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Wie ein Held wirkt er nun wirklich nicht: Pater Brown ist unscheinbar, unbeholfen, dicklich, kurzsichtig, hat einen riesigen Kopf und macht einen etwas einfältigen Eindruck. Noch dazu ist er Priester. Doch unterschätzen sollte man den Geistlichen aus Essex keinesfalls. Gesegnet mit reichlich Menschenverstand (und göttlichem Beistand), hat Pater Brown noch jeden Verbrecher überführt, wenngleich er die Strafe oftmals der göttlichen Gerichtsbarkeit überlässt. Und als katholischer Geistlicher weiß er mehr über die Sünden, die Abgründe der Menschen, über das Böse als seine säkularen Kollegen Holmes, Poirot oder Marple. Was ihn das Böse auf Erden ertragen lässt? Sein Humor – und der hat es in sich. In diesem Band sind zwölf Fälle des wohl ungewöhnlichsten Ermittlers der Kriminalliteratur versammelt.
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Seitenzahl: 410
Gilbert Keith Chesterton
Pater Brown ermittelt
Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs und Julian Haefs
Kampa
Zwischen dem silbernen Band des Morgens und dem grün glitzernden Band der See legte das Schiff in Harwich an und entließ einen Schwarm Menschen wie Fliegen, darin der Mann, dem wir folgen müssen, keineswegs auffällig war – und es auch nicht zu sein wünschte. Nichts an ihm war bemerkenswert, außer einem leichten Gegensatz zwischen der Ferienfröhlichkeit seiner Kleidung und der Amtsgewichtigkeit seines Gesichts. Seine Kleidung bestand aus einer leichten hellgrauen Jacke, einer weißen Weste und einem silberfarbenen Strohhut mit graublauem Band. Sein hageres Gesicht war im Gegensatz dazu dunkel und endete in einem kurzen schwarzen Bart, der spanisch aussah und nach einer elisabethanischen Halskrause verlangte. Er rauchte eine Zigarette mit der Ernsthaftigkeit eines Müßiggängers. Nichts an ihm deutete auf die Tatsache hin, dass die graue Jacke einen geladenen Revolver verdeckte, dass die weiße Weste einen Polizeiausweis verdeckte oder dass der Strohhut einen der klügsten Köpfe Europas bedeckte. Denn es handelte sich um Valentin selbst, den Chef der Pariser Polizei, den berühmtesten Detektiv der Welt; und er war von Brüssel nach London unterwegs, um den größten Fang des Jahrhunderts zu machen.
Flambeau war in England. Der Polizei dreier Länder war es endlich gelungen, die Spur des großen Verbrechers zu verfolgen: von Gent nach Brüssel, von Brüssel nach Hoek van Holland. Nun wurde vermutet, dass er sich die Ungewohntheit und den Trubel des Eucharistischen Kongresses zu Nutze machen würde, der gerade in London stattfand. Vermutlich würde er als einfacher Geistlicher oder damit befasster Sekretär angereist kommen; aber dessen konnte sich Valentin natürlich nicht sicher sein; bei Flambeau konnte niemand sicher sein.
Viele Jahre ist es jetzt her, seit dieser Gigant des Verbrechens unvermittelt davon abgelassen hat, die Welt in Aufruhr zu versetzen; und da war, wie es nach dem Tod von Roland[1] hieß, eine große Stille auf Erden. In seinen besten Tagen aber (ich meine natürlich, in seinen schlimmsten) war Flambeau eine so prominente und internationale Figur wie der Kaiser[2]. Nahezu jeden Morgen berichtete die Zeitung, dass er sich den Folgen des einen außerordentlichen Verbrechens entzogen hatte, indem er ein anderes beging. Er war ein Gascogner von riesiger Gestalt und größtem Wagemut, und man erzählte sich die wildesten Geschichten über die Ausbrüche seines athletischen Humors; wie er den juge d’instruction[3] umdrehte und auf den Kopf stellte, »um ihm den Geist zu klären«; wie er die Rue de Rivoli hinabstürmte mit einem Polizisten unter jedem Arm. Man muss ihm freilich zugestehen, dass er seine phantastische Körperkraft in erster Linie bei solch unblutigen, wenngleich würdelosen Auftritten einsetzte; seine wirklichen Verbrechen waren hauptsächlich solche der genialen und groß angelegten Räuberei. Doch jeder seiner Diebstähle war fast eine neue Sünde und würde eine eigene Geschichte abgeben. Er war es, der die große Tiroler Molkereigesellschaft in London betrieb: ohne Molkerei, ohne Kühe, ohne Milchwagen, ohne Milch, aber mit einigen tausend Kunden. Er bediente sie auf die einfachste Weise dergestalt, dass er die kleinen Milchkannen vor anderer Leute Türen wegnahm und vor die seiner Kunden stellte. Er war es, der mit einer jungen Dame eine unerklärliche und enge Korrespondenz unterhielt, obwohl deren Posteingang überwacht wurde, indem er sich des außerordentlichen Tricks bediente, seine Botschaften unendlich klein auf die Plättchen eines Mikroskops zu fotografieren. Viele seiner Unternehmungen waren jedoch von umwerfender Einfachheit. So wird erzählt, dass er einmal mitten in der Nacht alle Hausnummern einer Straße ummalte, nur um einen bestimmten Reisenden in eine Falle zu führen. Sicher aber ist, dass er einen tragbaren Briefkasten erfand, den er in ruhigen Vorstädten aufstellte für den Fall, dass Ortsfremde Geldanweisungen hineinwürfen. Schließlich war er auch als erstaunlicher Akrobat bekannt; trotz seiner mächtigen Gestalt konnte er springen wie ein Heuschreck und in Baumkronen verschwinden wie ein Affe. Daher denn der große Valentin, als er daranging, Flambeau zu fassen, sich völlig klar darüber war, dass seine Abenteuer nicht damit beendet sein würden, dass er ihn fand.
Wie aber sollte er ihn finden? Dazu waren des großen Valentins Gedanken noch im Prozess der Klärung.
Eine Sache gab es, die Flambeau trotz all seiner Meisterschaft im Verkleiden nicht verdecken konnte, und das war seine einzigartige Größe. Hätte Valentins scharfer Blick irgendwo eine große Äpfelfrau, einen großen Infanteristen oder auch nur eine einigermaßen große Herzogin entdeckt, er hätte sie wohl auf der Stelle verhaftet. Aber in seinem ganzen Eisenbahnzug gab es niemanden, der ein verkleideter Flambeau hätte sein können, so wenig wie eine Katze eine verkleidete Giraffe sein kann. Hinsichtlich der Menschen auf dem Schiff hatte er sich bereits vergewissert; und in Harwich oder auf der Fahrt waren höchstens sechs Menschen hinzugekommen. Da war ein kleiner Eisenbahnbeamter, der zur Endstation fuhr, drei ziemlich kleine Gemüsegärtner, die zwei Stationen später zugestiegen waren, eine sehr kleine verwitwete Dame, die aus einer kleinen Stadt in Essex kam, und ein sehr kleiner römisch-katholischer Priester, der aus einem kleinen Dorf in Essex kam. Als er zu diesem letzten Fall kam, gab Valentin auf und hätte fast gelacht. Wahrlich war der kleine Priester[4] die Essenz der östlichen Ebenen: Er hatte ein Gesicht so rund und stumpf wie ein Norfolk-Kloß; er hatte Augen so leer wie die Nordsee; er hatte mehrere Pakete in braunem Packpapier bei sich, deren er kaum Herr wurde. Der Eucharistische Kongress hatte zweifellos viele solcher Geschöpfe aus ihren jeweiligen Versumpfungen herausgerissen, blind und hilflos wie ausgegrabene Maulwürfe. Valentin war ein Skeptiker der strengen französischen Schule und konnte für Priester keine Zuneigung aufbringen. Aber er konnte Mitleid für sie aufbringen, und dieser hier hätte Mitleid in jedem erweckt. Er hatte einen großen schäbigen Regenschirm bei sich, der ständig auf den Boden fiel. Er schien nicht zu wissen, welches der richtige Abschnitt seiner Rückfahrkarte war. Er erzählte mit der Einfalt eines Mondkalbes jedem im Wagon, dass er vorsichtig sein müsse, denn er habe etwas aus echtem Silber »mit blauen Steinen« in einem seiner braunen Packpapierpakete. Diese ungewöhnliche Mischung aus Essex-Plattheit und heiligmäßiger Einfalt amüsierte den Franzosen auch weiterhin, bis es dem Priester (irgendwie) gelang, in Stratford mit all seinen Paketen auszusteigen, und er dann wegen seines Regenschirms noch mal zurückkam. Bei dieser Gelegenheit war Valentin sogar gutmütig genug, ihn zu warnen, er solle seine Sorge um das Silber nicht dergestalt verwirklichen, dass er jedem davon erzähle. Mit wem immer Valentin aber auch sprach, ständig hielt er Ausschau nach jemand anderem; ständig suchte er nach jemandem, reich oder arm, Mann oder Frau, der wenigstens sechs Fuß groß war; denn Flambeau maß vier Zoll darüber.
Er stieg in Liverpool Street aus und war sich ganz sicher, dass er den Verbrecher bisher nicht verpasst hatte. Danach ging er zu Scotland Yard, um seinen Status zu klären und für den Notfall Unterstützung zu organisieren; er zündete sich eine weitere Zigarette an und unternahm einen langen Spaziergang durch die Straßen Londons. Als er die Straßen und Plätze jenseits Victoria durchwanderte, hielt er plötzlich inne und blieb stehen. Es war ein heimeliger ruhiger Platz, sehr typisch für London, erfüllt von einer zufälligen Stille. Die hohen glatten Häuser ringsherum sahen zugleich wohlhabend und unbewohnt aus; das Viereck aus Gebüsch in der Mitte wirkte so verlassen wie ein grünes Inselchen im Pazifik. Eine der vier Seiten war viel höher als die anderen, wie eine Estrade; und die Front dieser Seite wurde durch einen der wundersamen Londoner Zufälle unterbrochen – ein Restaurant, das aussah, als habe es sich von Soho hierher verirrt. Es war eine unerklärlich anziehende Stätte, mit Zwergpflanzen in Töpfen und langen, gestreiften Jalousien in Zitronengelb und Weiß. Sie lag besonders hoch über der Straße, und in der für London üblichen Flickwerkweise führte eine Stufenflucht von der Straße hinauf zur Eingangstür, fast so, wie eine Feuerleiter zu einem Fenster im ersten Stock hinaufführt. Valentin stand und rauchte vor den gelbweißen Jalousien und betrachtete sie lange.
Das Unglaublichste an Wundern ist, dass sie geschehen. Am Himmel fügen sich einige Wolken in die Form eines staunenden menschlichen Auges zusammen. In der Landschaft erhebt sich während einer zweifelhaften Fahrt ein Baum in der genauen, kunstvollen Form eines Fragezeichens. Ich habe beides während der letzten Tage selbst gesehen. Nelson stirbt im Augenblick des Sieges; und ein Mann namens Williams ermordet ziemlich zufällig einen Mann namens Williamson, was wie nach Kindsmord klingt. Kurz: im Leben findet sich ein Element zauberischer Zufälligkeit, das Menschen, welche mit dem Prosaischen rechnen, ständig verpassen. Poe hat das in seinem Paradox hervorragend ausgedrückt: Weisheit sollte mit dem Unvorhergesehenen rechnen.
Aristide Valentin war unermesslich französisch; und die französische Intelligenz ist reine und ausschließliche Intelligenz. Er war keine »Denkmaschine«[5]; das ist eine hirnlose Phrase des modernen Fatalismus und Materialismus. Eine Maschine ist nur deshalb eine Maschine, weil sie nicht denken kann. Er aber war ein denkender Mann, und ein normaler Mann zugleich. All seine wunderbaren Erfolge, die wie Zauberstücke aussahen, waren durch mühselige Logik, durch klares und gewöhnliches französisches Denken errungen worden. Die Franzosen erregen die Welt nicht, indem sie ein Paradox auf den Weg bringen, sondern indem sie eine Alltäglichkeit verwirklichen. So weit treiben sie ihre Alltäglichkeiten – wie in der Französischen Revolution. Gerade weil aber Valentin die Vernunft verstand, verstand er auch die Grenzen der Vernunft. Nur wer von Motoren nichts versteht, spricht vom Autofahren ohne Benzin; nur wer nichts von Vernunft versteht, spricht von Vernunft ohne feste unbestrittene Grundsätze. Hier hatte er keine festen Grundsätze. Flambeau war in Harwich nicht gefasst worden; und wenn er sich überhaupt in London aufhielt, mochte er alles Mögliche sein, von einem großen Landstreicher auf den Wiesen von Wimbledon bis zu einem großen Chef de Rang im Hotel Metropole. In derartig nackten Zuständen des Nichtwissens hatte Valentin seine eigene Sichtweise und Methode.
In solchen Fällen rechnete er mit dem Unvorhergesehenen. In solchen Fällen, in denen er nicht der Spur des Vernünftigen folgen konnte, folgte er kühl und sorgfältig der Spur des Unvernünftigen. Statt die richtigen Plätze aufzusuchen – Banken, Polizeistationen, Treffpunkte –, suchte er systematisch die falschen Plätze auf; klopfte an jedem leer stehenden Haus, ging in jede Sackgasse, durchwanderte jede mit Abfällen verstopfte Straße, folgte jeder Straßenbiegung, die ihn nutzlos vom Wege abführte. Er verteidigte diesen verrückten Kurs höchst logisch. Er sagte, wenn man einen Anhaltspunkt habe, so sei dies der schlechteste Weg; wenn man aber überhaupt keinen Anhaltspunkt habe, sei es der beste, denn dann bestünde immerhin die Möglichkeit, dass irgendeine Kuriosität, die das Auge des Verfolgers fesselte, auch das Auge des Verfolgten gefesselt habe. Irgendwo muss ein Mann anfangen, und am besten da, wo ein anderer Mann aufhören würde. Irgendetwas an der Stufenflucht hinauf zum Geschäft, irgendetwas an der Stille und am altmodischen Aussehen des Restaurants erweckte die ganze rare romantische Phantasie des Detektivs und brachte ihn zu dem Entschluss, aufs Geratewohl zuzuschlagen. Er stieg die Stufen hinauf, setzte sich am Fenster nieder und bestellte eine Tasse schwarzen Kaffees.
Der Morgen war schon halb vorüber, und er hatte noch nicht gefrühstückt; ein paar Überreste anderer Frühstücke standen auf dem Tisch herum und erinnerten ihn an seinen Hunger; und nachdem er seine Bestellung um ein pochiertes Ei ergänzt hatte, schüttete er nachdenklich weißen Zucker in seinen Kaffee und dachte dabei die ganze Zeit über Flambeau nach. Er dachte daran, wie Flambeau einmal mithilfe einer Nagelschere entkommen war und einmal durch ein brennendes Haus; einmal, weil er für einen unfrankierten Brief zahlen musste, und einmal, indem er Menschen dazu brachte, durch ein Fernrohr einen Kometen zu beobachten, der die Welt zerstören könne. Er hielt sein Detektivgehirn für so gut wie das des Verbrechers, und recht hatte er. Doch erkannte er auch ganz klar seinen Nachteil: »Der Verbrecher ist der schöpferische Künstler; der Detektiv nur der Kritiker«, sagte er mit säuerlichem Lächeln, führte die Kaffeetasse langsam zum Munde und setzte sie sehr schnell wieder ab. Er hatte Salz hineingeschüttet.
Er sah sich das Gefäß an, aus dem das silbrige Pulver gekommen war; es war unzweifelhaft eine Zuckerdose; ebenso unzweifelhaft für Zucker bestimmt wie eine Champagnerflasche für Champagner. Er fragte sich, warum man wohl Salz hineingefüllt haben mochte. Er sah sich um nach anderen konventionellen Gefäßen. Ja, da gab es zwei volle Salzstreuer. Vielleicht gab es irgendetwas Besonderes an der Würze in den Salzstreuern. Er schmeckte; es war Zucker. Daraufhin sah er sich mit neu erwachtem Interesse im Restaurant um, ob es noch andere Spuren jenes eigenartigen künstlerischen Geschmacks gebe, der Salz in die Zuckerdose füllte und Zucker in den Salzstreuer. Abgesehen von seltsamen Flecken irgendeiner dunklen Flüssigkeit auf einer der weiß tapezierten Wände, sah der ganze Raum sauber, fröhlich und gewöhnlich aus. Er läutete nach dem Kellner.
Als jener Dienstleister herbeieilte, wirrhaarig und zu dieser frühen Morgenstunde noch etwas triefäugig, bat ihn der Detektiv (der durchaus Verständnis für einfachere Formen des Humors hatte), er möge doch den Zucker probieren und feststellen, ob der dem hohen Rufe des Hauses gerecht werde. Als Resultat gähnte der Kellner plötzlich und wachte auf.
»Treiben sie diesen delikaten Scherz mit Ihren Kunden jeden Morgen?«, fragte Valentin. »Wird Ihnen der Spaß, Zucker und Salz zu vertauschen, nie langweilig?«
Der Kellner, als ihm diese Ironie deutlicher wurde, versicherte stammelnd, dass das Haus keinesfalls solcherlei Absichten hege; es müsse sich um einen höchst sonderbaren Fehlgriff handeln. Er nahm die Zuckerdose auf und blickte sie an; er nahm den Salzstreuer auf und blickte auch ihn an, wobei sein Gesicht immer verwirrter wurde. Schließlich entschuldigte er sich abrupt, eilte von dannen und kehrte nach wenigen Sekunden mit dem Inhaber wieder. Der Inhaber untersuchte ebenfalls die Zuckerdose und dann den Salzstreuer; der Inhaber sah ebenfalls verwirrt aus.
Plötzlich schien dem Kellner ein Strom von Wörtern die Sprache zu verschlagen.
»Ik denken«, stotterte er eifrig, »ik denken, es is die beiden Priesters.«
»Welche beiden Priester?«
»Die beiden Priesters«, sagte der Kellner, »die was Suppe an Wand schmeißen.«
»Suppe an die Wand schmeißen?«, wiederholte Valentin in der festen Überzeugung, hier handle es sich um eine italienische Metapher.
»Ja, ja«, sagte der Aufwärter aufgeregt und wies auf den dunklen Fleck an der weißen Tapete; »schmeißen es da an Wand.«
Valentin sah den Inhaber fragend an, der ihm mit ausführlicherem Bericht zu Hilfe kam.
»Ja, Sir«, sagte er, »das stimmt schon, wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, dass das etwas mit dem Zucker und dem Salz zu tun hat. Zwei Priester kamen herein und tranken sehr früh eine Suppe, wir hatten die Läden gerade ausgehängt. Es waren beide sehr ruhige, würdige Herren; einer von ihnen bezahlte die Rechnung und ging hinaus; der andere, der überhaupt in allem langsamer schien, hatte einige Minuten länger damit zu tun, sein Zeug zusammenzupacken. Aber schließlich ging er auch. Nur, in dem Augenblick, bevor er auf die Straße hinaustrat, nahm er mit Absicht seine Tasse, die er nur halb ausgetrunken hatte, und schmiss die Suppe klatsch an die Wand. Ich selbst war im Hinterzimmer, und der Kellner auch; so kam ich denn gerade noch rechtzeitig angerannt, um die Wand bespritzt und den Laden leer zu finden. Der Schaden ist ja nicht groß, aber es war doch eine verdammte Unverschämtheit; ich habe versucht, die Männer auf der Straße zu erwischen. Aber sie waren schon zu weit weg; ich konnte nur noch sehen, dass sie in die Carstairs Street einbogen.«
Der Detektiv war aufgestanden, hatte den Hut aufgesetzt und den Spazierstock in der Hand. Er hatte bereits vorher entschieden, dass er angesichts der allgemeinen Dunkelheit in seinem Geiste nur mehr dem ersten sonderbaren Finger folgen konnte, der eine Richtung wies; und dieser Finger war sonderbar genug. Er bezahlte seine Rechnung, schlug klirrend die Glastüren hinter sich zu und bog bald darauf in die andere Straße ein.
Glücklicherweise blieb sein Blick selbst in solchen fieberhaften Momenten der Eile kühl und scharf. Irgendetwas in einer Schaufensterfront zog flüchtig wie ein Blitz an ihm vorbei; und er schaute sich um. Es war ein gewöhnlicher Gemüse- und Obstladen, eine Warenauswahl war im Freien aufgestellt und mit Namen und Preisen ausgezeichnet. In den beiden auffälligsten Abteilungen gab es zwei Haufen, einen aus Orangen und einen aus Nüssen. Auf dem Haufen Nüsse lag ein Stück Karton, auf das in kühner blauer Kreideschrift geschrieben stand: Beste Tanger-Orangen, zwei für einen Penny. Auf den Orangen fand sich eine ebenso klare und eindeutige Beschreibung: Feinste Paranüsse, vier Pence pro Pfund. Monsieur Valentin sah sich diese beiden Aufschriften an und hatte das Gefühl, als sei ihm diese höchst subtile Art von Humor bereits zuvor begegnet, und das vor kurzer Zeit. Er lenkte die Aufmerksamkeit des rotgesichtigen Obsthändlers, der ziemlich finster die Straße hinauf und hinab starrte, auf diese Ungenauigkeit seiner Anpreisungen. Der Obsthändler sagte nichts, steckte aber jeden Karton energisch an seinen richtigen Platz. Der Detektiv, der sich elegant auf seinen Spazierstock stützte, fuhr fort, den Laden zu prüfen. Schließlich sagte er: »Bitte verzeihen Sie, Sir, es mag belanglos wirken, aber ich möchte Ihnen gerne eine Frage aus dem Bereich der experimentellen Psychologie und der Gedankenassoziationen stellen.«
Der rotgesichtige Händler betrachtete ihn drohend; aber er fuhr fröhlich und seinen Stock schwenkend fort: »Warum«, setzte er nach, »warum sind in einem Gemüseladen zwei Preisschilder so falsch platziert wie ein Schaufelhut[6] auf Besuch in London? Oder für den Fall, dass ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe: Was ist die geheimnisvolle Beziehung, die den Gedanken von Nüssen, die als Orangen ausgezeichnet sind, mit dem Gedanken an zwei Priester verbindet, einen großen und einen kleinen?«
Die Augen des Händlers traten ihm vor den Kopf wie die einer Schnecke; für einen Augenblick schien es so, als wolle er sich auf den Fremden stürzen. Schließlich aber stammelte er zornig: »Ich weiß nich, wat Sie damit zu tun ham, aber wenn Se einer von die seine Freunde sinn, könn Se denen von mir sagen, dass ich ihn ihre blöden Koppe runterprügle, Pfaffen oder nich Pfaffen, wenn Se mir meine Äpfel nochma durchenander bring.«
»Wirklich?«, fragte der Detektiv mit großer Anteilnahme. »Die haben Ihnen Ihre Äpfel durcheinandergebracht?«
»Einer von die«, sagte der erhitzte Geschäftsmann, »hatse über de ganze Straße gerollt. Fast hätt ich den Doofkopp geschnappt, wenn ich se man nich hätt aufsammeln müssen.«
»Und in welcher Richtung sind die Pfarrer weitergegangen?«, fragte Valentin.
»Da durch de zweite Straße auffe linke Seite, un denn übern Platz«, sagte der andere prompt.
»Danke«, sagte Valentin und verschwand wie ein Geist. Auf der anderen Seite des zweiten Platzes fand er einen Polizisten und fragte ihn: »Dringend, Schutzmann, haben Sie zwei Priester mit Schaufelhüten gesehen?«
Der Polizist begann herzlich zu kichern: »Hab ich, Sir; und wenn Se mich fragen, einer von denen war blau. Der stand mitten inne Straße und war so durcheinander, dass …«
»In welche Richtung sind sie gegangen?«, fuhr Valentin ihn an.
»Die haben einen von den gelben Bussen da drüben genommen«, antwortete der Mann, »einen von denen nach Hampstead.«
Valentin zog seinen Dienstausweis heraus und sagte sehr schnell: »Rufen Sie zwei Ihrer Leute her zur Verfolgung mit mir«, und überquerte die Straße mit so ansteckender Energie, dass der gemächliche Schutzmann zu fast hurtigem Gehorsam bewegt wurde. Anderthalb Minuten später schlossen sich dem französischen Detektiv auf der anderen Straßenseite ein Inspektor und ein Zivilbeamter an.
»Nun, Sir«, begann der Erstere mit lächelnder Wichtigkeit, »und was mag …?«
Valentin zeigte plötzlich mit seinem Stock. »Ich werde es Ihnen oben auf jenem Autobus erzählen«, sagte er und schoss im Zickzack durch das Verkehrsgewirr. Nachdem alle drei keuchend auf die Sitze im Oberdeck des gelben Vehikels gesunken waren, sagte der Inspektor: »Wir könnten im Taxi viermal so schnell vorwärtskommen.«
»Sicher«, sagte ihr Anführer gelassen, »wenn wir nur eine Idee hätten, wohin wir fahren.«
»Wieso, wo fahren Sie denn hin?«, fragte der andere und starrte ihn an.
Valentin rauchte einige Sekunden lang stirnrunzelnd; dann nahm er die Zigarette aus dem Mund und sagte: »Wenn Sie wissen, was ein Mann tut, bleiben Sie vor ihm; aber wenn Sie raten müssen, was er tun wird, bleiben Sie hinter ihm. Sie schlendern, wenn er schlendert; bleiben stehen, wenn er stehen bleibt; reisen so langsam wie er. Dann können Sie sehen, was er gesehen hat, und können tun, was er getan hat. Alles, was wir jetzt tun können, ist, die Augen für sonderbare Dinge offen zu halten.«
»Was für sonderbare Dinge meinen Sie?«, fragte der Inspektor.
»Jede Art von sonderbaren Dingen«, antwortete Valentin und fiel wieder in hartnäckiges Schweigen.
Der gelbe Omnibus kroch scheinbar endlose Stunden durch die nördlichen Straßen; der große Detektiv ließ sich zu keiner weiteren Erklärung herab, und vielleicht empfanden seine Gehilfen einen schweigenden und wachsenden Zweifel ob seines Vorhabens. Vielleicht empfanden sie auch ein schweigendes und wachsendes Verlangen nach ihrem Mittagessen, denn die Stunden krochen weit über die normale Mittagszeit hinaus, und die langen Straßen Nordlondons schienen sich immer weiter zu verlängern wie ein teuflisches Fernrohr. Es war eine jener Fahrten, während denen man ständig das Gefühl hat, jetzt endlich am Ende der Welt angekommen zu sein, und dann stellt man fest, dass man erst den Anfang von Tufnell Park erreicht hat. London starb in schmutzigen Kneipen und ödem Gebüsch dahin und ward dann unverständlicherweise in strahlenden Straßen und schimmernden Hotels wiedergeboren. Es war, als durchfahre man dreizehn verschiedene schmutzige Städte, von denen die eine jeweils die andere gerade berührt. Doch obwohl die Winterdämmerung bereits die Straße vor ihnen bedrohte, saß der Pariser Detektiv weiterhin schweigend und wachsam da und beobachtete die Straßenfronten, die auf beiden Seiten vorbeiglitten. Als sie Camden Town verließen, waren die beiden Polizisten fast eingeschlafen; jedenfalls fuhren sie merklich zusammen, als Valentin aufsprang, jedem auf die Schulter schlug und dem Fahrer zurief anzuhalten.
Sie stolperten die Stufen hinab auf die Straße, ohne zu begreifen, warum man sie hochgejagt hatte; als sie sich nach Erleuchtung umsahen, fanden sie Valentin, wie er triumphierend mit dem Finger nach einem Fenster auf der linken Straßenseite wies. Es war ein großes Fenster, das einen Teil der Fassade eines gold schimmernden palastartigen Hotels bildete; es war der für ehrbares Speisen vorbehaltene Teil und mit »Restaurant« beschriftet. Dieses Fenster bestand wie alle übrigen in der Hotelfront aus Milchglas mit eingeschliffenen Figuren, in seiner Mitte aber hatte es ein großes schwarzes Loch wie ein Stern im Eis.
»Endlich unsere Spur«, schrie Valentin und schwang seinen Stock; »der Ort mit der zerbrochenen Scheibe.«
»Welche Scheibe? Welche Spur?«, fragte sein Chefassistent. »Was beweist uns denn, dass das irgendwas mit ihnen zu tun hat?« Valentin zerbrach vor Zorn fast seinen Bambusstock. »Beweis!«, schrie er. »Guter Gott! Der Mann sucht einen Beweis! Natürlich stehen die Chancen 20:1, dass das nichts mit ihnen zu tun hat. Aber was können wir denn sonst tun? Begreifen Sie denn nicht: Wir müssen entweder irgendeiner wilden Möglichkeit folgen oder nachhause ins Bett gehen!« Er bahnte sich einen Weg in das Restaurant, gefolgt von seinen Gefährten, und bald saßen sie an einem kleinen Tisch vor einem späten Mittagessen und betrachteten den Stern im zersprungenen Glas von innen. Nicht, dass der ihnen jetzt etwa mehr verraten hätte.
»Wie ich sehe, ist Ihr Fenster zerbrochen«, sagte Valentin zum Kellner, als er die Rechnung beglich.
»Ja, Sir«, antwortete der Aufwärter, wobei er sich geschäftig über das Wechselgeld beugte, dem Valentin schweigend ein gewaltiges Trinkgeld beifügte. Der Kellner richtete sich in sanfter, aber unverkennbarer Erregung auf.
»Ach ja, Sir«, sagte er. »Sehr sonderbare Sache das, Sir.«
»Wirklich? Erzählen Sie«, sagte der Detektiv in sorgloser Neugier.
»Na ja«, sagte der Kellner, »zwei Herren in Schwarz kommen rein; zwei von den ausländischen Pfarrern, die jetzt überall herumlaufen. Sie bestellen ein billiges und einfaches kleines Mittagessen, und einer von ihnen bezahlt und geht raus. Der andere will ihm gerade nachgehen, als ich nochmals auf mein Geld kucke und sehe, dass er mir mehr als dreimal zu viel bezahlt hat. ›Holla‹, sag ich zu dem Kerl, der schon fast zur Tür raus war. ›Sie haben zu viel bezahlt.‹ ›Oh‹, sagt der ganz kühl, ›haben wir?‹ ›Ja‹, sag ich und schnapp mir die Rechnung, um es ihm zu zeigen. Na ja, das war wie ein K.-o.-Schlag.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ihn sein Befrager.
»Na ja, ich hätte auf sieben Bibeln geschworen, dass ich vier Schilling auf die Rechnung gesetzt hatte. Aber jetzt sehe ich, da hab ich vierzehn Schilling hingeschrieben, so deutlich wie gedruckt.«
»Und?«, rief Valentin, der sich langsam, aber mit glühenden Augen bewegte, »und dann?«
»Der Pastor an der Tür, der sagt ganz gemütlich: ›Tut mir leid, dass ich Ihre Rechnung durcheinandergebracht habe, aber das ist für das Fenster.‹ ›Welches Fenster?‹, frage ich. ›Das, was ich jetzt zerschlage‹, sagt er und zertrümmert die verfluchte Scheibe mit seinem Schirm.«
Alle drei Befrager ließen überraschte Ausrufe hören, und der Inspektor fragte leise: »Sind wir hinter entsprungenen Irren her?« Der Kellner fuhr mit einigem Vergnügen an der verrückten Geschichte fort:
»Für eine Sekunde war ich so verdattert, dass ich mich nicht rühren konnt. Der Mann geht raus und direkt um die Ecke zu seinem Freund. Dann gehen sie so schnell die Bullock Street rauf, dass ich sie nicht mehr einholen kann, obwohl ich durch den Schankraum gerannt bin.«
»Bullock Street«, sagte der Detektiv und lief so schnell diese große Straße hinauf wie das seltsame Paar, das er verfolgte.
Ihr Weg führte sie jetzt zwischen nackten Ziegelwänden hin wie durch Tunnel; durch Straßen mit wenigen Laternen und sogar mit wenigen Fenstern; durch Straßen, die aus den kahlen Rückseiten von irgendwas aus irgendwo erbaut schienen. Das Dunkel vertiefte sich, und selbst für die Londoner Polizisten war es nicht leicht zu erraten, welche Richtung genau sie nun verfolgten. Der Inspektor war sich immerhin ziemlich sicher, dass sie schließlich irgendwo bei Hampstead Heath herauskommen würden. Plötzlich durchbrach eine gewölbte gasbeleuchtete Schaufensterscheibe das blaue Zwielicht wie eine Blendlaterne; und Valentin blieb einen Augenblick vor einem kleinen grellen Süßwarenladen stehen. Nach einem Moment des Zögerns trat er ein; er stand mit vollendeter Ernsthaftigkeit zwischen den fröhlichen Farben der Zuckerbäckerei und erwarb nach sorgfältiger Wahl dreizehn Schokoladenzigarren. Offensichtlich bereitete er eine Gesprächseröffnung vor; aber dessen bedurfte es nicht.
Eine kantige, ältlich-junge Frau im Laden hatte seine elegante Erscheinung zunächst nur mit einem automatischen Blick gemustert; als sie aber hinter ihm die Tür von der blauen Uniform des Inspektors blockiert sah, wurden ihre Augen wacher.
»Oh«, sagte sie, »wenn Sie wegen des Pakets gekommen sind, das habe ich schon weggeschickt.«
»Paket!«, wiederholte Valentin; und nun war es an ihm, fragend zu blicken.
»Ich meine das Paket, was der Herr zurückgelassen hat – der Herr von der Kirche.«
»Um Gottes willen«, sagte Valentin und beugte sich vorwärts, wobei er zum ersten Mal sein brennendes Interesse erkennen ließ, »um Himmels willen, erzählen Sie uns genau, was passiert ist.«
»Na ja«, sagte die Frau etwas zögernd, »die Priester sind vor etwa einer halben Stunde reingekommen und haben ein paar Pfefferminzbonbons gekauft und ein bisschen geschwatzt, dann sind sie los in Richtung Heath. Aber eine Sekunde später kommt einer von ihnen zurückgerannt und fragt: ›Habe ich ein Paket liegen gelassen?‹ Na, ich kucke überall herum und kann keins sehen; da sagt er: ›Na schön; aber wenn es auftauchen sollte, schicken Sie es bitte an diese Adresse‹, und er gibt mir die Adresse und einen Schilling für meine Mühe. Und richtig, obwohl ich mir eingebildet hatte, ich hätte überall nachgesehen, finde ich ein Paket in braunem Packpapier, das er liegen gelassen hat, also schicke ich es an die Adresse, die er mir gesagt hatte. Ich kann mich jetzt an die Adresse nicht erinnern; es war irgendwo in Westminster. Aber weil die Sache so wichtig schien, habe ich gedacht, jetzt war die Polizei deswegen gekommen.«
»So ist es«, sagte Valentin kurz. »Ist Hampstead Heath weit?«
»Geradeaus fünfzehn Minuten«, sagte die Frau, »und dann kommen Sie direkt ins Freie.« Valentin lief aus dem Laden und begann zu rennen. Die anderen Detektive folgten ihm in widerwilligem Trab.
Die Straße, die sie durcheilten, war so eng und so von Schatten eingeschlossen, dass sie, als sie unerwartet ins Freie und unter den weiten Himmel kamen, überrascht waren, dass der Abend noch so hell und klar war. Eine vollkommene Halbkugel aus Pfauengrün versank ins Gold zwischen schwärzer werdenden Bäumen und dunkel-violetter Ferne. Der glühende grüne Ton war gerade dunkel genug, dass sich ein oder zwei Sterne wie Kristalle davon abhoben. Alles, was vom Tageslicht übriggeblieben war, lag als goldener Schimmer über dem Rand von Hampstead und über der beliebten Mulde, die man Tal des Heils nennt. Die Ausflügler, die diese Gegend durchstreiften, waren noch nicht alle verschwunden: Einige Paare saßen als unbestimmte Formen auf den Bänken, und hier und da hörte man aus der Ferne noch Mädchengekreisch von einer der Schaukeln. Der Glanz des Himmels vertiefte und verdunkelte sich um die erhabene Niedrigkeit des Menschen; und als er am Abhang stand und über das Tal blickte, entdeckte Valentin, was er suchte.
Zwischen den schwarzen und sich in der Entfernung auflösenden Gruppen war eine besonders schwarze, die sich nicht auflöste – eine Gruppe von zwei klerikal gekleideten Gestalten. Obwohl sie klein wie Insekten erschienen, konnte Valentin doch erkennen, dass die eine viel kleiner als die andere war. Und obwohl der andere sich wie ein beflissener Student vornüberbeugte und sich ganz unauffällig benahm, konnte er sehen, dass der Mann gut über sechs Fuß groß war. Er biss die Zähne zusammen und stürmte vorwärts, wobei er seinen Stock ungeduldig herumwirbelte. Als er nach einiger Zeit die Entfernung erheblich verringert und die beiden schwarzen Gestalten wie durch ein riesiges Fernrohr vergrößert hatte, bemerkte er noch etwas; etwas, das ihn überraschte und das er doch irgendwie erwartet hatte. Wer immer der große Priester sein mochte, über die Identität des kleinen konnte es keinen Zweifel geben. Das war sein Freund vom Harwich-Zug, der plumpe kleine curé aus Essex, den er wegen seiner Pakete in braunem Packpapier gewarnt hatte.
So weit nun passte alles endgültig und vernünftig zusammen. Valentin hatte durch seine Nachforschungen am Morgen erfahren, dass ein Father Brown[7] aus Essex ein silbernes Kreuz mit Saphiren bringen sollte, eine Reliquie von erheblichem Wert, die während des Kongresses einigen ausländischen Priestern gezeigt werden sollte. Das war unzweifelhaft das »Silber mit blauen Steinen«; und Father Brown war ebenso unzweifelhaft jenes kleine Greenhorn aus dem Zug. Nun gab es nichts Wunderbares an der Tatsache, dass das, was Valentin herausgefunden hatte, auch Flambeau herausgefunden hatte; Flambeau fand alles heraus. Auch gab es nichts Wunderbares an der Tatsache, dass Flambeau, als er von dem Saphirkreuz erfuhr, den Versuch unternahm, es zu stehlen; es war das Natürlichste der Welt. Und es gab absolut nichts Wunderbares an der Tatsache, dass Flambeau ein solch dummes Schaf wie den Mann mit Schirm und Paketen nach Belieben auf jede Weide führen konnte. Den konnte schließlich jeder an einem Bindfaden zum Nordpol führen; nicht überraschend also, dass ein Schauspieler wie Flambeau, als Priester verkleidet, ihn nach Hampstead Heath führen konnte. So weit schien das Verbrechen klar genug; und während der Detektiv den Priester ob seiner Hilflosigkeit bemitleidete, empfand er fast Verachtung für Flambeau, weil der sich mit einem so leichtgläubigen Opferlamm eingelassen hatte. Wenn aber Valentin an alles das dachte, was sich in der Zwischenzeit abgespielt, was alles ihn zu seinem Triumph geführt hatte, zerbrach er sich vergeblich sein Hirn, um auch nur den kleinsten Reim darauf, die winzigste Vernunft darin zu finden. Was hatte der Diebstahl eines Blau- und-Silber-Kreuzes von einem Priester aus Essex damit zu tun, Suppe an die Tapete zu schleudern? Was hatte das damit zu tun, Nüsse Orangen zu nennen oder zuerst für ein Fenster zu bezahlen und es danach einzuschlagen? Zwar war er ans Ende seiner Jagd gelangt; aber irgendwie hatte er ihr Mittelstück verpasst. Wenn er versagte (was selten geschah), hatte er meistens den Anhaltspunkt, aber dennoch den Verbrecher nicht erwischt. Hier hatte er den Verbrecher erwischt, aber er konnte den Anhaltspunkt immer noch nicht fassen.
Die beiden Gestalten, denen sie folgten, krochen wie schwarze Fliegen über den großen grünen Umriss eines Hügels. Sie waren ganz offensichtlich im Gespräch versunken und bemerkten vielleicht nicht einmal, wohin sie gingen; mit Sicherheit aber gingen sie auf die wilderen und schweigenderen Höhen der Heath zu. Ihre Verfolger, als sie ihnen näher kamen, mussten sich jener unwürdigen Haltungen der Rotwildjäger bedienen, sich hinter Baumgruppen verstecken und sogar auf dem Bauch durchs hohe Gras kriechen. Durch solch plumpe Listen kamen die Jäger der Beute schließlich so nahe, dass sie das Murmeln der Unterhaltung hörten, doch konnte man kein Wort unterscheiden außer dem Wort »Vernunft«, das oft in einer hohen und fast kindlichen Stimme erklang. Einmal verloren die Detektive wegen eines jähen Abfalls des Bodens und eines dichten Gewirrs von Dickicht die beiden Gestalten, denen sie folgten. Ganze zehn quälende Minuten fanden sie die Spur nicht wieder, und dann führte sie um den Rand einer großen Hügelkuppe herum, die ein Amphitheater reicher und verlassener Sonnenuntergangsszenerie überblickte. Unter einem Baum stand an dieser beherrschenden, aber vernachlässigten Stelle eine alte wackelige Holzbank. Auf der saßen die beiden Priester ruhig in ernstem Gespräch beisammen. Das prangende Grün und Gold hing noch am dunkelnden Horizont; aber die Halbkugel darüber wandelte sich langsam von Pfauengrün zu Pfauenblau, und die Sterne lösten sich mehr und mehr heraus wie stattliche Juwelen. Valentin winkte stumm seine Gefolgschaft her; dann gelang es ihm, sich hinter den großen weit verzweigten Baum zu schleichen, und während er dort in tödlichem Schweigen stand, vernahm er zum ersten Mal die Worte der sonderbaren Priester.
Nachdem er anderthalb Minuten gelauscht hatte, überfiel ihn ein teuflischer Zweifel. Vielleicht hatte er die beiden englischen Polizisten in die Einöden einer nächtlichen Heide verschleppt auf einer Suche, die nicht sinnvoller war als die Suche nach Feigen an einer Distel. Denn die beiden Priester sprachen genau wie Priester – andächtig, gelehrt und mit Muße – über die subtilsten Geheimnisse der Theologie. Der kleine Priester aus Essex führte die einfachere Sprache, während er sein rundes Gesicht den erstrahlenden Sternen zuwandte; der andere sprach mit gesenktem Haupt, als sei er nicht einmal würdig, zu ihnen aufzuschauen. Doch hätte unschuldigeres Priestergespräch in keinem weißen italienischen Kloster, in keiner schwarzen spanischen Kathedrale vernommen werden können.
Die ersten Worte, die er hörte, waren die letzten eines Satzes von Father Brown, der endete: »… was das Mittelalter wirklich meinte, wenn es den Himmel unbestechlich nannte.«
Der größere Priester nickte mit gesenktem Haupt und sagte:
»Ach ja, diese modernen Ungläubigen rufen ihre Vernunft an; wer aber kann all die Millionen von Welten anschauen und nicht empfinden, dass es über uns wunderbare Universen geben mag, in denen Vernunft vollkommen unvernünftig ist?«
»Nein«, sagte der andere Priester. »Vernunft ist immer vernünftig, selbst in der letzten Vorhölle, jenem verlorenen Grenzland der Dinge. Ich weiß, dass viele der Kirche vorwerfen, sie setze die Vernunft herab, aber es ist genau umgekehrt. Auf Erden räumt allein die Kirche der Vernunft ihre wahre Hoheit ein. Auf Erden bekräftigt allein die Kirche, dass Gott selbst durch die Vernunft gebunden ist.«
Der andere Priester hob sein strenges Antlitz dem flimmernden Himmel entgegen und sagte:
»Wer weiß, ob nicht in diesem unendlichen Universum …«
»Unendlich nur physisch«, sagte der kleine Priester und wandte sich jäh auf seinem Sitz um, »nicht unendlich in dem Sinne, dass es den Gesetzen der Wahrheit entkäme.«
Valentin riss sich hinter seinem Baum in stummer Wut fast die Fingernägel aus. Ihm war, als höre er bereits das Spottgekicher der englischen Detektive, die er aufgrund eines phantastischen Einfalls so weit hergeschleppt hatte, nur um dem metaphysischen Geschwätz zweier freundlicher alter Pfarrer zu lauschen. In seiner Ungeduld entging ihm die nicht minder ausgetüftelte Antwort des großen Klerikers, und als er wieder lauschte, war es abermals Father Brown, der sprach:
»Vernunft und Gerechtigkeit beherrschen noch das fernste und einsamste Gestirn. Sehen Sie sich diese Sterne an. Sehen sie nicht aus, als wären es einzelne Diamanten und Saphire? Nun gut, Sie können sich jede noch so verrückte Botanik oder Geologie nach Belieben einbilden. Denken Sie sich Wälder aus Diamanten mit Blättern aus Brillanten. Denken Sie sich den Mond als blauen Mond, als einen gigantischen Saphir. Aber bilden Sie sich nicht ein, dass all diese verrückte Astronomie für die Vernunft und die Gerechtigkeit des Handelns auch nur den geringsten Unterschied machte. Auf Ebenen voller Opale und unter Klippen, geschnitten aus Perlen, werden Sie immer noch die Tafel mit der Inschrift finden: ›Du sollst nicht stehlen.‹«
Valentin war gerade dabei, sich aus seiner starr kauernden Lage zu erheben und so leise wie nur möglich hinwegzuschleichen, zermalmt unter der einen großen Torheit seines Lebens. Aber irgendetwas im Schweigen des großen Priesters ließ ihn warten, bis dieser wieder sprach. Und als er wieder sprach, sagte er mit gebeugtem Haupt und den Händen auf den Knien einfach:
»Nun gut, ich glaube aber immer noch, dass andere Welten möglicherweise unsere Vernunft übersteigen. Die Mysterien des Himmels sind unauslotbar, und ich für mein Teil kann nur mein Haupt beugen.«
Dann fügte er mit immer noch gesenkter Stirn und ohne Haltung oder Stimme auch nur im Geringsten zu verändern hinzu:
»Und jetzt geben Sie mir bitte Ihr Saphirkreuz, ja? Wir sind hier allein, und ich könnte Sie wie eine Strohpuppe in Fetzchen reißen.«
Dass Stimme und Haltung völlig unverändert blieben, gab dieser bestürzenden Wendung des Gesprächs etwas eigenartig Gewalttätiges. Aber der Hüter der Reliquie schien den Kopf nur um den winzigsten Teil der Windrose zu drehen. Er schien sein etwas törichtes Gesicht immer noch den Sternen zugewandt zu haben. Vielleicht hatte er nicht verstanden. Oder vielleicht hatte er verstanden und saß nun starr vor Furcht da.
»Ja«, sagte der große Priester mit der gleichen leisen Stimme und in der gleichen ruhigen Haltung, »ja, ich bin Flambeau.«
Dann, nach einer Pause, sagte er: »Also, geben Sie mir jetzt das Kreuz?«
»Nein«, sagte der andere, und der Einsilber hatte einen eigenartigen Klang.
Flambeau warf plötzlich all sein priesterliches Gehabe ab. Der große Räuber lehnte sich auf seinem Sitz zurück und lachte leise, aber lange.
»Nein«, rief er; »Sie werden es mir nicht geben, Sie stolzer Prälat. Sie werden es mir nicht geben, Sie kleiner zölibatärer Einfaltspinsel[8]. Soll ich Ihnen sagen, warum Sie es mir nicht geben werden? Weil ich es schon in meiner eigenen Brusttasche habe.«
Der kleine Mann aus Essex wandte ihm sein – wie es in der Dämmerung schien – verdutztes Gesicht zu und fragte mit der furchtsamen Bereitwilligkeit des »Privatsekretärs«[9]:
»Sind – sind Sie sicher?«
Flambeau röhrte vor Vergnügen.
»Wirklich, Sie sind so gut wie ein abendfüllendes Lustspiel«, rief er. »Ja, Sie Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich war klug genug, vom richtigen Paket ein Duplikat zu machen, und jetzt, mein Freund, haben Sie das Duplikat, und ich habe die Juwelen. Ein alter Trick, Father Brown, ein sehr alter Trick.«
»Ja«, sagte Father Brown und fuhr sich mit der Hand in der gleichen eigenartig unbestimmten Art durch die Haare, »ja, davon habe ich schon gehört.«
Der Gigant des Verbrechens beugte sich mit einem gewissen plötzlichen Interesse zu dem kleinen ländlichen Pfarrer.
»Sie haben davon gehört?«, fragte er. »Wo haben Sie davon gehört?«
»Nun ja, ich kann Ihnen seinen Namen natürlich nicht nennen«, sagte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, wissen Sie. Er hatte rund zwanzig Jahre ganz gut ausschließlich von Duplikaten brauner Packpapierpakete gelebt. Und deshalb dachte ich, wissen Sie, als ich anfing, Sie zu verdächtigen, sofort an die Methode dieses armen Teufels.«
»Anfingen, mich zu verdächtigen«, wiederholte der Gesetzlose mit wachsender Intensität. »Hatten Sie wirklich genügend Grips, mich zu verdächtigen, bloß weil ich Sie in diesen verlassenen Teil der Heide gebracht habe?«
»O nein«, sagte Brown, als ob er sich entschuldige. »Sehen Sie, ich habe Sie schon verdächtigt, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war wegen dieser kleinen Ausbuchtung in Ihrem Ärmel, wo Leute wie Sie ein Stachelarmband[10] tragen.«
»Wo zum Teufel«, rief Flambeau, »haben Sie denn vom Stachelarmband gehört?«
»Ach, unsere kleine Herde, wissen Sie!«, sagte Father Brown und zog etwas verlegen die Augenbrauen hoch. »Als ich Pfarrverweser in Hartlepool war, gab es drei mit Stachelarmbändern. Und da Sie mir nun von Anfang an verdächtig waren, wissen Sie, habe ich dafür gesorgt, dass das Kreuz auf jeden Fall sicher war. Tut mir leid, aber ich habe Sie beobachtet. Und da habe ich schließlich gesehen, wie Sie die Pakete vertauschen. Und dann, Sie verstehen, habe ich sie eben zurückvertauscht. Und dann habe ich das richtige liegen lassen.«
»Liegen lassen?«, wiederholte Flambeau, und zum ersten Mal war da neben dem Triumph noch ein anderer Ton in seiner Stimme.
»Na ja, es war so«, sagte der kleine Priester in seiner natürlichen Art. »Ich bin zu dem Süßwarenladen zurückgegangen und habe gefragt, ob ich ein Paket liegen gelassen hätte, und eine bestimmte Adresse angegeben für den Fall, dass man es findet. Ich wusste natürlich, dass ich es nicht liegen gelassen hatte; aber als ich wieder ging, eben doch. Statt also mit diesem wertvollen Paket hinter mir herzulaufen, haben sie es schleunigst an einen Freund von mir in Westminster geschickt.« Und ziemlich traurig fügte er hinzu: »Auch das habe ich von einem armen Kerl in Hartlepool gelernt. Er ist so mit Handkoffern verfahren, die er auf Bahnhöfen stahl, aber jetzt ist er in einem Kloster. Oh, man sammelt Wissen«, fügte er hinzu und rieb sich wieder den Kopf in jener Art von verzweifelter Entschuldigung. »Wir können nicht anders, wir Priester. Leute kommen zu uns und erzählen uns von solchen Sachen.«
Flambeau riss ein braunes Packpapierpaket aus seiner Innentasche und zerfetzte es. Da war nichts darin außer Papier und Bleistücken. Er sprang mit heftiger Geste auf und schrie:
»Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, dass ein Tölpel wie Sie das alles hinbekommt. Ich glaube, dass Sie das Zeugs immer noch bei sich haben, und wenn Sie es mir nicht geben – nun ja, wir sind allein, dann werde ich es mir mit Gewalt nehmen!«
»Nein«, sagte Father Brown einfach und erhob sich ebenfalls; »Sie werden es sich nicht mit Gewalt nehmen. Erstens, weil ich es wirklich nicht mehr habe. Und zweitens, weil wir nicht allein sind.«
Flambeau hielt in seinem Sprung inne.
»Hinter dem Baum da«, sagte Father Brown und zeigte auf ihn, »befinden sich zwei starke Polizisten und der größte lebende Detektiv. Wie sie hergekommen sind, fragen Sie? Nun, natürlich habe ich sie hergebracht! Wie ich das getan habe? Na schön, wenn Sie wollen, werde ich es Ihnen erzählen. Mein Gott, wir müssen zwanzig solche Tricks kennen, wenn wir unter Verbrechern arbeiten wollen! Also, zunächst war ich nicht sicher, ob Sie ein Dieb sind, und es ginge natürlich nicht an, einen aus unserer Priesterschaft in einen Skandal zu verwickeln. Also habe ich Sie auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob Sie sich vielleicht selbst verraten. Normalerweise macht ein Mann eine kleine Szene, wenn er Salz im Kaffee findet; wenn nicht, hat er seine Gründe, sich still zu verhalten. Ich habe Salz und Zucker vertauscht, und Sie haben sich still verhalten. Normalerweise protestiert ein Mann, wenn seine Rechnung ums Dreifache überhöht ist. Wenn er sie bezahlt, hat er irgendwelche Gründe, unbemerkt zu bleiben. Ich habe Ihre Rechnung abgeändert, und Sie haben sie bezahlt.«
Die Welt schien darauf zu warten, Flambeau wie einen Tiger springen zu sehen. Aber etwas wie ein Zauberbann hielt ihn zurück; er war von der äußersten Neugierde betäubt.
»Nun ja«, fuhr Father Brown in schwerfälliger Klarheit fort, »da Sie keine Spuren für die Polizei zurückgelassen haben, musste das eben jemand anderes tun. Überall, wohin wir gegangen sind, habe ich durch irgendetwas dafür gesorgt, dass man für den Rest des Tages von uns spricht. Ich habe nicht viel Schaden angerichtet – eine bekleckste Wand, verstreute Äpfel, eine zerbrochene Scheibe; aber ich habe das Kreuz gerettet, wie das Kreuz immer gerettet werden wird. Jetzt ist es schon in Westminster. Ich habe mich aber gewundert, dass Sie nicht versucht haben, es mit der Eselspfeife zu verhindern.«
»Mit der was?«, fragte Flambeau.
»Ich bin froh, dass Sie davon nie gehört haben«, sagte der Priester und zog eine Grimasse. »Das ist eine böse Sache. Ich bin sicher, dass Sie für einen Pfeifer ein zu anständiger Mensch sind. Dem hätte ich nicht einmal mit dem Kreuzsprung[11] entkommen können; meine Beine sind dazu nicht stark genug.«
»Um alles in der Welt – wovon reden Sie denn da?«, fragte der andere.
»Ach, ich dachte, Sie kennen den Kreuzsprung«, sagte Father Brown angenehm überrascht. »Dann können Sie noch nicht allzu tief gesunken sein!«
»Wie zur Hölle haben Sie denn all diese Scheußlichkeiten kennengelernt?«, rief Flambeau.
Der Schatten eines Lächelns überflog das runde einfache Gesicht seines klerikalen Gegners.
»Vermutlich, weil ich ein zölibatärer Einfaltspinsel bin«, sagte er. »Ist Ihnen denn nie in den Sinn gekommen, dass einem Mann, der praktisch nichts anderes tut, als den wirklichen Sünden anderer Menschen zuzuhören, das menschliche Böse nicht ganz unbekannt ist? Übrigens, noch eine andere Seite meines Berufes hat mich davon überzeugt, dass Sie kein Priester sind.«
»Was?«, fragte der Dieb mit offenem Mund.
»Sie haben die Vernunft angegriffen«, sagte Father Brown. »Das ist schlechte Theologie.«
Und als er sich umwandte, um sein Eigentum einzusammeln, kamen die drei Polizisten aus dem Zwielicht der Bäume hervor. Flambeau war ein Künstler und ein anständiger Kerl. Er trat zurück und grüßte Valentin mit einer tiefen Verneigung.
»Verbeugen Sie sich nicht vor mir, mon ami«, sagte Valentin mit silberner Klarheit. »Verneigen wir uns beide vor unserem Meister.«
Und beide standen sie einen Augenblick mit entblößten Köpfen da, während der kleine Essex-Priester blinzelnd nach seinem Regenschirm suchte.
Aristide Valentin, Chef der Pariser Polizei, hatte sich zum Abendessen verspätet, und einige seiner Gäste waren schon vor ihm eingetroffen. Sie wurden jedoch von seinem Vertrauensdiener Iwan beruhigt, dem alten Mann, der mit einer Narbe und einem Gesicht fast so grau wie sein Schnurrbart immer an einem Tisch in der Eingangshalle saß – einer Halle, die voller Waffen hing. Valentins Haus war vielleicht ebenso eigenartig und berühmt wie sein Herr. Es war ein altes Haus, dessen hohe Mauern und mächtige Pappeln beinahe über der Seine hingen; aber die Eigenartigkeit – und vielleicht der polizeiliche Wert – seiner Architektur war, dass es nur einen einzigen Ausgang gab, nämlich den durch die Eingangstür, die von Iwan und dem Waffenarsenal bewacht wurde. Der Garten war groß und kunstvoll angelegt, und es gab viele Zugänge vom Haus in den Garten. Aber es gab keinen Ausgang vom Garten in die Außenwelt; ihn umgab eine hohe, glatte, unübersteigbare Mauer, oben mit ausgesuchten Stacheln besetzt; vielleicht kein übler Garten zum Nachdenken für einen Mann, den einige hundert Verbrecher zu töten geschworen hatten.
Wie Iwan den Gästen erklärte, hatte ihr Gastgeber angerufen, dass er für etwa zehn Minuten aufgehalten sei. Er hatte tatsächlich noch einige letzte Anweisungen für Hinrichtungen und ähnlich hässliche Dinge zu geben; und obwohl ihm diese Pflichten zutiefst widerwärtig waren, erfüllte er sie doch immer aufs präziseste. So unbarmherzig er auch bei der Jagd nach Verbrechern war, so milde war er in der Frage ihrer Bestrafung. Seit er über die französischen – und weitgehend über die europäischen – Polizeimethoden gebot, hatte er seinen großen Einfluss höchst ehrenhaft für die Milderung der Urteile und die Säuberung der Gefängnisse eingesetzt. Er war einer der großen humanitären französischen Freidenker; und ihr einziger Fehler ist, dass unter ihren Händen Barmherzigkeit noch kälter wird als Gerechtigkeit.
Als Valentin eintraf, trug er bereits den Abendanzug und die rote Rosette[12] – eine elegante Gestalt, der schwarze Bart schon grau meliert. Er durchschritt sein Haus und ging direkt ins Arbeitszimmer, das zum Garten hin lag. Die Gartentür stand offen, und nachdem er seinen Aktenkoffer sorgsam an dessen offiziellem Platz eingeschlossen hatte, stand er für einige Sekunden in der offenen Tür und blickte in den Garten hinaus. Ein greller Mond kämpfte mit den vorbeijagenden Wolkenfetzen eines Sturms, und Valentin sah sich das mit einer Sehnsüchtigkeit an, die für einen so wissenschaftlichen Geist unüblich ist. Vielleicht aber haben gerade solch wissenschaftliche Geister bestimmte psychische Vorahnungen vom bedeutendsten Problem in ihrem Leben. Doch bald erholte er sich von jedweder solchen übersinnlichen Anwandlung, denn er wusste, dass er sich verspätet hatte und seine Gäste bereits einzutreffen begannen. Als er seinen Salon betrat, genügte aber ein Blick zur Feststellung, dass sein Hauptgast jedenfalls noch nicht eingetroffen war. Doch alle anderen Säulen seiner kleinen Gesellschaft sah er: Er sah Lord Galloway, den englischen Botschafter – ein cholerischer alter Mann mit rötlich braunem Apfelantlitz, der das blaue Band des Hosenbandordens trug. Er sah Lady Galloway, fadenhaft dünn, mit silbernem Haar und sensiblem, hoheitsvollem Gesicht. Er sah ihre Tochter, Lady Margaret Graham, ein blasses und hübsches Mädchen mit Elfenantlitz und kupfernem Haar. Er sah die Herzogin von Mont-Saint-Michel, schwarzäugig und üppig, und bei ihr ihre beiden Töchter, ebenfalls schwarz-äugig und üppig. Er sah Dr. Simon, einen typischen französischen Wissenschaftler, mit Brille, einem spitzen braunen Bart und jenen waagerecht parallelen Stirnfalten, die die Strafe der Hochmütigen sind, denn sie entstehen durch ständiges Hochziehen der Augenbrauen. Er sah Father Brown aus Cobhole in Essex, den er erst kürzlich in England getroffen hatte. Er sah – mit vielleicht größerem Interesse als für jeden der anderen – einen großen Mann in Uniform, der sich vor den Galloways verneigt hatte, ohne ausgesprochen herzlich begrüßt worden zu sein, und der sich nun allein näherte, um seinen Gastgeber zu begrüßen. Das war Major O’Brien von der französischen Fremdenlegion[13]. Er war eine schlanke, aber etwas prahlerische Erscheinung, glatt rasiert, dunkelhaarig, blauäugig, und wie es bei einem Offizier jenes berühmten Regiments der siegreichen Versager und der erfolgreichen Selbstmörder nur natürlich schien, trug er eine verwegene und zugleich melancholische Miene zur Schau. Von Geburt war er ein irischer Adliger und hatte die Galloways in seinen Jugendjahren gekannt – besonders Margaret Graham. Er hatte sein Vaterland einer Schuldensache wegen verlassen und zeigte jetzt seine völlige Unabhängigkeit von britischer Etikette[14], indem er in Uniform mit Säbel und Sporen einherschritt. Als er sich vor der Familie des Botschafters verbeugte, neigten Lord und Lady Galloway steif ihre Häupter, und Lady Margaret sah weg.