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Schwarz ist die Modefarbe der kommenden Saison. Für die Herbst-Ausgabe des Fashion-Magazins hat die Redaktion einen brillanten Einfall: Top-Modell Candida soll in den neuesten Kreationen auf den Pariser Friedhöfen für Mode-Aufnahmen posieren. Denn sie hat die stille, gespenstische Ausstrahlung, die der neuen Modefarbe vor dem Hintergrund der dekorativen alten Grabmäler die extravagante Note verleiht.
Der junge Zollbeamte in Paris ist von Candida fasziniert und möchte ihren Anblick gern länger genießen. Deshalb kontrolliert er ihr Gepäck. In ihrer Hutschachtel findet er zu seinem und Candidas Entsetzen eine in Spitzen gehüllte abgehackte Hand.
Damit beginnt für Candida ein Alptraum, der sie unerbittlich in den Abgrund reißt...
Carola Salisbury (* 10. Januar 1964 in Nottingham) ist eine britische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Grusel-Krimi Herzdame in Schwarz erscheint in der Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
CAROLA SALISBURY
Herzdame in Schwarz
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
HERZDAME IN SCHWARZ
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Schwarz ist die Modefarbe der kommenden Saison. Für die Herbst-Ausgabe des Fashion-Magazins hat die Redaktion einen brillanten Einfall: Top-Modell Candida soll in den neuesten Kreationen auf den Pariser Friedhöfen für Mode-Aufnahmen posieren. Denn sie hat die stille, gespenstische Ausstrahlung, die der neuen Modefarbe vor dem Hintergrund der dekorativen alten Grabmäler die extravagante Note verleiht.
Der junge Zollbeamte in Paris ist von Candida fasziniert und möchte ihren Anblick gern länger genießen. Deshalb kontrolliert er ihr Gepäck. In ihrer Hutschachtel findet er zu seinem und Candidas Entsetzen eine in Spitzen gehüllte abgehackte Hand.
Damit beginnt für Candida ein Alptraum, der sie unerbittlich in den Abgrund reißt...
Carola Salisbury (* 10. Januar 1964 in Nottingham) ist eine britische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Grusel-Krimi Herzdame in Schwarz erscheint in der Reihe APEX CRIME.
Für Victoria Vernon
Es war 12 Uhr 45, als der BEA-Flug Nr. 202 aus London auf dem Flughafen von Orly landete.
Der junge Zollbeamte, der auf dem Gepäckschalter saß, prüfte seine Erscheinung in der spiegelglasverkleideten Säule schräg gegenüber und wandte seinen Blick dann zum Tisch der Passkontrolle, wo sich gerade eine Schlange bildete. Die soeben angekommenen Passagiere wurden für einige Augenblicke durch den mittäglichen Schichtwechsel aufgehalten. Der abgelöste Beamte verließ seinen Platz und kam zu ihm herüber.
Er grinste ihm zu; sie teilten dieselben Interessen.
»Pass auf, Georges!«
»Was ist denn los?«
Der Beamte der Passkontrolle nickte mit dem Kopf nach hinten zur Schlange und zwinkerte mit den Augen.
»Die Vierte da hinten. Schwarzer Mantel. Ich wär’ gern noch ’n bisschen länger geblieben und hätt’ versucht sie aufzureißen, aber die Frau wartet draußen im Wagen.«
»Flotte Puppe?«
Der andere rollte mit den Augen und modellierte mit den Händen die Umrisse einer Sanduhr in die Luft.
»Große Klasse - was ich so sehen konnte.«
»Sehr gut. Ich werd’ sie’n Weilchen festnageln und mal genauer inspizieren.«
»Missbrauch aber nicht die Amtsgewalt. Viel Spaß. Bis später.«
»Ciao, Jules!«
Der junge Zollbeamte sprang von seinem hohen Sitz, schnipste ein Staubkörnchen von seiner litzenbesetzten Hose und drückte sein Kepi vorn und hinten um je einen Zentimeter herunter, als schon die ersten Passagiere von dem Gepäckförderband herüberkamen.
»Haben Sie etwas zu verzollen, mein Herr? Und Sie, gnädige Frau, haben Sie etwas zu verzollen?« Er markierte flüchtig drei Gepäckstücke und ließ dann seinen Blick über die Schultern der Befragten schweifen. Er entdeckte sie fast sofort. Sie trug ein gemustertes Kleid und hatte sich ihren schwarzen Mantel wie ein Cape um die Schultern gehängt. Sie glitt wie Seide dahin. Dunkle Augen glänzten in einem blassen ovalen Gesicht, das von langen schwarzen Haaren eingerahmt wurde, die zum Teil zu einem Knoten mitten auf dem Kopf zusammengefasst waren. Unentschlossen blieb sie stehen. Die großen Augen blickten suchend in die Runde.
»Hallo, hierher, Mademoiselle!« Er klopfte auf den Schaltertisch vor ihm.
Zwei andere waren mit ihr; ein Mädchen mit kurzem blonden Haar und Hornbrille - ebenfalls erstklassige Figur, aber die vorspringende Nase und die vorstehenden Zähne ließen sie gegenüber ihrer Begleiterin doch stark abfallen - eine jolie laide. Dann stand da noch ein untersetzter Typ in einem Kampfanzug aus rosa Kord, dem ein indischer Seidenschal vom Hals flatterte. Er war über und über mit Fotosachen behängt und gestikulierte aufgeregt zu einem Gepäckträger hinüber, der auf seinem Karren einen riesigen Stoß Koffer vorwärtsbalancierte.
»Gehören Sie zusammen, Mademoiselle?« Er spazierte mit den Augen an ihrer Gestalt hinunter und setzte seinen ganzen Monatslohn darauf, dass sie unter ihrem dünnen Kleidchen keinen Büstenhalter trug.
»Ja. Wir sind - hier, wir drei!« Ihr Französisch hatte nur einen geringen, sehr modisch wirkenden englischen Akzent, wie er am linken Seineufer so gut ankommt.
»Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Rein gar nichts!« Es war der Fotomensch, der antwortete; aber der Zollbeamte visierte weiter das Mädchen an.
»Was ist der Zweck Ihres Frankreichaufenthaltes, Mademoiselle?«
Die Blonde blies verächtlich durch die Nase und murmelte auf Englisch etwas über die EG vor sich hin. Er ignorierte das ebenfalls und versuchte weiterhin, der No-Bra ein Lächeln abzulocken.
»Wir sind wegen Fotoarbeiten hier - für ein Modemagazin«, sagte sie ruhig. Immer noch kein Lächeln. Er fuhr mit dem Finger über die Kante der Hutschachtel und drehte spielerisch das lederne Adressenschild um, das am Griff hing. Eine Karte steckte darin:
Candida Jeans 3a
Magdala Mews
Chelsea, S. W. 3
Er versuchte wieder ihren Blick einzufangen, bleckte seine strahlend weißen Zähne und legte die Augenwinkel schön in Falten, damit auch das letzte Quentchen Sex-Appeal aus allen Poren strömte.
»Würden Sie bitte die Hutschachtel öffnen?«
Es waren wohl die hysterischen Protestschreie ihrer beiden Begleiter, die die Festung sturmreif machten. Sie zog einen Schmollmund, der zögernd in ein um Verzeihung bittendes Lächeln überging. Sie öffnete den Deckel.
»Ich hab’ da nur mein Make-up-Zeug und noch ein bisschen Kram drin«, sagte sie. Doch dann, als sie einen Blick in die Schachtel warf, wechselte ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Obenauf lag in rote Spitze gewickelt etwas, das sich für die Finger des Zollbeamten kühl und weich anfühlte, als er es herausnahm und auf den Schaltertisch legte.
»Und was ist das hier?«, fragte er und begann es auszupacken.
»Ich hab’ keine... Oh, Gott!« Ihre Stimme erstarb.
Im ersten Moment dachte er an einen der Schweinsfüße, die von den Metzgern in der Markthalle dicht bei seiner Wohnung immer so dekorativ auf riesigen Platten zur Schau gestellt wurden. Dann hatte er das Gefühl, einen mit Speck gefüllten Glacéhandschuh vor sich zu haben, den am Gelenk ein schmuddeliges rotes Wollband zusammenhielt. Er betastete das Etwas noch einmal prüfend; kaltes, totes Fleisch hing schlaff zwischen Knochen.
Es war eine abgetrennte Hand. Eine echte - denn die Plastiknachbildungen, die man in den Scherzartikelläden kaufen konnte, hatten weder so wohlgeformte Fingernägel noch dunklen Haarflaum auf den unteren Fingergliedern und auf dem Handrücken, noch würden diese an der Stelle, wo der bleiche durchgetrennte Knochen aus dem Fleisch ragte, Tropfen wässrigen Blutes abgeben.
Die beiden Mädchen schrien auf einmal los - und er starrte in das aschfahle Gesicht des Fotografen, das bestimmt auch ein Abbild seines eigenen entsetzten Gesichtes war.
An diesem Montag war Oberinspektor François Rene Haquin von der Kriminalpolizei, wie immer, wenn das Wetter sich von der freundlichen Seite zeigte, zu Fuß von seinem Büro zur Brasserie an der Place du Châtelet gegangen, wo er allein sein Essen einnahm: Seezunge nach Hausfrauenart, ein Glas Straßburger Bier; dazu der übliche Blick in die Mittagsausgabe der Zeitung. Haquin war kein geselliger Typ.
Gegen Viertel vor zwei machte er sich auf den Weg zurück zum Pont au Change und zum grauen Fluss, der unter dem leicht bewölkten Aprilhimmel blaue, sich ständig verändernde Streifengebilde auf seiner Oberfläche zeigte, bis zur der Stelle, wo sein Assistent im Auto auf ihn wartete.
Haquin, ein gebürtiger Bretone aus St. Malo, hatte im Zweiten Weltkrieg bei der französischen Marine gedient, und ihm war, nachdem man sein Schiff torpediert und er sechs Stunden im eiskalten Ärmelkanal getrieben hatte, von einem fröhlichen britischen Sanitätsleutnant im Haslar Hospital in Gosport der rechte Unterschenkel amputiert worden. Der Krieg hatte bei ihm eine leichte Tendenz zur Anglophilie hinterlassen, außerdem gute Englischkenntnisse und ein halbes Aluminiumbein, das ihn immer auf dem letzten Stück des Rückweges zum Quai des Orfevres zu quälen begann - deshalb also Inspektor Martin mit dem Auto an der Brücke.
Keine Spur von dem schwarzen Citroen. Haquin blätterte an einem der Bouquinisten-Stände genussvoll ungefähr fünf Minuten lang in einem Band über die europäischen Vogelarten, bis er Martins Pfiff hörte. Der junge Inspektor steckte den Kopf durch das Wagenfenster; sein überlanges blondes Haar flatterte im Wind.
Haquin kletterte in den Citroen, wobei er sein Aluminiumbein nachzog, und sie schwenkten in den Verkehr ein.
»Ist was vorgefallen?«
»Eine irre Sache, Chef«, sagte Martin. »Ich hätte Sie fast in der Brasserie angerufen; doch dann beschloss ich, die Sache könne warten.«
»Oh, ja?«
»Das Ganze begann mit einem Anruf von der Polizei in Orly. Der Zoll hätte eine Hand in der Hutschachtel eines englischen Mädchens gefunden.«
»Sagten Sie Hand? Eine Menschenhand?«
»Ja. Abgetrennt...« der junge Inspektor brach ab, um bissige Bemerkungen über die Abstammung eines Radfahrers von sich zu geben, der in bedenklicher Nähe des Kotflügels einher schwankte. »Und ziemlich frisch noch. Scheußlich. Gleich als die Hand eintraf, hab’ ich sie runter in die Pathologie geschickt und um einen raschen Zwischenbescheid gebeten.«
»Männlich oder weiblich? Die Hand meine ich.«
»Männlich, Chef. Eine rechte Hand.«
»Und das Mädchen?«
»Sie ist ein Fotomodell für Modeaufnahmen. Kam mit der Mittagsmaschine aus London; bei ihr waren ein weiteres Mädchen und ein Fotograf. Das Modell, sie heißt Candida Jeans, wird noch wegen Schock behandelt, aber der Arzt sagt, in einer Stunde oder so ist sie soweit, dass Sie sie sprechen können. Die beiden anderen sitzen im Wartezimmer.«
»Ist schon ein bisschen ausgefallen, um es im Gepäck herumzutragen«, meinte Haquin. »Hat einer von den dreien eine Erklärung dafür abgegeben?«
»Das ist ja gerade das Merkwürdige«, sagte Martin. »Das Jeans-Mädchen ist vor Schreck fast wahnsinnig geworden, als sie die Hand da sah, und ihre Kollegen sind ebenso sprachlos vor Entsetzen wie sie. Dabei könnte ich schwören, dass die Reaktion bei allen echt ist. Kein bisschen schuldbewusst.«
Haquin erwiderte nichts. Er schwieg immer noch, als sie in eine Parklücke vor dem Polizeipräsidium fuhren, und stieg wortlos aus. Die ersten Spritzer eines Aprilschauers trieben sie eilig auf den Torbogen zu, wo gerade zwei diensttuende Beamte ihre Kepis entrollten; sie grüßten ungeschickt den Oberinspektor. Der Regen prasselte bereits gegen die Stufen, als Haquin und Martin die Treppe hinaufstiegen und in der hohl tönenden Halle verschwanden, in der es nach frischer Farbe roch und überall Malergerüste standen. Das Präsidium wurde wieder einmal geschönt; Arbeiter mit braunen Papiermützen sprühten eine langweilige graue Behördenfarbe an die Decke, und einige von ihnen waren so wenig beeindruckt von diesen hehren Räumen der obersten Polizeibehörde, dass sie sogar pfiffen.
Haquin warf den Figuren auf dem Gerüst einen ärgerlichen Blick zu, zog den Kopf ein und bahnte sich einen Weg über die farbverkleckste Plane, mit der die Halle ausgelegt war.
»Wie lange wird dieser Unsinn bloß noch dauern?« schimpfte er.
»Sie werden im Juni fertig sein, wenn nicht wieder ein Streik kommt«, sagte Martin besänftigend.
Haquins Büro wurde ebenfalls gerade renoviert, und sie hatten ihm ein Kabuff im zweiten Stock zugewiesen, in das sein und Martins Schreibtisch und zwei Hängeregistratur-Schränke gepfropft worden waren; staubige Akten türmten sich bis auf Augenhöhe vor dem einzigen winzigen Fenster. Bei so erschreckender Enge wirkte die Gegenwart von Martins Tennisschläger (Montag hatte er immer seinen Tennisabend), der in einer Ecke lehnte, wie eine unerträgliche Provokation. Und das bisschen Bewegungsspielraum, das sonst noch verblieb, war heute durch vier Koffer und eine Hutschachtel, die sich zwischen den Tischen stapelten, empfindlich eingeschränkt.
»Das ist das Gepäck von den Engländern«, sagte Martin. »Der Zoll hat es gründlich unter die Lupe genommen. Keine weiteren Menschenteile. Keine Drogen. Nichts.«
Die Schlüssel steckten in den Schlössern. Haquin öffnete die schwarze Hutschachtel und blickte auf ein wirres Arrangement von Kosmetika, ein schwarzes Haarteil in einem Plastikbeutel und ein riesiges Crêpe-de-Chine-Taschentuch.
»Die Hand war da drin«, sagte Martin. »Sie lag obenauf - in einen Spitzenschal gewickelt.«
Der Oberinspektor nickte. Er stellte die Hutschachtel auf die Seite und klappte den obersten der Koffer auf.
»Was soll denn das?«, murmelte Martin erstaunt.
Nichts als Schwarz. Haquin zog eine schwarze Wolljacke hervor. Darunter kam ein dazu passender Rock zum Vorschein. Dann fand er drei schwarze Hemdblusen und ein schwarzes Kleid. Weiter unten ein schwarzes Wollkostüm und einige Accessoires - Strumpfhosen, Schals, Tücher, Armbänder, Ketten, Ringe - alles in derselben Trauerfarbe.
»Sind diese Leutchen nach Paris gekommen, um Fotos zu schießen«, fragte Haquin, »oder wollen sie an einer großen Beerdigung teilnehmen?«
Das Wartezimmer war im dritten Stock und ging auf das linke Seine-Ufer hinaus. Von hier aus bot sich ein herrlicher Blick über den Jardin du Luxembourg bis hin zum Montparnasse.
Außer dem englischen Paar war niemand im Zimmer. Es stand an einem der Fenster, als die zwei Beamten eintraten.
Haquin trug einen dünnen Ordner unter dem Arm. Er stellte sich schwungvoll auf Englisch vor, gab dem Mann die Hand und verbeugte sich kurz zu dem Mädchen.
»In meinem Büro herrscht zurzeit ein Chaos. Setzen wir uns doch hier an den Tisch.«
Sie nahmen Platz. Haquin fixierte die beiden über einen polierten Lattentisch aus hellem Holz hinweg, der in der Mitte des Raumes platziert war. Martin saß mit dem Rücken zum Fenster, das Notizbuch aufgeschlagen vor sich, den Kugelschreiber gezückt.
Dann öffnete Haquin betont bedächtig seinen Ordner, sortierte umständlich einen Stoß Papiere, den er der Akte entnommen hatte, und versuchte die ganze Zeit, sich ein Bild von den beiden Engländern zu machen.
Sie schien zu der cleveren Sorte Frauen zu gehören und war unter normalen Umständen - oder sogar unter durchschnittlichem Stress - eine abgebrühte Person. Aber jetzt hatten ihre Augen schwarze Ränder, und ihre Hände zitterten, als sie sich eine Zigarette anzündete. Gauloises, stellte er fest, und zwar die ihm weniger vertraute cellophanierte Exportpackung. Gehörte wohl zum Chelsea-Image.
Das dunkle Haar des jungen Mannes hatte genau den Schnitt, der gerade von der Medienindustrie favorisiert wurde: die Ohren halb bedeckt und im Nacken lang. Aber es sah sauber und anständig aus. Gepflegte Fingernägel. Teure geschmackvolle Schuhe. Schien in seiner Sparte recht erfolgreich zu sein. Er war auch kein Homosexueller, wenn Haquin sich auf sein Urteilsvermögen verlassen konnte. Er hatte die Figur eines Rugbyspielers. Haquin räusperte sich und begann ohne das übliche Vorgeplänkel.
»Also, Mademoiselle, Sie sind Sonia Hammersley. Ledig. Beruf ist Moderedakteurin. Sie wohnen in London. Ist das alles richtig? Und Sie, Monsieur, heißen Hilary John Lubbock. Sind ebenfalls ledig und von Beruf Fotograf. Sie wohnen auch in London?«
»Ja.«
»Ja.« Der Mann sah seine Begleiterin für den Bruchteil einer Sekunde an, bevor er antwortete, und die tiefere Bedeutung davon entging Haquin nicht: Sonia Hammersley war der dominierende Teil dieses Gespanns. Oder Lubbock besaß so entsetzlich viel Erziehung, dass er die Dame immer zuerst zu Wort kommen ließ.
»Und Ihre Kollegin, die noch in ärztlicher Behandlung ist, heißt Candida Jeans, ist ledig und von Beruf Fotomodell. Sie wohnt wohl auch in London?«
Die Blonde nickte.
Haquin lehnte sich zurück und wandte sich absichtlich an Lubbock. »Also, was können Sie mir über die Angelegenheit erzählen?«
Er erzielte genau die Reaktion, mit der er gerechnet hatte: das Mädchen antwortete anstelle des Fotografen.
»Die ganze Sache scheint mir ein geschmackloser Scherz zu sein!«, sagte sie in ziemlich schnippischem Ton. »Irgendjemand muss diesen - Gegenstand in Candidas Hutschachtel gesteckt haben, als wir an der Bar in der Abflughalle des Londoner Flughafens etwas tranken.«
»Vielleicht ein Medizinstudent?«, meinte Haquin ruhig.
Sonia Hammersleys grüne Augen signalisierten Erleichterung, und sie warf ihm ein entgegenkommendes Lächeln zu, das geschickt kontrolliert war, um nicht zu viel von ihren schönen, aber leicht vorstehenden Zähnen zu zeigen.
»Das ist genau das, was ich sagen wollte. Medizinstudenten haben doch Zugang zu solchen Sachen, nicht wahr? Machen wir uns nichts vor. Menschen aufschneiden gehört zu deren Studium. Und da war diese einfach grässliche Meute von halbstarken Studententypen, die die Bar unsicher machten. Sie tobten halbbetrunken herum und grölten zweideutige Lieder.«
»Das waren männliche Studenten?«, fragte Haquin.
»Ja«, erwiderte sie. »Und zwar von der allerschlimmsten und ordinärsten Sorte. Jeder von denen wäre imstande gewesen, dieses Ding in Candidas Hutschachtel zu legen, während wir unsere Drinks nahmen und nicht aufpassten.«
»Ja, wir haben tatsächlich unser Handgepäck auf einem Tisch abgestellt, als wir an die Bar gingen«, mischte sich Lubbock ein.
»Das klingt recht wahrscheinlich«, sagte Haquin. »Lassen wir’s damit genug sein. Erzählen Sie mir etwas über Ihr Team. Sie sind für Aufnahmen nach Paris gekommen heißt es hier. Ich wüsste gern mehr darüber.«
Wieder sah Lubbock fragend zu Sonia Hammersley hinüber, und wieder war sie es, die antwortete. Jetzt war sie ganz Autorität und Profi, und auch die letzte Spur von Nervosität war verschwunden. Als sie sich die nächste Gauloise anzündete, zitterten ihre Hände nicht mehr. Haquin hatte den Eindruck, dass Sonia eine Frau war, die für ihre Karriere über Leichen gehen würde - Pech für den, der ihr dabei im Weg stand.
»Ich bin die Moderedakteurin von Focal«, sagte sie und klopfte energisch die Asche ihrer Zigarette in den Aschenbecher. »Focal, das Modemagazin für die Frau mit exquisitem Geschmack. Sie haben bestimmt schon davon gehört - es wird auch auf dem Kontinent vertrieben.
Die Aufnahmen, die wir machen wollten, sind für die Herbstsondernummer. Wir haben die Linie dafür auf der letzten Redaktionskonferenz entworfen: eine Sondernummer mit einem ganz besonderen Touch.«
»Herbst?« Haquin zog die Stirn kraus. »Wir haben jetzt April. Sie arbeiten also immer weit voraus?«
»Ja.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, in dem eine gewisse Verachtung lag. Keine Erklärungen für einen Durchschnittsmann, der sich nicht in den Gepflogenheiten der Modewelt auskannte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Haquin. »Sie sprachen von einem - besonderen Touch?«
»Ja. Der Black-Look«, kam es ein wenig herablassend von Sonia Hammersley.
»Ah, schwarz...« Haquin nickte.
»Unsere Sondernummer will Schwarz als die große Modefarbe für diesen Herbst herausstellen«, sagte Sonia Hammersley. »Die Londoner couturiers sind völlig versessen auf Schwarz, und das hat uns natürlich nach einem besonderen Aufhänger suchen lassen, um dem Heft das gewisse Etwas, das unsere Käufer erwarten, zu geben. Wir beschlossen, Candida herzufliegen und auf Ihren unheimlichen Pariser Friedhöfen Aufnahmen von ihr in den mitgebrachten schwarzen Ensembles zu schießen. Sie verstehen - Père Lachaise und all diese dekorativen Fleckchen.«
»Ich bin noch nie auf dem Père Lachaise gewesen«, entgegnete Haquin trocken, »aber Inspektor Martin hat dort einige Angehörige liegen.«
Sonia Hammersley sah ihn beleidigt an. »Das fertige Produkt, also die Herbstnummer am Kiosk, wird ausgesprochen geschmackvoll sein«, sagte sie. »Es ist keine Rede davon, sich über die Toten lustig zu machen oder ähnliches. Die Ambiance ist die, wie wir sie brauchen - diese phantastische Architektur der Grabmäler und diese gespenstische Einsamkeit. Deshalb haben wir auch Candida als Modell ausgewählt. Sie hat diesen stillen und gespenstischen Touch, den wir für unsere Grundidee benötigen.«
Haquin zuckte mit den Schultern und spielte mit den Ecken seines Aktenordners. »Ich bin sicher, Sie verstehen Ihr Metier ganz vorzüglich, Miss Hammersley. Doch um auf Ihre Kollegin, Miss Jeans, zurückzukommen - dieser Vorfall hat ihr doch einen beachtlichen Schock versetzt. Wäre es vielleicht nicht am angebrachtesten, die Eltern des Mädchens zu benachrichtigen? Oder ihren Verlobten?«
»Sie ist nicht verlobt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Eltern bereits tot sind. Ich hab’ doch recht, nicht wahr, Hilary?«
Der Fotograf nickte. Haquin bemerkte, dass ein Anflug von Verlegenheit das rotbäckige Gesicht noch röter erscheinen ließ - und er fragte sich, was wohl der Grund dafür sei.
Sie lag auf einer Liege in einem schattigen, nach Desinfektionsmittel riechenden Raum mit einem hohen Fenster, das über den regengepeitschten Hof zu dem Torbogen blickte, durch den sie auf dem Rücksitz des Polizeiautos hereingefahren worden war.
Die Wirkung der Tabletten, die man ihr gegeben hatte, ließ allmählich nach. Die Realität, die gewichen war und für sie nur noch schemenhaft existiert hatte, kehrte zurück, und sie stellte fest, dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit wieder an Schärfe gewann. Sie betastete voller Konzentration die Oberflächenstruktur der Decke, auf der sie lag, und stellte dabei fest, dass sie auf einmal das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheibe deutlicher hörte; doch wenn sie sich treiben ließ, verschwammen die Sinneseindrücke wieder. Durch diesen Nebel drang der hartnäckige Rhythmus von Schritten. Als die Tür sich geräuschvoll öffnete, richtete sie sich kerzengerade auf. Es war der Arzt und noch jemand: ein gedrungener Mann in einem dunkelblauen Anzug.
»Na, wieder munter, Mademoiselle Jeans?« Der Arzt sprach sie auf Französisch an. Er kam zu der Liege herüber, sein langes Gesicht zu einem Lächeln verzogen, kurzsichtige mitfühlende Augen hinter dicken Brillengläsern. Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk und fühlten den Puls.
Der andere Mann stand noch an der Tür.
»Ich glaube, Sie sind wieder in Ordnung. Das dort ist mein guter Freund Oberinspektor Haquin, der sich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten möchte. Ich lasse Sie beide allein.« Er nickte, ging hinaus und zog die Tür leise hinter sich zu.
Candida Jeans schwang ihre langen Beine von der Liege; das Linoleum fühlte sich unter ihren bestrumpften Füßen kühl an. Sie fröstelte, während sie den Mann in dem dunkelblauen Anzug beobachtete, wie er auf sie zu hinkte, sich einen Stuhl heranzog und ihn dicht vor die Liege stellte.
»Also, Mademoiselle«, begann er leise und ruhig, »Sie haben ein sehr schlimmes Erlebnis hinter sich, und ich möchte Sie nicht zu sehr belästigen. Nur einige Fragen. Fühlen Sie sich kräftig genug, darüber zu sprechen?«
Sie schloss die Augen und nickte.
»Gut. Das hat auch bis morgen Zeit, aber ich würde gern das eine oder andere klären, um in meinen Nachforschungen weiter voranzukommen.«
Sie riss die Augen groß auf. »Sie wollen mich hierbehalten?«
Er lächelte. »Wirklich nicht, Mademoiselle. Ich hab’ gar keinen Anlass dazu. Es ist an sich kein Verbrechen, nach Frankreich einzureisen und ein Stück menschlicher Anatomie dabeizuhaben, doch immerhin ein Vorfall, der einer gewissen Erklärung bedarf.« Er lächelte schief. »Nein, Sie können gehen, wann Sie wollen - Ihr Kollege wartet darauf, Sie ins Hotel begleiten zu dürfen.«
Sie atmete zitternd ein und sah auf ihre verkrampften Hände hinunter. Draußen regnete es noch immer, und sie hörte, wie jemand über den kopfsteingepflasterten Hof rannte.
»Ich - ich weiß nicht, wie sie da hingekommen ist«, sagte sie schwach.
»Das will ich berücksichtigen«, meinte Haquin. »Aber herauszufinden, wie sie dort hingekommen ist, wird, so hoffe ich, unseren Kollegen in London und uns gelungen sein, bevor Sie Paris zum Ende der Woche verlassen. Am Donnerstag, nicht wahr?«
»Ja, am Donnerstag.«