Hilfe, mich liebt ein Traummann - Katja Kerschgens - E-Book

Hilfe, mich liebt ein Traummann E-Book

Katja Kerschgens

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Beschreibung

Nadine ist noch nicht richtig angekommen in der fremden Stadt. Ihre Bücher in der neuen Wohnung sind unberührt in Umzugskisten verstaut. Ihr neuer Job füllt ihren Tag voll aus. Liebesleben? Gibt es keines. Das Chaos um das verloren gegangene Manuskript, die Mietmann-Verlobter-Geschichte - all das ist ein Dreivierteljahr her. Und etwas Entscheidendes ist seitdem ganz anders gelaufen: Zwischen Serafin und ihr ist - gar nichts. Doch dann steht er plötzlich wieder vor ihr und zwischen ihnen beiden ein Kuss, der alles verändert. Sofort nagen Zweifel an Nadine: Seine schnelle Eroberung, die Zaubertricks des perfekten Verführers, die Blicke der anderen Frauen - wie passt das alles zusammen? Ist sie doch nur eine von vielen? Und wenn nicht? Warum braucht er dann Liebespillen? Und überhaupt: Wieso ist er von jetzt auf gleich wieder weg ...?

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Zu Beginn

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

1

Auf dem Display las sie S. Noack. Nadine atmete tief durch. Sie berührte ihr Smartphone an der Stelle, an der Ablehnen stand.

»Nächste Woche kommen die zwei letzten Sprecherinnen zu den Probeaufnahmen für unser Projekt Belindas Bande«, führte Dr. Bohrkamp weiter aus, »dann sollte die Entscheidung fallen.«

Nadine nickte und machte sich eine Notiz.

»Ja, geht klar. Für den Fridolin haben wir bereits den Jacob Kahlscheer ausgewählt.«

Dr. Bohrkamp zog eine Augenbraue hoch. Sie konnte dieses Signal ihres Chefs mittlerweile bestens einordnen: Er wollte mehr Informationen haben.

»Jacob hat den Stimmbruch hinter sich, seine Stimme wird sich also nicht mehr groß verändern.«

Bohrkamp nickte.

»Gute Entscheidung, daran hätte ich jetzt gar nicht gedacht.«

Nadine wurde nicht rot. Das wurde sie in solchen Momenten schon lange nicht mehr.

»Wenn sich das Projekt wie geplant als langfristiges Fortsetzungsprojekt beweist, dann sollten wir nicht in die gleiche Falle tappen wie bei den Drei Fragezeichen«, sagte sie mehr zu sich selbst.

Laura runzelte fast hörbar die Stirn. Nadine lächelte sie an.

»War vor deiner Zeit. Ist ein Erfolgsprojekt, das in Deutschland 1979 anfing. Bis heute gibt es um die 170 Hörspiele. Die Sprecher sind immer noch dieselben, deren Stimmen nicht unbedingt.«

Dr. Bohrkamp nahm seine Brille ab, hauchte sie an und wischte mit seinem Schal darüber.

»Unsere Nadine. Wie immer alles wie aus dem Handgelenk.«

Das Handgelenk hatte mehrere Nächte lang am Laptop mitgeholfen, gleichwertige oder ähnliche Projekte und ihre Erfolgsfaktoren zu recherchieren. Nadine schmunzelte in sich hinein, während sie glaubte, ihre Müdigkeitsfalten im Gesicht spüren zu können. Sie stapelte ihre Papiere und legte ihr Notizbuch oben drauf.

»Gut, auf mich warten noch ein paar Telefonate.«

»Wir wären auch soweit durch«, definierte Dr. Bohrkamp. Alle drei erhoben sich gleichzeitig. Laura nahm die leeren Kaffeebecher an sich und trug sie nach nebenan in die Küchenecke. Sie kam mit einem Lappen in der Hand zurück und steuerte auf die Kekskrümel auf dem Besprechungstisch zu. Nadine hatte auf dem Weg zur Tür innegehalten, ihr Blick war wieder auf ihr Handydisplay gefallen. Dort gab es immer noch den Hinweis für den entgangenen Anruf. Es fühlte sich an, als hätte jemand den Ausknopf für die nächsten wichtigen Aktivitäten gedrückt. Laura ging erst an ihr vorbei, blieb dann stehen und drehte sich zu ihr um.

»Äh, alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie leise.

Nadine brauchte einen Moment, bis sie wieder im Hier und Jetzt angekommen war.

»Ja, ja«, murmelte sie, und es klang gefährlich nah an einem »nein, nein«.

Nadine starrte vor sich hin, ihr Modus für Bewegung war abgeschaltet.

»Wirklich?«, fragte Laura vorsichtig, während sie ein wenig näher rückte.

Nadine schluckte, obwohl es nichts zu schlucken gab.

»Nicht wichtig«, erklärte sie, und endlich schalteten sich alle geplanten Vorgänge wieder ein. Auf ihrem Weg aus dem Meetingraum glaubte sie zu spüren, wie sich der Blick von Laura in ihren Rücken bohrte.

Loriot begrüßte sie schwanzwedelnd von seinem Platz aus, als sie ihr Büro betrat. Auf dem Display ihres Festnetztelefons blinkte es, vier Anrufe in Abwesenheit wurden angezeigt. Nadine machte sich sogleich daran, die Anrufer der Reihe nach zurückzurufen, während Loriot wieder zufrieden schnorchelte.

Die nächsten Stunden verflogen unbemerkt. Nadine vergewisserte sich, wann die Studioarbeit am nächsten Tag starten würde, dann schaltete sie alle Geräte über einen zentralen Schalter ab. Das Summen des Rechnerlüfters verstummte, Loriot reckte sich ausgiebig. Er kannte die Signale, wann er wieder in den Mittelpunkt rücken durfte.

Nadine schaute aus dem Fenster. Diese Stadt war ihr immer noch fremd. Bislang hatte sie keinen Ersatz für das Bistro Capitale gefunden. Aber ohne Sarah oder Fippsi wäre es ohnehin nur die Hälfte wert. Einen weiteren Namen, den sie mit dem Bistro verband, verdrängte sie. Soweit es ging.

Es war Viertel vor neun abends. Heute kam sie früher aus dem Büro als in den letzten Wochen. Morgen stand das nächste neue Hörspiel an. Sie nahm Loriot an die Leine und schulterte ihre Handtasche. Auf dem Flur sah sie, dass bei Dr. Bohrkamp noch Licht brannte. Sie stellte sich in die offene Bürotür.

»Ich bin dann mal weg«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.

Dr. Bohrkamp blickte auf. Nachdem er in die Welt um sich herum zurückgekehrt war, schaute er sie durchdringend an.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Nadine stutzte. Hatte sie eine Laufschrift auf der Stirn, die Warnmeldungen anzeigte und von der sie selbst nichts wusste?

»Ja, natürlich«, antwortete sie. Sie überhörte nicht, dass ihre Antwort etwas spitz geklungen hatte.

»Sie machen einen hervorragenden Job«, kam es nachdenklich von Bohrkamp.

»... aber?«

»Oh nein, nichts aber«, ihr Chef warf abwehrend die Hände hoch und machte ein betroffenes Gesicht, »Sie waren eine meiner besten Entscheidungen in den letzten Monaten.«

»... aber?«

Bohrkamp seufzte.

»Ich meine wirklich nicht Ihre Arbeit hier.«

Pause. Von beiden.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte ihr Chef, spielte dabei mit einer seiner störrischen Haarsträhnen.

Nadine wusste, dass ihn diese Frage Überwindung kosten musste, denn für Privates gab es sonst wenig Freiraum in ihren Gesprächen.

»Ja, natürlich«, gab sie sich knapp.

»... aber?«

In Nadines Kopf setzten sich mit einem Mal diverse Zahnräder knarrend und schmirgelnd in Bewegung. Bilder tauchten auf ihrer inneren Leinwand auf, verschwommen, wie bei uralten Filmen mit Flecken und Punkten versehen. Dazu gesellte sich eine Reihe von unterschiedlichsten Emotionen, die in einer Sinuskurve auf- und abschwellend ihr Denken überschwemmten.

»Alles gut«, wollte sie sagen. Sie sagte nichts.

»Ich sehe, dass Sie sich nicht schonen. Das schmeichelt mir und damit gleich dem ganzen Verlag, aber wäre ein Ausgleich zur Arbeit nicht sinnvoll?«

»Was für ein Ausgleich?«

Mit ihrem treuen Malteser spazieren gehen, während der Busfahrten zwischen Verlag und ihrer neuen Wohnung lesen, abends der obligatorische Rotwein auf ihrem geliebten Ohrensessel. Von Zeit zu Zeit mit Fippsi oder Sarah telefonieren, ein gutes Stück seltener mit ihren Eltern. Alles im grünen Bereich.

»Alles gut«, sagte sie endlich.

Sie verließ das Verlagsgebäude, spürte missmutig ihrer inneren Unruhe nach. Ihr Chef hatte unwissend die Rolle ihrer Mutter übernommen. Heute zumindest. Ein winziger Minuspunkt auf der sehr langen Positivliste.

Während der gesamten Busfahrt nach Hause geisterte der weggedrückte Anruf durch ihren Kopf. Er brachte Gedanken zurück, die sie schon lange nicht mehr gedacht hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie Kapazitäten dafür überhatte.

Auf dem Weg von der Bushaltestelle bis zu ihrer Wohnung drehte sie eine Extraschleife, damit Loriot zu seinem Recht kam. Als sie die Wohnungstür hinter sich schloss, verdrehte sie die Augen. Seit Monaten stapelten sich hier die Umzugskisten. Dr. Bohrkamp hatte den Umzug bezahlt. Eine gefühlte Hundertschaft an bärbeißigen, schrankbreiten Typen hatte ihre Bücherberge in Kisten verstaut, sorgfältig und nahezu ohne Rechtschreibfehler beschriftet und schließlich vom LKW bis in ihre neue Wohnung geschleppt. Die Regale standen wieder, aber die meisten waren immer noch so gut wie leer.

»Das mache ich lieber selbst«, hatte sie gesagt, als die Männer die Regale wieder einräumen wollten, »ich habe da so mein eigenes System.«

Und dann waren die Männer freundlich grüßend abgezogen.

Mr. Snug und sein Beistelltischchen sahen verlockend aus auf dem neuen Teppichboden. Der Esstisch mit den vier Stühlen und der Obstschale in der Mitte wirkte dagegen immer noch wie aus dem Möbelprospekt. Fehlte nur noch die lachende, perfekt inszenierte Vorzeigefamilie, die in trauter Gemeinsamkeit und unerträglicher Harmonie Mensch-ärgere-dich-nicht daran spielte.

Nadine warf schlecht gelaunt ihre Sandaletten neben die Flurkommode. Sie war hundemüde und wusste ganz genau, dass sie die nächsten Stunden nicht schlafen könnte. Wenn überhaupt an Schlaf zu denken war ...

Wieso jetzt?

Und wieso überhaupt?

Sie marschierte in die Küche, griff nach der Rotweinflasche im Kühlschrank, stellte sie aber sogleich wieder zurück. Schwungvoll warf sie die Tür zu, die Flaschen darin klimperten vorwurfsvoll. Auf einmal und zum ersten Mal vermisste sie die eindeutig zweideutigen Arbeitsgeräusche von Fippsi nebenan. Aber dort wohnte nur ein älterer Herr, dessen Frau wohl schon tot war. Oder ausgezogen. Oder er hatte nie eine gehabt. Eigentlich wusste sie gar nichts über ihn.

Sie sah aus dem Küchenfenster. Beletage, dachte sie. Das hatte ihre Mutter über die neue Wohnung in der neuen Stadt gesagt. Bislang hatte Nadine es noch nicht geschafft, ihre Eltern einzuladen. Erst wollte sie die Umzugskisten ausgepackt haben.

Sie schaute sich um. So viel dazu, dachte sie. Unmotiviert öffnete sie einen der vielen Kartons und griff hinein. Das Buch, das sie in die Hand bekam, war groß und dünn. Es fühlte sich glatt und kühl an. Sie blickte auf die Vorderseite.

Ihr Herz blieb stehen.

Für mindestens zwölf Sekunden.

Serafin und seine Wundermaschine.

Das Bilderbuch in ihrer Hand wog auf einmal mehrere Tonnen. Der grauhaarige Held der Geschichte saß mit rotem Pullover und brauner Mütze am Schaltpult seiner riesigen Höllenmaschine, die aus allen erdenklichen Musikinstrumenten bestand, und lächelte Plum an. Der saß weiter vorne im Bild in seinem blau-weiß gestreiften Wohnpullover auf dem Boden, hielt sich, wie sein Hamster, die Ohren zu und grinste breit.

Nadine ließ das Buch sinken. Sanft fiel es zurück in die Umzugskiste.

Wieso jetzt?

Und wieso überhaupt?

Loriot kam zum Karton getapst und schnüffelte neugierig an der Pappe. Dann schaute er zu seinem Frauchen auf, als erwarte er Leckerlis aus der Wunderkiste. Diese rührte sich mehrere Minuten nicht, bis es dem Malteser nicht mehr geheuer war und er leise zu winseln begann. Endlich schaute sie zu ihm hinunter.

»Ach, Mausbär, wir zwei beide.«

Sie ließ sich auf das Sitzpolster von Mr. Snug fallen und ihre Arme auf die Lederlehnen sinken. Loriot sprang sofort auf ihren Schoß und ließ es sich dort gut gehen. Für ihn war die Welt in Ordnung.

Für sie selbst doch auch. Mal ganz realistisch betrachtet. Sie wohnte in einer schicken Wohnung, die ein ordentliches Stück größer wie ihre alte war, dazu heller, moderner, besser isoliert. Sogar ein Bidet gab es im weiß gefliesten Bad. Sie hatte es gar nicht fassen können, damals, als sie die Wohnungsschlüssel von Dr. Bohrkamp in die Hand gedrückt bekommen hatte. Genau. Bohrkamp. Ihr Monatsgehalt war um ein Vielfaches gestiegen. Damit war die Miete fast ein Klacks.

»Tja, Wanderknecht, wenn du wüsstest«, sprach sie halblaut und hatte für einen kurzen Moment den untersetzten Anwalt für Arbeitsrecht mit dem Röntgenblick vor Augen. Aushilfsgehalt hatte er damals ihren Verdienst genannt. Nadine wusste jetzt umfassend, was er damals damit gemeint hatte.

Der Job lief famos. Bohrkamp war mit einer großzügigen Summe aus dem alten Verlag ausgestiegen. Sofort baute er mit einem kleinen, schlagkräftigen Team neue Strukturen, Vertriebswege und Themen auf. Hörspiele für Kinder und Jugendliche waren in kurzer Zeit ein großer Renner geworden, jedes dritte Handy der Kids hatte mindestens eines davon an Bord.

Alles super.

Fast alles.

Fippsi, Sarah, ihre Eltern, alle waren weit weg.

Und dann war da noch diese eine Sache. Dieser eine Mensch. Diese Schockstarre.

Wieso jetzt?

Und wieso überhaupt?

Sie hob Loriot von ihrem Schoß und ging mit langen Schritten zur Stereoanlage. Ihr Kollege Karl hatte da seine Finger im Spiel gehabt, genau wie bei ihrem neuen Laptop, Drucker, Scanner, Smartphone, Flachbildfernseher ...

»Dolby TrueHD«, hatte er bedeutungsschwanger geraunt, während er die sechs Boxen auf ihre Position gerückt und dann mit Hilfe eines sorgfältig platzierten Mikrophons ausgerichtet hatte. Oder sowas in der Art. Nadine hatte ohnehin nur verständnislos den Kopf geschüttelt. Aber ihre Klassik-CDs klangen jetzt wundervoll, das musste sie ihm lassen.

Sie drehte die Anlage ein gutes Stück weiter auf als sonst. Das flinke und akkordstarke Tastenspiel der ersten Takte aus der Klaviersonate Nummer fünf in h-Moll von Frédéric Chopin gaben ihr für ein paar Minuten Ablenkung von ihrem düsteren Denkgebilde. Sie schlurfte zurück zu ihrem Sessel.

Kaum, dass sie saß, stand sie wieder auf. Sie ging auf ihre Handtasche zu, die neben den lieblos hingeworfenen Sandaletten stand, und nahm ihr Handy in die Hand. Mit kalten Fingern tippte sie die Nummer des letzten Anrufs an. Es fehlte nur noch ein Befehl an das Smartphone, und es würde die Nummer wählen.

Sie verlor den Mut.

Mit dem Handy in der Hand saß sie wieder auf Mr. Snug, die Beine untergeklappt. Loriot beäugte sie misstrauisch und blieb dieses Mal unten. Nadine bemerkte es nicht. Noch immer starrte sie auf das Display, das längst wieder dunkel geworden war. Das Smartphone lag warm in ihrer Hand.

Sie war absolut nüchtern gewesen. Zumindest in dem Moment, als sie es aussprach. Dass sie ihn heiraten würde. Sie hatte vor allem eins ausgelöst: Ungläubigkeit. Besonders bei sich selbst. Die Augen aller am Tisch waren riesengroß geworden. Papa hatte sich ein neues Schnapsglas besorgt, Mama den Tisch abgewischt, Nadine die Scherben eingesammelt. Und diesen Akt als sehr symbolisch empfunden. Irgendwie. Und dann hatte es niemand mehr erwähnt. Als wäre es nie passiert.

Was hatte sie sich auch nur dabei gedacht?

Seitdem war Funkstille. Wie zwei Hunde waren Serafin und sie in den nächsten Tagen umeinander geschlichen, keiner wollte oder konnte den Anfang machen. Und dann war Nadine umgezogen, hatte sich in ihren neuen Job geworfen. Und es irgendwie verdrängt. Fast.

Bis zu dem Anruf heute während des Meetings.

Warum jetzt?

Und warum überhaupt?

Sie zuckte heftig zusammen, als das Smartphone in ihrer Hand vibrierte. Beinahe wäre es ihr aus der Hand gefallen. Loriot sah irritiert auf und musterte das seltsam summende Gerät.

S. Noack.

Ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich sicher war, keinen Laut von sich geben zu können. Das Handy vibrierte immer noch. Und immer noch. Dann nicht mehr. Kurz darauf gab es einen Hinweis auf dem Display. Auf ihrer Mailbox war eine Nachricht hinterlassen worden.

Sie berührte die Glasoberfläche. Das Menü zur Mailbox öffnete sich, sie brauchte für das Abhören der neuen Nachricht nur noch das kleine Dreieck zu berühren. Ihr Daumen schwebte darüber, zitterte ein wenig.

Endlich überwand sie sich.

»Hallo«, sprach ihr Handy. Dann gab es eine längere Pause.

»Ich ... äh.«

Nadine presste sich das Smartphone fest ans Ohr. Serafins Stimme schaffte es auch nach der langen Zeit, dieses wohlbekannte Rauschen in ihrem Kopf wieder einzuschalten. Wie damals wusste sie nicht, damit umzugehen.

»Also, ich wollte mich mal wieder ... Ich habe ja noch gar nicht deine neue Wohnung ... Und da dachte ich ... Na ja, vielleicht ... Ach, nichts. War nur so ein Gedanke. Ich hoffe, bei dir und Loriot ist alles okay. Ja dann ...«

Ende der Nachricht.

Wie zwei Hunde, die sich umrundeten.

Nadine saß noch eine ganze Weile regungslos da. Irgendwann war die CD zu Ende, sie rührte sich nicht. Sie starrte auf die leeren Regale und fühlte mit ihnen so eine Art brüderliche Verbundenheit. Endlich stand sie auf und öffnete eine Umzugskiste. Sie langte nach den ersten drei dicken Büchern und stellte sie in eines der Regale.

Alter Staub.

Alte, längst erzählte Geschichten.

Sie war in guter Gesellschaft.

2

Nadine betrat gemessenen Schrittes das Hörspielstudio und spürte einen Stich in der Magengegend. In den letzten Monaten hatte sie nicht den Kopf dafür gehabt, über ihre neue Welt nachzudenken. Doch seit gestern stromerte die Zeit vor dieser Zeit durch ihren Schädel und hinterließ unübersehbare Fußabdrücke.

Alles war wie immer.

Alles war anders.

Am Mischpult hockte kein griesgrämiger Micha Kistenfeger. Stattdessen begrüßten sie zwei gut gelaunte junge Männer. Vor ihr befand sich keine fensterlose Sprecherkabine, sondern hinter einer großen Glasscheibe ein Studio mit hellem Holzfußboden und zahlreichen Mikrofonen. Es gab ein paar Stühle. Mitten im Raum standen weitere Mikros im Halbkreis, die mit einem Popschutz versehen waren. Mit Schaumstoff überzogene, halbhohe Trennwände unterteilten den Raum in verschiedene Bereiche. An einer Stelle auf dem Boden waren Felder mit Stein- und Holzfußböden, Kieselsteinen und anderen Materialien ausgelegt, ebenfalls von Mikrofonen umgeben.

Zwei der heute vier Protagonisten, ein Sprecher und eine Sprecherin, und der Geräuschemacher waren bereits da. Sie unterhielten sich und blätterten in ihren Manuskripten. Sie grüßten Nadine winkend, als sie diese hinter der Scheibe sahen. Sie winkte zurück. Kurz darauf kam der achtjährige Sebastian, gefolgt von seiner Mutter. Diese trat in den Regieraum, begrüßte das Team und begab sich zu einem der kleinen Sessel an der hinteren Wand des Raumes.

Nadine setzte sich an ihren angestammten Platz, Loriot rollte sich zu ihren Füßen unter dem Mischpult zusammen. Sorgfältig breitete sie das Manuskript vor sich aus und setzte sich das Headset auf den Kopf. Sie hatte ihr eigenes Schaltpult vor sich und öffnete ihren Kanal in den Studioraum.

»Hallo, Ihr Lieben«, begrüßte sie die Anwesenden, »und? Bist du fit, Sebastian?«

Dieser nickte entschlossen.

Nadine ging mit dem Finger die Liste der Sprecher für das Hörspiel entlang, während sie mit der anderen Hand ihr Mikro wieder ausschaltete. Die Stimmen aus dem Studio hörte sie leise auf dem Kopfhörer. Es fehlte immer noch der Protagonist, der den Vater von Sebastians Rolle sprechen sollte. Sie blickte auf die Studiouhr.

»Was ist denn mit Herrn Segeberg?«, fragte sie die beiden Tontechniker, die mit den Achseln zuckten. Nadine schob eine Kopfhörermuschel hinter ihr Ohr, griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer des Verlags.

»Verlag Bohrkamp, Sie sprechen mit Laura Meyer-Anstetten, was kann ich für Sie tun?«

Nadine musste schmunzeln und wusste selbst nicht, warum.

»Laura, weißt du, ob was mit Peter Segeberg ist?«

»Äh, warte ...«, Nadine hörte Tastaturgeklapper, »da muss ich mal in Nicoles Einträge. Ah, hier. Oooh. Der hat eine schwere Halsentzündung. Stimme weg. Hat gestern per Mail abgesagt. Ist das schlimm? Der wäre heute zum ersten Mal dran gewesen, oder?«

Das Hörspiel war ein neues Projekt und es sollte mehrere Folgen davon geben. Wenn der Segeberg jetzt nicht mit dabei war, dann würde er grundsätzlich ersetzt werden müssen. Schade, er hätte die Rolle sehr gut ausfüllen können.

»Das hätte ich gerne vorher erfahren, wieso hat Nicole das nicht an mich weitergeben?«

»Weiß nicht«, erwiderte Laura und klang aufrichtig bekümmert, »die musste dann irgendwie weg. Ihr Kind war plötzlich krank geworden. Irgend so eine Seuche in der Kita. Und mir hatte sie nichts gesagt ...«

»Nicht deine Schuld. Und wer kommt stattdessen?« hakte Nadine nach, während sie sich auf ihrem Drehstuhl mit leerem Blick im Kreis drehte.

»Wer ist das denn?«, stammelte Sebastians Mutter in dem Moment, in dem Nadine ihr zugewandt war. Die Frau stierte durch die Studioscheibe hinter ihrem Rücken.

»Warte, das findet sich irgendwie nicht in Nicoles Einträgen ...«

Nadine hatte abrupt in der Drehbewegung innegehalten. Die Reaktion von Sebastians Mutter fesselte ihre Aufmerksamkeit auf einer tieferen Ebene in ihrem Gehirn. Mit einem Mal schienen alle Zellen in ihrem Körper siedend heiß zu werden, ihr Adrenalinspiegel stieg auf einen unbekannten Level. Im Glas des Bilderrahmens oberhalb der Frau spiegelte sich ein Teilausschnitt des Studios. Ihr Hals wurde trocken. Das Handy rutschte ihr aus der Hand und landete mit einem ungesunden Geräusch auf dem Fußboden.

»Hallo, Nadine? Hallo?«, quäkte es zu ihren Füßen. Sie war wie abgeschaltet.

»Wir sind vollzählig«, sagte einer der Tontechniker. »Frau Walters, sollen wir dann anfangen?«

Nadines Gehirn ging die Möglichkeiten durch, die jetzt naheliegend waren.

Abhauen?

Umdrehen?

Sterben?

»Frau Walters?«

Sterben, beschloss sie.

»Schön, Sie kennen zu lernen«, hörte sie wie durch Watte auf einem Ohr. Im Bilderrahmen war zu erkennen, wie die Menschen im Studio sich die Hand schüttelten.

»Und du sprichst sicher den Helden der Geschichte, oder?«

»Ja, aber nicht alleine, demnächst kommen noch die drei anderen dazu.«

»Das wird sicher ein Spaaaß!«

Einer der Tontechniker lachte und wandte sich an seinen Kollegen: »Musst du auch gerade an Star Trek denken?«

»Klar, Mann. Treffen der Generationen. Captain Kirk sagt das. Als Picard ihn überredet, zu helfen.«

Sterben. Jetzt.

Nadine bückte sich, hob das Smartphone auf, dessen Glasoberfläche von einem engmaschigen Spinnennetz aus kleinen Rissen überzogen war.

»Hat sich erledigt«, hauchte sie hinein und drückte die Verbindung weg.

Sterben schien keine machbare Option zu sein. Aus den Augenwinkeln sah sie die auffordernden Blicke der beiden Männer neben ihr.

Abhauen.

»Können wir, Frau Walters?«, kam es nun eindringlicher.

Sie hatte das Gefühl, dass diese Worte sie mit unsichtbaren Stricken auf den Stuhl fesselten.

Blieb nur noch die letzte Option. Langsam drehte sie ihren Stuhl zurück nach vorne, schob den Kopfhörer zurück an seinen Platz. Es fühlte sich an, als wollte ihr Herz Reißaus nehmen. Gerade stellten sich die Sprecher an ihren Mikrofonen auf, der vierte wandte sich genau in diesem Moment zur Glasscheibe um.

»Guten Morgen in die Lounge«, sagte er lachend, »ich freue mich auf unsere Zusa...«

Da trafen sich ihre Blicke.

Er stutzte, klappte den Mund zu. Leise beendete er den Satz: »... unsere Zusammenarbeit.«

Das Schweigen und das Anstarren dauerten mehrere Stunden. Nach drei Sekunden kam es ungeduldig von ihrer Seite: »Ob wir jetzt könn-nnen ...?!«

Nadine nickte. Glaubte sie zumindest.

Der Geräuschemacher hockte sich auf einen Stuhl vor einer der Studiowände und hielt diverse Gerätschaften um sich herum in Griffweite. Der letzte Sprecher nahm nun ebenfalls seinen Platz ein, den Blick weiter auf Nadine geheftet. Rote Lichter zeigten an, dass alle Mikrofone jetzt freigeschaltet waren.

»Das ist ja mal eine Überraschung«, sagte der Mann tonlos.

Nadine schaltete mit eiskalter Hand ihr Mikrofon ein.

»Guten Morgen, Herr Noack«, gab sie sich so förmlich wie möglich. In Sekundenschnelle hatte sie erfasst, dass er auch in diesem Kreis sicher nur als S. Noack bekannt war, aber nicht als Serafin.

Er spielte nicht mit.

»Das hätte ich mir wirklich denken können, dass du bei dem Projekt dabei bist, Nadine«, antwortete er. Seine Stimme verriet nichts über das, was in seinem Innersten ablaufen mochte, »aber ich wurde derart Hals über Kopf angefragt ...«

Nadine spürte einen irritierten, dann fragenden Blick von der Seite.

Sie schloss kurz die Augen. Sie war Zeitdruck gewohnt. Ihr waren schon des Öfteren Sprecher ausgefallen. Sie konnte mit hysterischen Müttern umgehen, die ihre Sprösslinge in die Berühmtheit schubsen wollten, die sie selbst nie erlangt hatten. In diesem Augenblick allerdings brauchte sie höchste Konzentration, um ihre gewohnte Professionalität zu aktivieren.

»Sie sind ja alle mit Ihren Rollen so weit vertraut«, sagte sie in fast normaler Tonlage, »und mit Sebastian haben wir auch schon alles besprochen. Du kennst deine Rolle jetzt gut, nicht wahr?«

»Yes, ma´am«, kam es von dem vor Selbstbewusstsein strotzenden Jungen.

»Wie sieht es mit der Rolle des Vaters aus, wo der Einstieg so kurzfristig war?«, fragte sie und umschiffte mühsam eine direkte Ansprache.

»Ich kam spät ins Hotel und konnte dann erst den heutigen Text lesen, den mir die Kollegin deines Verlages gemailt hatte«, antwortete Serafin, der seinen Blick immer noch fest auf Nadine geheftet hatte.

»Hm, reicht das?«, fragte der Tontechniker neben ihr mit gedämpfter Stimme.

»Glauben Sie mir«, gab sie zurück, während sie einen Finger auf die Stummschalttaste drückte, »das reicht.«.

Sie holte so viel Luft, dass ihre Lungen dringend nach mehr Platz im Brustkorb verlangten. Mit dem Ausatmen sagte sie: »Na schön, wir machen einen kurzen Soundcheck, dann steigen wir gleich mit der ersten Szene ein, danach machen wir die fünfte, dann die achte. Mal sehen, wie es läuft.«

Die Maschinerie professioneller Mitarbeiter setzte sich überall in Bewegung. Nadine konzentrierte sich auf das Geschehen. Als schließlich Serafin zum ersten Mal mit voller, kräftiger Stimme den Vater für den Soundcheck mimte, entglitten ihr die Gesichtszüge. Ihre Kopfhörer schienen zu glühen. Schlagartig saß sie wieder neben Micha, hörte diese unglaubliche Stimme zum ersten Mal und wusste, dass sie diesen Menschen niemals zu Gesicht bekommen wollte. Das konnte nur eine Enttäuschung werden. Und das mit den Enttäuschungen war nichts für sie.

Sie traute sich nicht, vom Manuskript hochzuschauen. Nicht, weil sie enttäuscht werden könnte. Sondern weilsie wusste, dass sie nicht enttäuscht werden würde.

»Waoh«, kam es von einem der Techniker, »da bekommt das Mischpult ja sofort Gänsehaut.«

Damit ist es nicht alleine, dachte Nadine.

»Du meine Güte«, kommentierte die Frau in ihrem Rücken, die alles über die kleinen Lautsprecher an ihrem Sessel mithören konnte.

Und wenn wir uns dann alle wieder beruhigt haben, kann es ja losgehen, dachte Nadine und war erschrocken über die Galligkeit ihrer Gedanken. Das hatte sie nun davon, dass sie über das Ziel hinausgeschossen war mit ihrem albernen Antrag, den ihr keiner abnahm. Dass sie geglaubt hatte, ihr würde zustehen, wofür andere ihre rechte Hand gegeben hätten. Und überhaupt. Wohnhöhlenmensch versus Weltenwanderer, das war ganz offensichtlich völlig unvereinbar. Auf welchem Trip war sie an diesem Abend gewesen?

Ihr wurde noch ein Umstand bewusst. Die Erkenntnis ließ alle ihre Zellen pulsieren. Es war immer alles so verblüffend platonisch gewesen. Es hatte nie eine Berührung zwischen ihnen gegeben, die der Phantasie auch nur den kleinsten Vorschub hätte geben können. Nicht einmal, als sie in dem kleinen italienischen Restaurant zum »Du« übergingen. Es hatte immer diesen Abstand gegeben, diese Scheu. Auf ihrer Seite. Und was war es auf seiner?

»Also, äh«, stammelte die Mutter hinter Nadine, die sich langsam und selbst nach Fassung ringend zu ihr umdrehte. Sie räusperte sich, um überhaupt etwas sagen zu können.

»Gibt es ein Problem?«

»Nun ja, Ihnen ist schon klar, dass dieser Herr Noack meinem Sebastian die Show stehlen wird, oder?«

Nadine riss die Augen nach oben. Dann fixierte sie die Frau, die nervös und mit roten Wangen an ihrem viel zu engen Rock knibbelte. Sie spürte Gereiztheit in sich aufsteigen. Also gut, dann eben Gereiztheit. Irgendeines der vielen Gefühle musste ja aus dem Chaos ihrer strapazierten Synapsen hervorspringen.

»Ihr Sebastian wird bestens zur Geltung kommen«, sagte sie mit verbissenem Mund und drehte sich zurück zu ihrem Manuskript. Den tadelnden Blick ihres Sitznachbars verdrängte sie.

Nadine gab sich in den nächsten anderthalb Stunden als Profi, Serafin auch. Er war voll auf sein Manuskript und seine Rolle konzentriert. Er blickte nicht einmal zum Regieraum auf. Er suchte nur den Blickkontakt der anderen Sprecher, um die Dialoge lebendig wirken zu lassen.

»Sehr gut, meine Lie ...«, Nadine schluckte das letzte Wort herunter, »die Damen und Herren, Zeit für eine Pause.«

Sie griff nach ihrem Smartphone und verließ den Regieraum. Loriot trottete ihr lustlos hinterher. Mit langen Schritten eilte sie zum Ende des Flurs, das hinter einer Glastür lag. Sie wählte Lauras Nummer aus ihren Favoriten, während Loriot sich vor sie stellte und sie dabei beobachte.

»Da hat sich Nicole ja eine Knallerentscheidung erlaubt«, fauchte sie in ihr Telefon.

»Wieso ... Was ist denn?«

»Rate mal, wer hier als Ersatz für den Segeberg im Studio sitzt!«

Für einen Moment blieb es still in der Leitung.

»Oooh«, war Lauras einziger Kommentar.

»Ja, ziemlich oooh«, erwiderte Nadine und ließ sich auf eines der knallroten Ledersofas fallen.

Wieder entstand eine Pause, dann fragte Laura: »Ist das denn so schlimm?«

Nadine schnappte nach Luft, aber ihr fiel keine Erwiderung ein.

»Außerdem konnte Nicole das ja nicht wissen«, sprach Laura weiter, und Nadine musste ihr Recht geben.

»Na ja, auf jeden Fall habe ich jetzt den Salat. Die Rolle des Vaters ist eine der wichtigsten Rollen neben den vier Kids.«

»Hm«, machte Laura, »wer weiß, wofür es gut ist.«

Das klang ja richtig altklug, ging es Nadine durch den Kopf. Laura hatte in den letzten Monaten, in denen sie ihre Ausbildung bei Bohrkamp beendet und eine Ganztagsstelle angenommen hatte, immer mehr Selbstbewusstsein gewonnen. Außerdem hatte sie seit einiger Zeit einen Freund, der vor kurzem zu ihr gezogen war. All das hatte ihr Auftrieb gegeben. Der Vorfall mit Heiko war Vergangenheit. Was wohl aus dem unangenehmen Schürzenjäger geworden war, nachdem er den Job in Nadines altem Verlag verloren hatte?

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Laura.

»Meinen Job«, gab Nadine knapp zurück. In dem Moment sprang Loriot auf und wedelte wie wild mit dem Schwanz. Sie blickte unverwandt auf, um den Grund für seine plötzliche Gefühlsaufwallung zu sehen, und erschrak.

»Äh, ich muss Schluss machen«, sagte sie und drückte die Verbindung weg. Hinter der Glastür stand Serafin. Er sah noch besser aus als bei ihrer letzten Begegnung. Damals. Nein, sah er damals nicht schon genauso aus? Nadine fühlte sich wie in einem Wechselbad zwischen eiskaltem und kochend heißem Wasser.

»Störe ich?«, formten Serafins Lippen lautlos.

Nadine schüttelte leicht den Kopf, während sie heftig nicken wollte. Ja, er störte. Ihre Gedanken, ihr Seelenheil, ihr Leben. Er war die personifizierte Unschlüssigkeit ihrer eigenen Gefühlswelt, in der es so schön still geworden war.

Er öffnete die Glastür und kam in den Raum. Sofort sprang ihm Loriot mit überbordender Begeisterung entgegen. Serafin nahm auf der gegenüberliegenden Couch Platz, beugte sich vor, legte die Ellenbogen auf die Knie und verschränkte die Finger ineinander. Er starrte eine Weile auf seine Hände, an die Loriot seine Nase gedrückt hatte, dann sah er auf.

»Ich hätte es mir wirklich denken können«, raunte er.

»Ja, irgendwann mussten sich unsere Wege ...«, begann Nadine, aber das war ein ganz falscher Text. Überhaupt gab es jetzt keine Worte, die auch nur annähernd zur Situation passten.

Serafin schien es genauso zu gehen, er blickte wieder auf seine ineinander verknoteten Finger. Loriot hatte sich weiterhin schwanzwedelnd vor ihn hin hingelegt und blickte ihn erwartungsfroh an. Serafins Blick war leer. Beide schwiegen. Es war unverändert. Wie zwei Hunde, die sich umrundeten.

Sich nähernde Stöckelschuhschritte im Flur ließen beide unisono aufblicken. Sebastians Mutter kam auf sie zu. Mit einem sonderbaren Blick, der ausschließlich Serafin galt, öffnete sie die Glastür.

»Also, Herr ... Noack«, stammelte sie heiser, »Sie haben wirklich eine sagenhafte Stimme!«

»Danke«, erwiderte Serafin schlicht.

»Wäre es möglich ... Also, wäre es denkbar, dass Sie ...«, die Frau wurde in Sekundenschnelle tiefrot im Gesicht, »dass Sie meinem Sebastian ... also, äh ...«

»Ja, bitte?«

»... ein Autogramm geben würden?«

Die Frau reichte ihm ein Stück Papier und einen Stift.

»Selbstverständlich«, antwortete Serafin mit formvollendeter Flirtstimme. Er nahm den Zettel entgegen und schrieb etwas Längeres als nur seine Unterschrift darauf. Mit einem umwerfenden Lächeln gab er alles zurück.

»Danke«, brachte Sebastians Mutter hervor und stöckelte schon wieder von dannen. Die Glastür fiel hinter ihr ins Schloss.

»Das Autogramm war im Leben nicht für Sebastian«, murmelte Serafin, zog eine Augenbraue hoch und blickte Nadine dabei mit einem winzigen Schmunzeln in einem Mundwinkel an.

»Nein, niemals«, antwortete sie ebenso leise und erwiderte seinen Blick dabei. Aus Serafins Lächeln wurde ein breites Grinsen, er zog die Nase kraus und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dabei gluckste er in sich hinein. Nadine spürte, wie ihre Schultern ebenfalls zu zucken begannen. Nur wenige Sekunden später lachten beide laut heraus. Und sie bekamen sich nicht mehr ein. Die Absurdität der Situation kniff im Zwerchfell. Die Unaufgeräumtheit ihrer Beziehung, die irgendwie keine war, brach sich Bahn. Ein Wust an Gefühlen fand seinen Weg über die Tränendrüsen, die dem Lachen bald nicht mehr standhalten konnten. Loriot war aufgesprungen und tanzte zwischen den beiden hin und her. Irgendwann griff sich Nadine an den Bauch, der anfing zu schmerzen.

»Ich ... ich kann nicht mehr«, röchelte sie, »ich ....«, ein Schluchzen stieg in ihr hoch, sie schrieb es ihrem Lachanfall zu, »ich kann nicht mehr«, und dann weinte sie über ihre letzten Worte, »es geht nicht«, und jetzt war es wirklich kein Lachen mehr, »es geht einfach nicht, es wird nie gehen.«

Serafin verstummte.

»Hey«, flüsterte er.

»Nix hey«, brauste Nadine auf, »es geht einfach nicht.«

Sie sprang auf, rieb sich die Tränen aus dem Gesicht, sofort kamen die nächsten. Mit einem Satz war sie durch die Glastür, ein paar Meter weiter stürzte sie in die Damentoilette und beugte sich über eines der Waschbecken. Sie drehte den Wasserhahn auf und klatschte sich das eiskalte Wasser in ihr Gesicht. Sie schaute auf und besah sich ihr Spiegelbild.

»Na großartig«, kommentierte sie ihre verquollenen Augen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie Make-up und Wimperntusche trug. Nicht wasserfest. Hastig griff sie nach einem Papiertuch aus dem Spender an der Wand und rieb sich die schwarzen Streifen von den Wangen. »Der muss mich endgültig für eine Idiotin halten, ich verdammter Hohlkopf«, beschimpfte sie sich laut.

Erschrocken fuhr sie beim Geräusch einer Klospülung herum. Die Sprecherin aus dem Hörspielstudio kam mit erstauntem Gesicht aus einer der Kabinen.

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

Nadine fühlte sich an eine typisch amerikanische Filmszene erinnert, in der ganz offensichtlich schwerverletzte Menschen mit dieser völlig deplatzierten Frage konfrontiert wurden.

»Ja, alles bestens«, gab sie als Antwort, was genauso offensichtlich gelogen war wie die Reaktion der amerikanischen Schwerverletzten. Sie wischte mit einem weiteren Papier über ihr Gesicht, knetete ihre braunen Locken durch, dann drehte sie sich zur Tür. Was sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, wäre Serafin auf dem Flur.

Sie riss die Tür auf.

Vor ihr stand Serafin. Zu seinen Füßen hockte Loriot.

»Dein Handy«, sagte er mit ernstem Gesicht und hielt ihr das gesplitterte Etwas entgegen. Nadine schnappte sich das Gerät und rauschte an ihm vorbei zum Regieraum. Sie hörte, dass ihr jemand folgte.

»Ja, es gibt so Männer ... Aber man kann sie halt nicht alle haben, solche schon gar nicht«, sagte die Sprecherin in ihrem Rücken, »vielleicht tröstet Sie das.«

Nadine bekam Angst, die Frau für alle Zeiten hassen zu müssen. Sie stakste an ihren Platz. Loriot schob sich unter das Mischpult. Die Sprecher waren alle wieder im Studio. Bildete sie sich es nur ein oder schenkte die Sprecherin Serafin auf einmal besonders tiefe Blicke? Sie war eine attraktive Frau, wohl Anfang vierzig, also im gleichen Alter wie Serafin. Wie passend.

Neben ihrem Ärger auf sich selbst wurde sie auch noch auf die Sprecherin wütend. Was hatte diese vorhin noch gesagt?

Ja, es gibt so Männer ...

Aber man kann sie halt nicht alle haben.

Solche schon gar nicht.

»Frau Walters, sollen wir die Passage noch mal wiederholen?«

Ja, es gibt so Männer ...

Aber man kann sie halt nicht alle haben.

Solche ...

»Frau Waaalters, sollen wir die ...«

»Äh, ja, das sollten wir machen.«

Nadine schluckte ihre Dauerschleife im Kopf mühsam weg und sah durch die Studioscheibe.

»Sebastian, kannst du das ein bisschen ... äh ... weniger genervt rüberbringen? Und denk bitte an die Pause nach dem Einwand von Se ... deinem Vater.«

Hinter ihr räusperte sich Sebastians Mutter.

»Also, ich finde, das war doch schon sehr gut.«

Nadine drehte sich nicht um.

»Das war die zweitbeste Version, das geht noch ein bisschen besser«, sagte sie mehr zu dem Jungen als zu der Frau hinter sich.

Dann war die letzte Szene des Tages fertig. Nadine packte ihre Sachen so langsam, wie es nur irgendwie ging. Loriot roch den Braten und mahnte zur Eile, indem er schon zur Tür sprang. Unbeeindruckt wartete sie, bis sich der Studioraum geleert hatte. Sie nahm Loriot an die Leine und verließ mit gesenktem Kopf das Gebäude. Draußen war es immer noch warm. Loriot zappelte nervös, also ging Nadine erst einmal auf die Baumreihe an der Straße zu. Ein Pärchen mit einem Beagle kam ihr entgegen. Sie waren sich hier schon öfter begegnet, Nadine grüßte die drei. Loriot kreiste schnüffelnd um den anderen Hund herum.

Hinter ihr lachte jemand wenig amüsiert auf.

»Irgendwie erinnert mich das an uns.«

Nadines Magen machte einen Satz, sie biss sich auf die Unterlippe. Serafin trat an ihre Seite und schaute sie nach einer Weile sehr nachdenklich an.

»Warum machen wir das eigentlich?«, fragte er leise.

Nadine wollte dieses Gespräch nicht führen. Sie wollte nicht einmal hier mit ihm herumstehen.

»Das ist doch offensichtlich«, patzte sie zurück.

»Klär mich auf.«

»Ich bin damals übers Ziel hinausgeschossen, genau wie du vorher.«

Die vermeintliche Verlobung im Wohnzimmer ihrer Eltern stand vor ihrem inneren Auge. Das Schweigen der überraschten Gäste rauschte in ihren Ohren. Ihr eigener Anlauf eine knappe Woche später blitzte in ihr auf. Es wirkte alles so bizarr, jetzt, nach einem Dreivierteljahr.

»So siehst du das also? Was hast du dir damals denn dabei gedacht?«, fragte Serafin unvermittelt. Nadine fühlte sich ertappt.

»Glaub mir, das frage ich mich auch schon die ganze Zeit.«

»Ich werde nicht schlau aus dir.«

»Ein Blick in den Spiegel dürfte dir reichen.«

»Ach, die Nummer schon wieder«, Serafin klang aufrichtig verärgert, »wäre es dir lieber, ich würde mit einem Sack über dem Kopf herumlaufen?«

Nadine wurde rot.

»Äh. Nein. Natürlich nicht«, erwiderte sie kleinlaut.

»Was dann?«

Serafins Stimme war schneidend geworden. Nadine wusste keine Antwort. Loriot hatte derweil längst das Interesse an dem anderen Vierbeiner verloren und zog an der Leine, um den Weg fortzusetzen. Sein Bemühen blieb unbemerkt.

»Gut. Es hilft ja nichts, so kommen wir nicht weiter.«

Serafin drehte sich zu ihr hin, senkte seinen Blick tief in ihre Augen und kam ihr dabei sehr nah. Es war kaum zum Aushalten.

»Ich nehme deinen Antrag an, Nadine.«

Abrupt schwankte sie zwischen Lachen und Weinen und irgendetwas Hysterischem dazwischen.

»Wie ... was ...?«

»Schluss jetzt mit dem Herumlavieren. Ich bin es leid.«

Serafin blieb todernst, und Nadine jagte das einen gehörigen Schrecken ein. Das hier war keine Szene aus einem Roman, das war kein auswendig gelernter Text aus einem Hörbuch. Das hier war schlicht und ergreifend echtes, bisher ungeschriebenes Leben. Loriot hatte das Zergeln an der Leine aufgegeben und blickte nun neugierig zu den beiden Gestalten hoch.

»Erst habe ich einen Anlauf gewagt, dann du. Es ist nichts dabei herausgekommen. Soll Loriot für uns vielleicht den dritten Anlauf nehmen?«

Nadine zuckte mit den Mundwinkeln. Sie fand die Bemerkung lustig. Damit wurden die Widersprüche dieses Augenblickes unverdaubar groß.

Serafins Gesicht aus dieser Nähe war ... war so ... so nah. Sein herbes Aftershave umspielte ihre Nase. Beide blieben unbeweglich. Loriot legte sich derweil auf den Bauch und gab sich der Geduld hin.

Kam sie ihm näher?

Oder er ihr?

Was spielte das für eine Rolle.

Kein Feuerwerk. Kein Tusch. Keine Fanfare. Auch kein seichtes Spielfilmgeigengedudel. Es war einfach nur ganz still um sie herum.

Mit dem Kuss setzte ihr innerer Verdrängungsmechanismus ein. Einfach alles ausblenden, auch wenn unweigerlich der morgendliche Kater folgen musste. Es war ein gutes Gefühl für diesen Moment.

Serafin löste sich langsam von ihr.

»So«, flüsterte er, »damit ist das also klar. Jetzt werden wir ab diesem Level fortfahren. Ich wünsche dir eine entspannte Nacht.«

Ein tiefer Blick folgte, schon ging er davon. Einmal noch drehte er sich um, winkte lächelnd, entfernte sich dann weiter Richtung Parkplatz.

Nadine sah ihm nach, löste sich langsam aus ihrer Versteinerung, traute sich endlich wieder zu atmen. Jetzt war es passiert. Der Bann war gebrochen. Sie hatten die unsichtbare Grenze überschritten und sich berührt. Mehr noch. Sie hatten sich geküsst.

Nadine spürte, wie etwas in ihr anwuchs. Nur mühsam erkannte sie es. Es war ein sehr alter Begleiter, der schon lange nicht mehr bei ihr zu Besuch gewesen war und nun unverlangt eintrat, etwas genervt dabei wirkte, wo er schon so lange vor der Tür gewartet hatte. Das letzte Mal hatte er vor etwa einem Dreivierteljahr angeklopft. Aber sie hatte es nicht gehört. Oder sie hatte es nicht hören wollen. Der Gast in ihr hob wissend den Zeigefinger: Sie hatte sich verliebt.

Verliebt.

Was für ein Wort.

Dann jetzt wohl doch endlich.

Da gab es nichts dran zu rütteln.

So ist das Leben halt.

Es kommt, wie es kommt.

Was soll man machen?

Dann ist es eben so.

Ihr Gehirn spuckte unzählige weitere Plattitüden aus, während sie wie ein Schlafwandler zur Bushaltestelle tappte. Die folgende tief entspannte Nacht bestand ausschließlich aus Tagträumen.

3

Nadine stellte ihre Zahnbürste in den Becher vor dem Spiegel und spülte ihren Mund aus. Heute würde sie ein wenig mehr Make-up auftragen, denn die Nacht hatte kaum Schlaf geliefert. Sie konnte nicht leugnen, dass es noch einen anderen Grund gab. Sie stand vor ihrem Kleiderschrank und war für einen Moment unentschlossen. Kurze Jeansröcke und gestreifte Strumpfhosen waren immer weiter nach hinten gerückt. Jeans- oder Stoffhosen, Blusen und Halstücher waren jetzt ihre Wahl. Sie schmunzelte. Nein, sie verkleidete sich nicht mehr als kleines Mädchen.

Als sie an der Bushaltestelle auf ihre Linie wartete, summte ihr Handy.

S. Noack.

Sie schmeckte den Moment vom Vorabend auf den Lippen. Fast ohne Zögern nahm sie das Gespräch an.

»Send me an aaangel, send me an aaangel - right nooow!«

Nadine schüttelte sich. Singen konnte er wirklich nicht.

»Lass gut sein«, lachte sie, »ein einfaches Hallo hätte es auch getan.«

»Hallo.«

»Hallo«, gab sie einfallslos zurück, während sie den zischenden Türen des vorgefahrenen Busses entgegenging.

»Das wird ein harter Tag.«

Nadine eroberte einen Sitzplatz am Fenster.

»Warum?«

»Weil wir uns heute nicht sehen werden.«

»Warum?«, fragte Nadine und fühlte sich wie ein Papagei.