokasse war, für Kristin aber der Unterschied zwischen Überleben und Untergehen.
Larissa. Wie würde sie aussehen? Das letzte Mal, als Kristin sie gesehen hatte, war sie genauso wie sie selbst fast noch ein Kind gewesen, ihre erste große Liebe. Ja, sie hatte Larissa sehr geliebt. Dann waren andere gekommen, aber sie hatte Larissa nie vergessen.
Zudem hatte sie, Kristin, für Liebesgeschichten wenig Zeit gehabt. Kaum hatte sie ihr Studium angefangen, musste sie auch schon wieder damit aufhören und von morgens bis abends schuften, um den Verlag am Leben zu erhalten. Was sich jetzt als sinnlos herausstellte.
Aber es durfte nicht sinnlos sein. Das durfte es einfach nicht! Sie ballte eine Hand zur Faust. Ihr Herz pochte so laut, dass sie dachte, jeder müsste es hören, insbesondere diese Sekretärin, die sie nun mit einem irritierten Blick ansah, weil Kristin nicht hineinging.
Ob Larissa etwas mit ihr hat? dachte Kristin auf einmal, und es war, als ob so etwas wie Eifersucht in ihr aufflackerte. Warum Eifersucht? Larissa hatte ihre Liebe nie erwidert, auch wenn Kristin sie ihr einmal im Überschwang der Gefühle gestanden hatte. Sie waren kurz davor gewesen, sich zu küssen, an einem lauen Abend nach dem schnöden Schulabschluss, der nichts weiter beinhaltete als das Aushändigen der Zeugnisse und einen für jeden immer gleich teilnahmslos gemurmelten Wunsch für ein erfolgreiches Leben.
Als Larissas blaue Augen immer näher kamen, hatte Kristin sich nicht mehr zurückhalten können und ein Ich liebe dich gehaucht, weil ihr Herz fast aus der Brust gesprungen war, weil es nun endlich passierte. Sie hätte sofort mit Larissa geschlafen, wenn Larissa das gewollt hätte.
Erwartungsvoll hatte sie die Augen geschlossen, dem Kuss entgegengefiebert, aber er kam nicht, und als sie die Augen wieder öffnete, schaute Larissa sie an, als würde sie sie wie ein Versuchsobjekt studieren. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte sie. Dann hatte sie Kristin losgelassen, sich umgedreht und war gegangen. Am nächsten Tag hatte sie die Stadt verlassen und war nie mehr zurückgekehrt.
Nie hatte sie Kristin erklärt, warum sie gefunden hatte, dass es keine gute Idee war. Möglicherweise weil sie miteinander aufgewachsen waren, weil sie sich schon seit dem Kindergarten kannten, aber das hatte Kristin auch nicht daran gehindert, sich in Larissa zu verlieben. Wenn sie es rückblickend betrachtete, war sie wahrscheinlich schon immer in sie verliebt gewesen, ihr ganzes Leben lang.
»Was ist denn los?« Plötzlich öffnete sich die Tür, und Larissa trat heraus. »Habe ich nicht einen Termin?« Fragend und auch ein wenig vorwurfsvoll blickte sie auf ihre Sekretärin.
Die nickte und zeigte mit einer Hand voller langer, rot lackierter Fingernägel auf Kristin. »Ihr Termin ist hier.«
Larissa stutzte, dann verzogen ihre Mundwinkel sich erfreut. »Kristin. Ich wusste nicht, dass du mein Termin bist. Ich dachte, es ist jemand, der einen Investor sucht.«
Kristin zog die Schultern hoch. »Ich fürchte, das bin ich.«
Larissas Augenbrauen wanderten nach oben, und sie streckte einladend einen Arm aus. »Komm rein. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen.«
Fast etwas zögernd ging Kristin an Larissa vorbei, und ein dezenter Hauch von Abenteuer streifte sie. So hatte sie Larissas Geruch immer empfunden, selbst bevor sie beide angefangen hatten, Parfum zu benutzen.
Sie betrat das große und wirklich beeindruckende Büro, dessen Fensterfront vollständig aus Glas bestand. Dazu passend gab es einen weitausladenden, modernen Schreibtisch aus Glas und Chrom, vor dem ein breiter Chefsessel thronte, aus dem Larissa wahrscheinlich gerade aufgestanden war, denn die Sitzfläche zeigte in Richtung Tür.
»Magst du einen Kaffee?«, fragte Larissa in ihrem Rücken.
Ruckartig drehte Kristin sich um. »Kaffee? Ja. Ja, gern. Ich habe seit Stunden nichts getrunken.«
Larissa nickte, ging zu ihrem Schreibtisch und bestellte Kaffee bei ihrer Sekretärin, dann drehte sie sich wieder zu Kristin um. »Lass uns doch hier auf den Kaffee warten.« Sie zeigte auf eine Sitzecke mit bequem aussehenden Sesseln. »Das ist angenehmer als am Konferenztisch.« Auch ein solcher stand in diesem Büro. »Wir sind ja nur zu zweit.«
Kristin fühlte sich immer noch etwas erschlagen von diesem riesigen Arbeitsraum, der ihr fast so groß erschien wie ihre ganze Druckerei. »Ja, wir sind nur zu zweit«, wiederholte sie leise und lauschte den Worten nach. Was für eine intime Bedeutung hätten sie haben können, aber aus Larissas Mund klangen sie nicht so.
Bislang hatten sie sich nicht berührt, aber nun legte Larissa eine Hand ganz leicht auf Kristins Schulter, und Kristin fühlte es, als hätte sie ein elektrischer Schlag getroffen. Natürlich war diese Berührung völlig unschuldig, aber ihr Herz schlug schneller, machte einen richtigen Satz.
Da hatte Larissa ihre Schulter schon wieder losgelassen und wies mit ihrer Hand auf einen der Sessel. »Setz dich doch.« Während Kristin sich niederließ, tat Larissa dasselbe, schlug die Beine übereinander und schaute sie interessiert an. »Was kann ich für dich tun?«
Wie konnte sie so unbeeindruckt sein? Sie hatten sich Jahre nicht gesehen, und ihre letzte Begegnung hatte fast in einem Kuss geendet. Trotzdem benahm Larissa sich, als wären sie lediglich alte Schulfreundinnen, die nicht viel gemeinsam gehabt hatten.
Kristin versuchte ihr aufgeregtes Herz zu beruhigen. Das hier würde sicherlich nicht in einem Kuss enden, es war eine Geschäftsbesprechung, und so sollte sie sich auch verhalten. »Du hast vielleicht gehört, dass mein Vater gestorben ist«, setzte sie an.
Larissa beugte sich vor. »Oh ja, das tut mir leid. Er war so ein wunderbarer Mensch.«
Kristin musste schlucken. »Ja, das war er.« Sie räusperte sich. »Meine Mutter konnte den Verlag nicht ohne ihn weiterführen . . .« Sie nahm wahr, wie Larissas Mundwinkel zuckten. Von Kristins Mutter hätte sie sicherlich nicht gesagt, dass sie ein wunderbarer Mensch war. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »musste ich mein Studium abbrechen und zurückkommen. Und seither führe ich den Verlag.«
»Bravo«, sagte Larissa, und ihre Augen leuchteten auf. »Ich wusste immer, dass mehr in dir steckt als nur dieses bisschen Pinselei.«
»Pinselei?« Kristin fuhr auf.
Vielleicht weil sie aus so bescheidenen Verhältnissen stammte, hatte Larissa nie viel für Kunst übriggehabt, wie sie sich erinnerte. Und sie hatte sich auch früher schon hin und wieder über Kristin und ihren Vater lustiggemacht, wenn sie gemeinsam ihre Staffeleien einen Berg hinaufschleppten, nur um dort oben zu malen. Das waren einige der wenigen Augenblicke gewesen, in denen sie Larissa durchaus so einen Berg hätte hinunterstoßen können.
»Schon gut.« Larissa hob lachend die Hände. »Du hast es ja aufgegeben, deshalb muss ich nicht mehr darüber meckern.« Sie legte leicht den Kopf zur Seite. »Außerdem geht es mich ja auch überhaupt nichts an. Was sagt deine Frau dazu?«
Kristin runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf, dass ich eine habe?«
»Der Ring«, sagte Larissa und zeigte auf Kristins Hand.
»Oh.« Kristin hob die Hand an und begann den Ring an ihrem Finger zu drehen. Es war der Ring ihres Vaters, den sie hatte kleiner machen lassen, um ihn tragen zu können. Sie hatte schon fast vergessen, dass das den Eindruck erwecken konnte, sie wäre verheiratet. In ihrem Heimatstädtchen wussten alle, dass sie es nicht war. »Sie . . .«, sie räusperte sich erneut, »sie hat nichts dagegen.« Schief zog sie einen Mundwinkel hoch. »Außerdem komme ich vor lauter Arbeit für den Verlag ohnehin nicht mehr dazu.«
Warum hatte sie das getan? Warum tat sie so, als wäre sie verheiratet? Vielleicht damit klar war, dass zwischen ihnen nichts passieren konnte? Aber dass das so war, dafür hatte Larissa ja schließlich das letzte Mal selbst gesorgt. Sie würde kaum Interesse daran haben, nun auf einmal das Gegenteil zu tun.
»Die Zeiten sind schwierig, hm?« Larissa nickte. »Die Verlagsbranche ist nicht mehr das, was sie einmal war.« Sie lächelte. »Wenn ich bedenke, dass du mir damals wie eine Prinzessin erschienen bist, die in einem Schloss wohnt.« Sie zuckte die Schultern. »Verglichen mit unserer Behausung war allerdings so ziemlich alles ein Schloss.«
»Ja, die Zeiten ändern sich«, sagte Kristin und schaute sich in dem Büro um, schaute durch die Glaswand hinaus auf die Frankfurter Wolkenkratzer. »Das Haus haben wir allerdings immer noch.«
»Trotzdem bist du in Schwierigkeiten.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Sonst kämst du nicht zu mir.«
Wie gern wäre ich schon so oft zu dir gekommen, dachte Kristin. Aber du bist damals gegangen. »Die Banken . . .« Für einen Moment konnte sie nicht weitersprechen. »Die Banken geben mir nichts mehr«, brachte sie dann schnell, fast überhastet hervor.
Ein leises Lächeln hob Larissas Mundwinkel, aber es erreichte ihre Augen nicht. »Da sind alte Freunde gut, nicht wahr?«
Glücklicherweise kam just in diesem Augenblick die Sekretärin mit dem Kaffee herein, denn beinahe wäre Kristin aufgesprungen und hätte dieses Büro, dieses Gebäude so schnell wie möglich verlassen. Ohne den Lift zu benutzen. Sie wäre die Treppe hinuntergerast, alle vierzig Stockwerke.
»Danke, Denise«, sagte Larissa und lächelte ihre Sekretärin auf eine Art an, die wieder Eifersucht in Kristin aufkommen ließ.
Aber deshalb war sie nicht hier. Sie nickte der Frau ebenfalls zu und sagte »Danke«, wobei sie bemerkte, wie der Blick dieser Denise sie streifte. Es war keine Sympathie, die darin lag.
Larissa nahm eine der beiden Tassen, lehnte sich zurück und nippte daran. Sie schien darauf zu warten, dass Denise den Raum wieder verließ. Die hingegen ging so langsam wie möglich hinaus und zog offenbar nur unwillig die Tür hinter sich zu.
Da ist doch was, dachte Kristin, aber es interessierte sie nicht mehr wirklich. Larissa hatte anscheinend ganz mit ihrem Leben in Dengelbach, dem Städtchen, aus dem sie beide kamen, abgeschlossen, es hinter sich gelassen und nie mehr zurückgeschaut. Auch nie mehr an Kristin gedacht.
Das konnte Kristin nicht von sich behaupten. Sie hatte sehr oft an Larissa gedacht. Sich gewünscht, dass sie damals die Initiative ergriffen, sie nicht Larissa überlassen hätte.
Aber wäre dann irgendetwas anders gekommen? So richtig glaubte sie das nicht. Wenn sie Larissa hier sah, in diesem Glaspalast, dann konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie mit weniger zufrieden gewesen wäre. Und in Dengelbach hätte sie das nie erreichen können.
Endlich hatte sich die Tür geschlossen, und Larissa sagte: »Das lohnt sich für mich nicht. Zu kleine Fische. Meine Investitionen haben eine Größenordnung, die weit darüber hinausgeht. Der Aufwand ist es nicht wert. Verkauf den Verlag. Verkauf das Haus. Dann bleibt doch bestimmt noch genug übrig, wovon deine Mutter und du gut leben könnt.«
Diese kühl geäußerten Vorschläge trafen Kristin wie ein Schock. Früher war Larissa immer sehr leidenschaftlich gewesen, wild entschlossen in allem, was sie tat. Wo war diese Leidenschaft auf einmal geblieben? Ja, sie waren älter geworden, aber doch nicht so viel älter.
Sie sah Larissa an, suchte ihre Augen, das Wilde darin, das sie früher so geliebt hatte, aber sie fand es nicht. Wenn sie überhaupt etwas fand, dann waren es Dollarzeichen. Oder Euro, je nach Bedarf. Vielleicht waren es auch Yen oder wie hieß die chinesische Währung noch mal? Die Chinesen waren ja jetzt groß im Kommen, kauften alles auf, sicherlich bewegte Larissa sich auch auf diesem Markt. Warum sollte sie nicht?
»Es tut mir leid«, sagte sie und stand auf. »Es tut mir leid, dass ich dich belästigt habe. Ich habe dir wohl nur deine Zeit gestohlen.«
Larissa blickte zu ihr auf und lächelte leicht. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Es war schön, dich einmal wiederzusehen. Und überhaupt . . .« Nun stand sie auch auf. »Geh mit mir essen. Du sollst nicht ganz umsonst hergekommen sein.«
»Oh, wie reizend von dir.« Ungläubig schaute Kristin sie an. »Soll das mein Trostpreis sein? Dann gib mir lieber das Geld für das Essen. Das kann ich besser gebrauchen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du das Wort Geld früher überhaupt in den Mund genommen hast.« War das ein Schmunzeln, das Larissas Gesicht da überzog? »Das ist etwas Neues.«
»Früher wusste ich nicht, wie wichtig Geld ist.« Kristin ging zur Tür. »Das musste ich erst lernen.«
Larissa folgte ihr. »Geh mit mir essen«, wiederholte sie noch einmal. »Wenn du stundenlang nichts getrunken hast, hast du doch wahrscheinlich auch nichts gegessen. Willst du so nach Dengelbach zurückfahren? Das ist fast ein halber Tag.« Sie öffnete Kristin die Tür. »Bist du mit dem Auto gekommen?«
»Nein, mit der Bahn«, sagte Kristin. »Mein Auto ist in der Reparatur.« Sie verschwieg geflissentlich, dass sie noch nicht einmal das Geld dafür hatte. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass diese Begegnung mit Larissa so peinlich werden würde. Nicht auf diese Art peinlich.
»Dann dauert es ja noch länger«, sagte Larissa. »Also musst du unbedingt etwas essen.«
Als wollte er Larissa zustimmen, knurrte in diesem Moment hörbar Kristins Magen.
»Siehst du?« Larissa lachte. »Er ist auch meiner Meinung.«
»Gegen so eine Übermacht kann ich mich ja gar nicht wehren«, lächelte Kristin. Es war so schön, Larissa lachen zu sehen. Das erinnerte sie an früher, wo sie das oft getan hatten, gemeinsam. Auf einmal war wieder eine gewisse Vertrautheit da, eine Vertrautheit, die ihr gefehlt hatte, seit sie Larissas Büro betreten hatte.
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Larissa. »Also ein Fünf-Gänge-Menü wird das nicht.« Sie drehte kurz den Kopf zur Seite, als sie am Schreibtisch ihrer Sekretärin vorbeigingen. »Ich bin dann beim Mittagessen, Denise«, warf sie ihr so nebenbei hin. »Bin in einer Stunde wieder da.«
»In einer Stunde?«, fragte Denise zurück, und es klang zweifelnd.
»Ja, in einer Stunde«, bestätigte Larissa etwas ungeduldig. »Länger brauche ich nicht.«
Die Mundwinkel der Sekretärin zuckten. »Ich werde es so in den Kalender eintragen«, sagte sie.
Kristin erschien es so, als wollte Larissa etwas erwidern, aber dann hielt sie sich offensichtlich zurück, ein Muskel zuckte auf ihrer Wange, sie wandte sich Kristin zu und ging mit ihr weiter zum Fahrstuhl.
Es war ein Express-Fahrstuhl, der gleich alle vierzig Stockwerke hinunterschoss, ohne dazwischen zu halten. Als sie unten ausstiegen, begrüßte jeder, dem sie in der Eingangshalle begegneten, Larissa respektvoll.
Das musste ihr sehr gefallen, dachte Kristin, denn früher war ihr nicht immer Respekt entgegengebracht worden. Manche hatten ihre Mutter vielleicht noch bedauert, weil sie so früh von ihrem Mann verlassen worden war, viele hatten sie jedoch auch verachtet, weil sie sich so gehenließ, und diese Verachtung erstreckte sich manchmal auch auf Larissa.
Sie durchquerten die Halle und gingen durch die große gläserne Eingangstür hinaus. Draußen wandte Larissa sich nach links. »Magst du marokkanisch?«, fragte sie, während sie mit langen Schritten den Bürgersteig entlangstrebte.
»Keine Ahnung.« Kristin zuckte die Schultern. »Habe ich noch nie gegessen.«
»Ich denke, du wirst es mögen. Ich mag es sehr gern.« Larissa wandte kurz den Kopf zu ihr und lächelte leicht. »Ich mag auch Marokko sehr gern, war schon einige Male dort.«
Zwar waren solche Reiseziele heutzutage nicht mehr ungewöhnlich, für Kristin erschienen sie dennoch wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht, sie hatte in den letzten Jahren nicht eine Minute Zeit gehabt, um Urlaub zu machen. »Ich noch nie«, entgegnete sie deshalb wahrheitsgemäß. »Mir kommt es manchmal schon fast so vor, als gäbe es außer Dengelbach nichts mehr auf der Welt.«
Larissa bog links in eine Seitenstraße ab. »Es gibt eine ganze Menge außer Dengelbach«, sagte sie. »Aber manchmal denke ich –« Sie brach ab und blieb vor einem alten Gebäude stehen, das mit seinen roten Backsteinen einen ganz entschiedenen Kontrast zu den vielen Hochhäusern und Glaspalästen in der Innenstadt bildete. »Hier ist es«, fuhr sie fort und lächelte wieder. »Man riecht es schon.«
Das stimmte, wie Kristin jedoch jetzt erst feststellte, weil sie die ganze Zeit darauf konzentriert gewesen war, Larissa zu folgen, da sie sich hier so überhaupt nicht auskannte, dass sie fast Angst hatte, verloren zu gehen. Es roch orientalisch und sehr appetitlich.
Larissa ging hinein und wurde von einem arabisch aussehenden Mann sofort sehr freundlich begrüßt. Offenbar kannten sie sich gut. »Madame«, sagte er mit französischem Akzent. Ja, Marokko war ja eine französische Kolonie gewesen, erinnerte sich Kristin. »Lange nicht gesehen.«
»Ich war in letzter Zeit leider sehr viel auf Geschäftsreisen«, erklärte Larissa und schaute sich im Lokal um. »Oh, ich sehe, es ist kein Tisch mehr frei. Ich hätte reservieren sollen. Aber ich habe mich sehr kurzfristig entschlossen.« Sie warf einen schnellen Blick auf Kristin.
»Aber Madame . . .« Er lächelte sie fast etwas verschmitzt an. »Für Sie habe ich doch immer einen Tisch.« Mit einer einladenden Handbewegung ging er nach hinten durch eine Tür. »Wenn Sie nichts dagegen haben, hier zu sitzen.«
Dieser Raum gehörte nicht mehr zum offiziellen Lokal. Es sah mehr so aus, als würde hier die Familie essen, wenn der Ansturm der Gäste draußen vorbei war.
»Überhaupt nicht«, sagte Larissa und lächelte ebenso freundlich wie er. »Vielen Dank.«
»Das Übliche?«, fragte er. »Oder möchten Sie etwas anderes, Madame?« Bei dieser Frage wandte er sich an Kristin.
Wovon Kristin völlig überfordert war, denn sie wusste ja noch nicht einmal, was ›das Übliche‹ war. »Nein, ich nehme dasselbe«, stotterte sie leicht kopflos. Dann musste sie lächeln. »Wir haben ja schon immer gern dasselbe gegessen«, fuhr sie mit einem Blick auf Larissa fort.
»Dann also die Tajine«, nickte Larissa, und der freundliche Besitzer verschwand zur Tür hinaus.
»Was ist Tajine?« Kristin räusperte sich. »Ich muss zugeben, ich weiß es nicht.«
»Wie sollst du auch, wenn du noch nie marokkanisch gegessen hast?« Larissa wies auf den Tisch. »Wollen wir uns setzen?« Sie setzten sich an die lange, offenbar für eine große Familie gedachte Tafel. »Tajine ist so eine Art Eintopf mit Gemüse und Fleisch, manchmal auch Fisch«, erklärte Larissa. »Wird in einem Tontopf zubereitet, wie mit einem Dach als Deckel. Hast du bestimmt schon mal gesehen. Sehr lecker.«
»Eintopf mochte ich schon immer«, lächelte Kristin. »Wenn ich so etwas höre, merke ich aber, wie sehr ich mittlerweile aus der Welt bin. Wahrscheinlich ist es für viele Leute selbstverständlich, das zu kennen, für mich aber nicht. Ich weiß wirklich nicht, wie so ein Topf aussieht.«
»Wirst du gleich sehen«, versprach Larissa. »Es wird in dem Topf serviert.«
Eine etwas unbehagliche Stille breitete sich aus. Sie wussten offenbar beide nicht mehr, was sie sagen sollten.
»In Dengelbach ist es wahrscheinlich immer noch genauso wie früher«, setzte Larissa erneut an. »Oder hat sich viel verändert?«
Langsam schüttelte Kristin den Kopf. »Nicht wirklich.« Sie zögerte. »Oder doch. Viele der kleinen Geschäfte haben zugemacht. Es lohnt sich nicht mehr, so ein kleines Geschäft zu betreiben, wo jeder in die nächstgrößere Stadt fahren und im Supermarkt einkaufen kann.«
Bevor Larissa dazu etwas sagen konnte, kam der Besitzer wieder herein und brachte ihnen zwei kleine Gläser und eine silberne Kanne auf einem runden, ebenfalls silbernen Tablett. Lächelnd zog er sich sofort wieder zurück.
»Ich wollte noch Wasser bestellen«, bemerkte Kristin mit einem überrumpelten Gesichtsausdruck.
»Ja, Hassan ist schnell.« Larissa lachte leicht. »Zumindest zur Mittagszeit.« Sie öffnete den Deckel der Teekanne und schaute hinein, dann schloss sie ihn wieder, hob die Kanne an und goss den dampfenden Tee in die Gläser, in denen bereits ein kleines grünes Blatt gelegen hatte, das nun nach oben schwamm. »Minze«, erklärte sie. »Ich hoffe, du magst das.«
»Ich habe ziemlichen Durst, deshalb hätte ich lieber Wasser gehabt«, sagte Kristin, »aber Tee tut es wahrscheinlich auch.«
»Von deinem Kaffee hast du ja kaum etwas getrunken.« Larissa betrachtete ihr Teeglas wie eine Kristallkugel.
»Es war alles ein bisschen«, Kristin hüstelte, »hektisch.«
»Die Marokkaner trinken den Tee wirklich zum Durstlöschen«, fuhr Larissa fort, als hätte sie diese Antwort gerade in der Kristallkugel gefunden, Kristins Bemerkung aber gar nicht gehört. »Heißer Tee in der heißen Wüste. Das funktioniert gut.«
Kristin versuchte einen Schluck von dem Tee zu nehmen, aber er war noch so heiß, dass sie ihn praktisch schlürfen musste. »Entschuldigung«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln zu Larissa hin.
Larissa lachte. »Du glaubst gar nicht, wie angenehm es ist, einmal wieder mit einer Frau zu essen, die ihren Tee schlürft.«
Kristin wusste nicht, was sie von dieser Aussage halten sollte. Sollte das etwa ein Kompliment sein? Oder wollte Larissa ihr damit sagen, dass sie, Kristin, verglichen mit den Frauen, mit denen Larissa jetzt ausging, eine Art Dorftrampel war? »Ich hätte doch lieber Wasser bestellen sollen«, erwiderte sie etwas verschnupft.
»So war das nicht gemeint.« Larissa beugte sich vor. »Du bist eine wirkliche Erholung. Die meisten Frauen geben gar nicht zu, wenn sie Hunger oder Durst haben. Sie nippen höchstens an ihrem Glas, und essen tun sie ohnehin nichts.«
Wie auf Stichwort kam in diesem Moment die Tajine, ein großer brauner Tontopf mit einem spitzen Hut, ebenfalls aus Ton, der ihn abdeckte. Die Teller, die vor sie hingestellt wurden, waren tiefer als übliche Teller, jedoch keine Suppenteller, und ein farbenfrohes, filigranes Muster verlieh ihnen ein exotisches Aussehen.
Hassan hob den Hut an und blickte fragend auf Larissa.
»Mhm«, sagte die und schnupperte. »Das riecht wundervoll wie immer, Hassan.«
Ohne Kristin zu fragen schöpfte Hassan daraufhin eine Portion aus dem Topf auf ihren Teller, um danach Larissa zu versorgen. Er setzte dem Topf den Hut wieder auf, sagte »Bon appetit« und verschwand fast wie ein guter Geist zur Tür hinaus.
Nun merkte Kristin endgültig, wie großen Hunger sie hatte, nahm ihr Besteck auf und schaute Larissa an.
Die lächelte fast etwas verträumt in ihre Richtung. »Ich kann nur wiederholen, was Hassan schon gesagt hat. Guten Appetit.« Auch sie nahm ihr Besteck und begann zu essen.
Kristin hätte ein ihr fremdes Gericht normalerweise erst einmal probiert, aber sie vertraute darauf, dass Larissa und sie früher immer denselben Geschmack gehabt hatten, und schob deshalb gleich eine größere Portion auf ihre Gabel. So viel, dass ihr etwas davon, kurz bevor es ihren Mund erreicht hatte, wieder herunterfiel. Immer noch musste sie jedoch recht heftig mit dem Rest kämpfen. Es war eindeutig zu viel gewesen.
Wieder lachte Larissa, und diesmal war es genau das Lachen, das Kristin aus ihrer Jugend von ihr kannte, ein bisschen spitzbübisch und schadenfroh. »Ich sehe, es schmeckt dir.«
»Hmhm.« Kristin nickte nur, denn sie konnte nicht sprechen, jedenfalls nicht, wenn sie es nicht mit vollem Mund tun wollte, was ihrer Erziehung widersprach. Da war sie wieder, diese Vertrautheit, diese alte Gemeinsamkeit, und sie merkte, wie sehr sie sie vermisst hatte. Mit niemand anderem als Larissa hatte sie das je gehabt.
»Du isst. Du isst tatsächlich«, bemerkte Larissa amüsiert. »Ich bin begeistert.«
Mittlerweile hatte Kristin heruntergeschluckt und konnte antworten. »Geht man nicht in ein Restaurant, um zu essen?«, fragte sie erstaunt.
»Die meisten Frauen nicht unbedingt«, erwiderte Larissa mit zuckenden Mundwinkeln. »Da fragt man sich manchmal wirklich, warum man sie zum Essen einlädt.«
»Dann solltest du es vielleicht einfach nicht mehr tun.« Das war Kristin ohne Überlegung so herausgerutscht, aber dann merkte sie, dass man das auch falsch auffassen konnte. »Ich will dir natürlich keine Vorschriften machen«, fügte sie deshalb schnell hinzu. »Und ihnen auch nicht. Ich kenne die Frauen ja gar nicht, von denen du sprichst.«
Larissa legte ihr Besteck hin und sah Kristin nachdenklich an. »Sie würden dir wahrscheinlich auch gar nicht gefallen«, stellte sie grüblerisch fest, dann schwieg sie, als ob das ein Gedanke wäre, der sie überraschte. »Weißt du noch, wie wir damals in Dengelbach über Zäune und Mauern gesprungen sind, durch den Fluss gewatet und versucht haben, Fische zu fangen?«
»Mit bloßen Händen.« Kristin legte den Kopf zurück und lachte. »Deshalb sind sie uns immer entwischt.«
»Und die Kirschbäume«, schmunzelte Larissa. »Wie oft ist uns schlecht geworden von den vielen Kirschen, die wir gegessen haben, wenn wir da oben hockten.«
Es waren schöne Erinnerungen, die sie gemeinsam teilten, Erinnerungen, wie sie vielleicht auch Geschwister hätten haben können. Aber einige Erinnerungen waren nicht so geschwisterlich. Auf einmal erinnerte Kristin sich an einen Tag am Fluss, als sie wieder versucht hatten, Fische zu fangen und sie dabei auf einem glitschigen Stein ausgerutscht war. Pudelnass hatte sie im Fluss gelegen und gelacht. Damals hatten sie fast immer gelacht. Larissa war zu ihr gekommen und hatte ihr eine Hand gereicht, um ihr aufzuhelfen, aber Kristin hatte der Schalk geritten, und statt sich aufhelfen zu lassen, hatte sie Larissa heruntergezogen, sodass sie unvermutet plötzlich ebenfalls neben ihr im Wasser lag.
Verdutzt hatte Larissa sie angeschaut, und dann blitzte es in ihren Augen so mutwillig auf, dass Kristin schon wusste, was kommen würde. Larissa warf sich auf sie und hielt ihre Handgelenke fest, schaute von oben auf sie hinunter. »Das wirst du büßen.«
»Geh von mir runter!«, hatte Kristin lachend geschimpft und versucht sie abzuschütteln.
Das führte jedoch nur dazu, dass Larissa noch fester zugriff und Kristin vor Schmerz aufschrie, weil ihr dadurch ein Stein hart in den Rücken gepresst wurde.
Sofort ließ Larissa sie los, und ein erschrockener Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Habe ich dir wehgetan?«
Noch bevor Kristin antworten konnte, erstarrte Larissa, denn als sie ihre Hand zurückgezogen hatte, war sie direkt auf Kristins Brust gelandet, die sich deutlich unter ihrem nassen T-Shirt abzeichnete. Insbesondere auch die Brustwarze, die durch das kalte Wasser des Flusses steif hervorstand.
Kristin spürte, wie ihre Brustwarze sich in Larissas Handfläche bohrte, und so kalt hätte der Fluss gar nicht sein können, dass er gegen die Hitze, die plötzlich in ihr aufstieg, angekommen wäre. Sie fühlte sich, als würden tausend kleine Fische an ihren Beinen und in ihrem Bauch tanzen.
Larissas blaue Augen bekamen einen ganz komischen Glanz, und ein paar lange Sekunden starrte sie Kristin nur an, dann beugte sie sich zu ihr hinunter.
»He, was macht ihr denn hier?«
Es war, als hätte sich die Magie des Augenblicks in einer Zehntelsekunde verflüchtigt. Larissa sprang auf, reichte Kristin erneut die Hand und zog sie hoch. Beide standen sie tropfend nebeneinander und lachten.
»Wir wollten mal wieder Fische fangen«, erklärte Larissa und stapfte das Ufer hinauf. »Und wie immer ist es uns nicht gelungen. Die Fische waren schneller.«
»Man sollte meinen, ihr hättet es langsam gelernt.« In langen Sprüngen gesellte sich Thomas, genannt Tommy, zu ihnen, ihr gemeinsamer Freund, mit dem zusammen sie zur Schule gingen. »Ihr fangt doch nie was.«
Kristin war Larissa langsamer gefolgt, die sich offensichtlich viel schneller als sie gefangen hatte. Immer noch kribbelte es in ihr, als hätten sich zu den Fischen nun auch noch Ameisen gesellt.
Sie wusste nicht genau, was in Larissa vorgegangen war, als sie sie so angeschaut hatte, wie sie sie zuvor eigentlich noch nie angeschaut hatte. Mit einem heimlichen Blick versuchte sie herauszufinden, was Larissa dachte, was sie jetzt empfand, aber das war unmöglich. Larissa unterhielt sich mit Tommy, als wäre überhaupt nichts gewesen.
War überhaupt nichts gewesen? Kristin war sich nicht so sicher. Was hatte Larissa tun wollen, als sie sich zu ihr heruntergebeugt hatte? Kristins Inneres war so in Aufruhr gewesen, dass sie das noch nicht einmal sagen konnte. Larissa war ihre beste Freundin, manchmal etwas wild und herausfordernd, aber immer zuverlässig und beständig, ein Fels in der Brandung, auf den Kristin sich verlassen konnte. Konnte sie mehr sein als das?
»Woran denkst du?« Larissas Stimme rief sie aus ihren Erinnerungen zurück.
»Oh, gar nichts, gar nichts.« Kristin fühlte, wie sie leicht rot wurde, weshalb sie schnell das Teeglas nahm und es sich unter die Nase hielt. Dann konnte das Rot in ihren Wangen auch von dem Dampf kommen, von der Hitze, die jetzt allerdings doch ganz schön zurückgegangen war, zumindest im Tee. »Schöne Erinnerungen eben. Der Kirschbaum . . .« Sie lachte nervös.
Wieso fühlte sie sich auf einmal wieder wie ein Schulmädchen in Larissas Gegenwart? Schnell nahm sie einen Schluck Tee, das heißt, das wollte sie, aber das Teeglas war so klein, dass sie es mit diesem Schluck in einem Zug austrank.
»Soll ich dir lieber einen Schnaps bestellen?«, fragte Larissa lachend. »Ist dir das Essen zu schwer?«
Unauffällig, jedenfalls hoffte sie, dass es unauffällig war, atmete Kristin durch. »Nein, das Essen ist wirklich sehr lecker. Und auch gar nicht schwer. Im Gegenteil. Mediterrane Küche eben. Auch wenn ich bis vor einer halben Stunde damit eher italienische oder griechische Gerichte verbunden habe, spanische. Aber es liegen ja noch viel mehr Länder am Mittelmeer. Das vergisst man oft.«
Sie merkte, wie sie plapperte, konnte fast gar nicht aufhören damit. Larissa machte sie zunehmend nervös, weil da eben diese Vertrautheit war, weil da diese Erinnerungen waren, und doch hatten sie nie miteinander geschlafen. Bevor es dazu kommen konnte, hatte Larissa die Stadt verlassen.
Kurz aßen sie schweigend, tranken ihren Tee, den Larissa laufend nachschenkte, wenn Kristin ausgetrunken hatte, sodass die Kanne bald leer war.
»Möchtest du mehr?«, fragte sie und hielt die Kanne leicht in die Höhe. »Du hattest doch so großen Durst.«
Kristin schüttelte den Kopf. »Du hast recht.« Sie lachte leicht. »Beziehungsweise die Marokkaner haben recht. Der Tee ist ein hervorragender Durstlöscher. Ich hätte wahrscheinlich eine ganze Flasche Wasser trinken können, ohne dass mein Durst so gut gelöscht worden wäre.«
Fast etwas widerstrebend blickte Larissa auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Schade. Die Stunde ist fast rum. Ich hätte mich so gern noch viel länger mit dir unterhalten. Es ist so schön, von zu Hause zu hören. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe. Ich war in den letzten Jahren so furchtbar damit beschäftigt, von hier nach New York oder Tokio zu fliegen, London, Korea oder China, dass ich fast vergessen habe, dass es außerhalb der Börsenplätze auch noch etwas gibt.«
»Ja sicher, das gibt es.« Kristin umfasste ihr leeres Teeglas mit den Fingerspitzen und schaute hinein, als ob sie aus dem Minzblatt, das einsam am Boden des Glases lag, die Zukunft lesen wollte.
»Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann«, fuhr Larissa bedauernd fort, »aber das ist nicht allein meine Entscheidung. Ich habe Shareholder, die für jede Investition eine Begründung wollen. Und wenn ich denen erzähle, dass ich einen kleinen Verlag unterstützen will, der noch nicht einmal viel abwirft – vor allem keine Rendite –, dann werden die mir den Kopf abreißen.«
»Ich verstehe schon«, murmelte Kristin.
Eigentlich verstand sie nicht. Larissa hatte so viel Geld. Da fiel so eine kleine Investition doch kaum ins Gewicht. Aber wahrscheinlich verstand sie einfach nichts davon, wie es auf dem Börsenparkett, auf dem Larissa sich so elegant zu bewegen schien, zuging. Welche Zwänge es dort gab, von denen sie gar nichts wusste.
»Kannst du nicht noch ein bisschen länger bleiben?« Plötzlich lag Larissas Hand auf ihrer. »Ich würde mich so freuen. Ich würde alle Termine für heute Abend absagen und mich nur dir widmen.« Sie lächelte. »Dann muss ich auch nicht ins Büro zurück.«
Das Angebot kam zu überraschend, als dass Kristin darauf vorbereitet gewesen wäre. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Schnell zog sie deshalb ihre Hand unter der von Larissa hervor, aber es brannte furchtbar, wo Larissas Haut ihre berührt hatte. Sie umschloss diese brennende Hand mit ihrer anderen, um sie zu kühlen. »Halte ich dich dadurch nicht von irgendwelchen wichtigen Meetings ab?« Sie konnte ein leises Grinsen nicht unterdrücken. »Mit irgendwelchen Frauen, die nichts essen?«
In Larissas Augenwinkeln bildeten sich vergnügte Fältchen. »Wie könnte ich die dir vorziehen?«, fragte sie launig. »Du bist der Duft von zu Hause, ein Aroma, das durch nichts zu ersetzen ist.«
Kristin wusste, dass es keinen objektiven Grund gab zu bleiben, denn auch wenn sie noch einen Tag länger hierblieb, würde Larissa ihr das Geld nicht geben können, das hatte sie ja schon gesagt. Aber diese Sehnsucht in sich, die sie schon so viele Jahre unterdrückt hatte, konnte sie auch nicht leugnen. Noch ein paar Stunden mit ihrer alten, geliebten Freundin, von der sie genauso wenig gewusst hatte, wie sehr sie sie vermisste, wie Larissa gewusst hatte, dass sie Dengelbach vermisste. Dengelbach, nicht Kristin. Das hatte sie nicht gesagt.
»Du vergisst, dass ich kein Geld habe«, wandte sie ein. »Jedenfalls keins, das ich zusätzlich ausgeben kann, für ein Hotel zum Beispiel. Das wäre unverantwortlich.«
Als ob sie über Kristins Einwand nachdenken würde, schürzte Larissa die Lippen. »Ja, das wäre es. Unverantwortlich. Und das bist du noch nie gewesen.« Sie ließ ihre Lippen in eine andere Position sinken, sich anheben. »Und wenn es dich keinen Cent kosten würde?« Sie hob die Augenbrauen. »Ich habe ein sehr großes Haus, und das ist meistens leer.«
Kristin blieb fast das Herz stehen. Übernachten? In Larissas Haus? Konnte sie auf ein solches Angebot eingehen?