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Ein Tag, eine Nacht – eine große Liebe!
Als Kim und Jacob sich an einem ganz normalen Samstagmorgen in der Berliner S-Bahn treffen, ist es Liebe auf den ersten Blick! Eigentlich wollte Kim nur einkaufen, doch als Jacob ihr erzählt, dass er Berlin nicht leiden kann, überredet sie ihn, mit ihr zu kommen – quer durch die Stadt, an all ihre Lieblingsorte. Jacob soll sich in Berlin verlieben … und vielleicht auch in sie. Doch für Jacob ist es der letzte Tag, bevor er am nächsten Morgen für ein Jahr weggeht. Obwohl es hoffnungslos ist, folgt er diesem Mädchen, das sich so unerwartet in sein Herz gemogelt hat, durch Straßen, Parks und Cafés … Einen Tag und eine Nacht haben sie – und jede Sekunde mit Kim pulsiert vor Leben, wie Berlin selbst.
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Seitenzahl: 306
Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage 2014© 2014 cbt Verlag, MünchenAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Ivana Marinović Umschlaggestaltung: © Geviert, Grafik & Typografie, Conny Hepting unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Franke+Mans (Junge) und mehrerer Motive von © shutterstock jb ∙ Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-14248-3www.cbt-buecher.de
Normalerweise ist S-Bahn-Fahren das Langweiligste, was ich in meinem Leben tun muss. Ich beschwere mich nicht über die harten, schmuddeligen Sitze, auch nicht über die ausgefallene Heizung im Winter, dass einem die Zähne vor Kälte klappern, und ich meckere auch nicht über die Verspätungen, die wirklich an der Tagesordnung sind in dieser Stadt. Was mich stört, und zwar so richtig, sind diese ganzen Menschen, die in der S-Bahn sitzen und nichts Besseres zu tun wissen, als auf ihre blöden Smartphones zu starren. Wie gebannt kleben ihre Augen an dem Telefon, die Finger fahren hektisch über das Display und von überall klingelt und summt, klackt und piept es, als hinge der Weltfrieden davon ab. Erst dachte ich ja, die hätten wirklich was Wichtiges zu erledigen, aber als ich meinen Sitznachbarn ein paar Mal über die Schulter schaute, fand ich heraus, dass sie bloß Solitaire spielten oder Smileys verschickten oder bei wetter.de nach dem Wetter sahen, dabei hätte es dafür ausgereicht, einfach mal den Kopf zu heben.
Vor dieser Smartphone-Zeit, da konnte ich wenigstens in der Bahn sitzen und die Menschen dabei beobachten, wie sie verträumt aus dem Fenster blickten oder sich erschöpft ihre Schläfen massierten. Manchmal konnte ich welche sehen, die miteinander flirteten, sich anlächelten und dann verlegen zu Boden schauten. Ich konnte Zeitungsrascheln hören und leise Stimmen, die sich unterhielten. Einer pfiff, ein anderer seufzte, ein Kind klingelte mit dem Glöckchen am Kinderwagen und brachte die Oma gegenüber zum Lächeln. Da waren welche, die wühlten in ihren Einkaufstaschen, andere fuhren mit dem Finger das Muster der Sitzpolster entlang und wieder andere trommelten auf ihre Oberschenkel. Einmal kam sogar ein Typ mit Gitarre rein, sang sein Lied, fiel dann vor einer Frau auf die Knie und machte ihr einen Heiratsantrag. »Entschuldigung? Kennen wir uns?«, fragte sie, und die ganze Bahn lachte. Es gab dauernd etwas zu sehen.
Jetzt nicht mehr. Es ist immer das gleiche Bild: Köpfe, die auf ein Stück Plastik schauen. Im Stehen, im Sitzen, und selbst noch, wenn sie aussteigen müssen, hebt keiner den Kopf. Sie tasten sich nur vorsichtig zur Tür und stolpern hinaus, ohne auch nur eine Sekunde auf die Menschen um sich herum zu achten.
Das macht S-Bahn-Fahren für mich zu einem einzigen öden Erlebnis.
Normalerweise.
Heute aber sitzt mir dieser Typ gegenüber.
Ich habe ihn erst mal gar nicht bemerkt, weil ich es mir mittlerweile abgewöhnt habe, mich umzuschauen, aber dann habe ich aus den Augenwinkeln seine Füße wippen sehen. Schuhgröße 42 würde ich sagen. Skater-Schuhe.
Eine Weile habe ich auf diese Füße gestarrt und versucht, mir vorzustellen, wie der Junge dazu aussieht.
Die schwarzen Jeans waren an den Beinenden abgewetzt, und als ich mich mit meinem Blick etwas weiter nach oben traute, entdeckte ich auch Löcher an den Knien. Eine Hand lag auf dem Oberschenkel und die Finger kratzten über den Jeansstoff. Um das Handgelenk hingen zwei bunte, locker geknüpfte Bänder.
Jetzt war ich wirklich gespannt.
Ich schielte unauffällig hoch, mein Blick streifte das rote Shirt mit einem kleinen Zebraaufdruck auf der linken Brust, um den Hals ein Lederband mit einer silbernen Indianerfeder, und schließlich das Gesicht. Natürlich hatte ich ihn mir ganz anders vorgestellt.
Trotzdem kann ich meinen Blick nicht mehr von seinem Gesicht lösen. Ich brauche nicht zu befürchten, dass er mein Glotzen bemerkt, er ist ganz beschäftigt damit, aus dem Fenster zu schauen. Sehr aufmerksam sieht er sich die vorbeirauschende Stadt an, kneift manchmal die Augen zusammen, als würde er ein Foto machen. Vielleicht hat er aber auch nur einen Augentick. Seine langen dunklen Wimpern erstaunen mich und ich bin fast ein wenig neidisch. Die schwarzen lockigen Haare hängen ihm in die Stirn. Seine Wangen sind leicht gerötet, als hätte er einen kleinen Sonnenbrand. Ansonsten ist seine Haut einwandfrei. Nur zwei Leberflecke auf der rechten Wange haben sich eingeschummelt. Und er hat ein Piercing in seiner Augenbraue. Die Nase winzig süß, die Lippen ein bisschen feucht, weil er die ganze Zeit darauf rumknabbert. Kein Smartphone weit und breit. Neben seinen Füßen steht ein offener schwarzer Rucksack. Ich riskiere einen Blick rein. Zwei Bücher, eine Wasserflasche, irgendwelche Kabel und eine Plastiktüte. Ich versuche, die Titel der Bücher zu entziffern, aber entweder brauche ich eine Brille, oder die Schrift auf dem Buchrücken ist zu klein.
Als wir in den Bahnhof Frankfurter Allee einfahren, sieht er sich hektisch um, ich fürchte schon, er wird gleich die Bahn verlassen, aber dann sinkt er wieder in seinen Sitz und sieht weiter aus dem Fenster.
Vielleicht, wenn ich mich räuspere, wird er mal zu mir schauen. Noch besser, wenn ich ihn wie aus Versehen mit dem Fuß streife. Aber irgendwie sitze ich wie angewurzelt da und kann mich nicht rühren. Ich merke sogar, wie meine Handflächen anfangen, leicht zu schwitzen.
Was ist bloß mit mir los?
Ich schaffe es dann doch, wenigstens meine Nase hochzuziehen, was ein unschönes Geräusch gibt, viel zu laut. Meine Sitznachbarin verzieht angewidert die Lippen. Den Typen mir gegenüber scheint es aber wenig zu kümmern.
Noch sechs Stationen, dann muss ich aussteigen.
Ich muss ihn ansprechen. Keine Ahnung, wieso, es ist bloß so ein Gefühl. Aber das Gefühl ist ziemlich stark. Für gewöhnlich fällt es mir auch nicht schwer, Menschen anzusprechen. Ich habe eine große Klappe, wenn es darauf ankommt. Ich spreche ständig wildfremde Menschen an, auf Partys sowieso, aber auch im Park oder beim Einkaufen, in der Bibliothek, im Café oder an der Ampel, wenn es sich gerade ergibt. Ich lächele sie erst mal an, einfach weil in dieser Stadt zu wenig gelächelt wird, und wenn sie dann nett reagieren, sage ich etwas. Über das Wetter oder den Verkehr, oder ich mache ihnen ein Kompliment wegen der Kleidung, frage, wo sie die gekauft haben und wie ihr Friseur heißt. Ich helfe alten Damen über die Straße und höre mir die Geschichten ihrer Wehwehchen an, ich zwinkere kleinen Kindern zu und strecke ihnen die Zunge raus.
Meine Freundin Mia sagt immer, ich soll aufpassen, weil ich auf die anderen geistesgestört wirken könnte. »Wenn du dich mit allen unterhalten willst, musst du aufs Dorf ziehen. Da wollen alle gerne quatschen. Hier in der Stadt wollen die Menschen anonym bleiben.«
Das kann ich gar nicht glauben. Na gut, manchmal merke ich schon, dass Leute mich komisch angucken und dann zusehen, dass sie möglichst schnell wegkommen, oder sie heben abwehrend die Hand, als würde ich ihnen etwas verkaufen wollen. Aber eigentlich sind die meisten ganz nett, wenn ich sie erst mal angesprochen habe.
Dieser Typ mir gegenüber macht mich nervös. Ich will nicht, dass er denkt, ich wäre geistesgestört. Aber ich muss ihn einfach ansprechen. Noch ist mir nichts Gutes eingefallen. Mit dem Wetter werde ich hier nicht punkten können.
Nur noch fünf Stationen, bis ich aussteigen muss.
Ich strecke meine Hand aus und berühre mit meinen Fingern seinen Oberschenkel.
Jetzt tippt sie mich tatsächlich an. Dieses Mädchen, das mir gegenübersitzt und mich schon die ganze Fahrt über beobachtet. Ich habe das schon die ganze Zeit gemerkt, hatte aber keine Lust rüberzuschauen, weil ich jetzt nicht in der Stimmung für so was bin. Es ist mein letzter Tag in Berlin. Ich habe immer darauf gewartet, dass sich so eine Situation mal ergibt. Ein schönes Mädchen, das mich ansieht und ihre Augen wieder senkt, sobald ich ihren Blick erwidere. Ich hätte gewartet, bis sie wieder geguckt hätte, und dann hätte ich ihr ein Lächeln geschenkt. Tausendmal habe ich das in meinem Kopf durchgespielt, aber passiert ist es nie. Entweder mir saß kein Mädchen gegenüber oder, wenn doch, zeigte sie kein Interesse an meinen Blicken.
Jetzt kann ich das auch nicht mehr brauchen. Ich gehe morgen weg, werde sozusagen woanders mein Glück versuchen. Diese Stadt ist mir zu voll mit Menschen.
Und auch wenn ich das Mädchen, das mich beobachtet, nicht ansehe, kann ich trotzdem ihr Parfüm riechen. Immer wenn der Wind durch das gekippte Fenster weht, streift mir dieser Geruch um die Nase. Ein ganz zarter, fruchtiger Duft. Pfirsich? Vielleicht auch kein Parfüm, sondern nur eine Seife oder der Shampooduft von ihrem Haar.
Als sie einmal ziemlich auffällig in meinen Rucksack geschmult hat, habe ich sie mir doch kurz ansehen können. Lange blonde Haare zu einem Dutt zusammengebunden. Sommersprossen um die Nase und ungewöhnlich rote Lippen, dafür dass sie nicht geschminkt sind. Ihre dünne weiße Bluse flatterte im Fahrtwind und ich konnte einen Blick auf den schwarzen BH-Träger erhaschen. Schnell habe ich wieder weggeschaut. Als sie dann ihre Nase hochzog, war ich kurz davor, ihr ein Taschentuch anzubieten, hab es dann aber doch bleiben lassen, sonst hätte ich sie noch direkt angucken müssen.
Und jetzt tippt sie mich an.
Es würde komisch wirken, wenn ich nicht reagiere, also sehe ich zu ihr und hebe die Augenbrauen.
»Was gibt’s denn da draußen so Interessantes?«, fragt sie mit einem Lächeln, hinter dem sich eine Reihe glänzender weißer Zähne verbirgt.
»Was meinst du?« Ich klinge, als müssten meine Stimmbänder mal wieder geölt werden.
»Bist du neu in der Stadt?« Ihre blauen Augen sind der absolute Wahnsinn.
»Nein«, antworte ich und hoffe, dass mir gleich noch was Originelleres einfällt, aber diese Augen hypnotisieren mich.
»Es sieht so aus, weil du dir die Stadt anguckst, als würdest du sie zum ersten Mal sehen.«
»Nein. Ich bin von hier.« Ich räuspere mich.
Dann herrscht kurz diese unangenehme Stille zwischen uns. Wir sehen uns an und dann schnell wieder weg. Mein Versuch zu lächeln kommt mir unbeholfen vor, und ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Das ist so typisch! Wenn ich mal lässig rüberkommen will, spielt mein Körper mir Streiche. Ich seufze über mich selbst und stecke die Hände schließlich in die Hosentaschen.
»Wenn ich dich nerve, kannst du das ruhig sagen.« Sie greift sich in die Haare und öffnet ihren Dutt. Die blonden Strähnen fallen auf ihre Schultern. Frauen!
»Nein, du nervst mich nicht … ich war bloß … ich war in Gedanken.« Die Frau neben ihr grinst amüsiert.
»Hm.« Sie verschränkt die Arme vor ihrer Brust, dann lässt sie den Blick schweifen. Da ich den Kontakt nicht verlieren will, folge ich ihren Augen, die bei einer Reklame für eine Busreisegesellschaft hängen bleiben.
»Schau mal, für nur 19 Euro nach Kiel. Irre. Warst du schon mal in Kiel?« Jetzt sieht sie wieder zu mir.
Da ich nicht wieder Nein sagen möchte, schüttele ich bloß den Kopf.
»Ich auch nicht. Vielleicht sollten wir mal hinfahren!« Sie grinst und hebt eine Augenbraue hoch, wie um auszuchecken, was ich von dieser Idee halte.
»Tja, vielleicht …«
»Ich muss bald aussteigen«, unterbricht sie mich. »Ich muss in dieses Möbelhaus, um für meinen Vater diese Dinger zu kaufen … na diese … du weißt schon, diese Teile, die man unter Tischbeine klebt, damit sie das Laminat nicht zerkratzen.«
»Filzgleiter!« Das hat jetzt die ganze Bahn gehört.
»Filzgleiter? So heißen diese Dinger? Warum weißt du so was?«
»Unser Haus ist voll davon. Unter Tischbeinen und Stühlen, unter jedem Sessel und allen Schränken. Meine Mutter ist ein großer Fan von Filzgleitern«, lache ich.
»Okay. Na, ich bin froh, dass es das Wort Dings gibt. Es gibt echt viele Situationen, wo man es gut anwenden kann. Filzgleiterdings.« Sie beugt sich ein Stück vor, und ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht in ihren Ausschnitt zu starren. Wissen Mädchen eigentlich, wie verrückt einen diese Brüste machen können?
»Stimmt, es gibt echt einige Sachen, für die einem nur das Wort Dings einfällt, zum Beispiel diese Plastikteile, die man im Laden auf das Kassenband zwischen die Einkäufe legt.«
»Warenabtrenner«, schlägt sie vor.
»Heißen die so? Ja? Ich weiß es nicht.«
»Aber wie heißt das kleine Dings, welches die Toastpackung verschließt?«, fragt sie herausfordernd.
»Keine Ahnung«, gebe ich zu. »Sag du mir doch, wie die Dinger heißen, diese kleinen Plastikteile an der Brille, die das Abrutschen verhindern.«
»Hä? Keinen blassen Schimmer. Aber ich kann mir kein Gespräch vorstellen, wo es wirklich wichtig wäre, ein Wort dafür zu haben.« Sie schüttelt den Kopf.
»Wahrscheinlich nicht. Aber die Leute im Brillenfachgeschäft müssen doch diese Dinger bestellen. Meinst du die kreuzen dann das Feld Dinger, die das Abrutschen von der Nase verhindern an?«
»Vielleicht?« Sie kräuselt ihre Nase. »Aber schau mal … sag du mir mal, wie dieses Dings heißt.« Sie streckt ihren Zeigefinger aus und berührt vorsichtig die kleine Kuhle zwischen meiner Nase und den Lippen. Ich halte den Atem an. Sie läuft knallrot an und zieht schnell den Finger wieder zurück. Wir sehen uns erschrocken an.
Als die Bahn an der Station Tempelhof hält, steht ihre Sitznachbarin auf. »Viel Glück euch beiden«, sagt sie und grinst. Wir schauen ihr verdattert hinterher, und als die Tür wieder schließt, suche ich krampfhaft nach einem neuen Thema, um diese blöde Stille zu überbrücken.
»Wie heißt du?« Das Einzige, was mir auf die Schnelle einfällt.
»Kim.« Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich lächele und greife verlegen nach meinem Rucksack. »Hier noch so ein Teil.« Ich deute auf das kleine Ding, an dem man zieht, um den Reisverschluss zu schließen. »Keine Ahnung, wie das nun wieder heißt.«
Kim rutscht nervös auf ihrem Sitz hin und her. »Was machst du jetzt eigentlich? Ich meine, musst du irgendwohin? Hast du eine Verabredung oder so?«
»Nein … nein. Ich fahre bloß so rum«, erwidere ich und hoffe, es klingt nicht irgendwie langweilig oder bemitleidenswert.
»Na gut. Das klingt ziemlich flexibel. Vielleicht magst du ja eine Pause beim Rumfahren einlegen? Ich könnte gut Gesellschaft im Möbelhaus gebrauchen. Ich meine, ich vergesse bestimmt das Wort für dieses Filzdings. Siehst du! Ich habe es ja jetzt schon vergessen.«
»Filzgleiter«, helfe ich ihr.
»Kommst du also mit?« Sie sieht mich dabei nicht an, sondern zupft an ihrem Oberteil rum, so als würde sie meine Antwort nicht interessieren.
Ich habe ja echt nichts Besseres zu tun. Und die Vorstellung, dass dieses Mädchen, Kim, gleich aussteigt und ich hier alleine weiterfahre, macht mich schon jetzt völlig fertig.
»Ja. Ich komme mit«, sage ich und schultere meinen Rucksack.
Wahnsinn! Jetzt steigen wir doch wirklich zusammen aus. Er kann mich also nicht für geistesgestört halten, sonst wäre er wohl kaum mitgekommen. Ich habe mir das nicht groß überlegt, bin eher einem Impuls gefolgt. Das passiert mir schon manchmal, dass ich Dinge tue und erst hinterher darüber nachdenke. Okay, eigentlich dauernd!
»Wie heißt du denn jetzt eigentlich?«, frage ich, während ich mich auf diesem großen Bahnhof erst mal orientieren muss. Die einfahrenden Züge machen einen Riesenlärm, sodass ich mir die Hände vor die Ohren halten muss.
»Jacob!«, ruft er und weicht den Leuten aus, die es besonders eilig haben und es nicht ertragen können, wenn einer im Weg steht. Wir lassen uns an den Rand abdrängen und stellen uns so lange neben die Mülltonnen, bis sich das Durcheinander etwas gelegt hat.
»Jacob … Jacob. Ich kenne bisher keinen Jacob. Man sagt ja immer, dass Namen etwas über einen Menschen aussagen, aber zu Jacob fällt mir echt nichts ein.« Mist! Sofort bereue ich, was ich gesagt habe. Vielleicht kriegt er das in den falschen Hals. Warum muss ich auch immer gleich alles rausposaunen, was noch nicht zu Ende gedacht ist? Wenn Mia jetzt hier wäre, würde sie die Augen verdrehen und mir unauffällig einen Vogel zeigen. Ich schiele besorgt zu Jacob rüber.
»Ich glaube da nicht dran.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. Gott sei Dank!
»Nein?«
»Nein. Die Eltern geben dir diesen Namen, meistens haben sie ihn schon ausgesucht, bevor du auf der Welt bist. Sie können unmöglich schon so früh ahnen, was für ein Mensch du wirst.«
Wir trauen uns jetzt, unseren Platz aufzugeben, und laufen eine der vielen Treppen hinunter und durch den Haupteingang nach draußen. Die drei roten Backsteinhäuser auf der linken Seite sind schon das Schönste an dieser Gegend. Obwohl die Sonne bereits freundlich scheint, wirkt hier alles andere trostlos. Die Bushaltestelle, das abgezäunte leere Gelände, die hohen Gebäude im Hintergrund, alles steht traurig in der Gegend rum. Wir nähern uns der gewaltigen S-Bahn-Brücke aus grauem Beton.
»Ich habe mal einen Artikel gelesen, in dem stand, dass Lehrer Kinder mit komischen Namen – so was wie Justin oder Jason oder Chantal – von vornherein abstempeln und dass die automatisch schlechtere Noten bekommen«, greife ich das Namen-Thema wieder auf.
»Da sieht man es mal wieder!« Jacob seufzt verächtlich und berührt mit seiner Hand die Graffiti an der Mauer.
»Was sieht man?«
»Dass Lehrer völlig inkompetent sind«, fällt er sein hartes Urteil.
»Du magst die Schule wohl nicht besonders?« Ich stupse ihn an die Schulter.
»Nee. Hätten mich meine Eltern nicht gezwungen, ich hätte mein Abi nicht fertig gemacht.«
»Deswegen hat man wohl Eltern«, grinse ich.
»Und du?« Er tritt eine Dose zur Seite, die auf dem Bordstein liegt.
»Ich habe noch ein Jahr vor mir.« Ich zucke mit den Schultern. Kurz habe ich überlegt, mich für älter auszugeben, als ich bin, aber das wäre ja Quatsch. Wenn er schon mit mir ausgestiegen ist, muss ich nicht gleich mit Lügen anfangen. Das mache ich hin und wieder gerne, einfach um in eine neue Rolle zu schlüpfen, zu sehen, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein, aber im Moment finde ich das irgendwie unangebracht.
»Mein Beileid. Wegen der Schule meine ich.«
»So schlimm ist es nicht. Ich kann mir meine Entschuldigungen jetzt selber schreiben und mein Vater kümmert sich nicht um meine Noten. Sie sind eh gut.«
»Oh, ein Fräuleinwunder«, zieht er mich auf.
Es macht mir Spaß, mich mit ihm zu unterhalten. Da ist immer dieses ironische Lächeln auf seinen Lippen und gleichzeitig so ein nachdenklicher Blick, als würde er immer gut überlegen, bevor er was sagt. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Ganz genau, ein echtes Fräuleinwunder«, bestätige ich.
Die Autoflut auf dem Sachsendamm lässt uns erst mal eine Weile verstummen. Etwas angespannt überqueren wir die unübersichtliche Kreuzung und nähern uns dann der Stadtautobahn, die sich unterhalb der Straße erstreckt. Ich schiebe meine Füße zwischen die Metallstreben des Geländers und beuge mich nach vorne.
»Pass auf, dass du nicht runterfällst!« Jacob macht ein besorgtes Gesicht.
»Ja, Papi!«
»Ich meine ja bloß.«
Das Rauschen der vorbeirasenden Autos hat was Hypnotisierendes. Ich winke Jacob heran.
Nach kurzem Zögern stellt er sich zu mir auf das Geländer und schaut nach unten. »Irre viele Autos!«, ruft er, um den Lärm zu übertönen.
»Was glaubst du, wie viele hier so in einer Minute vorbeidüsen?« Ich beuge mich noch ein Stück weiter vor, bis es im Bauch kribbelt.
»Keine Ahnung. Hundert? Zweihundert?« Er streckt seinen Finger aus und versucht, die Autos zu zählen, gibt aber gleich wieder auf, weil er gar nicht hinterherkommt.
»Wie lange, denkst du, muss man hier stehen, um verrückt zu werden?« Solche Fragen interessieren mich brennend, ich bin bloß zu feige, sie im Selbstexperiment zu beantworten.
»Ich will es lieber gar nicht wissen.« Jacob tritt wieder auf den Bordstein und zupft vorsichtig an meiner Bluse, um mich zum Weiterlaufen zu animieren.
»Eigentlich ist das hier ganz schön gefährlich. Man könnte einfach so runterspringen. Oder etwas nach unten schmeißen. Würde keiner so schnell reagieren können.« Ich streiche noch einmal über das Geländer und winke den Autos zu.
Jacob schüttelt den Kopf und sieht mich einen Moment verständnislos an.
»Ich meine das theoretisch!«, beruhige ich ihn, aber wahrscheinlich glaubt er jetzt, ich wäre eine Psychotante.
Wir schlendern schweigend weiter und schauen zu den hohen Bürogebäuden, wo hinter jedem Fenster grelle Neonröhren leuchten. Riesige Werbetafeln großer Kaufhäuser ragen in den Himmel, damit wir sie ja nicht übersehen. Es ist ein merkwürdiger, unfreundlicher Ort, und ich hoffe, Jacob bereut nicht jetzt schon, dass er mit mir ausgestiegen ist.
Endlich erreichen wir den weitläufigen Möbelhaus-Parkplatz, der für einen Samstag ziemlich leer ist. Zwei Mal berühren sich unsere Arme dabei versehentlich. Jacob ist es, der als Erster seinen Arm zurückzieht. Ich lächele vor mich hin.
»Was?«, fragt er und sieht mich von der Seite an.
»Nichts. Gar nichts«, erwidere ich und grinse noch breiter.
Ich mag diese Unsicherheit zwischen zwei Fremden sehr gerne. Dieses Auschecken, gucken, wie nah man sich kommen darf, verstehen, was für einen Humor der andere hat, und schauen, ob man auf gleicher Wellenlänge ist. Ich lasse es noch einmal darauf ankommen und streife Jacobs Arm. Verstohlen riskiere ich einen kurzen Blick, aber er tut, als wäre nichts passiert.
»Hörst du das?« Er bleibt stehen und horcht nach allen Seiten. »Es ist eine echte Erleichterung, dass dieser Autobahnlärm beinahe verschwunden ist.«
»In meinen Ohren rauscht es trotzdem noch.« Ich stecke ein paar Mal meine Zeigefinger in die Ohren und ziehe sie dann schnell wieder raus.
»Stell dir vor, du wohnst hier …«
Ich hüpfe auf die weißen Parkplatzmarkierungen und versuche, den nackten Boden nicht zu berühren. Jacob stapft hinter mir her und pfeift leise vor sich hin.
»Danke, dass du mich begleitest.« Ich drehe mich nach ihm um und schenke ihm ein breites Lächeln, während ich mein Gleichgewicht mit den Armen auszubalancieren versuche.
»Keine Ursache.« Er zwinkert mir zu.
Als ich wieder nach vorne blicke, schlage ich mir mit der Hand vor die Stirn. Die Türen vom Möbelhaus sind noch verschlossen. »Mist! Die machen erst um zehn auf.« Gestern wollte ich doch noch im Internet die Öffnungszeiten nachgucken und habe es dann doch wieder vergessen.
»Egal. Warte hier.« Jacob lässt mich stehen und rennt über den großen Parkplatz zu einem Imbiss auf der anderen Seite.
Ich setze mich auf die Bordsteinkante und schaue ihm nach. Seine Haare wippen bei jedem Schritt auf und ab. Er zieht ein paar Mal seine Hose hoch, damit sie ihm nicht von seiner schmalen Hüfte rutscht.
Mein Vater sagt, ich soll nicht mit irgendwelchen Jungs alleine durch die Gegend laufen, es könnten Psychopathen sein. Ich frage mich, woher er das hat. War er selbst mal einer? Oder hatte er solche Freunde? Wahrscheinlich hat er zu viel Akte 2000 geguckt, die Sendung über Verbrecher, Betrüger und Vergewaltiger, die er sich so gerne ansieht, um mich hinterher darüber aufzuklären, wie schlecht die Welt ist. Das regt mich furchtbar auf.
»Papa! Das ist bloß Fernsehen. Das ist nicht die Welt da draußen«, versuche ich, ihn zu überzeugen. Aber seit er nicht mehr arbeitet, ist er kaum noch draußen oder unter Menschen, nicht mehr richtig jedenfalls, und deshalb denkt er, dass es jetzt so ist auf der Welt. Düster, verlogen, gefährlich. Ich kann wahrscheinlich froh sein, dass er mich überhaupt noch rauslässt.
Ich habe aber eigentlich ein gutes Bauchgefühl, was Leute angeht. Die Psychopathen erkenne ich immer schon von Weitem. Und Jacob ist keiner. Er steht an der Imbissbude in der Schlange und schaut zu mir rüber.
Ich winke ihm zu. Wenn wir die Filzgleiter gefunden haben, muss ich mir etwas einfallen lassen, damit er noch länger bleibt. Ich habe keine Pläne für den heutigen Tag. Meine Freunde sind alle mit ihren Eltern in die Ferien gefahren. Mia ist sogar alleine auf Jugendreise nach Kroatien, auf einen Campingplatz direkt an der Adria. Sie wollte mich unbedingt mitnehmen, aber ich habe so getan, als fände ich die Vorstellung total öde, nur um nicht in die Verlegenheit zu kommen, meinen Vater um die 400 Euro bitten zu müssen. Er hätte sie zur Not irgendwo geliehen. Jetzt schickt Mia mir täglich verträumte Mails und Fotos von steilen Klippen und unnatürlich blauem Wasser, von Lagerfeuern und von dem süßen Gruppenleiter, mit dem sie gerne noch eine Lovestory anfangen möchte.
Erst dachte ich, es wäre nicht schlimm, dass alle weg sind – dann habe ich halt Zeit für mich –, aber dann habe ich festgestellt, dass ich mich furchtbar schlecht mit mir selbst beschäftigen kann. Die letzten Tage habe ich mit meinem Vater Brettspiele gespielt, oder wir haben zusammen Fernsehen geschaut, aber wenn ich zu lange mit ihm in einem Raum bin, bekomme ich das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, und dann muss ich dringend an die frische Luft. Ich schlendere dann planlos durch die Gegend und hoffe, dass etwas Aufregendes passiert. In einer Stadt wie Berlin ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Es reicht, wenn ich mich auf die Warschauer Brücke stelle, und da brauche ich auch gar nicht lange warten, irgendein Verrückter zieht immer eine Show ab.
Ich frage mich allerdings immer, was mein Vater wohl so macht, wenn ich nicht zu Hause bin. Ist er froh, mal alleine zu sein, oder starrt er die ganze Zeit die Wand an? Vielleicht löst er Kreuzworträtsel? Vielleicht schraubt er an seinem alten Radio rum? Keine Ahnung, ich traue mich auch nicht zu fragen, um ihn nicht noch deprimierter zu machen.
Jacob kommt zurück, mit zwei dampfenden Bechern Kaffee und Donuts auf einem Pappteller.
»Schoko oder Erdbeere?« Er setzt sich zu mir auf die Bordsteinkante und stellt die Kaffeebecher vor unsere Füße.
»Schoko.«
»Wusste ich«, sagt er stolz und reicht mir den mit Schokolade überzogenen Kringel.
»Sag mal, warum fährst du eigentlich ohne Ziel durch die Gegend? Hast du keine Freunde?«, frage ich und pule die Schokoschicht mit meinen Fingern ab.
Er verschluckt sich an seinem Kaffee und lacht. »Also weißt du, du solltest später auf keinen Fall was arbeiten, was Diplomatie erfordert.«
»Aber du musst doch zugeben, dass es ein bisschen komisch ist, einfach so mit der S-Bahn rumzufahren«, erwidere ich.
»Ich bin ja nicht einfach nur so rumgefahren. Ich wollte mir die Stadt noch mal ansehen. Mich verabschieden, wenn du so willst.« Er weicht sofort meinem Blick aus.
»Verabschieden?« Keine Ahnung, warum mein Herz anfängt zu rasen.
Jacob beugt sich vor und fummelt an seinen Schnürsenkeln. »Ich gehe für ein Jahr nach Brasilien.«
»Oh.« Das klingt jetzt eher so, als hätte er mir von einem Trauerfall erzählt, also schiebe ich ein neugieriges »Wirklich?« hinterher.
»Ich werde da Radio machen, mit Kindern. Ist so ein soziales Ding. Benachteiligte Kinder, Problemfamilien, du weißt schon. Es hat sich so ergeben. Mein Vater kennt jemanden, der das organisiert. Ich habe nicht lange überlegen müssen. Ich will schon lange raus aus dieser Stadt«, erklärt er.
»Warum?«, wundere ich mich, während ich plötzlich gar keinen Hunger mehr habe und deshalb lustlos am Donut knabbere.
»Ich mag Berlin nicht.« Jetzt sieht er mich wieder an. In seinen dunklen Augen blitzt es auf.
»Nicht dein Ernst!« Ich habe den dringenden Wunsch, ihn zu schütteln, kann mich aber noch zurückhalten, das wäre vielleicht ein bisschen viel für den Anfang.
»Doch. Die Stadt ist so groß und laut und überall diese ganzen Leute, alle cool und hip und völlig abgebrüht, alle machen irgendwelche Projekte, keiner lächelt dich an, und überall, wo du hingehst, haben die anderen schon ihren Müll hinterlassen. Wenn du dich mit jemandem verabreden willst, warten alle immer bis zur letzten Minute, ob sich nicht noch eine bessere Option ergibt. Ich habe hier noch keinen Platz gefunden, wo ich mich wohlgefühlt hätte. Immer stehe ich irgendwo rum und denke, dass ich lieber woanders wäre.«
»Aber das ist doch Quatsch!«, protestiere ich. »Dann warst du einfach mal an den falschen Plätzen. Berlin ist die beste Stadt überhaupt! Okay, ich war noch nicht groß in der Welt unterwegs, aber da, wo ich war, wollte ich schnell wieder weg. Das andere ist bloß öde Provinz.«
Er lächelt müde. »Ich weiß nicht.«
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?« Ich lasse mich vor ihm auf die Knie nieder und sehe ihn eindringlich an. Einen Moment schauen wir uns schweigend in die Augen. Dann nickt er vorsichtig.
»Du musst die Stadt beschwören«, flüstere ich geheimnisvoll.
Er runzelt verwirrt die Stirn.
»Jeden Morgen, wenn du aufwachst, stellst du dich ans offene Fenster, saugst die frische Luft in deine Lungen und sagst dann: Berlin, sei gut zu mir. Am besten dreimal. Ich schwöre dir, das funktioniert.«
Jacob fängt an zu lachen. »Frische Luft! Das ist echt gut.«
»Ach komm schon. Sei kein Spielverderber und heb dir den Umweltaktivisten für später auf. Du musst es einfach ausprobieren«, fordere ich ihn auf und greife nach seiner Hand. Er blickt einen Moment runter auf unsere Finger, die sich wie von selbst ineinander verschlungen haben.
»Ja, vielleicht probiere ich das mal.« Er streicht mit seinem Zeigefinger ganz vorsichtig über meinen Handrücken, so vorsichtig und langsam, dass ich es mir vielleicht auch bloß einbilde.
Ich kann einfach nicht glauben, dass er diese Stadt nicht leiden kann. Ich bin viel unterwegs in Berlin, laufe einfach durch die Straßen, schaue in Fenster rein, liege in Parks rum, fahre an den See, stöbere in Plattenläden und esse mich an den Imbissen quer durch alle Speisen der Welt. Und überall pulsiert es. Ich kann es förmlich spüren, wenn ich mal stehen bleibe und mich auf meine Füße konzentriere, dann ist da dieses Vibrieren, die U-Bahn im Untergrund, die vielen Menschen. Es wimmelt nur so von unterschiedlichen Leuten. Die, die zur Arbeit fahren, und die ohne Arbeit, die in Cafés rumhängen. Studenten, Künstler, Obdachlose, die leere Flaschen sammeln, Straßenmusiker, Anzugträger, Omis mit Rollatoren, türkische Großfamilien, Touristen, Muttis, die ihre Babys herumschieben, schwarze Jungs, die in Parks Dope verticken, die Normalos, die Durchgeknallten, die Hipster mit ihren Macs, Tussis, Punks und noch eine Million anderer. Manchmal komme ich aus dem Staunen gar nicht heraus.
»Ich habe eine Idee!«, lasse ich Jacob wissen und löse meine Hand aus seiner, springe auf und laufe ungeduldig auf und ab. »Wenn wir diese Dinger geholt haben … diese …«
»Filzgleiter«, erinnert er mich.
»Genau die! Wenn wir damit fertig sind, dann schenkst du mir deine Zeit, wo du doch eh nichts Besseres zu tun hast, und ich zeige dir meine Version von Berlin. Meine Lieblingsorte, die guten, die abgefahrenen, die schönen, und ich bin überzeugt, danach siehst du die Stadt mit ganz anderen Augen. Deal?« Ich bin ganz aufgeregt, kann kaum noch an mich halten, weil ich meine eigene Idee so super finde.
Jacob mustert mich mit einem schiefen Lächeln. »Ich werde trotzdem morgen nach Brasilien fliegen.«
»Ich weiß. Aber wenn wir zwei fertig sind, vielleicht kommst du dann gerne wieder zurück.«
»Du bist so eine Optimistin, oder?« Er schiebt sich den letzten Bissen Donut in den Mund.
»Keine Ahnung, weiß nicht, hab noch nie drüber nachgedacht. Machst du mit? Machst du mit? Sag schon!«
Es ist wie eine Ohrfeige für mich, dass ich ausgerechnet heute dieses Mädchen treffen musste. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Trotzdem bin ich mit ihr ausgestiegen.
Sie ist hübsch. Ohne Frage. Aber nicht auf die Art hübsch, dass sie mir auf der Straße gleich aufgefallen wäre. Es ist etwas anderes. Ihre direkte Art mit Sicherheit. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal so ein Mädchen getroffen zu haben. Vorhin in der Bahn, als sie ihre Haare geöffnet hat, dachte ich noch, das wäre so eine Frauenmasche, dass sie irgendwelche Signale senden wollte. Jetzt glaube ich das nicht mehr. Vielleicht hat ihr Haargummi gejuckt, oder sie hat das aus einem Automatismus heraus gemacht. Egal. Auf jeden Fall ist sie ganz anders. Sie flirtet nicht mit mir, aber greift nach meiner Hand, obwohl wir uns noch keine Stunde kennen. Sie spricht mit mir, als würden wir schon ewig befreundet sein, und wenn sie mich ansieht, habe ich das Gefühl, dass sie auch wirklich mich ansieht.
Vielleicht könnte ich jetzt noch den Absprung schaffen. Wenn ich jetzt gehe, wird sie noch ein oder zwei Stunden in meinem Kopf rumspuken, aber danach könnte ich mit meinem Abschied weitermachen, in die nächste Bahn hüpfen, und alles würde nach Plan laufen. Wenn ich mich auf ihren Vorschlag einlasse, weiß ich nicht, was passiert.
Ich sollte definitiv gehen.
»Okay. Ich bin dabei«, antworte ich Depp stattdessen.
Sie springt in die Höhe und klatscht in die Hände, freut sich wie ein kleines Kind. Sie wird mich nicht von Berlin überzeugen, mit Sicherheit nicht, ich habe lange genug selber probiert, mit dieser Stadt Freundschaft zu schließen, trotzdem bin ich gespannt auf die Orte, die sie mir zeigen will.
»Aber nicht, dass du enttäuscht bist, wenn ich Berlin am Ende immer noch scheiße finde«, warne ich sie.
»Wirst du nicht.« Sie setzt sich wieder auf die Bordsteinkante und verschlingt ihren Donut mit einem Happs. Ihre Wangen blähen sich dabei auf und ich muss lachen.
Ich schaue auf die Uhr. »Noch zehn Minuten.«
Immer mehr Autos fahren auf dem Parkplatz vor. Männer in Blaumännern steigen aus und ganze Familien, die so rausgeputzt sind, als würden sie einen Sonntagsausflug machen.
»Die kommen zum Essen her. Wusstest du das? Dreißig Prozent von denen, die hier durch die Tür gehen, wollen nur essen. Schräg, oder?« Ich sehe zu Kim und entdecke auf ihren Lippen ein paar Schokoladenreste. Ich tippe mir an meine eigenen Lippen, um ihr zu zeigen, dass sie da was hat.
Sie fährt mit ihrer Zunge drüber. »Hast du das irgendwo gelesen?«, fragt sie mich und reibt sich mit dem Finger über die Zähne, um auch dort die letzten Schokoreste zu entfernen.
»Was gelesen?« Ich bin so abgelenkt von ihrem Mund, dass ich kurz nicht weiß, was sie meint.
»Das mit den Möbelhausessern!«
»Ach so. Das! Ja. Ich glaube.« Ich wende meinen Blick ab.
»Du siehst so aus, als würdest du viel lesen«, bemerkt sie und trinkt den Rest von ihrem Kaffee.
»Woran siehst du das?«, frage ich verwundert.
»Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Und deine Haut. Die ist ziemlich blass, bis auf den kleinen Sonnenbrand auf den Wangen. So blass wie sonst von den Leuten, die ständig vor dem Computer sitzen. Aber du siehst nicht nach so einem aus. Computer ist nicht dein Ding. Also liest du wahrscheinlich viel. Irgendwo in deinem stillen Kämmerlein.«
»Steckst du öfter Leute in solche Schubladen?«, fordere ich sie heraus.
»Liest du nun viel oder nicht?« Sie sieht mich mit einem strengen Blick an.
»Ja«, gebe ich zu.
»Siehst du! Was liest du gerade für ein Buch?« In ihren Augen blitzt es unaufhörlich.
»Der Fremde von Camus. Kennst du …?«
»Klar, kenne ich. Haben wir in der Schule durchgenommen. Meine Lehrerin liebt die Franzosen. Ich persönlich fand’s … na ja … ganz okay.« Sie tupft mit ihrem Finger in den Becher und leckt dann den letzten Tropfen ab. »Passt zu dir, dass du das Buch liest.«
»Schon wieder Schublade«, seufze ich.
»Klar. Aber es macht auch Spaß. Musst du mal ausprobieren. Der Typ da zum Beispiel, der da an seinem Auto lehnt, siehst du den?«
Ich folge ihrem Blick. »Ja.«
»Was glaubst du ist der für einer?«
Ich ziehe meine Schultern hoch. »Keine Ahnung.«
»Mann! Streng dich ein bisschen an!« Sie boxt mir gegen den Arm. »Guck ihn dir doch mal genau an. Seine Klamotten, seine Körperhaltung, das Auto, der Gesichtsausdruck.«
Ich atme tief aus und mustere den Typen. »Hm. Jeans, weißes Hemd, Sonnenbrille …« Keine Ahnung, was ich daraus jetzt für Schlüsse ziehen soll.
»Sieht aus, als hätte er sich schick gemacht, oder? Fürs Möbelhaus? Ich glaube nicht. Ich glaube, der will hier eine Frau aufreißen.« Kim rückt noch ein Stück näher an mich heran.
»Das ist aber jetzt weit hergeholt!« Ich schüttele den Kopf über sie.
»Finde ich gar nicht. Wir könnten ihm folgen, dann würden wir es herausfinden. Vielleicht ist es auch eine Verkäuferin, auf die er ein Auge geworfen hat, dann wird er in ihrer Abteilung auf und ab laufen, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt, sie anzusprechen. Ich bin fast sicher. Ich könnte sogar mit dir wetten, wenn du willst.« Sie streckt mir ihre Hand entgegen.
Ich greife mir die Hand, aber nicht, um mit ihr zu wetten, sondern um noch einmal diese weiche Haut zu spüren. Ihre Hände sind so klein, die Finger schmal und die Nägel mit blutroter Farbe lackiert, die an einigen Stellen schon abblättert.
»Spionierst du öfter Leuten hinterher?« Ich versuche, möglichst lässig zu klingen, damit sie nicht merkt, dass unsere Berührung mich ganz nervös macht.
»Manchmal«, gibt sie zu und macht gar keine Anstalten, meine Hand wieder loszulassen.
»Jetzt könnte ich aber dich fragen, ob du keine Freunde hast.«
Sie lacht. »Als ich klein war, wollte ich immer Detektivin werden. Ich hatte ein schwarzes Büchlein, wo ich alles reingeschrieben hab, was mir verdächtig vorkam. Ich habe aus dem Fenster raus Leute beobachtet. Unsere Nachbarin zum Beispiel, die hat beim Müllwegbringen immer wild um sich geschaut, ob auch niemand guckt, was sie in die Tonne schmeißt. Bestimmt hat sie da Batterien reingeworfen und Sprühdosen. Dann habe ich zwei Männer beobachtet, die in unserer Straße öfter patrouilliert sind und irgendwelche Zettel hinter die Scheibenwischer der Autos gesteckt haben. Ich dachte, sie würden geheime Botschaften überbringen. CIA? FBI