Auf eine wie dich habe ich lange gewartet - Patrycja Spychalski - E-Book

Auf eine wie dich habe ich lange gewartet E-Book

Patrycja Spychalski

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Beschreibung

Ein Sommer voller Erdbeerküsse

Ab ans Ende der Welt, heißt es für Großstadtmädchen Laura – dort, wo sich höchstens die Wildgänse und Mamas neue Hühner gute Nacht sagen. Wie soll sie es da nur aushalten? Aber das piefige Kaff hat dann doch etwas zu bieten: Enzo, den süßen Neffen des Pizzeriabesitzers, und Irina, das hübsche, durchgeknallte Mädchen, mit dem Laura sich auf Anhieb versteht, Musik hört, am Bach herumliegt und … dann passiert es: Auf einer Party küsst Irina Laura – und Laura küsst Irina. Doch so unerwartet schön, so schrecklich verwirrend sind ihre Küsse auch. Bin ich lesbisch?, googelt Laura. Und wenn ja, warum dann dieses irre Kribbeln, wenn sie Enzo sieht?

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Seitenzahl: 323

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Foto: © Isabelle Grubert

DIE AUTORIN

Patrycja Spychalski, geboren 1979 in Starogard, Polen, zog im Alter von neun Jahren mit ihren Eltern nach Berlin. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Schauspielausbildung, wandte sich dann aber einem ganz anderen Bereich zu: Seit 2002 arbeitet sie in vielfältigen sozial-kulturellen Projekten mit Kindern und Jugendlichen. Sie schrieb Kurzgeschichten für Anthologien und hat inzwischen schon mehrere Jugendbücher verfasst.

Von der Autorin sind bereits bei cbt erschienen:

Ich würde dich so gerne küssen

Fern wie Sommerwind

Der eine Kuss von dir

Bevor die Nacht geht

Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Originalausgabe August 2015

© 2015 cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung eines Motivs von Plainpicture/Hollandse Hoogte/Iris Loonen

Lektorat: Ivana Marinović

jb ∙ Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15054-9www.cbt-buecher.de

Ich sitze auf der Rückbank unseres alten Ford Fiesta und halte meine Hand aus dem halb geöffneten Fenster. Der Fahrtwind gleitet zwischen meinen Fingern hindurch, und ich betrachte meine dunkelrot lackierten Nägel, die einen schönen Kontrast zum klaren blauen Himmel bilden. Unwillkürlich muss ich an die Anfangsszene von Dirty Dancing denken, diesen 80er-Jahre-Film, den sich meine Mutter immer wieder anschaut, wo die Heldin, die komischerweise Baby heißt, ebenfalls auf der Rückbank sitzt und glücklich in einem Buch liest, während der Wind ihr die Haare zerzaust. Kurz darauf legt sie ihrem braun gebrannten Vater lächelnd die Arme um die Schultern. Mama schaut glücklich von der Beifahrerseite rüber und die Schwester kämmt sich selbstverliebt die Haare. Und während diese zufriedene Familie über die leeren amerikanischen Highways dahingleitet, weiß ich als Zuschauerin, dass schon bald etwas ganz Besonderes passieren wird. Ich seufze und würde wirklich gerne mit Baby tauschen.

»Laura, Schatz, kannst du bitte das Fenster schließen? Ich mache meins auf.« Meine Mutter holt ihre zerknautschte Schachtel rote Gauloises aus dem Seitenfach und kurbelt das Fenster runter.

»Du bist echt die einzige Mutter, die ich kenne, die im Auto raucht, obwohl ihr Kind mit drin sitzt«, blaffe ich sie an.

»Laura!« Mein Vater schüttelt den Kopf und schnaubt laut.

»Aber es stimmt doch!« Ich beobachte sein Gesicht herausfordernd im Rückspiegel. Ich bin auf Streit aus, obwohl ich weiß, dass er mir diesen Gefallen nicht mehr tun wird.

Meine Mutter streckt ihren Kopf aus dem Fenster, damit möglichst wenig Rauch ins Innere zieht. In Wahrheit mag ich sogar den dezenten Geruch ihrer Zigaretten. Ihr die anderen Mütter vorzuwerfen, ist durchaus gemein, denn die ganzen Mütter meiner Freunde sind alle solche Spießer-Tanten, die selbstverständlich nicht rauchen, sich gluten- und laktosefrei ernähren und auch kein Auto fahren, sondern Fahrrad, und zwar nicht wegen der Umwelt, sondern wegen strafferer Schenkel. Ich habe meine Mutter während einer Schulveranstaltung mal beobachtet und bemerkt, wie unwohl sie sich in deren Gegenwart fühlte. Ganz verloren stand sie bei so einer Müttergruppe in ordentlich gebügelten pastellfarbenen Klamotten und versuchte ihr nettestes Lächeln, aber es war ganz offensichtlich, dass sie von diesen Frauen Welten trennten. Meine Mama ist mir natürlich tausendmal lieber als diese korrekten Muttis, bei denen es immer nur trockene, zuckerfreie Reiswaffeln gibt, aber da ich es mir gerade mit meinen Eltern verderben will, ist mir das mit dem Rauchen eben rausgerutscht.

Ich bin so schrecklich sauer, weil wir gerade auf dem Weg zu unserem neuen Zuhause sind. Auf dem Dorf!

Ich wiederhole: Dorf!

Papa behauptet, es wäre eine Kleinstadt, aber ich glaube ihm nicht, und selbst wenn, macht es die Sache auch nicht besser. Vor drei Monaten hat mein Vater einen Versetzungsvertrag unterschrieben. Ich wusste gar nicht, dass er sich auf eine neue Stelle beworben hatte, er erzählt selten etwas von seiner Arbeit. Im Grunde weiß ich nicht einmal richtig, was er eigentlich macht. Irgendwas mit Computern, Wartung von Servern oder so. Meine Mutter hat sich bei der Nachricht riesig gefreut, sie hatte schon länger keine Lust mehr auf die große Stadt, und ich durfte dann zwar meine Bedenken vorbringen, aber irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass alles längst beschlossene Sache war.

Dabei habe ich so viele Bedenken! Ich habe eine lange Liste geschrieben und sie meinen Eltern wortlos auf den Tisch gelegt. Abends, als ich schon im Bett lag, habe ich gehört, wie sie sich darüber unterhielten. Mama sprach wie immer mit ihrer leisen sanften Stimme, deshalb konnte ich nicht viel hören, aber mein Herz pochte laut gegen meine Brust und die Hoffnung war groß, dass es ihnen einleuchten müsse.

Hat es aber nicht.

Das wohl Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich meine Freunde zurückzulassen musste. Wenn ich nur daran denke, dass sie alle – Marlene und Kati, Max, Thomas und Flo – jetzt lachend auf dem Schulhof stehen und Pläne schmieden, die Welt zu verbessern oder zumindest, etwas Tolles am Wochenende zu unternehmen, zieht sich mir der Magen zusammen. Es ist so ungerecht, dass ich nicht bei ihnen sein darf!

Der Abschied war echt hart. Mama hatte drei Blech Kuchen gebacken, zwar eine Backmischung, aber immerhin. Papa hatte mich mit dem Auto zur Schule gefahren und sie mir bis in den dritten Stock in mein Klassenzimmer getragen. Von der Decke baumelten Luftschlangen und ein Plakat: »Geh nicht, Laura! Und wenn du doch gehen musst, dann hab wenigstens viel Spaß!« Kati hatte gerötete Augen, Marlene raunte ihr zu, sie solle sich gefälligst zusammenreißen, und die drei Jungs hatten mir zum Andenken eine Collage gebastelt, mit Fotos von Partys und Picknicks in Parks, auf denen wir alle verrückt in die Kamera grinsten. Die anderen aus der Klasse zuckten betreten mit den Schultern und murmelten irgendwas von wegen, dass es ihnen total leidtut, dass ich gehen muss. Frau Keppler nahm sich die Frechheit raus, mich zu ermuntern, offen für neue Freundschaften zu sein. Ich lächelte höflich, aber während sie ans Lehrerpult zurückkehrte, verdrehte ich die Augen und brachte Kati damit wenigstens wieder zum Grinsen. In der großen Pause standen wir dann noch alle beieinander und aßen die letzten Stücke Kuchen. Ich wollte nicht, dass meine Freunde mich traurig in Erinnerung behielten, und deshalb beteiligte ich mich rege an den Spekulationen, ob Frau Keppler und Herr Schröder eine Affäre hätten und deshalb zusammen im Naturkunderaum verschwunden waren, wo sie zehn Minuten später mit zerzausten Haaren und einem doofen Grinsen wieder rauskamen.

Als ich am Nachmittag die leeren Bleche wieder nach Hause schleppte, konnte ich allerdings nicht aufhören zu heulen.

Mama seufzte traurig, nahm mich in den Arm und gab vor, zu verstehen, wie ich mich fühle.

»Du freust dich doch auf diesen Umzug!«, warf ich ihr vor.

»Das tue ich. Wirklich. Trotzdem kann ich mir denken, dass es für dich schlimm ist.«

»Ich könnte hierbleiben. Ich bin alt genug, mir eine Wohnung zu nehmen!« Ich war mittlerweile selbst genervt von meiner wehleidigen Stimme.

Meine Mutter kräuselte die Stirn. »In zwei Jahren bist du so weit.«

Ich hatte das natürlich längst gegoogelt und wusste, dass sie recht hat. Mit sechzehn darf man zwar in eine eigene Wohnung ziehen, aber nur mit dem Einverständnis der Eltern. Dass meine Eltern mir das nicht erlauben würden, war ganz klar, ich brauchte gar nicht erst zu fragen.

»Weißt du noch, wie du dir letztes Jahr gewünscht hast, mal was ganz anderes machen zu können? Was hast du damals gesagt? Immer der gleiche Mist, oder so etwas.« Mama holte eine Familienpackung Kokoseis aus der Kühltruhe, zückte zwei Löffel und legte sie vor uns auf den Tisch.

»Ach, das war nur so dahingesagt. Ich hatte Liebeskummer und Marlene war sauer auf mich und dann noch die Sache mit dem BH …« Ich hatte bei H&M einen BH geklaut. Eigentlich aus Versehen. Ich hatte so viele Sachen anprobiert und zum Schluss gar nicht bemerkt, dass ich ihn noch anhatte, aber das wollte mir natürlich keiner abnehmen.

»Sieh es doch einfach als Herausforderung«, schlug Mama vor, während sie den Deckel vom Eisbecher pulte.

Dann saßen wir schweigend am Küchentisch und leckten, jede in ihre Gedanken vertieft, das Eis von den Löffeln. Ich versuchte, mir vorzustellen, was für eine Herausforderung das sein könnte. Für mich war das bloß ein Rückschritt. Kühe, Hühner, matschige Straßen, neugierige Nachbarn, und bestimmt gab es weit und breit nicht einmal ein Kino.

Mama hat fertig geraucht und kurbelt ihr Fenster wieder nach oben. Sie sprüht zwei Spritzer Zitronenspray ins Auto, dann kramt sie in ihrem Rucksack und holt eine knisternde Packung Schokonüsse raus. Seit ich denken kann, ist das unser Proviant für längere Autostrecken. Ich beuge mich vor und halte ihr meine beiden Hände hin. Sie lässt die Nüsse reinrieseln und lächelt mir aufmunternd zu.

»Es stört mich nicht, dass du rauchst«, nuschele ich.

»Doch, doch, du hast ja recht. Ich will sowieso bald damit aufhören.«

Mein Vater wirft ihr einen kurzen skeptischen Blick zu.

»Du wirst schon sehen!«, protestiert sie und legt ihre nackten Füße auf dem Armaturenbrett ab. Meine Mama ist so was wie ein Hippie. Sie hört gern laute Musik, beklebt ihre Terminplaner mit Blümchenstickern und sammelt glitzerndes, hübsches Zeug vom Boden auf und hortet es in einer Kiste, als wäre sie eine Elster.

Plötzlich ist mir gar nicht mehr nach Streiten zumute. Ich mag sie. Meine Mama sowieso und auch meinen Vater, den ich zwar nicht so oft sehe, weil er zu viel arbeitet, aber wenn er mal da ist, zeigt er mir auf YouTube coole Musikvideos, oder er bringt Sushi mit und wir üben gemeinsam mit Stäbchen zu essen. Er hat mir versprochen, dass ich das schönste Zimmer im Haus bekomme. Oben auf dem Dachboden, und dass ich ganz allein entscheiden darf, wie es eingerichtet wird. Ich habe das Haus nur auf Fotos gesehen. Es sieht ganz nett aus, zwei Stockwerke plus Dachboden und sogar eine Terrasse aus Holz, von der eine kleine Treppe in den Garten führt. Im Garten stehen zwei Apfelbäume und Büsche mit Stachelbeeren, ansonsten sehr viel hohes, dichtes Gras, das erst mal gemäht werden muss. Eins habe ich aber gleich klargestellt: dass ich keinen Bock auf Gartenarbeit habe. Mama hat letzte Woche in so einem Öko-Laden eine Hängematte gekauft, die sie zwischen den beiden Apfelbäumen aufhängen möchte. Da werde ich mich dann reinlegen und meinen Eltern dabei zusehen, wie sie mit dem Unkraut kämpfen.

»Braucht jemand eine Pinkelpause?«, fragt mein Vater und deutet auf das Tankstellenschild.

»Warum nicht? Ein bisschen die Beine vertreten …« Mama schlüpft in ihre Flipflops.

Ich zucke mit den Schultern. Papa setzt den Blinker und fährt von der Autobahn runter auf den Rastplatz.

Ich wundere mich ein bisschen, dass in dieser Gegend so viele Menschen unterwegs sind. Fast alle Bänke sind besetzt mit Leuten, die ihre Stullen auspacken und ihre Thermoskannen aufdrehen. Sie kauen plappernd auf ihren Broten, starren dumpf vor sich hin oder fahren mit ihren Fingern über ihre Smartphone-Displays. Ich hole mein Handy aus der Jackentasche, um zu sehen, ob Kati oder Marlene mir vielleicht eine SMS geschickt haben. Nichts. Wer weiß, vielleicht werden sie mich schneller vergessen, als ich dachte. Immerhin haben sie ja noch einander. Sie müssen außerdem die Schülerzeitung fertig machen, die ursprünglich meine Idee war, eine Party für Flo organisieren, und dann treffen sie sich nach der Schule im Café Moskau und trinken diese lecker süßen Erdbeershakes, und nachmittags gehen sie bestimmt ins Kino. Da bleibt vielleicht keine Zeit mehr für eine SMS.

Gott! Ich kann mich langsam selbst nicht mehr ausstehen mit meinem Selbstmitleid!

»Möchtest du etwas aus dem Shop, Laura?« Papa lüftet sein T-Shirt, das am Rücken völlig durchgeschwitzt ist.

»Nee. Oder doch? Warte mal … hm … einen Kaffee vielleicht?«

»Seit wann trinkst du Kaffee?« Er zieht verwundert die Augenbrauen nach oben.

»Seit heute eben.«

Er und meine Mutter wechseln einen Blick, und Mama zuckt die Achseln, bevor sie Richtung Klo verschwindet.

»Zucker? Milch?«

»Schwarz!« Ich habe keine Ahnung von Kaffee, aber einfach nur schwarz hört sich gefährlich an.

Als Papa durch die automatische Glastür des Tankstellenshops verschwindet, suche ich mir einen schattigen Platz und setze mich im Schneidersitz auf den Rasen. Gut, ich gebe zu, ich bin schon gespannt auf das Haus. Unsere Wohnung ist nämlich das Einzige, worum es mir nicht leidtut. Sie war hellhörig, die Decken waren niedrig, und mein Zimmer war so winzig, dass ich, sobald mehr als drei Leute im Raum waren, das Gefühl hatte, der Sauerstoff würde uns ausgehen. Ich beneidete Marlene um ihr 25qm-Zimmer, mit Dielen und sogar einem eigenen Balkon. Altbau, in der angesagtesten Gegend der Stadt. Meistens hingen wir bei ihr rum.

Wenn ich mein neues Zimmer eingerichtet habe, werde ich Marlene und die anderen mal zu mir einladen. Vorausgesetzt natürlich, dieses Pisskaff, wo wir hinziehen, hat überhaupt einen Bahnhof.

Papa kommt zurück mit einem dampfenden Becher und einer Bulette auf einem Pappteller. »Hier. Schwarz.«

Ich nehme ihm den Becher ab und werfe einen Blick hinein.

»Und nur für den Fall: Zucker und Kaffeesahne.« Er lässt die Päckchen neben mich ins Gras fallen. Er selbst bleibt stehen und tunkt seine Bulette in einen Klecks Senf, beißt genüsslich rein und fängt an zu schmatzen. Mein Papa ist, glaube ich, durchaus ein attraktiver Mann, aber seine Tischmanieren gehen Mama manchmal schon mächtig auf den Keks. Jetzt kommt sie mit einem breiten Lächeln aus dem Klohäuschen und winkt uns zu, als würden wir uns gerade zum ersten Mal sehen. Sie ist wirklich sehr bemüht, gute Laune zu verbreiten, seit wir heute früh die Tür zur alten Wohnung hinter uns zugeknallt haben. »Auf, auf, ins Abenteuer!«, hat sie so laut gerufen, dass bestimmt das ganze Haus es gehört hat.

»Lässt du mich abbeißen?« Sie streckt die Hand nach Papas Bulette aus.

Widerwillig reicht er ihr den Pappteller. »Du hättest sagen können, dass du was willst.«

»Ich wollte nichts, aber jetzt, wo ich das so sehe …«

Das passiert ständig. Mein Vater sagt, meine Mutter wäre die Wankelmut in Person. Sie kann innerhalb von Sekunden ihre Meinung zu irgendwas ändern. Ich glaube, das macht Papa rasend. Ich probiere den ersten Schluck von meinem ersten Kaffee und verziehe sofort den Mund. Wer trinkt denn freiwillig so etwas Bitteres? Ich reiße alle drei Zuckerpäckchen auf und schütte sie rein, gefolgt von der ganzen Kaffeesahne. Papa grinst triumphierend. »Ich kenne doch meine Tochter.«

»Was glaubst du, wie lange wir noch brauchen?« Mama gibt Papa seinen Teller zurück und setzt sich neben mich ins Gras.

»Eine Stunde, eineinhalb vielleicht …« Er wirft einen professionellen Blick auf seine Uhr und nickt versonnen.

»Und? Ist es jetzt nicht doch ein bisschen aufregend?« Mama streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, doch ich zucke nur mit den Schultern. »Komm schon! Sag doch wenigstens eine Sache, auf die du dich freust!«

»Darf ich mein Zimmer eigentlich schwarz streichen?« Ich schaue ihr fest in die Augen und höre, wie Papa sich an seiner Bulette verschluckt.

Mama mustert mich und kneift die Augen zusammen. »Ja, also, sicher … wenn du das gerne möchtest …«, antwortet sie etwas zögerlich. »Du solltest nur bedenken, Schwarz zu überstreichen, bedeutet ziemlich viel Arbeit.«

Papa setzt an, etwas zu sagen, aber Mama hält ihn mit einem Blick zurück und schüttelt sachte den Kopf.

Natürlich werde ich mein Zimmer nicht schwarz streichen, ich wollte nur sehen, wie weit ich gehen kann, jetzt, wo meine Eltern ein schlechtes Gewissen mir gegenüber haben. Ich nippe noch einmal an dem nun hellbraunen Kaffee, und er ist schon ein wenig besser, aber so ganz kann ich mich mit dem Geschmack nicht anfreunden.

Später im Auto döse ich trotz des Kaffees eine Weile weg. Ich liebe diesen Zustand des Halbschlafs. Die leisen Stimmen, die zu einem durchdringen, einzelne Wörter, die sich dann in den Traum mischen, die angenehme Wärme, die mit jedem Herzschlag durch den Körper gepumpt wird. Ich habe mal von einem Künstler gelesen – ich glaube, es war ein Maler –, der immer mit einem Schlüsselbund in der Hand eingeschlafen ist, damit ihm, wenn er in den Tiefschlaf hinüberglitt, die Schlüssel aus der Hand fielen und er wieder aufwachte, um die großartigen Visionen des Halbschlafs sofort in Kunst umzusetzen. Ich finde, im Halbschlaf fühlt es sich an, als könnte alles Mögliche passieren, sogar die unmöglichen Sachen, wie zum Beispiel, dass man fliegen kann!

Ich wache erst wieder auf, als das Auto vor unserem neuen Haus hält. Mama steigt hastig aus und zündet sich eine Zigarette an. Sie breitet ihre Arme aus, als würde sie gleich das Haus umarmen wollen, und ich kann bis hierher sehen, wie ihre Augen glänzen. Papa dreht sich nach mir um und zwinkert mir zu. »Sollen wir?«

»Ich würde gerne noch kurz hier sitzen bleiben«, sage ich und ziehe die Beine an meine Brust, lege mein Kinn auf den Knien ab und schiele rüber zum Haus.

»Okay.« Papa steigt aus, schlägt die Tür hinter sich zu und umarmt Mama von hinten. Er flüstert ihr etwas ins Ohr und küsst sie auf ihre blonden Locken. Sie geben ein schönes Postkartenmotiv ab. Ich dachte, ich würde ihnen ewig böse sein, wegen der Nummer hier, aber irgendwie sind sie ja doch meine Eltern und überhaupt die Einzigen, die ich hier kenne, außerdem wäre es zu anstrengend, auf Dauer miteinander im Streit zu liegen.

Das Haus sieht kleiner aus als auf den Fotos. Im Erdgeschoss hängen grüne Holzläden vor den Fenstern, solche, wie man sie auf Urlaubsbildern von Italien sieht, oder von Frankreich. Die Farbe blättert an vielen Stellen ab. Auch der Putz sieht nicht besonders vertrauenerweckend aus. Papa hat sich zwei Wochen Urlaub genommen, um die nötigsten Arbeiten am und im Haus erledigen zu können. Für morgen ist ein großer Ausflug zum Baumarkt geplant. Die Umzugsfirma war schon gestern da und hat unseren kompletten Hausstand im Erdgeschoss abgeladen. Die nächsten Tage werden wir damit beschäftigt sein, Kartons durch die Gegend zu schleppen. Mama hat sich in den Kopf gesetzt, einen Salon einzurichten. Mit Sofas und Sesseln und einem schönen runden Tisch, den sie in irgendeinem Antiquitätenladen bestellt hat. Sie möchte gerne Freunde bei sich empfangen, zu Kaffee und Gebäck und zum Philosophieren. Ich frage mich nur, wo sie auf die Schnelle die ganzen Freunde hernehmen will.

Aus dem gegenüberliegenden Haus kommt jetzt ein Mann durch die Tür. Er trägt Gummistiefel über der schwarzen Jogginghose und einen extrem gemusterten Pullover in Braun und Orange. Ein Schäferhund schießt an ihm vorbei und rennt mit wedelndem Schwanz auf meine Eltern zu. Mama geht in die Hocke, um den Hund zu begrüßen und sich die Hand abschlecken zu lassen. Sie ist ein großer Fan von Tieren, nur in der Stadt wollte sie keine, sie meinte, das sei absolute Quälerei. Die einzige Ausnahme machte sie, als ich sieben wurde. Da bekam ich ein Meerschweinchen zum Geburtstag, weil ich die Wochen davor so sehr gebettelt hatte. Bevor ich acht wurde, war das Meerschwein wieder tot, weil ihm die Zähne ausfielen und es nicht mehr fressen konnte. »Siehst du. So ein Tier wird in der Stadt einfach nicht glücklich.« Mama streichelte so lange über mein Haar, bis ich völlig verheult endlich eingeschlafen war.

Der Mann aus dem Nachbarhaus ist jetzt bei meinen Eltern angekommen, er hebt zur Begrüßung die Mütze vom Kopf und sagt etwas. Mama lacht und Papa zeigt stolz auf unser Haus. Na ja, wahrscheinlich kommt der mal zu Kaffee und Kuchen vorbei. Ich rutsche auf dem Sitz etwas nach unten, um nicht gesehen zu werden. Noch einmal ein Blick auf mein Handy und immer noch keine Nachricht von niemandem. Die Schule müsste jetzt aus sein. Alle verlassen das Gebäude voller Vorfreude auf das Wochenende. Auf der Straße werden sie sich herumschubsen, lachen und umarmen und den Mittelfinger ausstrecken Richtung Fenster vom Direktorzimmer.

Ich vermisse euch, tippe ich in mein Handy und schicke es an Flo und Max, Thomas, Marlene und Kati. Sollen sie es ruhig wissen!

Mama klopft an die Scheibe und will mich zum Aussteigen animieren. Erst als ich mich versichert habe, dass der Mann mit dem Hund schon wieder gegangen ist und ich nicht Guten Tag sagen muss, öffne ich die Tür und steige zögernd aus dem Auto.

»Bereit?« Papa probiert alle Schlüssel durch, bis der letzte endlich in das Schloss des kleinen schmiedeeisernen Tors passt. Quietschend gibt es den Weg in den Garten frei.

»Schau mal, da!« Mama zeigt auf einen kaputten Stuhl, der im kniehohen Gras steht und auf dem eine getigerte Katze sitzt, die sich in der Sonne wärmt. Aber noch bevor sie den Stuhl erreichen kann, springt die Katze fauchend runter und verschwindet im Gestrüpp.

»Na ja, wir werden schon noch Freunde!« Meine Mutter lässt sich niemals entmutigen, durch nichts. Das ist eine Sache, die ich zum einen sehr an ihr mag, die mich aber manchmal auch echt wahnsinnig macht. Als sie zum Beispiel versuchte, mir den Umzug schönzureden. Die frische Landluft, die gut für die Haut ist. Das hochwertige Obst und Gemüse direkt vom Bauern, besser noch, aus dem eigenen Garten. Die weiten Wiesen und Felder, die Natur, die Stille. Irgendwann schlug ich ihr vor, doch einen Werbeprospekt für Dörfer zu gestalten.

»Es ist eine Kleinstadt!«, warf Papa völlig entnervt ein.

Nun, davon merke ich hier aber nichts. Wenn das eine Kleinstadt sein soll, dann sind wir an den äußersten Rand davon gezogen. Aus der Ferne sind Vogellaute zu hören, die mir absolut unbekannt sind. Ein ziemliches Gezeter.

»Das sind die Gänse«, sagt Papa, als hätte er meine Gedanken erraten. »Das ist hier eine Art Vogelschutzgebiet. Schau, dort drüben auf den Feldern … Siehst du die schwarzen Flecken?«

Ich kneife meine Augen zusammen, um besser zu sehen, und nicke.

»Wenn die alle gleichzeitig losfliegen … Ich sage dir … sehr beeindruckend.«

Ich wusste gar nicht, dass Papa sich für Vögel interessiert. Mama steuert derweil die Haustür an, fährt mit der Hand liebevoll über das dunkle Holz und lässt sich dann von Papa den Schlüssel zuwerfen. Feierlich steckt sie ihn ins Schloss, dreht ihn herum und stößt die Tür auf.

»Trägst du mich über die Schwelle?«

»Ist das nicht ein bisschen altmodisch?«, brumme ich. Mama und Papa haben nie geheiratet, nicht einmal darüber nachgedacht. »Die Zeit des Heiratens ist vorbei!«, hatte Mama für sich entschieden, es aber so bestimmt gesagt, als sei es eine von nun an allgemeingültige Regel.

Trotzdem trägt Papa sie jetzt tatsächlich über die Schwelle. Irre!

Ich schlurfe hinterher und merke, wie ich jetzt doch neugierig werde. Das ist nun also unser Zuhause. Meine Augen müssen sich erst mal an die Dunkelheit im Inneren gewöhnen. Überall stapeln sich Umzugskartons und die in Einzelteile zerlegten Möbel. Papa tastet nach dem Lichtschalter, aber als er ihn betätigt, passiert nichts. »Hm. Die Sicherung muss bestimmt reingedreht werden.« Er öffnet eine Tür nach der anderen, bis er schließlich die Treppe in den Keller findet.

»Ich dachte, du warst schon mal hier!«, ziehe ich ihn auf.

»War ich. Aber ich bin halt alt und vergesslich«, sagt er grinsend und trampelt die Treppe hinunter.

»Ha, ha.« Meine Eltern sind noch überhaupt nicht alt, noch nicht einmal vierzig. In meiner Klasse waren sie mit Abstand die Jüngsten.

»Wow!« Mama betritt die Küche. »Schau mal, wie früher.«

Ich kann die Umrisse eines alten Kachelofens erkennen, so einer wie man ihn aus Aschenputtel kennt.

»Jetzt müsste es gehen!«, ruft Papa aus dem Keller, und Mama drückt auf den Lichtschalter. Die nackte, staubige Glühbirne erstrahlt.

»Viel Holz«, stelle ich fest und betrachte die Balken, die in die weißen Wände eingebettet sind. Die Decken sind ziemlich hoch. »Wahnsinn! Hier würde ich auch reinpassen, wenn ich mich selbst auf die Schulter nehmen würde.«

Das freut Mama. Wahrscheinlich ist das die erste halbwegs positive Bemerkung, die sie seit zwei Wochen aus meinem Mund gehört hat. Ich muss auch gestehen, dass der Knoten in meinem Magen sich anfühlt, als würde er sich eventuell bald lösen. Aber sicher bin ich natürlich nicht, deshalb sage ich auch nichts dazu. Ich betrachte nur stirnrunzelnd die rissigen braunen Fliesen auf dem Boden.

»Oh, die hier werden wir erneuern müssen.« Mama bückt sich runter und fährt mit dem Finger über einen Riss. »Aber sonst ist es doch tipptopp!«

Ich schaue durch das Fenster in den ziemlich großen Garten. Bäume, Sträucher und nach hinten raus gibt es nicht einmal einen Zaun. Der Garten geht direkt in die Felder über.

»Willst du nicht dein Zimmer sehen?« Papa steht im Türrahmen.

»Doch …«

»Ganz oben«, ermuntert er mich, und Mama und Papa wechseln so einen Blick, als würden sie gerne kurz mal alleine sein. Ich drücke mich also an Papa vorbei, ziehe meine Schuhe aus und werfe sie auf den Flurboden. »Na also, alles beim Alten«, bemerkt er mit einem Blick auf die Schuhe.

Ich schlittere auf den Dielen bis zur Treppe, ruckele am Geländer, um zu testen, ob es überhaupt sicher ist, und nehme dann zwei Stufen auf einmal.

Okay!

Marlenes Zimmer ist gar nichts dagegen!

Ich zähle vier Fenster. Ich laufe das Zimmer der Länge nach ab, sieben große Schritte. Breite – fünf. Die Dielen knarren romantisch unter meinen Füßen. Ich setze mich in die Mitte des Raumes auf den Boden und lasse meinen Blick schweifen. Diese komische Blümchentapete kommt natürlich ab. Mein Bett wird unter einem der vielen Fenster stehen. Ich werde Papa fragen, ob er mir bei dem Erkerfenster ein großes Brett als Sitzecke reinbaut, wo ich Kissen verteilen werde, um nachts durch die Scheiben die Sterne zu beobachten. Es riecht vielleicht ein wenig modrig, aber das dürfte bei den vielen Fenstern schnell erledigt sein. Erst jetzt fällt mir eine weitere Tür im Raum auf. Ich springe auf und öffne sie. Dahinter ist ein kleines Bad. Dusche, Klo und ein winziges Waschbecken in Mintgrün. Ich drücke die Spülung und betrachte angewidert die Ablagerungen in der Kloschüssel. Der berühmte Urinstein. Um das Putzen werde ich wohl nicht herumkommen. Ich drehe den Wasserhahn auf, betrachte einige Sekunden das Wasser, wie es im Abfluss verschwindet, und drehe ihn wieder zu.

»Zufrieden?« Ich bekomme einen Schreck und drehe mich nach Papa um, der schon an der Tapete zupft und einen langen Streifen von der Wand reißt.

»Hey, und wenn ich die noch behalten will?«, protestiere ich.

»Du willst das Zimmer doch schwarz streichen.« Er klopft gegen den Putz.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Weiß ich doch.«

Ich stelle mich zu ihm und pule an einem grünen Blümchen rum. »Von wann ist die bloß? Kurz nach dem Krieg?«

»Sieht eher nach 70er-Jahre-Geschmacksverirrung aus. Wobei, das soll ja wieder modern sein. Hör zu, Laura, ich kann mir so ungefähr vorstellen, wie schwer das für dich ist, aber wenn du dich darauf einlässt, wird es wahrscheinlich toller, als du erwartest.«

»Das Gespräch hatten wir doch jetzt schon hundertmal«, erinnere ich ihn.

»Ich weiß. Trotzdem.«

»Ich finde es cool, dass ich ein eigenes Bad habe.« Die zweite positive Sache, die mir heute über die Lippen geht.

»Genau das meine ich.« Er wuschelt mir etwas unbeholfen durchs Haar. Solche Vater-Tochter-Gespräche sind bei uns nicht an der Tagesordnung und fühlen sich etwas befremdlich an.

»Ich gehe mal meine Kisten holen«, lenke ich ab und schlüpfe durch die Tür, während Papa sich wieder an der Wand zu schaffen macht.

Mama durchwühlt im Flur mehrere Kartons gleichzeitig. »Wo haben wir bloß den Glasreiniger reingetan?« Ihr Eifer, das Haus hübsch herzurichten, ist kaum zu bremsen.

»Keine Ahnung. Aber versuch’s doch mal mit dem Karton, wo Putzzeug draufsteht.«

»Ach ja, natürlich. Ich habe ja so eine unglaublich kluge Tochter!«

Ich strecke ihr die Zunge raus, schnappe mir die Kiste mit meinen Büchern und schleppe sie schnaufend nach oben.

Spätabends sitzen wir unter der nackten Glühbirne am Tisch und essen Nudeln mit Tomatensoße. Mama macht sie auf ihre ganz eigene Art, mit Mais und Erdnüssen und einer Prise Zucker. Kati fand immer, das sei die beste Tomatensoße auf der ganzen Welt. Papa hat noch einen Salat dazu gemacht, denn erstaunlicherweise ist er derjenige in der Familie, der darauf achtet, dass wir genügend Vitamine zu uns nehmen. Ich lausche mit halbem Ohr dem Gespräch meiner Eltern und fühle mich echt erschöpft. Ich bin so ungefähr achtzigmal die Treppen rauf und runter gerannt, habe das Klo geschrubbt, die Matratze bezogen, meinen Sessel von einer Seite des Zimmers zur anderen geschoben, teilweise die Tapete von den Wänden gerissen und meine Stereoanlage aufgebaut. Papa sagte, ich solle es mir noch nicht zu gemütlich machen, wir müssten schließlich noch streichen. Deshalb haben wir mein Bett auch noch nicht aufgebaut und die ganzen Möbel stehen auch noch unten. Heute Nacht werde ich auf der Matratze auf dem Boden schlafen.

Mama hat neben sich eine Zeitschrift mit Einrichtungsideen liegen. »Darf ich?«

Sie schiebt mir die Zeitschrift rüber und ich blättere halbherzig darin rum. Ich hatte leider noch nie ein Händchen dafür, Dinge schön zu machen. Ich habe kein Gespür für Dekoration oder für Accessoires. In unserer alten Wohnung habe ich das auf das kleine Zimmer geschoben, in dem ich ohnehin nicht viel machen konnte, hier aber könnte ich mich theoretisch austoben, nur fehlen mir die Ideen. Die Sachen in der Zeitschrift sehen so einfach aus, aber alleine schon Worte wie abschleifen schrecken mich ab. Der Knoten, an den ich den halben Tag nicht mehr gedacht habe, macht sich wieder bemerkbar. Die Sonne ist bereits untergegangen und diese Dunkelheit vor den Fenstern macht mir irgendwie Angst. Als ich aus dem Flur das Geräusch einer ankommenden SMS höre, fängt mein Herz an zu rasen. »Sorry. Ich muss da mal hin.«

Mit angehaltenem Atem öffne ich den Posteingang. Und? Cool? Das sind die einzigen Worte von Marlene. Ich bin enttäuscht. Kein Hallo kein hdl kein Kuss. Nicht einmal ein Herz, das sie mir sonst immer schickt. Ich ziehe mir Mamas Jacke über und schleiche mich hinaus in den Garten. Das laute Zirpen der Grillen erschlägt mich im ersten Moment. Es müssen Hunderte sein! Ich kneife meine Augen zusammen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, dann tapse ich zu dem wackeligen Stuhl, auf dem vorhin die Katze gesessen hat, setze mich vorsichtig drauf und starre auf das Display. Marlene und ich kennen uns schon seit der Grundschule. Wir konnten von Anfang an gut miteinander. Erst spielen, dann quatschen und schließlich auch Jungs aufreißen, oder, na ja, es zumindest versuchen. Als ich ihr verkündete, dass ich umziehen würde, hat sie sich theatralisch ans Herz gefasst und gemeint: »Ohne dich wird es sein, als ob mir ein Bein fehlt!« Wir saßen in ihrem Zimmer und ließen einen traurigen Song nach dem anderen laufen, zündeten Räucherkerzen an und versuchten, eine Geschichte zu schreiben, bei der jede einen Satz schreiben muss, immer abwechselnd. Es kam eine irre Story über zwei verliebte Aliens dabei raus, die sich auf der Durchreise auf der Erde treffen und zur Feier des Tages bei McDonalds Burger essen gehen, davon Durchfall bekommen und zur Strafe die Erde mit einem Fluch belegen. So ein Quatsch eben. Marlene hat dann die Seite kopiert, das Original in ihre grüne Blechbüchse mit Vögelchen drauf gelegt und sie mir geschenkt. »Damit du immer an uns denkst.« Ihre Kopie hat sie zwischen den Seiten ihres Tagebuchs verstaut.

Ich wähle ihre Nummer.

»Gott, ich sitze hier wie auf heißen Kohlen! Endlich rufst du an!«

»Hey.« Da ist ein Kloß in meinem Hals.

»Erzähl! Erzähl mir alles!« Ihre Stimme hört sich merkwürdig weit weg an.

»Ich … also, ich weiß nicht. Das Haus ist ziemlich groß und alt, es riecht ein bisschen gammelig, aber Papa sagt, mit ordentlich Lüften kriegt man das weg.«

»Wann kann ich dich besuchen?«

»Wann immer du willst. Am besten gleich morgen.«

»Na ja, vor den Sommerferien werde ich es nicht schaffen.«

»Klar.« Ich versuche, nicht enttäuscht zu klingen. Bis zu den Sommerferien sind es noch sechs Wochen.

»Und die neue Schule?«

»Ich gehe erst am Montag hin.«

»Ja, klar. Gott, ich steh voll auf der Leitung. Was ist das eigentlich für ein Lärm bei dir?«

»Grillen.«

»Was? Nicht dein Ernst! Ihr habt bestimmt einen riesigen Garten, oh Mann, ich hätte auch gerne so einen …«

»So riesig ist er nun auch wieder nicht«, unterbreche ich sie.

»Meine Mutter pflanzt jetzt Kräuter auf dem Balkon und versucht, Radieschen oder so was hochzuziehen. Na, ich glaube nicht, dass sie das schafft, die Abgase und der ganze Scheiß, ich werde das Zeug jedenfalls nicht essen.«

»Hm.« Ich wünschte, wir könnten jetzt beieinandersitzen, in ihrem Zimmer oder sogar in meinem alten, und über ihre Mutter herziehen oder sonst irgendwelche Belanglosigkeiten austauschen. Jetzt kommt doch die Wut auf meine Eltern wieder hoch. Es ist so ungerecht!

»Und wie fühlst du dich?« Marlenes Tonfall klingt nach Trauerrede.

»Ganz ehrlich? Gerade jetzt fühle ich mich echt einsam. Ganz allein mit tausend dämlichen Grillen.«

»Na immerhin sind die da.«

»Ha, ha, sehr lustig.«

»Das wird wieder.«

»Bist du sicher?«

»Alles braucht seine Zeit. Ich weiß, klingt jetzt nach doofer Glückskeksweisheit, aber du wirst schon sehen.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Im Hintergrund höre ich Marlenes Mutter, wie sie mit ihrer piepsigen Stimme nach ihr ruft.

»Sorry.« Marlene räuspert sich. »Meine Mutter nervt schon den ganzen Tag.«

»Nicht schlimm. Wir können ja morgen wieder telefonieren.«

»Ja. Ich hab jetzt blödes Familienplenum. Wir reden darüber, welche Familienaktivitäten unseren Zusammenhalt stärken könnten. Voll anstrengend. Du sitzt zwar auf dem Dorf, aber dafür kannst du froh sein, eine Familie zu haben, die nicht so abartig durchgeknallt ist wie meine!«

Ich muss grinsen bei der Vorstellung, wie Marlene mit rollenden Augen am Küchentisch sitzt und dieses Theater über sich ergehen lassen muss. »Bald sind wir alt genug, um unsere eigenen Wege zu gehen«, versuche ich, sie zu trösten.

»Ja. Und dann machen wir eine WG, ohne Putzplan, ohne vitaminreiche Kost und ohne Plenum, dafür legen wir uns Katzen zu, dann kann meine Mutter mich nämlich nicht besuchen, weil sie eine Tierhaarallergie hat.«

Ich muss grinsen. Marlene ist da immer ganz schön radikal. »Also dann.«

»Ja, also. Bleib tapfer.«

Ich lege auf und starre noch eine Weile auf das Display. Soll ich die anderen auch anrufen? Es hat mich schon erleichtert, einfach nur Marlenes Stimme zu hören, und dass sie auch ihre Probleme hat, tröstet mich tatsächlich ein wenig.

Mama streckt den Kopf durch die Haustür. »Ist dir nicht kalt?«

»Ich komm gleich rein.« Ich laufe auf Zehenspitzen zum Haus, weil ich möglichst nicht auf eine dieser Grillen treten will.

Mama legt ihren Arm um meine Schulter. »Wollen wir noch die Farbe für die Küche aussuchen?« In ihrer Hand hält sie die Farbmuster, die sie sich in Massen im Baumarkt besorgt hat.

»Ich glaub, ich geh jetzt schlafen.« Ich reibe mir demonstrativ über die Schläfen, so als hätte ich Kopfschmerzen, damit Mama es nicht persönlich nimmt. Ich winke Papa zu, der in einem der vielen Kartons nach etwas sucht, und verschwinde nach oben.

Im Bad stelle ich mich vor den Spiegel und fahre mit der Bürste durch meine glatten, an den Spitzen leicht splissigen Haare. Was ist das überhaupt für eine Frisur? Vielleicht sollte ich sie abschneiden. Lange Haare nerven. Ich könnte sie mir so asymmetrisch schneiden lassen. Auf der einen Seite etwas länger, ein Pony, der in die Augen fällt, und auf der anderen Seite ganz kurz, vielleicht sogar abrasiert. Ob die Friseure auf dem Dorf so was überhaupt können?

Ist das jetzt hier wirklich mein Zuhause?

Am meisten graut es mich davor, am Montag in meine neue Klasse zu kommen. Ich will gar keine neuen Freunde, ich habe schon genug alte Freunde. In meinem Herzen ist überhaupt kein Platz für irgendwelche Dorfjugendlichen.

Meine Matratze ist kalt. Ich ziehe die Bettdecke bis zum Kinn hoch und reibe meine Füße aneinander. Trotzdem zittere ich eine Weile. Unten höre ich Mama und Papa rumwerkeln. Ich drehe mich zum Fenster und beobachte die Äste, die sich im Wind wild hin und her wiegen. Ist wahrscheinlich komisch, aber mir fehlen die Straßengeräusche der Stadt. Das Summen vorbeifahrender Autos. Das Rattern der Straßenbahn. Ich kann gut bei so was einschlafen. Mama erzählt immer gerne die Geschichte, wie ich früher, als Baby, nur eingeschlafen bin, wenn der Staubsauger lief. »Unsere Stromrechnung damals!«, lacht sie dann und sieht mich mit so einem verträumten Blick an.

Ich mag es, zu wissen, dass um mich herum das Leben weitergeht. Aber hier ist es still bis auf die leisen Geräusche, die Mama und Papa unten machen, und wenn die auch ins Bett gehen, wird mir diese Stille Angst machen, das weiß ich jetzt schon. Ich muss unbedingt vorher einschlafen! Es gibt nichts Schrecklicheres, als nachts wach zu liegen. Da werden meine Gedanken immer düster und ich male mir die schlimmsten Dinge aus. Einmal, als ich ein bisschen jünger war und Mama und Papa ins Theater gegangen sind und ich um eins wach wurde und sie immer noch nicht daheim waren, war mein erste Gedanke: Okay, sie sind noch was trinken gegangen. Aber schon wurde er vom nächsten Gedanken abgelöst: Oder es ist ihnen etwas zugestoßen – ein Autounfall, ein Überfall, eine Schlägerei in der Bahn. Ich konnte gar nicht anders, als mir vorzustellen, wie sie am Boden liegen, blutend, mit zerrissenen Klamotten, ausgeraubt und wahrscheinlich ohnmächtig, und keiner bemerkt es. Oder sie sind längst im Krankenhaus und werden notoperiert, aber weil der Arzt so übermüdet ist, macht er einen Fehler und hat meine Eltern auf dem Gewissen. Und ich bin dann ganz alleine auf der Welt, zerbreche daran und werde ein Junkie, schlafe in Hauseingängen und wache davon auf, dass die Polizei mich wachrüttelt. Als die beiden dann um kurz nach halb zwei wieder nach Hause kamen, bestand ich darauf, dass sie so lange an meinem Bett bleiben müssten, bis ich eingeschlafen war. Als Strafe quasi, weil sie mir so einen Schreck eingejagt hatten. Deshalb ist das mit der WG eine gute Idee von Marlene, ich werde eher nicht alleine in einer Wohnung leben können, auch wenn das kurzzeitig mein Plan war, um den Umzug hierher zu verhindern.

Jetzt stehe ich doch noch einmal auf und hole den iPod aus meiner Jackentasche, stöpsele die Hörer in meine Ohren und öffne die Good-Night-Playlist, die ich genau für solche Fälle zusammengestellt habe: Band of Horses, Bon Iver, The xx, Mumford & Sons, The Tallest Man on Earth.

Beim dritten Lied schon merke ich, wie ich langsam wegdöse.

»Schatz! Wir wollen gleich in den Baumarkt!«

Ich schlage erschrocken die Augen auf und bin völlig baff darüber, so gut geschlafen zu haben. Der Wecker zeigt 09:14 Uhr. »Okaaaaay! Bin gleich da.« Meine Stimme klingt irgendwie heiser. Vielleicht werde ich ja krank, dann kann ich am Montag wenigstens nicht in die Schule. Ich rolle mich runter von der Matratze und bleibe wenige Sekunden auf den kühlen Dielen liegen, das könnte einer Erkältung auf jeden Fall entgegenkommen. Was soll das überhaupt? Die letzten sechs Wochen vor den Sommerferien, was soll ich da noch groß lernen? Außerdem, reicht es nicht, dass ich mich schon an eine neue Umgebung gewöhnen muss? Ich finde, Eltern verlangen manchmal echt viel von einem.

»Lauraaaa!«

»Jaaaaaa, ich komm ja schon!«

Ich schlurfe ins Bad, putze mir die Zähne und stecke meine Haare mit einer Spange fest, dann sammle ich meine Klamotten vom Boden auf und schlüpfe in die Jeans, die eigentlich in die Wäsche müsste, aber für einen Baumarkt-Tag wird es schon reichen.