Heute sind wir Freunde - Patrycja Spychalski - E-Book

Heute sind wir Freunde E-Book

Patrycja Spychalski

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Beschreibung

Gute Freunde fallen manchmal doch vom Himmel

Nell, Leo, Chris, Anton und Valeska sind so verschieden wie Tag und Nacht. Da werden sie versehentlich in der Schule eingesperrt. Gar nicht so schlimm denkt sich Nell, ist sie doch schon lange in Leo verknallt. Super, findet Chris, ist er doch schon ewig in Nell verknallt. Kein Bock hier den Aufpasser zu spielen, denkt sich Streber Anton. Die haben doch keine Ahnung, wer ich wirklich bin, denkt sich Schulschönheit Valeska. Und Leo? Der ist einfach zu cool für diese Welt. Oder doch nicht? Am nächsten Morgen ist nicht nur ein Liebespaar aus der Nacht hervorgegangen, sondern auch fünf Freunde, die es gestern noch nicht waren, aber heute sind … und es vielleicht sogar bleiben.

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Seitenzahl: 314

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Patrycja Spychalski

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2016 cbt Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ivana Marinović

Umschlaggestaltung: © semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Eisfrei

jb · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17455-2V001

www.cbt-buecher.de

Nell

Bereits seit einer Woche ist die Unwetterwarnung auf allen Radio- und Fernsehkanälen. Das Tief »Angelika« zieht von der Nordsee rüber und es wird mit großflächigen Überschwemmungen und einem starken Sturm gerechnet. Vielleicht der stärkste Sturm in der Geschichte. Samstagabend soll er unsere kleine Stadt erreichen, und den Einwohnern wird dringendst empfohlen, zu Hause zu bleiben, die Kellerfenster abzudichten und die Autos in Garagen abzustellen. Ich finde das unglaublich aufregend! Ich habe noch nie ein Unwetter erlebt. Die Moderatoren im Radio sprechen von heftigem Starkregen, Hagel und Orkanböen von über 120 km/h. Meine Eltern haben 30 Liter Wasser besorgt, mehrere Konserven, endlos Wurst und Käse, eine Zwei-Kilo-Packung Nüsse, viel Zartbitterschokolade, saure Gurken und Trockenfleisch. Außerdem 100 Kerzen und zwölf DVDs mit amerikanischen Komödien, dazu natürlich Popcorn. Ich fand das maßlos übertrieben, schließlich sollte das Unwetter höchstens zwei Tage dauern, aber meine Eltern hatten sich da total reingesteigert.

»Wir machen uns ein ganz kuscheliges Wochenende!«, sagte Mama heute begeistert am Frühstückstisch und überprüfte noch einmal die Konserven.

»Und wenn der Strom ausfällt?« Ich rührte die Cornflakes in meiner Schüssel, bis sie ganz matschig wurden, so mag ich sie am liebsten.

»Dann spielen wir eben Scrabble.« Sie musterte skeptisch die Zutatenangaben und schüttelte den Kopf. »Was da an Konservierungsstoffen drin ist!«

»Deswegen heißt es ja Konserven«, entgegnete ich etwas genervt, aber nicht wegen der Konserven, sondern eher wegen der Aussicht auf Scrabble.

Ein Videoabend, schön und gut, aber Brettspiele mit meinen Eltern gehören nicht zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Ganz besonders, weil Papa ein schlechter Verlierer ist und die Stimmung mit jedem Spiel mieser wird. Das ein ganzes Wochenende lang zu ertragen, kam für mich nicht infrage, aber das musste ich meiner Mutter ja nicht sofort auf die Nase binden. Ich steckte mein Schulbrot ein und verabschiedete mich mit einem hastigen Winken.

Ich fuhr wie üblich mit dem Rad zur Schule und schon da kam ich nur mit Mühe voran, weil der Wind von allen Seiten gegen mich und mein Fahrrad drückte. Auf der anderen Straßenseite sah ich eine ältere Frau, die sich mit ihren schweren Einkaufstüten gegen eine Böe stemmte, und ich überlegte einen Moment, abzusteigen und ihr zu helfen, aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich sowieso schon spät dran war.

Völlig verschwitzt saß ich schließlich im Unterricht und konnte mich nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit an den Aufsatz denken musste, den ich am Nachmittag nachschreiben würde. Fast der halbe Deutschkurs hatte bei dem Klausurtermin gefehlt, dabei war er ausschlaggebend für unsere Noten, die in weniger als zwei Wochen feststehen sollten. Deshalb überließ uns der Direktor die Wahl: nachschreiben oder eine Note schlechter im Zeugnis.

Der Aufsatz selbst machte mir keine Angst, aber ich hatte gehört, dass Leo auch nachschreiben würde, und das machte mich schrecklich nervös. Seit Ende der neunten Klasse, also zwei Jahre schon, bin ich in Leo verknallt. Heimlich verknallt, von Weitem verknallt, ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt weiß, wie ich heiße. Wir haben nur den Deutschkurs zusammen, und da hat er nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen, obwohl er schon mehrmals hinter oder vor mir saß. Und ja, ich bin bestimmt nicht die Einzige, die auf ihn steht, schon klar! Ich habe auch wirklich versucht, mir diese Verknalltheit auszureden, ihn zu vergessen, mich nach anderen Jungs umzusehen, aber in keiner verdammten Hofpause kam ich an ihm vorbei. Mir wurden die Knie weich und der Mund trocken und ich verfiel wieder in irgendwelche Tagträumereien. Zum Beispiel, wie wir zusammen in einem Flugzeug sitzen, das, ähnlich wie in der Serie Lost, auf einer traumhaften Insel abstürzt, und wir sind die einzigen Überlebenden. Erst mal wäre das bestimmt seltsam, aber wir würden uns langsam annähern, quatschen, Fische fangen und braten, eine Hütte zusammen bauen, süße Früchte von den Bäumen pflücken, und schließlich würden wir uns küssen, weil es doch das ist, was früher oder später passieren muss!

Und nun sitze ich hier, mit Leo. Okay, leider nicht alleine, denn Valeska aus der 11a, Anton und Chris aus der 11c und Leos Kumpel Marc haben den Aufsatz letzte Woche ebenfalls aus dem einen oder anderen Grund verpasst. Regelschmerzen, Beerdigung von der Oma, Grippe. Die üblichen Ausreden eben. Ich hatte wirklich Kopfschmerzen gehabt, aber wenn ich gewusst hätte, dass ich den Aufsatz nachschreiben muss … Na ja, jetzt bin ich eben hier.

Vorne am Lehrerpult sitzt Herr Radtke, der junge Deutschreferendar, der bestimmt erst 25 ist und neben dem Rest des Kollegiums wie üblich viel zu schick für die Schule angezogen ist. Seine dunkelblonden Haare sitzen immer perfekt, inklusive Föhnwelle, und seine Klamotten sind wirklich jeden Tag farblich aufeinander abgestimmt. Trägt er ein blaues Shirt zu seiner grauen Jeans, dann hat er mindestens auch die passenden blauen Schuhe an. Heute hat er eine schwarze Hose an, ein weißes T-Shirt, schwarze Jacke und natürlich weiße Sneakers. Und gerade fummelt er unter dem Tisch an seinem Smartphone herum. Der glaubt wohl, wir sind blöd und kriegen das nicht mit. Frau Meissner, unsere Deutschlehrerin, hat sich schon gestern ins verfrühte Wochenende verabschiedet, und da haben sie Herrn Radtke die Nachschreiber aufgehalst. Wahrscheinlich kriegen die Referendare immer solche beknackten Aufgaben.

Ich denke, mein Aufsatz ist ganz gut geworden, bestimmt keine fünfzehn Punkte, aber elf müssten drin sein, und das, obwohl ich bestimmt die Hälfte der Zeit auf Leos Rücken und seine schwarze Lederjacke gestarrt habe.

Jetzt schaue ich zur Abwechslung aus dem Fenster und frage mich, ob die Wetterexperten sich vielleicht geirrt haben und der Jahrhundertsturm früher kommt als erwartet. Die Baumkronen wiegen sich im Wind, wie ich das noch nie gesehen habe, die Äste schlagen gegen die Regenrinnen, und die Blätter wirbeln wie verrückt durch die Luft. Obwohl es erst 15 Uhr ist, ist es draußen ganz finster. Schwere graue Wolken haben sich vor die Sonne geschoben. Eigentlich könnte ich jetzt gehen, mein Aufsatz ist fertig, aber wann bekomme ich schon die Gelegenheit, so nah bei Leo zu sitzen? Keine Ahnung, was ich mir davon verspreche. Sollte er mich endlich mal eines Blickes würdigen, würde ich wahrscheinlich keinen geraden Satz rausbekommen, aber trotzdem!

»Nell? Sind Sie fertig?« Herr Radtke rückt auf seinem Stuhl vom Tisch weg und steckt das Handy in seine Hosentasche. Seit wir in der Elften sind, werden wir gesiezt.

»Äh, nein, ich muss noch hier … ich muss noch …«, lüge ich, beuge mich schnell über mein Blatt und tue so, als würde ich konzentriert etwas prüfen.

»Also gut. Fünfzehn Minuten noch für alle und dann geht es endlich ins Wochenende.« Er steht auf und dreht eine Runde, schaut jedem über die Schulter, nickt zufrieden, dann stellt er sich ans Fenster und schüttelt den Kopf. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich meine, dass er »So eine Scheißidee« murmelt. Als es auch noch anfängt, gegen die Fensterscheiben zu prasseln, atmet er schwer aus, holt das Handy aus seiner Tasche und fängt an hektisch zu tippen. Alle sehen jetzt zu ihm, Anton mit seiner Brille aus der vorderen Reihe, Valeska, unsere Schulschönheit, Chris, der immer mit einem Fotoapparat durch die Gegend rennt, Marc in seiner ausgebeulten Jogginghose, der ständig mit Leo rumhängt, und Leo selbst … Alleine sein Profil zu betrachten, macht mich völlig alle. Seine dunkelbraunen Haare hat er mit den Fingern verwuschelt, einige Strähnen fallen ihm lässig in die Stirn und er knabbert auf seinem Kugelschreiber rum. Seine dunklen Augenbrauen hat er skeptisch zusammengezogen, und seine feine, gerade Nase macht mich sowieso ganz verrückt.

»Ihr entschuldigt mich bitte einen Moment.« Herr Radtke verlässt den Klassenraum, lässt die Tür aber einen Spaltbreit offen.

»Hey … pssst … Streber, mit welcher Epoche sollen wir diesen Scheiß vergleichen?« Leo beugt sich nach vorne und fängt an, Anton am fein säuberlich gebügelten Hemd zu zupfen.

Der dreht sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Leo um. »Ich habe einen Namen«, raunt er.

»Schon klar, aber sag doch mal, welche Epoche?«

»Wenn du meinen Namen nicht weißt, weiß ich auch nicht welche Epoche.«

»Konstantin? Jonas? Franz?«

»Fick dich!« Anton wendet sich ab und schreibt munter weiter.

Leo schaut sich betont irritiert im Klassenraum um. »Hat der echt gerade Fick dich zu mir gesagt?«

Als sich unsere Blicke treffen, zucke ich nur ratlos mit den Schultern und meine Wangen fangen an zu glühen. Es ist das erste Mal, dass er mich bewusst ansieht. Das ist jetzt deinen Chance, Nell, los!

»Romantik«, krächze ich, und es fühlt sich total verwegen an, dieses Wort zu Leo zu sagen.

»Was?«, flüstert er.

»Romantik.«

»Kannst du das noch mal sagen, bitte?«, grinst er.

»Die Epoche. Romantik«, wiederhole ich und muss sofort meinen Blick senken, als Leos braune Augen amüsiert aufblitzen. Das verursacht ein so extremes Ziehen in meinem Magen, dass ich mich frage, wie ich überhaupt jemals ein ganzes Gespräch mit ihm führen soll. Normal ist das jedenfalls nicht.

»Cool. Danke.« Als er sich über seine Blätter beugt und wild drauflos kritzelt, traue ich mich, aufs Neue zu ihm zu sehen, und da legt sich wieder dieser Schleier über meine Augen.

Ich sehe uns beide aus dem Schulhaus rennen. Wegen des Regens zieht er seine Lederjacke aus und spannt sie über unsere Köpfe. Ich muss ganz nah an ihn ranrücken, damit wir beide drunter passen. Er nimmt mich an der Hand, und wir rennen los, springen über die riesigen Pfützen, weichen den Bäumen aus, weil die Blitze gefährlich am Himmel zucken, und kämpfen mit aller Kraft gegen den Wind an. »Wir sollten uns unterstellen«, sagt er in mein Ohr, und sein warmer Atem jagt mir Schauer durch den ganzen Körper. Wir laufen zu der alten, leer stehenden Markthalle und rütteln am Tor. »Wir müssen da rein, bevor der Hagel einsetzt.« Er greift nach einem großen Stein und donnert damit gegen das Stahlschloss. Erstaunlicherweise geht sein Plan auf, doch bevor wir beide im Innern verschwinden können, um ein Lagerfeuer anzumachen und uns aneinanderzukuscheln, reißt das Bild ab, weil Herr Radtke mit hochrotem Kopf wieder im Klassenzimmer erscheint.

»Also gut, hört zu, ich habe gerade mit dem Direktor telefoniert. Er ruft erst einmal eure Eltern an und dann sehen wir weiter.«

»Hä? Was ist denn jetzt los?« Leo steckt sich den Kugelschreiber wieder in den Mund.

»Was heißt, dann sehen wir weiter?« Valeska, die nicht nur gut aussieht, sondern auch eine verflucht sexy Stimme hat, schiebt ihre Blätter zur Seite.

»Die Situation ist etwas heikel«, erklärt Herr Radtke und weiß nicht, wo er hinschauen soll.

Jetzt hören alle auf zu schreiben.

»Was sollen wir weitersehen? Ich hab heute echt noch Besseres zu tun«, motzt Chris und zerrt wie zum Beweis seine Kamera unter dem Tisch hervor.

»Hast du mal aus dem Fenster gesehen, Junge?« Dem armen Mann treten Schweißperlen auf die Stirn, und man sieht ihm förmlich an, dass er sofort bereut, so barsch gewesen zu sein. »Entschuldigung. Wie heißt du?«

»Chris.«

»Chris. Es ist gerade etwas … schwierig.«

Leo streckt seinen Arm in die Höhe und fängt an zu schnipsen.

»Du musst dich nicht melden, Leo!«

»Okay. Heißt das, wir müssen den Aufsatz nicht zu Ende schreiben?«

»Schreib ihn bitte zu Ende«, erwidert der Referendar, so ganz sicher scheint er sich aber nicht zu sein.

»Machen Sie Witze? Haben Sie mal aus dem Fenster gesehen? Wie soll ich mich da noch auf die Romantik konzentrieren?« Das sagt er mit einem dicken Grinsen, dreht sich zu mir um und zwinkert mir zu. Vor lauter Aufregung verschlucke ich mich an meinem eigenen Speichel und muss mich räuspern. Das ist wirklich furchtbar armselig.

Sofort entsteht Unruhe im Klassenzimmer. Alle lassen ihre Stifte fallen und schieben die Stühle zurück. Valeska ist die Erste, die ans Fenster tritt. Wir anderen folgen, nur Anton bleibt sitzen und liest sich seinen Text noch einmal durch.

Chris ruckelt am Fenster, bekommt es aber nicht auf.

»Da braucht man einen extra Schlüssel für«, erklärt Herr Radtke und schaut alle zwei Sekunden auf sein Display. Dann läuft er nervös zu seinem Stuhl, zieht seine Jacke aus, hängt sie über die Lehne und streicht sich den Schweiß von der Stirn.

Von draußen ist plötzlich ein heftiger Knall zu hören, und wir drücken uns die Nasen an den Scheiben platt, um zu sehen, was da los ist.

»Die große Mülltonne ist umgefallen.« Chris schießt ein paar Bilder durch die Scheibe.

In meinem Magen fängt es an zu kribbeln. So etwas habe ich echt noch nie erlebt. Der Schulhof ist bereits mit großen Pfützen bedeckt und die Regentropfen scheinen mit jeder Sekunde größer zu werden. Herr Radtkes Handy klingelt und er rennt damit aus dem Klassenzimmer.

»Heißt das, wir müssen den Aufsatz noch mal nachschreiben?« Valeska lässt sich theatralisch auf einen Stuhl fallen.

Ich habe nichts gegen Valeska, wirklich nicht, ich kenne sie ja praktisch gar nicht, aber manchmal macht sie mich wahnsinnig. Es geht gar nicht um ihre Schönheit an sich, wir haben viele schöne Mädchen an der Schule, aber sie hat so etwas Kühles an sich, das mich schrecklich irritiert. Ihre dunklen glänzenden Haare fallen ihr wie in einer Shampoo-Werbung über die Schultern, keine einzige Strähne, die mal absteht. Ihre blasse Haut ist so glatt und schimmernd, als hätte sie die im Katalog bestellt, zusammen mit dem kleinen Fleck rechts über der Oberlippe, der dem Wort Schönheitsfleck alle Ehre macht. Ich weiß nicht, ob sie Lipgloss benutzt oder ob ihre vollen Lippen von Natur aus immer so glänzen, Letzteres würde mich jedenfalls nicht wundern. Unglaublich geschwungene Wimpern, zarte schöne Hände mit langen Fingern, an denen sie täglich andere Ringe trägt, schlanke lange Beine, solche, für die Skinny-Jeans erfunden wurden. Allerdings trägt sie keine, sondern immer nur irgendwelche ausgefallenen Kleider, die bestimmt nicht von der Stange kommen, sondern aus einer exklusiven Boutique. Alles an ihr ist besonders, perfekt, einschüchternd, das gebe ich gerne zu. Wenigstens ist sie arrogant, wenn sie nämlich auch noch nett wäre, könnte ich das nicht ertragen. Trotzdem ist sie oft das Thema, wenn ich mich mit meinen Freundinnen treffe.

»Du willst echt so sein wie die?«

»Ich will nicht so sein wie die, ich find’s nur unfair, dass Valeska sich wegen ihres Aussehens nicht anstrengen muss. Wahrscheinlich ist ihr komplettes Leben so perfekt, wie sie aussieht.«

»Ach, das stimmt doch gar nicht!«

»Woher willst du das wissen?«

»Na, die hat doch bestimmt voll einen an der Waffel, so wie die rumrennt.«

»Was denn für eine Waffel?«

»Mann, das sagt man doch nur so! Ich meine, vielleicht ist sie manisch-depressiv oder so?«

»Wie kommst du denn auf so einen Schwachsinn?«

»Jeder hat so seine Problemchen!«

»Was ist denn dein Problemchen?«

»Darum geht’s doch gerade gar nicht!«

So in der Art jedenfalls. Mich nervt es, dass Valeska so viel Raum in unseren Gesprächen einnimmt, obwohl wir überhaupt nichts mit ihr zu tun haben. Umso mehr freut es mich, dass jetzt niemand auf ihre Frage antwortet. Aus der Ferne ist ein Donnergrollen zu hören und der Regen nimmt an Heftigkeit zu. Der Gedanke an den Heimweg macht mir plötzlich Angst. Ich werfe einen Blick auf Anton und frage mich, wie er so entspannt bleiben kann. Er sitzt seelenruhig an seinem Platz und streicht seine Aufsatzblätter glatt.

»Du bist mit dem Fahrrad da, stimmt’s?« Chris dreht sich zu mir und lehnt sich gegen den Heizkörper.

Wir sind uns heute Früh an den Fahrradständern begegnet, hatten aber nur Zeit, uns kurz zuzunicken.

»Ja. Du auch, oder?«

»Genau. Wäre wohl klüger, sie stehen zu lassen.« Er räuspert sich und fummelt an seinem Objektiv rum.

»Wahrscheinlich. Aber zu Fuß ist auch nicht besser«, sage ich ziemlich laut, in der Hoffnung, dass Leo es hört und wunderbarerweise vorschlägt, mich nach Hause zu begleiten, aber der geht bloß zu seinem Tisch und fängt an, seine Sachen zusammenzupacken.

»Was machst du?« Marc, der bisher kein Wort gesagt hat, schlurft ebenfalls an seinen Platz.

»Siehst du doch.«

»Packst du?«

»Ich packe!«, antwortet Leo betont langsam, als sei Marc schwer von Begriff.

»Okay«, sagt der und folgt Leos Beispiel.

In dem Moment kommt Herr Radtke wieder zurück, diesmal kreidebleich. »Ihr könnt jetzt nicht gehen«, sagt er mit Blick auf die Jungs, die ihre Rucksäcke schultern.

»Mein Aufsatz ist fertig.« Leo sammelt die Zettel von seinem Tisch ein und hält sie Herrn Radtke hin.

»Darum geht es nicht.«

»Worum geht es dann?«, mischt sich Chris ein.

»Setzen Sie sich doch alle mal einen Moment hin.« Herr Radtke deutet mehrmals auf die Bankreihen, um das Gesagte zu verdeutlichen.

Nach einigen Seufzern begeben wir uns auf unsere Plätze und schauen erwartungsvoll nach vorn. Herr Radtke reibt sich nervös die Hände, plötzlich sieht er viel jünger aus als sowieso schon.

»Ich habe gerade mit dem Direktor gesprochen und der hat mit euren Eltern telefoniert. Es gab bereits mehrere Unfälle in der Stadt. Dachziegel sind runtergekommen und Äste auf die Fahrbahn gefallen. Außerdem kann man aufgrund des Regens kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Sie halten es alle für das Beste, wenn wir hier ausharren, bis sich das schlimmste Unwetter gelegt hat.«

Eine Weile herrscht verblüfftes Schweigen, wir lassen den Blick schweifen, sehen einander an und dann wieder zu Radtke, auf den Boden, zur Decke und schließlich wieder zum Fenster. Davor scheint sich mittlerweile eine Wand aus Wasser zu ergießen.

»Und wie lange wird das wohl dauern?« Anton hat seine Hände gefasst auf dem Tisch abgelegt und eine kerzengerade Haltung eingenommen.

»Ich weiß es nicht, Anton«, gibt Herr Radtke zu. »Es könnte bloß ein kleiner Ausläufer des Sturms sein, vielleicht ist es aber auch schon der Sturm selbst. Wir können euch nicht guten Gewissens nach draußen schicken. Dachziegel, die von einem Haus runterfallen, können tödlich sein.«

»Das verstehe ich.« Anton ordnet seinen Blätterstapel, steht auf und geht zum Lehrerpult, um seinen Aufsatz dort abzulegen. »Ich bin so weit fertig«, murmelt er, bevor er wieder an seinen Platz zurückkehrt. Ich betrachte seine grünen Adidas Sambas, die gepaart mit dem komplett zugeknöpften orange-weiß karierten Hemd einen schrägen Kontrast bilden. Dann zucke ich zusammen, als Leo geräuschvoll seinen Stuhl vom Tisch wegschiebt.

»Na ja, festhalten können Sie uns hier nicht.« Er wirft erneut seinen Rucksack über die Schulter und wechselt einen Blick mit seinem Kumpel. Der wirkt einen Moment unschlüssig, springt aber schließlich auch auf.

»Was soll das werden?« Radtke macht ein paar Schritte Richtung Tür.

»Wir gehen.«

Das Herz rutscht mir in die Hose. Gespannt halte ich den Atem an.

Leo wirft einen letzten Blick in die Runde, dann kommt er noch mal an meinen Tisch, beugt sich zu mir runter und flüstert »Danke für das mit der Romantik« in mein Ohr.

Ich drohe innerlich zu explodieren, will Radtke zurufen: Lassen Sie ihn auf keinen Fall gehen!!! Alles, nur das nicht! Aber glücklicherweise scheine ich so etwas wie einen internen Kontrollsensor zu besitzen, der mich davor bewahrt, mich völlig lächerlich zu machen.

Schon stehen die Jungs an der Tür, doch Radtke stemmt die Hände gegen den Türrahmen, um ihnen den Weg zu versperren. »Ihr werdet jetzt nicht gehen!« Seine Stimme überschlägt sich etwas.

Chris dreht sein Objektiv scharf.

»Darf ich bitte durch?« Leo sagt das ganz ruhig, als habe er überhaupt keinen Schiss vor den Konsequenzen.

»Nein.«

»Er lässt uns nicht durch«, sagt Leo zu Marc, und der zuckt mit den Achseln.

Chris legt gespannt seinen Finger auf den Auslöser, Valeska stößt einen Seufzer aus und Anton schaut skeptisch aus dem Fenster.

»Glauben Sie, dass Sie einen guten Lehrer abgeben werden?« Leo ist tatsächlich auch noch einen Kopf größer als der Referendar.

»Selbstverständlich!«

»Sehen Sie, das glaube ich auch. Und deshalb werden Sie sich sicher nicht auf ein Handgemenge mit einem Schüler einlassen.« Und schon taucht er unter dem Arm des Referendars hindurch. Der versucht noch, nach ihm zu greifen, aber Leo windet sich raus, und auch sein Kumpel nutzt die Gelegenheit, um aus der Tür zu schlüpfen.

Chris drückt den Auslöser. »Scheiße, zu spät«, flucht er leise.

»Sie bleiben jetzt auf der Stelle stehen!!!«

Ich horche auf die sich entfernenden Schritte im Flur, dann auf der Treppe, versuche, die ganze Situation als ein Missverständnis abzutun, einen Scherz, der gleich aufgelöst wird. Aber als dann auch noch die schwere hölzerne Eingangstür scheppernd ins Schloss fällt und Herr Radtke sich hilflos an den Kopf fasst, sacke ich völlig enttäuscht über der Tischplatte zusammen.

Es hätte so schön sein können!

»Romantik«, flüstere ich stumm vor mich hin, als könnte das jetzt noch etwas helfen.