Hilfe, jetzt habe ich auch noch Erfolg - Katja Kerschgens - E-Book

Hilfe, jetzt habe ich auch noch Erfolg E-Book

Katja Kerschgens

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Beschreibung

In Nadines Leben könnte endlich Ruhe einkehren. Ihre Arbeit, ihr Privatleben - im Großen und Ganzen läuft alles prima. Wenn da nicht ihr Nachbar wäre. Und dessen Umtriebigkeit. Von jetzt auf gleich sieht sich Nadine einer neuen Heraus- forderung gegenübergestellt, der sie sich nicht gewachsen fühlt. Das hat sie nun davon, dass sie sich von ihren eigenen Erlebnissen zu einem Roman hatte inspirieren lassen. Jetzt könnten Fans ihre Wohnung stürmen, ein alter Bekannter sieht seine Chance auf Rache, und von allen Seiten wird sie mit ihrem eigenen Erfolg konfrontiert. Ihr Leben wird öffentlich, was nie ihr Plan gewesen war. Mehr noch: Ihre große Liebe wird enttarnt! Es entstehen elementare Fragen für sie: Was ist Erfolg? Braucht sie ihn, um glücklich zu sein? Und wieso hat sie mal wieder keiner gefragt ...?

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Zu Beginn

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

1

»Was machst du?«

Nadine brauchte eine Weile, bis sie das Geräusch knapp hinter sich als Stimme, schließlich als Sprache, endlich als Frage wahrnahm.

»Was machst du da, Nadine?«, kam es einen Tick drängender.

Sie warf den Kopf hoch und schnappte nach Luft wie ein Taucher, der durch die Wasseroberfläche bricht.

»Äh ... ich schreibe.«

»Und was genau?«

Serafin trat neben sie und schaute auf den Bildschirm ihres Laptops.

»Ach, nichts Besonderes«, wehrte sie gedankenverloren ab, während ihre Finger über die Tastatur flogen. Bis auf das Geräusch des Tippens blieb es lange still. Dann wurde ihr bewusst, dass er ihre letzten Zeilen mitlas. Sie erschrak darüber so sehr, dass sie beinahe den Laptop zugeklappt hätte.

»Was immer das werden soll, ich finde es sehr witzig«, sagte Serafin leise und küsste sie hinter dem rechten Ohr. Ein wohliger Schauer galoppierte von dort bis in ihren rechten kleinen Zeh.

»Findest du?«, fragte sie mit hörbarem Zweifel. Sie blickte auf den zuletzt geschriebenen Absatz.

»Ja, wirklich. Und es kommt mir ein bisschen bekannt vor.«

Nadine konnte nicht verhindern, dass ihr die Farbe ins Gesicht stieg.

»Das ist ... nee, ich ... das ist ...«, stammelte sie.

»Und was wird das nun?«

Nadine sah Serafin an, dann wieder ihren Text. Sie zuckte mit den Schultern.

»Wie viel hast du denn schon geschrieben?«

Sie blickte auf den unteren Rand des Bildschirms.

»194 Seiten«, sagte sie und konnte es selbst kaum glauben.

»Also keine Kurzgeschichte.«

»Ich weiß nicht.«

Serafin lachte und streckte einen Arm aus, den er mit großer Geste herumschwenkte.

»Du bist umgeben von Büchern und kannst keine Kurzgeschichte von einem Roman unterscheiden?«

Nadine zuckte mit den Schultern.

»Ach, das ist doch nichts. Hatte eben einfach Lust, ein bisschen was hinzuschreiben.«

»Wann ist das alles entstanden?«, fragte Serafin und setzte sich ihr gegenüber an den Esstisch. Seine Haare waren nass und tropften auf sein T-Shirt. Er roch nach dem neuen Duschgel, dass sie ihm vor ein paar Wochen geschenkt hatte.

»An den furchtbar langen, einsamen Abenden, wenn du unterwegs in fremden Städten warst«, sagte sie mit gespielter Theatralik in ihrer Stimme. Serafin grinste breit.

»Manche Frauen treiben sich dann lieber in Spelunken herum und suchen ein Abenteuer für die Nacht.«

Nadine streckte ihm die Zunge heraus.

»Du schließt von dir auf andere.«

Serafin machte ein ernstes Gesicht.

»Wenn du meinst.«

Er stand auf, drehte sich schwungvoll um und verschwand im Bad. Nadine atmete tief durch. Ihr rutschte es immer noch heraus, er konnte immer noch nicht damit umgehen. Beide hatten die Vergangenheit bis heute nicht abgehakt, jeder kaute auf seine Weise darauf herum. Eine dünne Schicht war darüber gewachsen, aber die Grasnarbe war löchrig. Stolpern war leicht. Blaue Flecken waren vorprogrammiert.

Und doch hatten beide Ja gesagt. Sie hatten das alles gewusst und sich aufeinander eingelassen. Nadine war stolz darauf, stellte sie trotzig fest. Sie stand auf und trat ins Bad, ohne anzuklopfen. Serafin kämmte sich die Haare, roch jetzt nach frisch aufgelegtem Aftershave.

»Der war doof, ich weiß«, sagte sie, dabei ihren Worten zum Trotz um einen sachlichen Tonfall bemüht. Er drehte langsam den Kopf zu ihr.

»Meins auch.«

Er lächelte.

»Heute Abend in die Bar?«

Nadine schnappte sich ein Handtuch und warf damit nach ihm. Die Bar. Sie war das Stellvertreterwort für all die Kämpfe im letzten Jahr. Für die Frauen, die Serafin unverändert umschwärmten. Für Nadines alte Zweifel an seiner Zuneigung zu ihr.

»Dafür darfst du mich heute Abend feudal zum Essen einladen!«, keifte sie mit einem Lachen in der Stimme. Serafin riss die Hände hoch, als wollte er sich vor einer schießwütigen Meute ergeben.

»Ja, okay, wird gemacht!«, rief er.

»Dann ist ja gut!«, setzte Nadine nach und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie blickte auf Loriot, der sich auf dem Ohrensessel eingerollt hatte. Sein weißes Fell bewegte sich langsam auf und ab. Er hatte ein neues Halsband an, auf dem zwischen zwei großen hellen Schmucksteinen in türkisfarbener Schrift auf dunkelblauem Leder Ach? Ach was?! stand. Ein Geschenk von Serafin, das er extra hatte anfertigen lassen. Nadine spitzte nachdenklich die Lippen. Mit Serafin war ein neuer Luxus in ihr Leben gezogen. Heute Abend würde sich Serafin nicht lumpen lassen und sicherlich eines der teuersten Restaurants der Stadt ansteuern. Nicht, ohne vorher mit seiner verführerischsten Stimme die Dame am Telefon davon zu überzeugen, dass er auf jeden Fall einen Tisch brauchte. Für zwei Personen. Heute. Es ginge schließlich um Leben und Tod. Oder so ähnlich. Die Inspiration aus den zahlreichen Büchern, die er in so vielen Jahren eingesprochen hatte, war schier endlos, sein Gedächtnis ebenso.

Es gab diese Momente, in denen Nadine sich vorkam wie eine Laus in Serafins Pelz. Sie hatten beide ihren Job, aber er hatte obendrein das Vermögen, das sein Vater ihm nach dem Verkauf seiner Firma noch zu Lebzeiten vermacht hatte. Nadine wusste nicht, wie groß es war, und sie hatte noch nie gefragt. Ob es irgendwann aufgebraucht war? Die Hotels, der flotte Wagen, allerlei anderes teures Männerspielzeug, die luxuriösen Abendessen, das musste ordentlich ins Kontor schlagen. Sie schüttelte den Kopf. Zahlen waren nicht ihre Welt. Im nächsten Moment saß sie wieder am Laptop und tippte weiter, versank sofort in der anderen Wirklichkeit.

»Darf ich die Künstlerin nochmal stören?«

Nadine sah auf, dann auf die Uhr auf ihrem Laptop. Wieder einmal waren über zwei Stunden einfach verschwunden. Sie hatte nichts davon gemerkt und spürte ein schlechtes Gewissen in sich aufsteigen.

»Sorry«, sagte sie leise, ließ den letzten Satz in ihrem Dokument unvollendet und speicherte die Datei ab. Sie klappte den Laptop zu.

»Ich wollte nur wissen, ob du eine Runde mitgehen willst.«

Ihr Blick fiel auf ihren Hund, der sie mit seinen hinreißenden Knopfaugen ansah. Selbst den hatte sie vergessen.

»Ja, klar ...«, sagte sie, schüttelte ihre letzten Gedanken aus dem Kopf, die um ihre Geschichte kreisten, und stand auf. Ihr Rücken machte ihr unmissverständlich klar, dass zwei Stunden Unbeweglichkeit keine gute Idee gewesen waren. Sie humpelte auf ihre Schuhe im Flur zu. Loriot sprang bereits der Leine entgegen, die Serafin in der Hand hielt.

Die frische Luft fühlte sich sie wie eine erfrischende Dusche für ihren abgelenkten Geist an. Sie atmete tief ein und schmiegte sich an Serafins Seite, der leise lachte.

»Dass du beim Lesen total versinkst, das kenne ich ja bereits, aber das mit dem Schreiben ist neu.«

»Mir auch«, gab Nadine zu und wusste weiter nichts dazu zu sagen. Es hatte vor Wochen angefangen, irgendwann hatte es das Lesen nahezu verdrängt. Da musste etwas aus ihr heraus.

»Vielleicht hört das auf, wenn die Geschichte fertig ist.«

Serafin lachte lauter.

»Habe ich das verlangt?«, fragte er und zog sie enger an sich.

»Nein«, gab sie zu und wunderte sich über sich selbst. Wem gegenüber hatte sie sich zu rechtfertigen?

»Lass uns die große Runde gehen«, schlug sie vor. Sie bogen in die nächste Straße ein. Loriot verstand sofort und zog mit größtem Enthusiasmus an der Leine.

»Wie sieht deine kommende Woche aus?«, fragte sie Serafin, der sein Smartphone zückte und darauf herumwischte.

»Hm«, machte er, »ab Mittwoch steht eine Doku an, bis dahin ... Honig gurgeln.«

Nadine grinste. Seine Synonyme für freie Tage waren hinreißend einfallsreich. Dann schaltete sie.

»Was für eine Doku?«, fragte sie.

Serafin zuckte unbestimmt mit den Achseln.

»Ach, was weiß ich, eine Fernsehdoku über irgendwas mit Zukunft des Internets oder sowas.«

»Eine Fernsehdoku?«

Nadines Stimme überschlug sich. Serafin schmunzelte, ohne sie anzusehen. Sie blieb stehen und stoppte auch ihn, indem sie ihn am Arm festhielt.

»Davon hast du mir ja gar nichts gesagt!«, rief sie und schwankte zwischen freudiger Überraschung und dem altbekannten, lästigen Argwohn. Serafin hatte regelmäßig Termine als Sprecher von Hörbüchern und Hörspielen, selten für eine Radiowerbung. Eine Fernsehdoku war neu.

»Wann wolltest du es mir sagen?«

»Habe ich doch gerade.«

Nadine verdrehte die Augen.

»Ja, aber ... Fernsehen! Das ist ... Wie bist du da drangekommen?«

»Hey, ich bin nur der Off-Sprecher, das ist auch nichts anderes als meine anderen Jobs.«

Nadine stemmte die Hände auf die Hüfte.

»Jetzt sag schon!«

Serafin zog die Augenbrauen zu einem Ausdruck der Verblüffung zusammen.

»Was denn? Wie ich immer an meine Jobs komme. Durch Empfehlung, durch ein paar Telefonate, dank meines betörenden Lächelns natürlich. Das Übliche eben.«

Nadines Argwohn wollte gewinnen. Als Hörbuchsprecher war er ein Geheimtipp. Aber Fernsehen? Sie würde ihn mit noch mehr Menschen teilen müssen. Andererseits war es ein Erfolg für ihn und seine Sprecherkarriere. Sie ärgerte sich, dass sie sich nicht vorurteilsfrei darüber freuen konnte. Am meisten fuchste sie, dass sich aufs Neue dieses eifersüchtige Misstrauen in ihr ausbreitete. Sie schloss kurz die Augen und atmete gegen den lästigen Impuls an. Hier stand ihr Ehemann, der sich vor einer Gruppe von Zeugen für sie entschieden hatte. Was wollte sie noch? Sie sah zu ihm hoch.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie lächelnd und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss, und Nadine gab sich dem guten Gefühl hin. Dabei spielte sie mit dem rechten Daumen an ihrem Ehering, um auch dem Rest ihres unnötigen Aufwallens entgegenzuwirken. Als sie weitergingen, fragte sie: »Sollen wir heute Abend nicht lieber zuhause bleiben? Wir könnten uns etwas Leckeres kochen.«

»Klar«, antwortete Serafin, »was haben wir denn da?«

Nadine stutzte. Der Kühlschrank war halb leer, die Geschäfte hatten zu. Ihr Vorschlag war ihren eifersuchtsgeschwängerten Nachwehen zu verdanken. Mit Serafin essen zu gehen, hatte etwas von einem Spießrutenlauf. Die Blicke der anderen, das war nicht einfach für sie. Für ihn gab es auffälliges Hinterherschauen, für sie ... tja. Wenn sie Glück hatte, wurde sie kaum bemerkt. An schlechten Tagen waren die Blicke abschätzig. Wie damals im Waschraum des Studios, als die Mutter von Sebastian ...

Sie schüttelte ihren Kopf. Schluss damit.

»Du hast Recht, Essen gehen ist gut«, ergab sie sich. Serafin tippte auf sein Handy ein, hielt es ans Ohr und sagte nach einer Weile: »Sie müssen mir helfen, ich stehe vor einem Dilemma. Wenn ich heute Abend keinen Tisch bei Ihnen bekomme, dann muss ich damit rechnen, die Liebe meines Lebens zu verlieren!«

Nadine knuffte ihn kraftvoll in die Seite, Serafin ließ sich nicht ablenken.

»Ja, heute Abend. Bitte retten Sie mein Leben«, er wehrte Nadines weitere Angriffe mit einer Hand ab und setzte mit seinem verführerischsten Bariton hinterher: »Ich weiß sonst nicht, was passieren wird.«

»Kannst Du nicht mal ganz normal einen Tisch bestellen wie andere Leute auch?«, fragte sie, als er nach seiner bühnenreifen Vorstellung sein Handy wegsteckte.

»Was war daran unnormal?«

»Das mit dem Leben retten und so ...«

»Wieso? War doch alles die reine Wahrheit. Ich will nichts riskieren.«

»Liebe meines Lebens?«, fragte Nadine und spürte ihr Herz bis in den Hals klopfen. Er sah ihr in die Augen.

»Irgendwelche Zweifel?«

Es blieb seine Art, seine Zuneigung indirekt zu zeigen. Nadine übte sich immer noch darin, sich daran zu gewöhnen.

»Was muss ich anziehen?«, fragte sie. Er schaute sie von oben bis unten an.

»Bleib so!«

Sie folgte seinem Blick. Eine alte Jeans, ein ausgewaschenes T-Shirt, die flusige Strickjacke. Es war ihr gewohnter Sonntagslook, gemütlich, praktisch, für die Öffentlichkeit nicht geeignet. Vielleicht gerade noch für einen unbeobachteten Hundespaziergang. Aber ganz bestimmt nicht für ein Restaurant der obersten Preisklasse. Sie dachte an den Tag zurück, an dem sie mit einem windigen Anwalt in einem teuren Restaurant gesessen hatte, die Angst vor dem Jobverlust im Nacken, vor sich ein Teller mit einer kunstvoll drapierten Köstlichkeit. Damals. Da war es völlig unvorstellbar, dass sie in noch teureren Restaurants logieren würde. In Begleitung eines umwerfenden Mannes.

Ihr Leben hatte eine kuriose Wendung genommen.

»Was lässt dich gerade lächeln?«, kam es von ihrer Seite. Sie fühlte sich ertappt.

»Ich versuche, mir vorzustellen, wirklich heute Abend in diesem Aufzug mitzukommen.«

»Na und? Solange wir zahlen können ...«

Der Satz ließ in Nadine etwas aufblitzen, das sofort wieder verlosch. Sie wusste, dass sie eine ganze Weile vor ihrem Kleiderschrank verbringen würde. Eine Sonntagsbeschäftigung, die immer öfter ihren alten Sonntag verdrängte. Sie drückte den anwachsenden Unmut weg. Worüber hatte sie sich zu beschweren? Sie hakte sich bei Serafin ein und schaute zu, wie Loriot von einem Baum zum nächsten trabte, seine Nase tief auf den Boden gesenkt. Sie blickte in die Baumkronen, die sich in den letzten Tagen in ein erstes helles Grün gekleidet hatten. Es war ein überraschend warmer Frühlingstag. Alles erwachte zum Leben, und sie empfand es als eine gute Idee, das mit dem Leben. Mit all seinem schmückenden Beiwerk. Her damit.

2

Die Woche begann mit dem Abschluss einer Hörspielaufnahme. Zufrieden bedankte sich Nadine am Nachmittag bei den Technikern und den beteiligten Sprechern. Sie schaute auf die Uhr. Heute würde sie früh zu Hause sein. Das traf sich gut, denn auf sie wartete ein Mann. Dieser Mann mit dieser Stimme, die Gänsehaut verursachen konnte, der so verboten gut aussah und sie gestern Abend nicht nur zu einem großartigen Abendessen eingeladen hatte. Der Nachtisch in den eigenen vier Wänden war ...

»Darf ich Sie was fragen?«

Nadine schreckte aus ihren Gedanken hoch. Vor ihr stand der kleine Moritz, der in dem Hörspiel einen altklugen Dreikäsehoch gesprochen hatte. Er hatte eine runde Brille auf der Nase und abstehende Ohren, was auch optisch zu seiner Rolle passte. Nadine mochte den Knirps, der sich mit viel Spiellaune auf die Studioarbeit eingelassen hatte. Da hatte sie beim Casting mal wieder den richtigen Riecher gehabt.

»`Tschuldigung«, nuschelte er jetzt und verkehrte sich damit ins Gegenteil der Figur, die er gemimt hatte, »geht das dann irgendwann weiter?«

Nadine musste einen Moment nachdenken, dann verstand sie seine Frage.

»Erst mal nicht, diese Geschichte ist heute abgeschlossen.«

»Ja, und andere Sachen?«

Er hatte zum ersten Mal bei Hörspielaufnahmen mitgemacht. Jetzt schien er Blut geleckt zu haben. Nadine lächelte ihn an.

»Wir haben dich in der Sprecherkartei«, sagte sie und merkte sofort, dass diese Antwort nicht altersgerecht war. Sie ergänzte schnell: »Wenn es was Neues gibt, dann werden wir auf jeden Fall gucken, ob du dabei sein wirst.«

Moritz war offenbar nicht ganz glücklich mit dieser Antwort, aber er fügte sich in sein Schicksal.

»Ja, okay«, zeigte er sich von seiner besten Seite und wackelte davon, seiner Mutter entgegen, die im Flur auf ihn wartete. Nadine nickte ihr freundlich zu, diese lächelte erst ihr, dann ihrem Sohn aufmunternd entgegen. Sie zogen von dannen und mit ihnen ein Stück Hoffnung auf Ruhm. Nein, das ist wahrscheinlich Unsinn, dachte Nadine. Aber die professionelle Studioatmosphäre verleitete die kleinen Sprecher und vor allem deren Eltern nicht selten zu einer solchen Vorstellung. Doch die Realität, neue Interessen und nicht zuletzt so mancher Stimmbruch standen dem meist entgegen.

»Willkommen in der Wirklichkeit«, murmelte sie, während sie ihr Smartphone aus der Hosentasche fingerte. Sie suchte die direkte Durchwahl von Dr. Bohrkamp.

»Verlag Bohrkamp, hier Bohrkamp.«

»Chef, wir sind durch«, sagte sie, während sie Handtasche und Hundeleine in die freie Hand nahm, »steht noch was an, oder ...?«

»Das kann man Ihnen nicht abgewöhnen, stimmt´s?«

»Was genau?«, fragte sie mit Unschuldsmine und wusste genau, wie dieser Dialog weitergehen würde.

»Studio oder Verlag, aber nicht zwei Dinge an einem Tag, so ...«

»Ja, so lautet die Regel, aber es ist immer einen Versuch wert.«

»Bis morgen.«

»Bis morgen«, lachte Nadine und drückte das Telefonat weg. Ja, sie konnte nicht aus ihrer Haut. Erst recht, wenn ein Arbeitstag so früh zu Ende ging. Andererseits hatte sie den besten aller Gründe, so schnell wie möglich diese heiligen Hallen zu verlassen. Sie spürte, wie ihr Magen einen kleinen Salto der Vorfreude machte, und musste bei dieser Gefühlsaufwallung an den Tag zurückdenken, als sie morgens als Erste im Studio gewesen war. Da hatte es sich genauso angefühlt. Und dann war Serafin hereingekommen und mit ihm der zweite Kuss. Doch je näher sie sich danach kamen, umso mehr hatten sie sich selbst im Weg gestanden. Jetzt waren sie verheiratet. Der Weg aufeinander zu war weit gewesen. Umso näher wollte sie ihm jetzt sein.

Vor dem Studio zückte sie erneut ihr Handy und wählte Serafins Nummer.

»Hallo«, war seine übliche schlichte Begrüßung, und natürlich war es das aufregendste Hallo aller Zeiten.

»Bin hier schon fertig«, sagte sie und atmete die frische Luft ein.

»Ups.«

»Wie, ups?«

»So früh?«

Nadine zog die Augenbrauen zusammen.

»Ja. Wieso? Ist was?«

»Hatte erst in ein, zwei Stunden mit dir gerechnet.«

Nadine spürte Unwillen in sich aufsteigen.

»Tja«, gab sie mit einer ordentlichen Portion Patzigkeit zurück, über die sie selbst erschrak, und überquerte den Parkplatz, »ist halt so.«

»Weißt du, ich habe noch ...«, druckste Serafin herum, »da ist noch ein Termin bei mir ...«

Nadine musste sich zusammenreißen, um nicht fuchsig zu werden.

»Was für ein Termin?«, fragte sie so ruhig wie möglich.

»Na gut, ich gebe es zu. Auf mich wartet ein Rendezvous. Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen, aber ...«

Nadine blieb stehen, ihr Herz setzte einen Schlag aus.

»Wie bitte?«, fragte sie tonlos.

»Sorry, aber diese Frau ist einfach entzückend und ...«

Die Sirene eines Krankenwagens heulte auf der Straße auf, Nadine hörte es mit dem freien Ohr und gleichzeitig in ihrem Handy.

»... da kann ich einfach nicht widerstehen.«

Bevor sie verstand, wie ihr geschah, hatte sie jemand von hinten um die Taille gefasst und sie schwungvoll umgedreht. Im nächsten Moment fand sie sich mitten in einem Kuss wieder.

»Orrr, Serafin!«, schimpfte Nadine, als er sich gelöst hatte. Sie ärgerte sich, dass er es regelmäßig schaffte, diesen Knopf bei ihr zu aktivieren.

»Wie lange wartest du schon ...?«

»Viel zu lange«, raunte er, dass es ihr durch und durch ging, »ich habe da eine sehr schöne Suite für uns beide reserviert und ...«

Er ließ den Satz unvollendet, denn er wusste, dass er damit bei Nadine bereits den nächsten Reflex ausgelöst hatte. Sie schluckte tapfer gegen die aufsteigende Standardreaktion an.

»Fahr uns einfach nach Hause«, sagte sie leise. Dieser Satz fühlte sich gut an, denn er wäre vor gut einem halben Jahr undenkbar gewesen.

»Ich kann dich gar nicht beeindrucken?«, spielte er den Enttäuschten.

»Du beeindruckst mich pausenlos«, erwiderte sie ernst.

Ein Strahlen erfüllte sein ebenmäßiges Gesicht. Oh ja, er blieb beeindruckend, auch nach all den gemeinsamen Monaten, die wie ein Traum an ihr vorbeigeflogen waren. Sie blieben ein denkbar ungleiches Paar. Als sie ihren Eltern gemeinsam eröffnet hatten, dass sie eine Woche später heiraten würden, waren diese blass geworden. Die Blicke ihrer skeptischen Tante auf ihrer Hochzeit hatten sich tief bei Nadine eingebrannt. Der Händedruck ihres neuen Schwagers war auffallend distanziert gewesen. Und doch stieg sie jetzt in Serafins Wagen, schmiegte sich in den Ledersitz und lachte mit ihm über seine freche Überraschung, während sie zu ihrem gemeinsamen Zuhause fuhren. War es nicht völlig egal, was andere über diese Konstellation dachten?

»Und? Ist es gut gelaufen heute?«

»Ja, bestens. Ich musste nur dem kleinen Moritz am Ende klarmachen, dass erstmal kein neues Hörspiel für ihn geplant ist.«

»Oh, armer kleiner Mann.«

»Vielleicht zerstöre ich gerade einen Kindertraum?«, überlegte Nadine laut und fühlte dem seltsamen Gedanken nach.

»Du Hexe, oh, du Satansbrut!«, intonierte Serafin den Inquisitor aus einem der letzten Hörbücher, das er eingesprochen hatte. Nadine lachte leise, dann setzte sie mit ernster Miene hinterher: »Na ja, so ein Kindheitstrauma ist schnell in den Kopf gesetzt. Ein falscher Satz - und dieser Mensch hat den Rest seines Lebens einen Glaubenssatz eingepflanzt, der seinen Weg bestimmt. Mir ist schon klar, wie viel Verantwortung ich in meinem Job habe.«

»Hast du das von deiner Freundin Fippsi?«, fragte Serafin, hielt an einer roten Ampel und sah Nadine mit zweifelndem Gesichtsausdruck von der Seite an. Sie schob die Schultern nach oben.

»Vielleicht. Ist nur so ein Gefühl, aber bei so kleinen, empfindlichen Seelen habe ich immer Angst, irgendwas falsch zu machen.«

»Tja.«

Die Ampel sprang von gelb auf grün, und Serafin fuhr mit quietschenden Reifen an. Er blieb ein großer Junge mit teurem Spielzeug, der das gerne zeigte. Beim Thema Gefühle war er ein einsilbiger Gesprächspartner. Nadines ehemalige Nachbarin Fippsi hatte ihr in einem ihrer vielen Telefonate klar gemacht, dass man einen anderen Menschen nicht ändern könne. Nadine sah Serafin an und schmunzelte. Es blieb genug über, was sie niemals an ihm ändern wollte. Über den Rest grübelte sie lieber alleine nach.

Sie schaute nach draußen auf die Stadt, die endlich ihr gefühltes Zuhause war. Mit Serafin war der Mann bei ihr eingezogen, den sie sich in ihrer alten Wohnung noch erträumt hatte. Damals. Dann tauchte er auf. Einfach so. Unfassbar. Später hatte er zu ihr im Bistro Capitale gesagt: »Kommen Sie bei Gelegenheit aus Ihrer Höhle heraus, draußen ist es gar nicht so schlimm, wie Sie befürchten.«Es hatte etwas gedauert, doch jetzt hatte sie diese Höhle wirklich verlassen.

Hatte sie doch, oder?

Sie sah Serafin an.

Oder hatte sie ihn umgekehrt in ihre Höhle gezogen?

Der Gedanke hinterließ ein seltsames Echo in ihrem Kopf. Sie spürte das Kribbeln in den Fingern, das neuerdings immer dann kam, wenn sie dringend weiterschreiben wollte.

»Was machen wir heute Abend?«, fragte sie so sachlich wie möglich.

Serafin lachte amüsiert auf.

»Oder mit anderen Worten: Du möchtest lieber schreiben.«

»Nein, ich ...«

Wieder lachte er.

»Schon gut, ich müsste auch noch mal die Texte für die Doku durchgehen. Wir werden uns wie ein altes Ehepaar gegenübersitzen. Früher schob man sich die Zeitungsteile hin und her, heute ...«, er bremste scharf, »hey, du Vollhorst, das mit der Vorfahrt lernt man in der ersten Theoriestunde!«

»Haben deine Eltern das so gemacht?«, fragte Nadine unvermittelt.

Er schüttelte den Kopf, legte den nächsten Gang ein.

»Nein, die ... Da erinnere ich mich wenig an Zweisamkeit«, er räusperte sich, »aber meine Großeltern, die haben das so gemacht. Die Eltern meines Vaters. Die waren überhaupt ein tolles Paar, die beiden«, er blickte Nadine an, dann schaute er zurück auf die Straße, »so wie die würde ich gerne alt werden, glaube ich.«

Nadine platzte das Herz. Sie musste nur genau hinhören, dann war seine Gefühlswelt nicht zu überhören. Das war gerade ein lauter Trompetenstoß gewesen.

»Okay, lass es uns versuchen«, flüsterte sie.

Zwei Stunden später standen mehrere Pappbecher vom Chinesen auf dem Esstisch, Nadine tippte in ihren Laptop, Serafin las in seinem Manuskript, im CD-Player lief Rockmusik, gespielt von einem Symphonieorchester. Ein musikalischer Kompromiss, mit dem sich Nadine gut arrangieren konnte. Irgendwann spürte sie seinen Blick und sah auf.

»Was ist?«, fragte sie.

»Liest du mir mal was vor von dem, was du da schreibst?«

Nadine schaute auf den Bildschirm vor ihr. Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Weil du es vorlesen solltest.«

Es war ein spontaner Gedanken gewesen, so spontan, dass sie ihn ausgesprochen hatte, bevor sie damit gänzlich einverstanden gewesen war. Serafin stützte sein Kinn auf die Hand.

»Warum?«

Nadine musste lachen.

»Warum wohl?«

»Das wäre das erste Mal, dass ich den Autor persönlich kenne.«

»Autorin. So viel Zeit muss sein.«

Serafin streckte die Hand nach dem Laptop aus, dann zog er sie wieder zurück.

»Nein, schicke es mir auf unsere Cloud, dann lese ich es vom Tablet. Das ist handlicher.«

Es wurde spät an diesem Abend. Irgendwann lagen sie beide im Bett, Serafin las immer noch vor, regelmäßig unterbrochen von seinem hinreißenden Lachen. Nadine lauschte verzückt seiner Stimme, ohne auf den Inhalt zu achten. Irgendwann schlief sie ein, dicht an Serafin herangekuschelt, eine Hand hatte sie aus dem Bett fallen lassen, mit der sie Loriot kraulte.

Sie war in der schönsten Höhle der Welt.

3

Es klingelte an der Wohnungstür, dann folgte ein Klopfzeichen, das den gleichen Rhythmus wie die ersten Takte von Beethovens fünfter Symphonie hatte.

»Komme schon«, rief Nadine in den Flur. Als sie die Tür öffnete, griemelte ihr Nachbar den entgegenstürmenden Loriot an.

»Sei gegrüßt, kleiner Knappe«, kicherte er, dann sah er hoch, »und auch Ihr, holde Maid. Ist es mir gestattet, in Eure Gemächer einzutreten?«

Nadine lachte.

»Ja, aber natürlich, edler Herr.«

Ernst Leisterbach sah sich im Wohnzimmer um, linste dann in die Küche.

»Und Euer Prinz, ist er ausgeritten?«

»Ja, er stürmt der nächsten Schlacht entgegen«, nahm Nadine das Bild auf, »das wird ihn noch ein paar Tage fernhalten.«

»Geht es diesmal gegen die Franzmänner?«

»Nein, diesmal in Sachen Fernsehdoku«, brach Nadine die Regeln ihrer Unterhaltung. Ernst nickte.

»Du wolltest mir etwas zeigen«, sprang auch er in die Gegenwart zurück. Nadine hatte lange überlegt, aber dann hatte sie an ihr erstes intensives Gespräch gedacht. Da war dieser Satz gewesen: »Wie zwei altersschwache Germanisten diskutieren wir, was ein Autor zu tun hat, und bringen selbst keinen zusammenhängenden Satz zu Papier.«Vielleicht waren diese Worte ihres Nachbarn damals der Auslöser, vielleicht auch sein Lachen im Bann ihrer Erzählungen. Was immer es gewesen war, jetzt lag ein dicker Stapel Papier auf dem Esstisch, zusammengehalten von einem breiten Gummiband. Er sollte es zu sehen bekommen, das war sie ihm irgendwie schuldig. Sie zeigte darauf.

»Ich hätte etwas Neues zu lesen.«

Ernst sah irritiert auf den Tisch.

»Und was ist das?«

Nadine sagte nichts, sondern wartete, bis Ernst seine Lesebrille höher schob und das Titelblatt las.

»Du meine Güte«, frohlockte er, riss sich dabei seine Brille von der Nase, um sie gleich wieder aufzusetzen. Er griff nach dem Papierstoß.

»Ist es das, was ich denke?«

Nadine lächelte verlegen.

»Bevor es im Schrank verschwindet, wollte ich es dir wenigstens mal zeigen.«

Ernst hielt das Bündel wie einen Säugling im Arm.

»Wenn es auch nur annähernd an das heranreicht, was ich bereits aus deinem berufenen Munde ...«

»Nein«, Nadine schüttelte heftig den Kopf, »es ist vielleicht ein bisschen inspiriert, aber eine andere Geschichte. Quasi.«

Ernst lachte.

»Kind, es ist doch gerade das wahre Leben, das zu den besten Geschichten inspiriert.«

Sie winkte ab.

»Schon gut, diese Erzählung ist mir so rausgerutscht. Lies es, und dann ist gut.«

Der alte Herr begutachtete den Ausdruck in seinen Händen.

»Darf ich das Werk behalten?«

Nadine lachte.

»Ja, sicher.«

Sie konnte das Manuskript jederzeit erneut ausdrucken, was sie aber nicht vorhatte. Es war geschrieben, das reichte ihr. Das Schreiben hatte ihr Spaß gemacht und ihr auf unterhaltsame Art die Verarbeitung des Erlebten versüßt. Jetzt war sie damit fertig, hatte innerlich mit allem abgeschlossen und sich entschieden, ihr Leben zu genießen. Nichts hinderte sie daran. Gar nichts. Und das war gut so.

»Du hast doch einen Scanner, sehe ich das richtig?«, riss sie Ernst aus ihren Gedanken. Nadine war verblüfft, dieser Begriff gehörte definitiv nicht in seinen Wortschatz.

»Äh, ja ...?«, antwortete sie vorsichtig, bereits darauf gefasst, ihm erklären zu müssen, was das ist. Sie konnte sich noch gut an seine offensichtliche Überforderung erinnern, als ihr Kollege Karl beim Einrichten einer E-Mail-Adresse geholfen hatte. Wenige Wochen später hatte sie nichts mehr davon gehört, keine Mails für ihn erhalten. Sie war sich sicher, dass er dieser fremden neuen Welt schnell wieder entsagt hatte. Seine Frage passte nicht in dieses Bild.

»Wunderbar. Dürfte ich mir den bitte mal ausleihen?«

Nadines Verblüffung steigerte sich weiter. Was brauchte ein Mann, dessen Leben zwischen jahrhundertealten Folianten stattfand, einen solch neumodischen Kram? Ihr Gesichtsausdruck schien sie zu verraten, denn Ernst begann, gurgelnd zu lachen.

»Amerika ist großartig!«, jubelte er.

Amerika? Ach ja, Amerika. Die neue Welt des Internets. Karl gegenüber hatten sie es so genannt. »Ernst hat dank dir gerade Amerika entdeckt, wenngleich er es noch für Asien hält«, hatte sie selbst gesagt. Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Ich verstehe nicht ...«

»Kannst du den Scanner mitsamt Kabeln in meine Kemenate mitbringen? Ich trage ja dein Erstlingswerk auf Händen.«

Nadine ging zu ihrem Scanner, löste das Stromkabel und rollte es zusammen mit dem Verbindungskabel um eine Hand. Sie wusste nicht, wofür das gut sein sollte. Ein einzelner Scanner war ohne Rechner ziemlich nutzlos. Okay, er hatte diesen USB-Anschluss, vielleicht wollte er dann damit seine Daten ... Stolz darauf, dass ihr diese Lösung eingefallen war, taperte sie ihrem Nachbarn hinterher, am Schluss der kuriosen Kette folgte Loriot in die Wohnung nebenan.

»So, hierher, auf den Tisch!«, ordnete Ernst an, der den Papierstapel in seinem Arm wie einen empfindlichen Gegenstand auf den Küchentresen legte.

Nadine blieb unvermittelt stehen. Auf dem Küchentisch stand ein Laptop. Ein Laptop? Hier? Das war ein Affront in diesen Räumen.

»Seit wann hast du den denn?«, fragte sie heiser.

Ernst drehte sich zu ihr um, folgte ihrem Blick, schaute überrascht.

»Eine ganze Weile«, sagte er wie nebenbei. Nadine stellte den Scanner daneben und sah sich das Gerät genauer an. Soweit sie das in ihrer Unkenntnis erkennen konnte, war es ein aktuelles Modell. Auf dem Bildschirm stolperte ein wirrer Bildschirmschoner umher.

»Dann wollen wir dein Schätzchen mal anschließen.«

Ernst setzte sich an den Tisch und fuhrwerkte mit fachmännischer Selbstverständlichkeit mit dem USB-Kabel herum, tippte den Laptop aus dem Schlaf und rieb sich dann die Hände.

»So, der Treiber wird automatisch gesucht, wir können also gleich loslegen.«

Nadine war weiterhin entgeistert.

»Was genau habe ich in letzter Zeit nicht mitbekommen?«

Ernst sah sie über seine Lesebrille hinweg an.

»Wieso?«

»Hallooo? In deiner Küche steht ein Stück Teufelsbrut, das waren vor nicht allzu langer Zeit deine eigenen Worte. Du hast ja nicht einmal die E-Mail-Adresse genutzt, die Karl für dich eingerichtet hatte.«

»Ich habe doch längst eine neue.«

Nadine ließ sich auf den anderen Küchenstuhl fallen.

»Du hast was ...?«

»Ja, Karl hat mir ...«

»Karl? Der, den du einen komischen Kauz genannt hast?«

Ernst grinste.

»Ja, dein Kollege, der auch auf eurer Hochzeit war. Da habe ich mir gleich mal seine Telefonnummer geben lassen.«

Nadine merkte, dass sie den Kiefer heruntergeklappt hatte. Ihr fehlte die Kraft, ihn zu schließen.

»Wir haben sicherlich ein interessantes Paar abgegeben. Zwei Käuze aus zwei völlig verschiedenen Sphären in einem Raum.«

Ernst kicherte, Nadine fand ihre Stimme wieder.

»Wieso weiß ich nichts davon?«

»Na, ich wollte euch nicht in euren Flitterwochen stören. Was sollte ein alter Kerl euch dauernd mit so einem Kleinkram behelligen? Und Karl hat mich bestens nach Amerika gebracht.«

Nadines Blick schnellte zwischen Laptop und Ernst hin und her. Sie spürte etwas völlig Unerwartetes in sich hochsteigen. Es war Eifersucht. Dass Ernst ihren Kollegen Karl ohne ihr Zutun kontaktiert hatte. Und viel schlimmer: Dass dieser alte Herr in so kurzer Zeit offenbar mehr technisches Know-how gelernt hatte, als sie in ihrem bisherigen Leben hatte lernen wollen.

»So schnell?«, fiel es aus ihr heraus.

»Alles eine Frage des Interesses, meine Liebe. Und der Notwendigkeit. Die Händler sind fast alle online, die wichtigsten Versteigerungstermine erfahre ich zeitnah durch die entsprechenden Newsletter. Mit einigen Fachkollegen skype ich regelmäßig. In ein paar Wochen wollte ich einen eigenen Blog starten.«

Diese Vokabeln aus diesem Mund, das war ein Kontrast, den Nadine mental kaum bewältigen konnte. Übergangslos musste sie an ihre Tante Helga denken, die wie selbstverständlich im Internet surfte und dadurch damals Serafin ausfindig gemacht hatte. Wodurch die erfundene Mietmann-Geschichte aufgeflogen war. Selbst die Ältesten tummelten sich in einer Welt, zu der sie selbst immer noch Abstand hielt, als könne man sich daran eine Infektion holen.

»Was warst du früher nochmal von Beruf? Ingenieur, stimmt´s?«

Sie merkte, dass sie eine Ausrede suchte, um ihr eigenes Desinteresse an diesen vielfachen technischen Möglichkeiten rechtfertigen zu können.

»Manchmal hilft die eigene Vergangenheit«, lachte Ernst und machte sich am Scanner zu schaffen, »so, an welche Kante lege ich jetzt das Dokument?«

»Keine Ahnung«, trotzte Nadine und verschränkte die Arme vor der Brust. Ernst hielt in seinem Tun inne.

»Nanu? Aus welchem Grund wird nunmehr die Prinzessin auf der Erbse gegeben?«

»Ich weiß es halt nicht, ich habe das Ding vielleicht einmal benutzt. Serafin kann dir sicher helfen, aber der ist erst am Wochenende wieder zurück.«

Ernst schob seine Brille zurecht und beäugte das Gerät genauer.

»Ah, ich sehe schon, da sind ja die entsprechenden Symbole.«

Er legte ein offenes Buch auf das Glas und schloss vorsichtig den Deckel. Dann wandte er sich seinem Laptop zu.

»Wo ist das Programm zum Scannen? Warte, wie war das noch ...? Arbeitsplatz, Programme, ah ja«, murmelte er, während er eifrig den Finger über das Touchpad hin- und herflitzen ließ, »da, ja. So, jetzt exe suchen ...«

Nadine fühlte sich in mehrfacher Hinsicht überflüssig.

»Äh. Brauchst du mich noch?«

Es dauerte einen Moment, bis sich Ernst aus seiner Konzentration löste. Er nahm seine Hand zurück und setzte eine Miene der Entschuldigung auf.

»Meine Liebe, das war tatsächlich unhöflich von mir. Vielleicht sollten wir jetzt erstmal einen Kaffee zusammen trinken, und du erzählst mir alles über deine Geschichte, die du mir gegeben hast.«

Nadine schüttelte den Kopf. Sie hatte dringend zu verarbeiten, was sie gerade erfahren hatte, und suchte eine Ausflucht.

»Lass mal, ist schon gut«, nuschelte sie, »wollte noch einkaufen und so.«

Ernst sah sie mit einem Blick an, mit dem sie sich bis auf die Knochen durchschaut fühlte. Er nickte und grinste.

»Holde Maid, so ziehet dahin, auf dass Euer Weg mit Rosen bestreut sein wird.«

»Ja, so in der Art«, erwiderte sie phantasielos und verließ die Wohnung, um in ihre eigene zurückzukehren. Dort starrten sie ihre Bücherregale missmutig an. Glaubte sie. In Wahrheit war es ihr eigenes schlechtes Gewissen, das sie finster musterte. Sie hatte keinerlei Ansprüche an das Leben ihres Nachbarn zu stellen. Aber sie war dennoch beleidigt.

Und, ja, das war albern.

Sie trottete auf Mr. Snug zu und ließ sich in seine Polster fallen, bereit, sich über sich selbst zu ärgern. Aber der Trotz gewann die Oberhand. Sollten andere in die große, weite Welt hinausziehen. Sie blieb ein Höhlenmensch. Basta. Der Gedanke fühlte sich gut genug an, dass sie neben sich ein Buch vom Beistelltischchen greifen konnte. Bis zum Wochenende hatte sie genug Zeit, um den dortigen Stapel zu schaffen. Nach ihrem Schreibtrip war einiges liegen geblieben, sie hatte gehörig aufzuholen. Sie schlug die zuletzt gelesene Seite auf und verschwand in der Welt eines fremden Menschen, der sich diese Geschichte erdacht hatte. Sie dankte ihm innerlich dafür. Schön, dass es diese Menschen gab. Sie gehörte zu denen, für die diese Autoren schrieben. So hatte alles seine Ordnung.

Als sie das nächste Mal aufschaute, war es zu spät, um einkaufen zu gehen. Nicht, weil die Läden geschlossen hatten, denn ein Supermarkt zwei Straßen weiter hatte bis in den späten Abend geöffnet. Es war zu spät für ihre Motivation, sich jetzt neben Tiefkühltheken und Quengelware in lange Kassenschlangen einzureihen. Als Loriot seine Pfote auf ihr Knie legte, war das immerhin Motivation genug, vor die Tür zu gehen. Sie schlüpfte in Jacke und Schuhe, während Loriot bereits die Wohnungstür belagerte. Als sie diese von außen abschloss, fiel ihr Blick auf den benachbarten Klingelknopf. Das schlechte Gewissen schmeckte nach, und sie klopfte an die Tür.

»Möchtest du die Runde mitgehen?«, fragte sie Ernst, als dieser öffnete.

»Fürwahr, holde Maid, lasst mich nur eben Mantel und Degen holen«, antwortete er, über seine eigene Antwort genügend amüsiert, dass sein Kichern bis vor die Haustür anhielt. Er deutete mit seinem Spazierstock die Straße hinunter.

»Sagt mir den Weg an, edles Burgfräulein«, forderte er Nadine auf, »welche hohle Gasse sollen wir wählen?«

Nadine gab sich einen Ruck.

»Es tut mir leid wegen vorhin«, gab sie sich kleinlaut. Ernst schüttelte den Kopf.

»Nein, lass das bitte. Da haben mich alten Knaben alle guten Manieren verlassen.«

»Blödsinn«, protestierte Nadine, »ich hatte nur ...«

Ernst hob die freie Hand.

»Genug der Worte. Lass uns zurückkehren in die gemeinsame Welt.«

Sie nickte, lächelte und hakte sich bei ihm unter.

»Erzähl mir, wovon dein Blog handeln soll!«, forderte sie ihn auf, während sie sich in Bewegung setzten.

»Ach, was Sammler eben so von sich geben. Ich habe da zwei interessante Werke in meiner Sammlung, über die ich genauer recherchiert habe. Dabei kam zutage, dass sie eine Besonderheit aufweisen. Bücher aus der Zeit um siebzehnhundertdreißig haben normalerweise ...«

Ernst war in seinem Element, und Nadine hörte ihm mit wachsender Begeisterung zu. Später schnorrte sie sich eine Handvoll Käse bei ihrem Nachbarn zusammen, den sie zusammen vor seinem Laptop verspeisten. Anderthalb Flaschen Rotwein später fiel Nadine auf ihr Bett, das sie mit Serafins Geruch empfing. Die Welt war wieder in Ordnung, nur der erschreckend laute Wecker am nächsten Morgen setzte ihrem guten Gefühl einen Dämpfer auf und ließ ihren Kopf dröhnen. Hatte sie sich nicht schon vor längerer Zeit vorgenommen, beim Rotwein zurückhaltender zu werden? Das hatte ganz offenbar nicht geklappt. Egal. Der Rest funktionierte tadellos. Und das mit dem Blog von Ernst würde sie verfolgen. Es wäre doch gelacht, wenn sie nicht mit ihm Schritt halten könnte.

Zumindest lesen würde sie ihn.

Bei diesem Gedanken fiel ihr siedend heiß ein, dass sie schon länger nicht mehr auf ihr Handy gesehen hatte. Während sie mit einer Hand die Zähne putzte, rief sie mit der anderen ihre SMS auf. Tatsächlich. Serafin hatte ihr gestern fünf Stück geschickt.

»Verflixt«, rief sie und sprühte mit dem Wort einen Regen aus Zahnpasta auf den Spiegel. Das war der Rotwein schuld gewesen. Und die Entdeckung von Amerika. Sie spülte den Mund aus und schrieb an Serafin: War bei Ernst. Hatte das Handy nicht mit. Daher keine Antwort. Sorry! Kuss!!!

Sie war gerade mit Anziehen fertig, als ihr Smartphone eine eingehende SMS ankündigte.

Es trifft mich, dass es Männer gibt, die dir wichtiger sind.

Sie verzog amüsiert den Mund. Nein, diesmal würde sie nicht in die Falle tappen.

Es gibt nur einen, der mir wichtiger ist, schrieb sie zurück.

So? Wer denn?

Ich überlege noch.

Pffff.

Nadine grübelte, was sie als Nächstes antworten sollte, da kündigte ihr Handy einen Anruf an. Auf dem Display stand S. Noack.

»Nicht böse sein, aber er hatte so viel neues Spielzeug«, begrüßte sie ihn, »und dann hat er mich auch noch mit Rotwein verführt.«

»Da werde ich mit Ernst mal ein ernstes Wörtchen reden müssen!«, sagte Serafin mit Grabesstimme.

»Sei lieb zu ihm, er ist ein netter alter Mann«, schäkerte Nadine, »und ganz harmlos.«

»Das kann Tarnung sein!«

»Wusstest du, dass er einen Laptop hat und demnächst einen Blog starten will?«

Serafin gluckste.

»Wir reden von dem gleichen Mann?«

»Demselben sogar.«

»Nein, seit wann?«

»Seit einiger Zeit offenbar. Ich fand diese Entdeckung richtig unheimlich.«

»Wo wir wieder beim Thema Tarnung wären ...«

Nadine musste lachen, Serafin stimmte ein.

»Wie läuft es bei dir?«, fragte sie kichernd.

»Die Studioleiterin ist eine Wucht.«

»Sicherlich auch nur Tarnung.«

Ihr tat noch der Bauch vom Lachen weh, als sie längst im Bus auf dem Weg zum Verlag saß. Wenn sie ihre Empfindlichkeiten ignorierte, waren die Schlagabtausche mit Serafin schlicht und ergreifend witzig. Sie musste sich nur die gemeinsame Vorgeschichte wegdenken. Dann ging es.

4

»Spreche ich mit Nadine Walters?«

»Ja?«, antwortete sie vorsichtig.

»Schön, dass ich Sie erreiche!«

Ein solcher Satz führte normalerweise dazu, dass Nadine sofort auflegte. Auch jetzt vermutete sie ein Callcenter hinter dem Anruf. Die Dame am anderen Ende sprach schnell weiter. Ihr nächster Satz ließ Nadine erstarren.

»Vielen Dank, dass Sie uns Ihr Manuskript zugeschickt haben.«

»Was habe ich?«

»Wir haben ihren Text mit großer Begeisterung gelesen und wollen das Buch in unserer Frauen-Reihe herausbringen.«

»Was wollen Sie?«

»Eine wunderbare Geschichte, wir sehen sehr viel Potenzial. Haben Sie schon andere Verträge vorliegen? Wir sind bereit, zu verhandeln. Wie haben Sie sich die Vermarktung genau vorgestellt? Ich nehme an, es soll unter Ihrem Namen erscheinen. Oder bevorzugen Sie ein Pseudonym? Es ist Ihr Erstlingswerk, oder?«

»Wovon reden Sie?«

Nadine hatte die letzten Worte so laut in den Hörer gerufen, dass die Dame am anderen Ende kurz verstummte.

»Oh, Entschuldigung. Vor lauter Eifer habe ich gar nicht meinen Namen gesagt. Ich heiße Susanne Metternich vom Reynoldt Verlag.«

»Was für ein Manuskript?«, hakte Nadine erneut nach, während in einem anderen Teil ihres Kopfes bereits eine Antwort aufleuchtete, die ihr gar nicht gefiel.

»Sie sind doch Nadine Walters?«

»Fast.«

Nadine biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte umständlich überlegt, ob sie Serafins Namen annehmen sollte. Am Ende war es ein Doppelname geworden, und es fühlte sich immer noch seltsam an. Nadine Noack-Walters hatte etwas von Erzieherin in der Kita oder Grundschullehrerin. Eine mit großer Brille und langem Rock, auf dem ein fleckiges Batikmuster ihre friedvolle Gesinnung in Farbe umsetzte. Gut, das war nicht fair. Es gab auch Grundschullehrerinnen ohne Doppelnamen. Zumindest heutzutage. Wahrscheinlich.