Himmel und Hölle - Dumas Alexandre - E-Book

Himmel und Hölle E-Book

Dumas Alexandre

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Trotz des Titels und des Coverbildes hat diese Romantrillogie des Altmeisters der historischen Romane bedingt nur mit Religion zu tun, obwohl die Romanheldem, wie alle Bewohner in dieser Gegend, sehr tiefgläubig waren. Hier geht um Verbindung und beginnenden zarte Liebe zwischen den Milchgeschwistern Marie und Ehrlich, der für die Landbewohner als blödsinnig galt, in der kleinen Stadt Villers-Cotterêts in Frankreich. Wir beginnen die Geschichte Anfang des 19. Jahrhunderts. Im Hintergrund tobt der Krieg zwischen Frankreich und halb Europa und der Herrschaft Napoleons. Und dann gab es auch noch den Weiberheld und Husar Bastian und die hübsche Katharina, die Bastian liebt. Ehrlich wird als Soldat verwundet und scheint erblindet zu sein. Marie macht sich auf dem Weg zum Hospital und mit Bastians Hilfe gelingt es ihr, Ehrlich mit nach Haus zu nehmen. Nach einer Wallfahrt zur Lieben Frau von Liesse hofften die Verliebten, das Ehrlich geheilt würde. Dieser stand an der Grenze des Zweifels, an der Grenze der Verzweiflung. Ein Arzt dessen Haus auf dem Rückweg der Liebenden stand, konnte Ehrlich von der Erschöpfung helfen, aber konnte er auch sein Augenlicht wieder herstellen? Und es gibt auch noch den habgierigen Vetter Maniquet….

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 482

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Table of Contents
Teil 1
Erste Abteilung. Gott. Der blöde Ehrlich.
I. Die beiden Häuschen
II. Das Häuschen zur Linken
III. Vater Klein und sein Feld
IV. Es wird darin gesagt, wer und was Frau Marie ist, Mariechen, Peter, Ehrlich und Bernhard, auch ein paar Worte von der schwarzen Kuh
V. Bernhard und Peter vervollständigen die Familien, der erstere die des Vaters Kleine, der andere die der Frau Marie und wie diese Witwe wird
VI. Was von 1810 bis 1814 in dem Dorfe Haramont geschah
VII. Was in dem Dorfe Haramont von 1810 bis 1814 weiter geschah
VIII. Was in dem Dorfe Haramont von 1810 bis 1814 weiter geschah
IX. Was von 1810 bis 1914 in Europa vorging
X. Die Blutsteuer
XI. Die Losziehung
XII. Diejenigen, welche den Vater Kleine und Bastian falsch beurteilt haben, werden von ihrem Irrtum zurückkommen
Teil 2
XII. Diejenigen, welche den Vater Kleine und Bastian falsch beurteilt haben, werden von ihrem Irrtum zurückkommen. (Fortsetzung)
XIII. Was Vater Kleine in Villers-Cotterêts zu tun hatte
XIV. Was Bastian in Soissons zu tun hatte
XV. Aufklärung
XVI. Der abgeschnittene Finger
XVII. Die Untersuchung
Zweite Abteilung. Die Verbündeten in Frankreich.
I. Was vom 10. November 1813 bis zum 6. April 1814 in Frankreich geschah
II. Der Brief Ehrlichs
III. Der Brief Mariechens
IV. Was Ehrlich, widerfuhr, als er den Kaiser zum dritten Male sah
V. Der Passierschein
VI. Die Reise
VII. Worin dargetan wird, dass manchmal fünfzehn Schritte schwieriger sind als fünfzehn Stunden Weges
Teil 3
VIII. Wie Mariechen endlich die so schwierigen fünfzehn Schritte tun konnte
IX. Der Blindensaal
X. Die Frau des Oberarztes
XI. Die Wallfahrt
XII. Ehrlichs Traum
XIII. Hoffnung
XIV. Entmutigung
XV. Noch ein Arzt
XVI. Hoffnung
XVII. Der Himmel verdüstert sich
XVIII. Alle verzweifeln, nur Ehrlich nicht
XIX. Der Stempelbogen
XX. Etwas, an das der Advokat in Soissons nicht gedacht hatte
Verordnung
XXI. Der Mann des Schicksals

Alexandre Dumas

Impressum

Texte: © Copyright by Alexandre Dumas

Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke

Übersetzer: © Copyrigh by Dr. August Diezmann

Verlag:

Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

Gunter Pirntke

Mühlsdorfer Weg 25

01257 Dresden

[email protected]

Teil 1

Erste Abteilung. Gott. Der blöde Ehrlich.

I. Die beiden Häuschen

An der Grenze des Departements Aisne, westlich von der kleinen Stadt Villers-Cotterêts, am Saume jenes herrlichen Waldes, der zwanzig Quadratstunden bedeckt, und die schönsten Buchen wie die gewaltigsten Eichen in ganz Frankreich enthält, liegt das Dörfchen Haramont wie ein Nest in Moos und Laub, von dem aus ein sanft abhängender Weg nach dem Schloss des Fossés führt, in welchem ich die zwei ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte.

Je weiter man im Leben vorschreitet, und sich von der Wiege entfernt, um sich dem Grabe zu nähern, umso stärker und unzerreißbarer scheinen die unsichtbaren Fäden zu werden, die den Menschen an den Ort seiner Geburt binden. Das Herz, der Geist, der Verstand, das ganze Wesen sträubt sich gegen das Gespenst, welche man die Zeit nennt, und das uns mit immer kräftigerer Hand und immer fühlbarer unaufhörlich vorwärts treibt, als wenn unser Leben einen Abhang hinunter ginge und, den Gesetzen der Schwere zu Folge, gegen das Ende hin um vieles rascher als im Anfange. Da wendet man sich weinend rückwärts, und klammert sich an alles an, was man auf dem Wege finden kann. Da aber Alles, was man ergreift, ebenfalls abwärts getrieben wird, so fühlt man, dass jeder Widerstand nutzlos und vergeblich ist, man breitet die Arme aus nach den entfernten Gegenständen, die am Morgen-Horizont glänzen, wie am entgegengesetzten im letzten Flammenglühen der untergehenden Sonne bisweilen die Mauern eines Häuschens leuchten, oder die Fenster eines stolzen Schlosses brennen.

Das Menschenleben zerfällt in zwei ganz geschiedene Teile: die ersten fünf und dreißig Jahre sind für die Hoffnung, die anderen für die Erinnerung.

Dann erscheint eine andere Luftspiegelung in der Wüste, die man durchwandert hat, und in welcher die Oasen immer seltener werden; die Gegenstände nämlich, welche dass körperliche Auge im Anfange des Weges erblickte, als man noch mit stolz erhobenem Haupte und mit offenen Armen der Göttin Hoffnung nacheilte, — die Gegenstände, welche man überhaupt am Wege ließ, die man als zu unbedeutend gering achtete, wohl gar verachtete, erscheinen von dem Augenblicke an, da man die Scheidelinie überschritt, nicht mehr durch die Hoffnung, sondern durch die Erinnerung lebt, aber noch immer weiter schreitet, weil man im Leben weiter muss, wenn auch mit gesenktem Haupte und schlaff herabhängenden Armen, — jene Gegenstände also erscheinen allmählich von neuem im Leben der Seele, und da die Seele, die Himmelstochter, sie ganz anders würdigt als sie der Stolz würdigte, ein Erdensohn, so wird ihr Dunkel Licht, ihre Unbedeutendheit Größe, und man liebt, was man verachtete, man bewundert, was man verschmähte.

Aus diesem Grunde kehre auch ich bisweilen, statt immer vorwärts zu geben, wenn ich neue Menschen und neue seltsame Ereignisse suche, in Gedanken auf jenen vielbetretenen Pfad meiner Jugend zurück, wo ich die Spuren meiner kleinen Füße, meiner kleinen Schritte neben den geliebten Fußstapfen meiner Mutter finde, von dem Tage an, an welchem meine Augen sich öffneten, biss zu jenem, an welchem die ihrigen sich schlossen, und ich traurig, allein und verlassen zurückblieb, wie der junge Tobias, als der Engel gen Himmel gestiegen war, der ihn bis an jenen wunderbaren Fluss geführt hatte, dessen Namen Moses uns zu sagen vergessen hat.

Heute nun will ich Euch sagen, was ich im Beginne jenes Pfades sehe, etwas jenseits des Dorfes Haramont, am ersten Abhange, über den der Weg immer abwärts nach dem Schlösschen des Fossés führt.

Zwei Häuschen sind es, die neben dem Wege stehen, nur durch diesen Weg getrennt sind, einander mit Tür und Fenster ansehen, im goldenen Sonnenstrahle einander anlächeln, das eine mit einem Weinstock umkränzt, das andere ganz mit Epheu umkleidet, der das Dach wie mit einem Mantel umhüllt, und dann die Wand bedeckt, wie ein grünes Kleid.

Zwei Familien bewohnten diese Häuser.

Eine dieser Familien bestand aus einem siebzigjährigen Manne, einer Frau von acht und dreißig Jahren, seiner Schwiegertochter und einem sechzehnjährigen Burschen, seinem Enkel. Vervollständigt wurde sie durch einen großen Hund von der Race der St. Bernhards-Hunde, durch einen Esel und einen Ochsen.

Sie bewohnte das Haus an der linken Seite des Weges. Die andere Familie, an Personen eben so zahlreich, an Tieren weniger, bestand aus einer Mutter, deren Tochter und Sohn. Die Mutter war sechs und dreißig, die Tochter sechzehn, der Sohn fünf Jahre alt.

Eine einzelne Kuh, die im Stalle vor einer nur mit frischem Grase gefüllten Raufe stand, antwortete mit ausgestrecktem Hals blökend ihrem Nachbar, dem Ochsen, so oft es diesem gefiel sich brüllend nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Vielleicht wundert sich der Leser, besonders wenn er ein Städter ist, und das patriarchalische Landleben nicht selbst mitgelebt hat, dass ich einen Hund, einen Esel, einen Ochsen, eine Kuh als Glieder einer christlichen Familie mit aufführe. Da antworte ich: Freund, Sie sind zu streng gegen die Niedrigen der Schöpfung; ich weiß wohl, dass der Segen der Kirche sie nicht erreicht; dass sie als Heiden und Unreine außerhalb des christlichen Gesetzes stehen; dass der Gott-Mensch, der für die Menschen gestorben ist, für sie nicht gestorben ist; aber erinnern Sie sich, dass der Orient den Glauben hegt, das Tier sei eine schlafende oder verzauberte Seele; erinnern Sie sich, wie nach dem Glauben Indiens, jener ernsten, majestätischen Mutter unseres streitsüchtigen Abendlandes, die Poesie dem ersten Dichter offenbart worden ist: er sah gedankenvoll zwei Tauben fliegen, er bewunderte die Anmut ihres Fluges und die Schnelligkeit ihrer Liebesverfolgung, — mit einem Male fliegt ein Pfeil von einer versteckten Hand, pfeift durch die Luft und trifft eine der Tauben; da vergießt er Tränen des Mitleides, sein Wehklagen, das sich nach dem Schlagen seines Herzens, misst, erhält eine rhythmische Bewegung, die Poesie entsteht, und seit diesem Tage fliegen die Verse, melodische Tauben, Paarweise über die ganze Erde. — Denken Sie an Virgil, den zarten, tiefsinnigen Dichter, und hören Sie ihn, wenn er den Bürgerkrieg beweint, welcher die väterlichen Felder entvölkert, wenn er die Hirten beklagt, die ihre lieblichen Wiesen verlassen müssen; — hat er in seinem so viel Unglück umfangenden Mitleiden nicht auch eine Träne für die großen langgehörnten weißen Rinder, deren verschwundene Geschlechter Italien befruchtet haben? Hören Sie ihn, wenn er die Schmerzen des Dichtere Gallus, seines Freundes, beklagt, — zeigt er ihm nicht hinter den Göttern, die er herbei führt um ihn zu trösten, auch seine Schafe, die traurig blöckend um ihn her stehen, und ruft er nicht aus in der melodischen Sprache, um derentwillen er der Schwan von Mantua genannt worden ist: »die demütigen Schafe achten Dich nicht gering, verschmähe Du sie auch nicht, göttlicher Dichter!«

Gehen Sie dann aus dem Altertum in das Mittelalter über, und erinnern Sie sich der reizenden Sage von der Genoveva von Brabant. Die Gattin wird auf die Anklage eines Verräters durch den Gatten verstoßen zugleich mit dem Kinde, das in Schuld geboren sein soll; eine Hirschkuh leiht ihre Höhle der Mutter, und gibt ihre Milch dem Kinde; da8 Tier vergisst, dass es durch den Stolz des Menschen aus der großen Menschenfamilie ausgestoßen worden ist, und nimmt die Familie auf. Eine schuldlose Hirschkuh rettet die schuldlose Mutter mit dem schuldlosen Kinde.

Die Hilfe kommt von dem Niedrigen, die Rettung von dem Kleinen. Denken Sie an jenes Manuskript, das uns lehrt, wie wir die flüchtigen Bienen zurück zu rufen haben, und sagen Sie mir, ob jemals eine führendere, sanftere Bitte an ein verständiges Wesen gerichtet worden ist, als dies Gebet an die Königin des kleinen geflügelten Reiches: »Ich beschwöre Dich, Mutter der Bienen, bei Gott, dem Könige des Himmels und bei dem Erlöser der Erde, Gottes Sohne, ich beschwöre Dich nicht hinweg zu fliegen, und so schnell als möglich zu deinem Baum zurückzukommen; dort wirst Du Dich mit deinen Kindern und Gefährten zusammentun, dort werdet ihr ein von mir bereitetes gutes Gefäß finden, und im Namen des Herrn arbeiten.«

Der Landmann denkt nicht wie Sie Städter. Die Tiere haben in der Familie des Bauern ihren Platz unmittelbar nach dem Jüngstgebornen der Familie, wie in den adeligen sächsischen Häusern die weitläufigen Verwandten unten am Tische. In der Bretagne haben sie heute noch ihren Teil an der Freude wie an der Trauer der Familien: bei der Freude bekränzt man sie mit Blumen, bei der Trauer ums hüllt man sie schwarz.

Betrachten Sie doch das kluge Aussehen Einiger, das sanfte, träumerische Anderer; erkennen Sie nicht, dass ein großes Geheimnis zwischen ihnen und dem Herrn besteht, ein Geheimnis, das das Altertum vielleicht an dem Tage erkannte, als Homer die Fabel von der Circe schrieb? Will nicht der Rabe mit dem melancholischen Gekrächze, der drei Jahrhunderte lebt, d. h. vier Menschenalter, durch diese Stimme von der Vergangenheit sprechen, die traurig und dunkel war wie sein Gefieder? Hat und die Schwalbe, die aus dem Süden kommt, von den großen Wüsten nichts zu verkünden, in welche der Fuß des Menschen nicht zu dringen vermag, und die ihr Flug durchmaß? Wissen der Adler, der in der Sonne fliegt, und die Eule, die im Dunkeln steht, nicht besser als wir, was geschieht, der erste in der Welt des Tages, die zweite in der Welt der Nacht? Könnte endlich der große Stier, welcher unter dem Eichbaume das blass grüne Gras abweidet, so lange sinnend da stehen und klagend jammern, wenn ihm nicht ein Gedanke durch den Kopf ginge, wenn er nicht vielleicht gegen Gott sich über die Undankbarkeit des Menschen beklagte, seines älteren Bruders, der ihn verkennt?

Betrachten Sie einmal neben einander ein junges Tier und ein kleines Kind, hören Sie auf die unartikulierten Laute, die sie bei ihren Spielen und Liebkosungen wechseln, und Sie werden zu glauben versucht werden, das Tier versuche die Sprache des Kindes, das Kind die Sprache des Tieres zu reden. Welche Sprache sie aber auch reden mögen, sie verstehen einander sicherlich, und sie tauschen jene Urgedanken aus, welche vielleicht mehr Wahrheiten über Gott ausdrücken, als Plato und Bossuet jemals ausgesprochen haben.

Nun aber kehren wir zu den beiden Häuschen zurück, und versuchen unsere Leser mit den guten Landleuten bekannt zu machen, die darinnen wohnen.

II. Das Häuschen zur Linken

Das Häuschen zur Linken, das von dem Weinstocke umkränzt war, und von dem siebzigjährigen Alten, der acht und dreißig jährigen Frau und dem sechzehnjährigen Burschen bewohnt wurde, auf dessen Haustürschwelle ein großer Hund der Länge nach ausgestreckt lag, und mit den Augen in der Sonne blinzelte, in dessen Stalle ein Esel schrie und ein Oche brüllte, war im unbeschränkten Besitze des siebzigjährigen Alten, des Schwiegervaters der Frau, des Großvaters des Burschen.

Dieser Alte, welcher keineswegs die Hauptperson in unserer Geschichte ist, hieß Anton Manscourt, da er aber seiner Zeit der zweite Sohn der Familie gewesen, so hatte er von dem Augenblicke an, da er 1740 zur Welt gekommen bis zu dem, in welchem wir ihn finden, um das Jahr 1810, den Namen der Kleine oder der Jüngere geführt, mit dem Unterschiede, dass man ihn von da an, als er sich verheiratete und selbst einen Sohn bekam, nicht mehr kurzweg den Kleinen, sondern Klein-Vater nannte.

Wenige Personen in dem Dorfe erinnerten sich seines eigentlichen Namens, und da er selbst ihn fast vergessen hatte, so war die natürliche Folge, dass man seine Schwiegertochter Frau Kleine und den jungen Burschen dem kleinen Kleinen nannte.

Wenn von dem Letzteren die Rede sein wird, werden wir angeben, wie dieser Name, nach der in den Dörfern bestehenden Sitte, wiederum in einen andern umgewandelt worden war, den man indes nicht wie bei dem Großvater von der Stellung in der Familie, sondern von der niedrigen Stelle hergenommen hatte, die er der Meinung der Bauern nach in der geistigen Ordnung der Natur einnahm.

Vater Kleine war ein echter Bauer, schlau und pfiffig an der Oberfläche, wie es einem Nachbar der Picardie ziemt, ehrlich, brav und treu im Grande, wie es einem Sohn des alten Gebietes gebührt, das man Ile de Francs heißt. Vielleicht wird es Manchem nicht ganz leicht diese Schlauheit und Pfiffigkeit mit der Treue, Ehrlichkeit und Redlichkeit in Einklang zu bringen; sie mögen daran denken, dass ein Schleier ein Gesicht verhüllen und dasselbe doch jedem Blicke sichtbar lassen kann und werden durch diesen Vergleich ein richtiges Bild von dem erhalten, was wir sagen wollen.

Als Sohn und Enkel von Bauern hatte Vater Kleine in der Person seiner Vorfahren alle Umgestaltungen und Revolutionen des Landes durchgemacht, auf dem er geboren worden oder vielmehr gewachsen war. Im Jahre 1792 war dieses Land, dieser Boden frei geworden und er mit ihm. Dann war er als Tagelöhner in den Dienst des Pächters getreten, welcher als Besitzer des Gutes Longpré den Mönchen folgte, den früheren Besitzern des Klosters dieses Namens.

Durch Arbeit und Sparsamkeit hatte er sich eine kleine Summe von zwölfhundert Francs gesammelt und mit derselben 1798 zwei Morgen Feld gekauft. Deshalb hatte man denn auch in dem Dorfe gesagt, Klein-Vater habe einen Schatz versteckt gehabt — mit Recht. Dieser Schatz aber, den er von Gott selbst empfangen, war Arbeit und Mäßigkeit. In dem Herzen des französischen Bauers hat ein Gedanke tiefe Wurzel geschlagen, der Gedanke: seinen Teil, wie klein er auch sein möge, von Frankreichs Erde zu besitzen, ein Stückchen des Vaterlandes sein zu nennen, wäre es auch eben nur groß genug die Wiege seine Kindes darauf zu stellen oder das Grab seines Vaters da zu graben, nicht ein Mietling zu sein, den die Laune heute annimmt und der Zorn morgen fortschickt; weder Sklave, noch Leibeigener, noch Leibeigener, sondern frei zu sein — ein großes, herrliches Wort, welches das Herz dessen erweitert, der es ausgesprochen hat, dass den Menschen moralischer, besser macht.

Vater Kleine kaufte also um 1798 zwei Morgen Feld für die zwölfhundert Francs, die er in den ersten dreißig Jahren seines Lebens erspart hatte. Vom besten Boden freilich waren die Felder nicht, denn der beste bedeckte sich regelmäßig jedes Jahr mit goldenem Weizen ober grünem Klee, während das von ihm erkaufte Feld, das am Abhange eines Berges lag, reich mit Steinen übersäet war und nur Disteln trug.

Aber nun begann der Kampf der Menschenarbeit mit der Bodenunfruchtbarkeit. Von vier Uhr des Morgens bis sechs Uhr des Abende sah man den Vater Kleine gebückt auf diesem Felde, wie er die Disteln ausraufte und die Steine auflas, die er nicht auf die Felder der Nachbarn zu werfen wagte, da sie ja einmal auch die seinigen werden konnten, werden sollten.

Die Leser erinnern sich der schönen Sage von der Undine, von der Anziehung des Wassers für den Fischer, der durch den klaren Spiegel hindurch das blonde Köpfchen einer Nymphe sieht, die ihm zulächelt und ihm die Arme entgegen breitet. Der Zauber wird mächtiger und mächtiger; auch der Fischer: lächelt und breitet die Arme aus; die Undine kommt näher und näher an die Oberfläche des Sees, ihr blaues Auge bedeckt nur noch ein Schleier so durchsichtig wie Gaze, — ihr blondes Haar schwimmt auf dem Wasser, ihre Korallenlippe atmet bereits die Luft ein, — halb seufzend, halb küssend taucht der Unvorsichtige hinein und glaubt die Nymphe an sich zu ziehen, aber sie zieht ihn auf ihr Bett von Wassergras, in ihre Muschelgrotte, aus der er nie wieder herauskommt, um seine alte Mutter zu sehen, die betet und sein Kind, das weint.

Ach, der Bodenzauber wirkt auf den Bauer noch weit mächtiger als der Wasserzauber auf den Fischer. Das Land, das der Bauer kauft; ist rund, er muss den andern Teil kaufen, um es vierseitig zu machen; ist es endlich das geworden, so muss er noch ein Stück kaufen, um es rund zu machen Ach gar Mancher erliegt diesem Ehrgeize; er kauft und um kaufen zu können, leiht er zu sechs, acht, zehn Prozent auf das unselige Feld, das nur zwei Prozent einbringt. Da beginnt denn der Kampf zwischen dem Wucher und der Arbeit und der Wucher, eine hässliche Hexe mit langen krummen Nägeln an den Fingern, zieht gar oft genug den Bauer, nicht auf ein Bett von Gras und Muscheln, sondern auf das Lager der Armut und der Not, in das Grab des Armen.

Zum Glück war Vater Kleine dazu zu klug, denn sein Spruch; lautete: Sammle, aber Borge nicht.

Als die Disteln und die Steine beseitigt waren, als die Bestellungszeit kam, nahmen er und seine Schwiegertochter einen Spaten und Frühstück und Mittagsbrot in einem Korbe mit sich Frühstück und Mittagsbrot von Brot, Käse und Obst. Die Quelle, die den Durst löschen sollte, sprudelte an der Seite des Berges rein und frisch hervor und schlängelte sich herab wie einer der seltenen Herbstfäden, die am Grase hängen bleiben. Warum etwas Anderes? Wenn man Sonntage mittags eine halbe Flasche zu Dreien trank, so reichte das hin, um die Erinnerung an den Geschmack des Weines die ganze Woche zu erhalten.

Die Säzeit war die Ruhezeit für die arme Madelaine, die Schwiegertochter des Alten; sie konnte zu ihrem Kinde zurückkehren, das sie während der Arbeit bei der Nachbarin gegenüber gelassen hatte. Die Arbeit ermüdete sie sehr, aber sie wagte nicht zu klagen; die Arme besaß ja nichts als ihre Frömmigkeit und ihre Geduld und da der Schwiegervater sie und ihr Kind ernährte, so musste sie wohl das Brot für sie Beide verdienen. Bei dem Säen aber konnte sie nicht helfen; Vater Kleine tat das selbst und was er selbst verrichten konnte, tat er.

Darauf musste das Feld geeggt werden. Klein-Vater verstand von Allem etwas, wie jeder rechte fleißige Bauer, also auch von der Wagnerarbeit. Er kaufte Holz, machte eine Egge und als sie abends fertig geworden war, sagte er zu seiner Schwiegertochter, am andern Tage musste geeggt werden, damit das ausgesäte Getreide unter die Erde komme.

Das war eine noch beschwerlichere Arbeit als das Graben; sie mussten sich wie Ackerstiere an die Egge anspannen, die durch einen großen Stein noch beschwert war. Für Vater Kleine war das eine Kleinigkeit, aber für die Kräfte Madelainens zu viel. Ein Nachbar, der mit einem Esel und einem Ochsen eggte, erbarmte sich ihrer und eggte ihr Feld unentgeltlich mit.

»Ich danke, Mathieu,« sagte Klein-Vater; »Du hast der armen Madelaine einen großen Gefallen getan.«

»Nicht Ursache,« antwortete der gefällige Nachbar; »aber wenn Ihr einen Rat von mir annehmen wollt, kauft Euch für das nächste Jahr einen Esel. Seht, der meinige da macht sich ganz gut. Ich habe eine kleine Erbschaft getan und werde mir noch einen Ochsen kaufen; da lasse ich Euch den Esel gern ab.«

Vater Kleine schüttelte den Kopf und antwortete:

»Das geht über meine Mittel.«

Dann drehte er sich aber zu Madelainen um, die ganz blass aussah und ihn betrübt betrachtete. Er seufzte.

»Es geht über die Mittel?« wiederholte Mathieu lächelnd. »Es ist also nicht wahr, dass Ihr einen Schatz vergraben habt?«

»Ach,« antwortete Vater Kleine, »wenn ich einen Schatz vergraben hätte, würde ich denn meine Schwiegertochter, die Witwe meines Wilhelm, an eine Egge spannen?«

»Freilich,« meinte Mathieu, der wohl einsah, dass er die bittere Wahrheit gehört hatte; es ist wahr und Ihr sollt meinen Esel wohlfeil haben.«

Vater Kleine sah den Grauen an; er war ein schöner Esel mit glänzendem Fell, langen geraden Ohren und einem prächtigen schwarzen Streifen auf dem Rüden hin. Er wagte endlich nach dem Preise zu fragen.

Nachbar Mathieu sah, was in den Fragenden Gedankten vorging und beruhigte ihn mit den Worten:

»Er ist nicht teuer und Ihr werdet keine solche Gelegenheit wiederfinden. Ich lasse Euch meinen Grauen für sechzig Francs, die Ihr mir in drei Jahren bezahlen könnt, zwanzig Francs jedes zu Martini. Das ist doch halb geschenkt, nicht wahr?«

Es war wahr und Vater Kleine hatte also nicht den Mut, wenn auch die Lust zu handeln. Er sah Madelainen an, welche die Augen abwendete, da sie ihren Schwiegervater zu einer solchen Ausgabe nicht veranlassen wollte.

»Wir wollen sehen,« sagte er.

»So seht zu,« antwortete Nachbar Mathieu. »Für Jeden kostet er achtzig, Euch lasse ich ihn für sechzig und ich verkaufe ihn nicht ohne es Euch zu melden.«

»Ich danke.«

»Ihr seid ja auch brave Leute und verdient's, dass der liebe Gott Euch segnet. Also wenn Ihr wollt, gehört der Graue Euch!«

Darauf schwang sich Mathieu auf seinen Esel und kehrte nach seinem Hause zurück, wohin der Ochs ihm folgte, der wusste, dass frisches Gras seiner im Stalle warte.

Vater Kleine hatte geantwortet; wir wollen sehen, nicht weil er nicht eingesehen, welchen Vorteil ihm ein solcher Handel bringe, sondern weil er den Esel erst bei der nächsten Bestellung brauchte und ihn bis dahin nicht nutzlos füttern wollte. Auch musste noch etwas anderes getan werden, ehe er den Grauen kaufen konnte, er musste einen Stall bauen und wie er eine Egge gefertigt hatte, so machte er nun den Maurer und baute einen Stall. Zum Glück gab es noch Platz hinter dem Hause und Steine auf dem Felde, er brauchte also nur einige Scheffel Kalk zu kaufen.

Ohne einem Menschen etwas zu sagen, ging Vater Kleine an die Arbeit. Freilich musste der Stall den Grauen sofort teurer machen. Zwar war Nachbar Mathieu ein braver Mann, aber so brav ein Mensch auch ist, der Teufel führt ihn des Tages mindestens siebenmal in Versuchung.

Merkwürdiger Weise baute er den Stall so groß, dass zwei Tiere darin Platz hätten finden können, aber er tat es gewiss nur in Folge eines geheimen Gedankens. Ein Gespann von einem Ochsen und einem Esel war die äußerste Grenze seiner Wünsche.

Am Tage nach der Vollendung des Stalles glaubte er einen Esel in demselben schreien zu hören. Er stand erstaunt auf, um nachzusehen.

Der Graue befand sich wirklich in seiner neuen Behausung und fraß von einem Bündel frischen Grases.

Klein-Vater fragte sich hinter dem Ohre und ging wieder in das Haus. Da traf er den Nachbar Mathieu, der unterdes eingetreten war, auf ihn wartete und ihn grüßte.

»Hast Du denn den Hans zu mir gebracht?« fragte Vater Klein.

»Nun freilich,« antwortete der Nachbar.

»Ich habe ihn ja nicht verlangt.«

»Das ist freilich wahr, aber ich sah doch, dass Ihr den Stall bautet und da dachte ich so bei mir: Klein-Vater scheint doch dein Grauchen kaufen zu wollen. Weil ich vorgestern einen zweiten Ochsen gekauft und in dem Stalle keinen Platz für drei Stück Vieh habe, sagte ich zu mir selber: jetzt ist die rechte Zeit, den Grauen unterzubringen, und so führte ich ihn in euren Stall.«

»Bei dem Preise bist Du geblieben?« fragte Vater Kleine mit einiger Besorgnis.

»Ein ehrlicher Mann hält sein Wort, und ich habe also von Euch sechzig Francs zu fordern, zwanzig nächste Martini, zwanzig übers Jahr und so fort.«

Vater Kleine dachte einen Augenblick nach und man sah es ihm recht leicht an, dass er sich mit einem großen Gedanken trug. Nach einigen Sekunden hatte er seinen Entschluss gefasst und er fragte:

»Etwas ließest Du doch wohl ab, wenn der Esel bar bezahlt würde?«

»Spaßvogel,« antwortete der Nachbar; »ich wusste es doch, dass Ihr einen Schatz irgendwo vergraben habt.«

»Davon reden wir nicht; ich frage bloß und Du hast mir eine Antwort darauf zu geben. Würdest Du etwas nachlassen oder nicht?«

»Sechs Francs lasse ich ab und bezahle eine Flasche Wein.«

»Ein Nachlass von zehn Francs ohne Wein wäre mir lieber,«

»Ah so!« antwortete der Nachbar Mathieu lachend, »ich habe ganz vergessen, dass Ihr ein Wassertrinker seid.«

»Der Wein bekommt mir nicht.«

»Nun, so gebt fünfzig Francs,« fuhr der Nachbar fort, »und da ich kein Geizhals bin wie Ihr, bezahle ich doch noch eine Flasche.«

»Gut. Ich komme zu Dir und bringe Dir das Geld.«

»Da,« meinte der Nachbar, »damit ich nicht sehe, wo Ihr es versteckt habt. Vater Kleine, Ihr seid ein Pfiffikus.«

Der Nachbar war aber auch ein Pfiffikus, denn er hatte recht geraten. Vater Kleine leugnete zwar, dass er aus diesem Grunde nicht auf der Stelle zahle, aber seine Beteuerungen überzeugten den Nachbar nicht, der Kopfschüttelnd fortging und vor sich hin brummte: »er ist ein alter Pfiffikus.«

Kaum hatte er sich aus dem Hause entfernt, so machte Vater Kleine die Tür zu, horchte auf der ersten Treppenstufe, ob Madelaine, die oben war, nicht etwa gerade herunter kommen wolle, schlich dann an sein Bett, sah sich ängstlich um und nahm aus einem Verstecke in der Wand ein eisernes Kästchen, das er mit einem Schlüsselchen öffnete, welches an einem Riemchen im Knopfloche seiner Lederbeinkleider hing. Dann hob er leise mit einer Hand den Deckel auf, als fürchte er, die fünfzehn Louisdor, welche darin lagen, könnten Flügel erhalten haben und fortfliegen wollen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger der andern Hand hinein, nahm zwei schöne Louisd'or heraus, schloß das Kästchen wieder zu, stellte es an seinen Ort, vervollständigte die fünfzig Francs mit dem fehlenden einzelnen Gelde, dass er theils aus einem Leberbeutelchen nahm, theils aus allen Taschen zusammen suchte und betrachtete dabei mehrmals seine beiden armen Goldstücke, die ihren Herrn wechseln sollten, mit tiefem Seufzer. Endlich ging er hinaus, um das Geld fortzutragen, schritt aber an dem Stalle vorbei, um sich für das Opfer, das er brachte, an dem Anblicke des Grauen wenigstens in etwa zu trösten.

III. Vater Klein und sein Feld

Der Handel war abgeschlossen und endigte nach dem Versprechen Mathieu’s in der Schenke der Mutter Boulanger.

Im nächsten Jahre brauchte Madelaine nur zu graben; indes auch dies war für die arme Schwächliche schon viel, so dass Nachbar Mathieu, der auf seinem Felde pflügte, wiederum Mitleid mit ihr hatte, als er sie erschöpft und matt auf den Spaten gestützt ausruhen sah.

»Klein-Vater,« rief er, »ich habe Euch noch einen Vorschlag zu machen.«

Vater Kleine sah den Nachbar von der Seite an.

»Ich weiß,« fuhr der Nachbar fort, »von Herrn Niguet, der mein Notar und der Eurige auch ist, dass Ihr ein dreiviertel Stück Feld neben mir gekauft und bar mit siebenhundert Francs in schönen Louisdor bezahlt habt. Für dieses Feld, das mit dem Eurigen hier nicht zusammenhängt, gebe ich Euch von dem da angrenzenden anderthalb Morgen. So gut ist hier freilich der Boden nicht, dass weiß ich wohl, aber Anderthalb ist auch noch einmal so viel als Dreiviertel.

Vater Kleine kratzte sich hinter dem Ohre, denn der Vorschlag schien wohl annehmbar zu sein.

Wir wollen sehen,« antwortete er wie gewöhnlich,

»Greift geschwind zu, Klein-Vater,« fuhr Mathieu fort; »es passt mir gerade jetzt, und um Euch zu beweisen, dass mir die Sache Ernst ist, will ich Euch noch zwei Vorschläge machen, mit denen gewiss auch Madelaine einverstanden ist.«

»Ich habe dem Vater feine Vorschriften zu machen«, antwortete diese,

»Sag es immer, was Du meinst,« erwiderte Vater Kleine dem Nachbar.

»Nun, Ihr schafft die Disteln und die Steine fort; unterdes pflüge ich nicht nur eure zwei Morgen, sondern auch die anderthalb, die ich Euch als Tausch gebe, überdies füge ich, da der Boden nicht der beste ist, ein Fuder Dünger, gut gemessen, dazu. Was meint Ihr dazu?«

»Etwas müsstest Du doch noch dazu geben,« meinte Vater Kleine.

»Ihr seid ein alter Geizdrache«, antwortete der Nachbar Mathieu, »es schadet aber nichts, denn mich dauert die arme Madelaine, die eine Freundin meiner Seligen war, wenn ich sie so arbeiten sehe. Ihr, wohlverstanden ihr und erst zum nächsten Pflügen schenke ich den Faulen, meinen Ochsen da, der zu klein für den andern und für die Arbeit nicht stark genug ist.«

»Der Faule ist alt,« sagte Vater Kleine, der aber nur auf den Busch schlug.

»Ach geht, alt! Fünf Jahre hat er. Wenn ich ihn schlachten lassen wollte, gäbe mir der Metzger 180 Francs, aber ich kenne das arme Tier nun drei Jahre und möchte ihm nichts Schlechte widerfahren lassen. Deshalb gebe ich ihn Madelainen, weil ich weiß, dass sie ihn niemals schlachten lassen wird.«

»Nein, gewiss nicht,« antwortete Madelaine.

»Du spricht ja als wäre der Handel schon abgeschlossen,« fiel Vater Kleine ein.

»Ja, da habe ich gefehlt; nehmt nicht übel, Vater,« sagte die demütige Frau.

»Übel soll ich's nicht nehmen? Hast gar nicht Ursache, so zu bitten. Übrigens hat Nachbar Mathieu Recht und der Handel könnte wohl zu Stande kommen, ja.«

»Er wird zu Stande kommen; er ist zu vorteilhaft, als dass ihr ihn von der Hand weisen könntet.«

»Hm!« fiel Klein-Vater ein. Warum machst Du mir denn den Antrag, wenn er für mich so sehr vorteilhaft wäre?«

»Warum ich ihn Euch mache? Das begreift Ihr freilich nicht. Ich mache ihn Euch, weil ich Euch nützlich sein will, weil ich die Madelaine lieb habe, hört Ihr wohl? Weil ich sie von Herzen lieb habe und weil sie — hat sie Euch nichts davon gesagt? Schon vor drei Jahren Frau Mathieu geworden wäre, wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht, — sie will dem Wilhelm treu bleiben. Und dagegen kann man nichts sagen, wie Ihr einsehen werdet, weil sie eine brave Frau ist; aber behilflich und nützlich darf man ihr doch sein und darum mache ich Euch einen Antrag, der für Euch so vorteilhaft ist, wie Ihr wohl wisst, alter Geizdrache, denn Ihr henktet Euch auf, wenn ich mein Wort zurücknähme.«

»Ja,« fiel Klein-Vater ein, ohne auf die Rede Des Nachbars geradezu zu antworten, wer bezahlt denn aber die Kosten bei dem Handel?«

»Ah, da drückt Euch der Schuh?«

»Es ist das immer eine Sache von fünfunddreißig bis vierzig Francs.«

»Nun, dass wird sich auch machen lassen. Ihr habt gestern bei dem Herrn Notar Niguet einen Kontrakt machen lassen; ausgefertigt ist er noch nicht; es kann also mein Name statt des Eurigen hineingesetzt und beigefügt werden, dass ich Euch dies Stück Feld da überlasse. Die Kosten teilen wir dann, wie es sich gebührt.«

»Hm! hm!« brummte Vater Kleine und schielte nach dem Felde, das ihm als Tausch angeboten wurde, gleichsam als wolle er zusehen, wie es sich ausnehmen werde, wenn es dem seinigen beigefügt sei. »Hm! Hm!«

»Nun?«

»Wenn nun aber,« antwortete Vater Kleine, »zwischen hier und der Zeit, wo Du mir deinen Ochsen da übergeben sollst, das Tier stirbt?«

»Wenn e stirbt? Ist das wahrscheinlich?«

»Möglich ist's. Im Kalender steht, im nächsten Jahre käme eine Seuche unter das Rindvieh.«

»Ja, Klein-Vater, vorsichtig seid Ihr, das muss wahr sein.«

»Es liegt in meinem Charakter.«

»Nun,« antwortete Nachbar Mathieu, »der Ochse ist 180 Francs wert, habe ich gesagt. Wenn er stirbt, gebe ich Euch so viel Geld. Habt Ihr nun noch etwas zu bemerken?«

»Hast Du nicht vielleicht eine alte Pflugschar, die Du nicht mehr braucht, he?«

»Die ließe sich wohl finden.«

»Und noch etwas. Könntest Du mir deinen kleinen Ochsen nicht zum Eggen borgen, wenn Du ihn nicht gerade selbst brauchst?«

»Ihr sollt ihn haben.«

»Mehr verlange ich nicht. Ich mache bei Geschäften nie viele Umstände. Topp!« sagte er und reichte dem Nachbar Mathieu die Hand.

»Topp!« entgegnete dieser, indem er einschlug.

»Abgemacht!« setzte Vater Kleine hinzu. »Wenn ich einmal mein Wort gegeben habe, nehme ich es nicht zurück.«

»Das glaube ich wohl,« antwortete Nachbar Mathieu mit schlauem Blick.

Madelaine aber dankte ihm mit einem Blick, denn sie hatte wohl erkannt, dass er alles ihretwegen getan.

Von diesem Augenblicke an brauchte Madelaine nicht mehr zu graben und zu eggen und konnte sich ganz dem Hause und ihrem Kinde widmen.

Vater Kleine aber war nun wirklich Haus- und Gutsbesitzer, denn er hatte sein Häuschen mit dem Stalle, er hatte Feld, einen Esel und einen Ochsen, eine Egge und einen Pflug. Das Feld war fruchtbar und Vater Kleine ging so stolz umher wie ein großer Gutsbesitzer. Einige Ursache dazu hatte er auch, denn fast jedes Jahr kaufte er noch Feld an, bis er endlich acht Morgen besaß.

Dieses Feld liebte er über alles, mehr als er seine Frau geliebt hatte, mehr als er seine Schwiegertochter liebte — da er Madelaine ja dem Felde fast aufgeopfert hätte — und doch liebt er Madelainen sehr.

Alle Lage war er auf seinem Felde, denn das Feld ist dankbar; je mehr man sich mit ihm beschäftigt, um so reichlicher trägt es; alle Lage war er da, von früh bis zum Abend, in der Nacht wenigstens in Gedanken, denn er träumte davon, er sah mit geschlossenen Augen, wo die schönsten Ähren waren, wo der Klee am dichtesten stand. Bemerkte er im Winter einen übersehenen Stein, ein Büschel Unkraut, so nahm er sich vor: morgen will ich den Stein und das Unkraut fortschaffen. Und so ging es alle Tage, alle Nächte.

Kam der Sonntag, auf den die armen Arbeiter in den Städten so sehnlich warten, der Tag, an welchem selbst Gott, die Quelle aller Kraft wie aller Güte, ausruhte, damit die Menschen einen Ruhetag hätten, so sagte Vater Kleine Abende nach dem Essen:

»Na, Madelaine, morgen will ich einmal recht ausruhen.«

»Daran tut Ihr wohl, Vater, antwortete Madelaine lächelnd.

Der andere Tag, der Sonntag kam, die Glocken läuteten und sprachen: Heute ist der Ruhetag, der Tag Gottes, der Tag des Herrn. Freut Euch, Ihr Armen und Vernachlässigten, vergesst die Mühsal, die Ihr gestern gehabt habt, vergesst die, welche Ihr morgen haben werdet; legt Eure besten Kleider an und ruht aus zwischen der verrichteten und der kommenden Arbeit.«

Während Madelaine auf den Glockenruf mit dem Gebetbuche in der Hand in die Kirche ging, in welcher ihr Sohn bei der Messe diente, zog der Vater Kleine allerdings seinen besten Rock, den braunen, den Traurock an, die kurzen Hosen und die blauwollenen Strümpfe im Sommer, die grauen wollenen im Winter. Dann stand er einige Augenblicke auf der Schwelle seines Hauses, als sei er unentschlossen, was er tue. Viele, die vorübergingen, redeten ihn an und sagten:

»Vater Kleine, wollt Ihr mit Regel schieben? Wollen wir einen Schoppen trinken?«

Aber auf alle solche verführerische Aufforderungen antwortete er kopfschüttelnd:

»Ich habe keine Zeit.«

»Und warum hatte er keine Zeit?

Es ist Sonntag, Ruhetag; er musste einen Spaziergang machen, bloß einen Spaziergang, einen kleiner Besuch? Wem? — Seinem lieben Felde.

Allerdings ging er an diesem Tage nicht den geraden Weg wie an den Wochentagen; er ging bisweilen sogar am entgegengesetzten Ende durch das Dorf hinaus, und machte wohl einen Umweg von einer Viertelstunde. Das wirkliche Ziel seines Ganges aber war immer sein Feld. Wenn er auch sagte: »Wahrhaftig, heute gebe ich nicht auf das Feld, ich bin ja alle Tage dort,« Jeder hätte ihm antworten können: »Ja, Klein-Vater, eben weil ihr alle Tage auf das Feld geht, werdet Ihr auch heute dahin wandern.«

Aber am Sonntage arbeitet er doch nicht auf dem Felde? Gewiss geht er nur hin, um es zu sehen, um es wenigsten mit den Füßen zu berühren. Da liegt leider ein Stein. Der verdammte Stein! Er bückt sich, hebt ihn auf und wirft ihn hinweg. Und da ist ein ganzer Busch Unkraut gewachsen; das kann er unmöglich stehen lassen. Er bückt sich und reißt es heraus. Eine Stunde, zwei, drei Stunden sieht und sucht er umher, dann hört er Mittag schlagen, und ein Uhr ist Essenszeit. Nun muss er das Feld verlassen, um nicht Madelaine warten zu lassen. Er hat fast eine halbe Stunde weit zu gehen und er bringt eine ganze zu. Es wird ihm so schwer, sich von seinem Felde zu trennen. Kaum ist er zehn Schritte weit gegangen, so bleibt er stehen, dreht sich um und schlägt die Arme übereinander. Er blickt anfangs lächelnd umher, dann ernst, endlich betrübt; lange schaut er dies Fleckchen Erde an, dass so klein ist im Vergleich mit den umher liegenden großen Flächen und doch sein ganzes Leben in Anspruch nimmt.

Es schlägt halb auf dem spitzen Kirchturm, er muss nun nach Hause gehen. Er macht sich auf, aber nach dreißig Schritten bleibt er wiederum stehen und blickt sein Feld mit einem innigeren, leidenschaftlicheren Blicke an, als je seine Braut von ihm erhielt. Seufzend schreitet er weiter, als wisse er nicht, ob er wohl sein geliebtes Feld am andern Tage da wieder finde, wo er es gelassen.

Eifersüchtige Erde, Du, eifersüchtiger als irgendein Weib oder eine Geliebte, so willst Du geliebt sein und nur für die bist Du fruchtbar, die sich Dir ganz und stets hingeben!

So war es fast stets ein Uhr, auch wohl drüber, wenn Vater Kleine vor den beiden Häuschen am Wege ankam. Aber nicht auf das zur Linken richtete sich sein Blick, wie man doch hätte vermuten sollen. Und auf der Türschwelle zur Rechten standen denn auch fast jedes Mal, auf ihn wartend, zwei Frauen, ein Mädchen und ein Knabe, ein Kind und ein Hund. Ja, den Vater Kleine erwartete diese ganze Gruppe, denn sobald er herankam, riefen Alle: Da ist er!« Die beiden Frauen blieben auf der Schwelle stehen, die drei Kinder stiegen auf die Bank, der Hund setzte sich hin und wedelte mit dem Schweife, der einem Löwenschweife glich.

Kam Vater Kleine vor das Haus, das oben an der Böschung des Weges stand, so ging er nicht hinauf, sondern blieb stehen, nahm den Hut ab und sagte:

»Gott grüß' Euch miteinander, Frau Marie, kleine Marie und Peter! Komm, Madelaine.«

Er nickte darauf nochmals, bedeckte seinen kahlen Scheitel mit dem dreieckigen Hute und ging nach dem Häuschen gegenüber.

»Kommt!« sagte ihrerseits Madelaine zu dem Knaben und der Knabe wiederum rief dem Hunde zu: »Komm, Bernhard!«

Waren sie alle drüben an der Tür des anderen Häuschens angekommen, so drehten sie sich noch einmal um, der Frau, den Mädchen und dem Kinde in der Tür des andern Häuschens zuzulächeln, und alle, die sprechen konnten, riefen: »Abends!«

Man kennt nun den Vater Kleine so ziemlich, auch Madelaine etwas; nun müssen wir den Leser mit der Frau Marie, der kleinen Marie, Peter, dem Blöden, und dem Hunde bekannt machen.

IV. Es wird darin gesagt, wer und was Frau Marie ist, Mariechen, Peter, Ehrlich und Bernhard, auch ein paar Worte von der schwarzen Kuh

Frau Marie war die Frau des Schulmeisters und wohnte, wie man bereits weiß, dem Vater Kleine gerade gegenüber.

Eines Tages kam sie mit ihrem kleinen Mädchen von drei Monaten in das Häuschen Madelainens, die sie in Trauerkleidung weinend an der Wiege eines kleinen Knaben von fünf Monaten fand.

»Meine gute arme Nachbarin,« sagte sie, »eben habe ich erfahren, dass Dir plötzlich die Milch vergangen ist. Ist das wahr?«

»Ach Gott ja, liebe Frau Marie,« antwortete Madelaine, »und mein armes Hänschen da weint, weil es Hunger hat.«

»Mach Dir darüber keine Sorgen, Madelaine,« fuhr Frau Marie fort, »der liebe Gott hat mir zum Glück Milch für zwei gegeben und mein Mariechen da wird gern mit deinem Hänschen teilen.«

Ohne weiter auf das zu hören, was Madelaine sagte, nahm sie den kleinen Johann auf der Wiege, setzte sich mit einem Kinde auf jedem Knie nieder, entblößte mit der erhabenen Schamlosigkeit der Mütter, welche wohl wissen, dass die allgemeine Verehrung sie schützt, die beiden Halbkugeln ihrer Brust und reichte jedem Kinde eine.

Da sank Madelaine vor ihr auf die Knie, faltete die Hände und weinte.

»Was tust Du, Madelaine?« fragte Marie erstaunt.

»Ich bete an vor einer der drei großen christlichen Tugenden, antwortete die arme Mutter, »vor der Liebe.«

Ihr kleiner Sohn aber trank nach Herzenslust aus diesem ersten Becher des Lebens, dem einzigen, der Honig am Rande und keine Neige hat. Als er getrunken und sich gesättigt hatte, sagte Frau Marie:

»Da! Ich werde täglich dreimal kommen, um ihm zu schenken und wenn er dazwischen einmal weint, so rufe mich nur. Ich bin nicht weit und die Flasche ist auch immer gefüllt.

Sie legte das Kind wieder in die Arme der Mutter, die es an ihr Herz drückte und weinend in die Wiege legte. Es war ja der armen Madelaine als sei sie nun weniger die Mutter ihres Kindes, da eine andere Mutter dasselbe nährte.

Warum aber weinte die arme Frau in Trauerkleidung, warum war der armen trostlosen Mutter so plötzlich die Milch vergangen?

Wilhelm, ihr Mann, Soldat von 1792, war nach dem er auf dem Wege von der Vendée nach Italien vierzehn Tage bei ihr geblieben, bei Montenotte im ruhmvollen Kampfe gefallen.

Vor drei Tagen hatte sie die Nachricht von diesem Todesfalle durch einen Brief erhalten, welchen der sterbende Wilhelm durch einen Kameraden an sie hatte schreiben lassen, und der Schlag war so gewaltig gewesen, dass ihre Milch darunter versiegte.

Seit dem vorigen Abende hatte sie das bemerkt; anfangs konnte sie an dieses neue Unglück gar nicht glauben; sie vermochte sich nicht zu denken, dass die Muttermilch vertrocknen können so lange noch Blut in den Adern der Mutter fließe, aber das Weinen ihres Kleinen überzeugte sie nur zu wohl, dass es wahr sei.

Sie weinte darum vor Kummer und ihr Kind weinte vor Hunger, als Frau Marie mit ihrem Mariechen eintrat und den Hunger und Durst des Kindes stillte.

Warum aber hieß Madelaine kurzweg Madelaine, Marie aber Frau Marie?

Ach, keineswegs weil sie stolz oder reich war. Sie war im Gegenteil fast so arm wie die Ärmste im Dorfe, aber sie war die Frau des Schulmeisters und da dieser in den Augen der Kinder eine gar wichtige Person ist, so nannte man den Schulmeister »Herr« Peter, und seine Frau »Frau« Marie.

Beide, Mann und Frau, hatten sich eine kurze Zeit für reich gehalten, nämlich als Frankreich durch die Stimme des Convents erklärte, der Schulmeister stehe mit dem Geistlichen ganz gleich, und auf den Bericht Lacanal's vierundfünfzig Millionen für den Elementar-Unterricht bewilligte. Leider folgte auf den Convent das Direktorium und was kümmerte sich dieses darum, ob die Schulmeister hungerten, ob die, welche das Meiste für das Volk tun, am allerschlechtesten bezahlt wären.

Frau Marie wurde also die zweite Mutter des kleinen Hans, der halb auf ihren, halb auf Madelainens Knien heranwuchs. Auf der anderen Seite liebte aber auch Madelaine die kleine Marie wie ihr eigenes Kind und gar oft, wenn Frau Marie den kleinen Hans trug, hatte Madelaine die kleine Marie auf den Armen. Ja bisweilen trug eine Mutter beide Kinder und die zwei Frauen tauschten gegenseitig ihre Liebe aus, ohne dass eine nachrechnete, ob sie gegen die andere etwas voraus oder zurück sei.

Die kleine Marie wuchs wie eine Blume auf dem Felde, wie ein Veilchen im Grase, wie eine Kornblume unter den Lehren. Sie nannte den kleinen Hans ihren Bruder und der kleine Hans nannte sie Schwester.

Aber sie wuchsen nicht Beide in einer Art, Hans sprach nicht wie die kleine Marie, Hans schien nicht so zu leben, wie Mariechen. Hänschen führte ein mehr innerliches, seltsameres, fast pflanzenartiges Leben; er war gar nicht wie ein Kind dieser Welt, denn was die anderen Kinder erfreute, unterhielt und ergötzte, erfreute, unterhielt und ergötzte ihn nicht.

Die arme Mutter, die ihn oftmals kopfschüttelnd, wohl auch weinend ansah, schrieb dies ungewöhnliche Wesen einem besonderen Umstande zu.

Als Wilhelm sie nach einem Aufenthalte von vierzehn Lagen verlassen hatte, um zu seinem Regimente zurückzukehren, zog tiefe Trauer in dem Herzen der armen Madelaine ein, gleich als ahne sie, dass sie ihren Mann zum letzten Male gesehen und Wilhelm sie für immer verlassen habe. In reinen Herzen ist nun die Trauer stets die Schwester der Frömmigkeit. Madelaine, die immer fromm gewesen war, wurde es noch mehr und alle Augenblicke, welche ihr die Arbeit frei ließ, wendete sie dem Gebet zu, verbrachte sie in der Kirche.

In der Kirche nun befand sich ein großes Gemälde, welches ein reicher Geistlicher dahin geschenkt hatte. Es stellte Jesus dar, umgeben von kleinen Kindern, das heißt eine der rührendsten Parabeln des Evangeliums.

Alle Kleinen drängten sich hinzu, um die Knie des Erlösers zu drücken und ihn die Hände zu küssen. Nur eines, das mit einem großen Hunde spielte, war zurückgeblieben. Dies stellte eine nicht minder rührende Parabel dar. Nach diesem Kinde streckte Jesus die Hand noch liebevoller aus als nach den andern. Er schien ihm zu winken, heranzukommen wie die Andern, aber eine neidische Mutter sagte zu ihm:

»Lasst es, Herr, es ist einfältig, blödsinnig, arm an Geist.«

Jesus aber antwortete:

»Selig sind die Einfältigen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Diese Kind, das ganz allein mit einem Hunde spielte, das einfältige, geistesarme, das eine neidische Frau von der Gemeinsamkeit allgemeiner Liebe fern halten wollte, welche Jesus predigte, hatte die gute Marie immer vorzugsweise beschäftigt; sie fühlte das innigste Mitleid mit dem armen Verlassenen und wenn sie kniend vor diesem Bilde betete, blickte sie immer hin, ob das Kind, das der Herr rief, seinen Platz und den großen Hund, mit dem es spielte, nicht verlasse, um unter den andern Kindern auch den Segen des Gott-Menschen zu empfangen.

Jeden Abend, wenn sie es so fern von dem Herrn verließ, dachte sie bei sich:

»Morgen werde ich es bei ihm finden.«

Aber am andern Tage fand sie das Kind noch an derselben Stelle und sie sprach leise vor sich hin:

»Zum Glücke, liebes Kind, hat der Herr gesagt: »selig sind die Einfältigen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Möge die Wissenschaft so gut sie kann die durch den Glauben so vollständig erklärte Erscheinung erklären; als Madelaine von ihrem Kinde entbunden wurde und sie dasselbe ansah, sagte sie:

»Herr, mein Gott, hast Du mich gesegnet oder gestraft? Mein Kind ist das Ebenbild des armen Kinder auf dem Bilde, das Du zu Dir winkst.«

Und mit dem heiligen Glauben der Mütter setzte sie hinzu:

»Das meinige wird zu Dir kommen, Herr es wird kommen, ich selbst führe es Dir zu.«

Der kleine Johann oder Hans und Hänschen, wie man ihn nannte, war wirklich der kleine Einfältige aus dem Bilde, Das blonde Köpfchen und die großen blauen Augen, die nichts von dem zu sehen schienen, was um ihn her vorging, als ob ein Schleier zwischen der Welt und seinem Geiste ausgespannt sei.

Die Sache war so wahr, die Ähnlichkeit so auffallend, dass Jedermann den kleinen Hans auf den Armen der Mutter wieder erkannte und die Weiber im Dorfe in jener falschen Frömmigkeit, die oft noch schmerzlicher ist als die Gleichgültigkeit, so oft sie ihn sahen, ausriefen:

»Herr Jesus, das arme Kleine ist doch ganz das Ebenbild des Einfältigen auf dem Bilde in der Kirche.«

Madelaine lächelte; in ihren Augen war Johann das schönste von allen Kindern und nur die kleine Marie allenfalls ließ sie gleich schön sein.

Ihre Besorgnis aber war groß. Hänschen war ein Jahr alt geworden und hatte noch nicht ein Wort gesprochen. Sie fürchtete, dass das Kind stumm sei. Eines Tages endlich wurde sie sehr und angenehm überrascht. Da sie sehr oft sagte: »lieber Gott, lass mein Kind sprechen! Lieber Gott, lass mein Kind nicht stumm sein!« so merkte sich das Kind das Wort, das es so oft hörte, lächelte seine Mutter an und sprach ihr nach:

»Gott!«

Madelaine sank auf ihre Knie und rief:

»Herr, ich danke Dir nicht bloß, dass Du mich erhört hast, sondern auch, dass dein heiliger Name der erste ist, der über die Lippen des Kindes ging.«

Von dieser Stunde an begann der kleine Hans zu sprechen, aber er sprach nicht wie die andern Kinder. Die andern Kinder haben gleichsam zwei Sprachen, die Kindersprache und die wirkliche, ernste Sprache. Hänschen ging sogleich in die ernste Sprache über; aber er sprach nur wenig, er sagte ein, zwei Worte, höchstens drei und vervollständigte seinen Gedanken durch ein Lächeln, durch eine Gebärde, durch einen Blick.

Die kleine Marie war seine einzige Gespielin, nie sah man ihn mit andern Kindern spielen. Auch spielte er eigentlich nicht, er — träumte. Marie und seine Mutter liebte er ungefähr mit gleicher Liebe; er liebte auch den Vater Kleine von ganzem Herzen und den kleinen Peter, als dieser zur Welt kam, die Übrigen aber schienen ihm, ich will nicht sagen fremd, aber unbekannt zu sein. Er liebte die Tiere und die Tiere liebten ihn. Was lag in dem Kinde, dass die Tiere es liebten, und ihm folgten? Der störische Graue, der sich bisweilen gegen Vater Kleine hartnäckig weigerte über einen Graben oder einen Bach zu gehen, wurde folgsam wie ein Lamm, gehorsam wie ein Hund, sobald der kleine Hans ihn am Zügel führte oder auf ihm ritt.

Der Faule; wie der Ochs hieß, der seinen Namen bisweilen auch verdiente, merkte das Kind von weitem und brüllte ihm entgegen. Allerdings kam Hans nie in den Stall, ohne einen ganzen Arm voll frisches Gras und Blumen mitzubringen, und der Faule kaute dies Futter mit so großem Behagen, als ob Hänschen das Geheimnis verstehe, gerade die Kräuter und Blumen auszuwählen, welche der Ochse am liebsten hatte.

Die schwarze Kuh brachte der Frau Marie doppelten Ertrag, denn alle Jahre verkaufte sie ein Kalb und alle Tage Milch. Weil nun der kleine Hans dem Mariechen die besten Kräuter gezeigt hatte, war die Milch der schwarzen Kuh weit und breit berühmt. Oftmals aber, wenn man das Kalb verkauft hatte, verweigerte die trauernde Kuhmutter ihre Milch denen, welche ihr das Kalb genommen hatten, um die Milch ganz für sich zu bekommen; dann ging der kleine Hans in den Stall, nahm das Maul der Kuh in seine Hände, richtete ihr den Kopf empor, heftete die Augen auf die traurigen Augen des Tieres und sprach mit ihm — welche Sprache; das weiß Gott. Die Kuh brüllte darauf ein paarmal betrübt, Hans rief die Frau Marie, ließ seine Hand am Halse der Kuh ruhen und gehorsam, wenn nicht getröstet, gab sie die weiße schaumige Milch her, die sie manchmal drei Tage lang verhielt.

Noch anders war es mit den wilden Tieren. Da Hänschen niemals einen lebenden Wesen etwas zu Leide getan Hatte, so liebten ihn alle Geschöpfe, mit Ausnahme derer, welche die Bestimmung haben zu schaden. Sie hielten das Kind gleichsam für einen kleinen Engel, der über die Erbe schreite mit einer lieblichen Stimme und im Namen des Herrn alle Sprachen rede. Nach der träumerisch-sinnenden Weise, wie der kleine Hans im Moose lag oder sich an einen Baum lehnte und auf die singenden Vögel hörte, hätte man allerdings glauben können, er verstehe den Gesang und könne ihn überlegen und erklären.

Die kleine Marie, welche von dieser Sprache nichts verstand, fragte denn auch manchmal Hänschen:

»Welcher Vogel singt jetzt?«

Johann antwortete dann: »Es ist eine Nachtigall, ein Finke, ein Rotkehlchen, denn er brauchte den Vogel, der sang, nicht zu sehen, um zu wissen, welcher es sei.

Wenn er noch immer zuhörte, fragte Mariechen wohl auch:

»Hänschen, was singt der Vogel?«

Johann antwortete:

»Er dankt dem lieben Gott, der einen Tautropfen in ein zusammengerolltes Blatt fallen ließ, um ihm den weiten Weg nach dem Fluss zu ersparen.«

Oder auch:

»Er dankt dem lieben Gott, der zugab, dass ein Dorn am Wege den vorübergehenden Schafen ein wenig Wolle abriss, denn die Zeit ist gekommen, dass das Weibchen ihre Eier legen soll und aus jener Wolle will er sein Nest bauen.«

Oder auch:

»Er klagt, dass ein Kind aus dem Dorfe ihm seine Jungen genommen hat und doch nicht weiß, wie es dieselben füttern müsse, so dass die Kleinen verhungern werden.«

Ebenso war es mit den Pflanzen, dem Grase und den Blumen. Niemals hätte Johann unnötiger Weise auf eine Pflanze getreten, Gras abgeschnitten oder eine Blume gepflückt. Hatte er ja einmal unversehens auf einen Stängel getreten, oder sah er einen, den Andere niedergetreten hatten, so richtete er das arme Pflänzchen empor, und sagte, wenn er es gewesen war: »Ich hatte Dich nicht gesehen, nimm es nicht übel,« und wenn es ein Anderer gewesen: »Zürne dem nicht, der Dich so geknickt hat, denn er wusste nicht, dass Du lebst, leidest und weinst wie wir; er hat zwar deinen Stengel geknickt, aber deine Wurzel ist Dir geblieben; aus deiner Wurzel wird ein neuer Stengel herauswachsen, er wird groß werden, blühen und seinen Samen umherstreuen, so dass Du im nächsten Jahre nicht mehr allein und einsam bist wie jetzt, sondern eine ganze Familie um Dich her hast.«

Ebenso war es, wenn er Gras für den Faulen oder die schwarze Kuh ab sichelte oder wenn er eine Blume pflügte, um sie in den Gürtel oder in das Haar der kleinen Marie zu stecken. Ehe er die Sichel an das Gras ansetzte, sagte er zu demselben:

»Es ist bekannt, warum ich Dich abschneide, armes Gras; es geschieht nicht, um Dir nutzlos Schmerz zu machen oder Dich gar zu vernichten, sondern weil der Faule, der Ochse des Vaters Kleine, und die schwarze Kuh der Frau Marie Hunger haben; weil der liebe Gott Dich wachsen ließ, um sie zu sättigen und ihnen die Kraft zu geben, dass der Ochse das Feld des Vaters Kleine pflügen kann, das uns nährt, und dass die schwarze Ruh Milch bekommt.«

Pflückte er eine Blume, so sagte er zu ihr:

»Du weißt es, dass ich Dich für deine Schwester Marie von dem Stängel breche; Du weißt, dass der liebe Gott Dich nicht darum schön und wohlriechend erschaffen hat, das mir Du einsam auf der Wiese ober im Walde sterbest, sondern damit Du von seiner Größe unter den Menschen zeugst, deren Augen und Herz Du erfreust.«

In Folge dieser ihm von Gott verliehenen Fähigkeit, die ganze Schöpfung zu verstehen und zu begreifen, war der kleine Hans glücklicher im Umgange mit den Bäumen, den Pflanzen, den Vögeln, der freien Himmelsluft, dem Regen und Sonnenscheine, als in dem Verkehre mit den Menschen. Während die Bäume, die Blumen, die Vögel, die Himmelsluft, her Regen, der Sonnenschein in ihrer Sprache sagten: »er ist ein kleiner Engel, und zwar die Bäume, indem sie ihn mit ihrem Schatten bedeckten, die Blumen, indem sie seinen Weg schmückten, die Vögel, indem sie ihn durch ihren Gesang erheiterten, die Himmelsluft, indem sie seine Wangen liebkoste, der Regen, indem er ihn verschonte, und der Sonnenschein, indem er ihn wärmte, zuckten die Leute aus dem Dorfe, wenn sie ihn ernst und schweigsam in dem Alter hingehen sahen, in welchem die Kinder lärmen und spielen, mit den Achseln und sagten im Tone des Bedauerns oder des Spottes: »er ist einfältig.«

Da er indes auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, verständig antwortete, da er niemals gelogen hatte und allen die Wahrheit sagte, sie mochte denselben angenehm sein oder nicht, so nannten sie ihn nicht Hans oder Johann oder den kleinen Kleine, sondern Ehrlich.

Nach einer gewissen Zeit nahmen selbst die kleine Marie, Frau Marie, der Vater Kleine, sogar Madelaine den Namen auf, unter welchem Johann im Dorfe allgemein bekannt war, und nannten ihn Ehrlich wie die Andern. Johann sah wohl ein, dass dies ein schöner Name sei, ein Name nach dem Herzen Gottes; er entwöhnte sich seines Namens Johann und gewöhnte sich daran, Ehrlich genannt zu werden.

V. Bernhard und Peter vervollständigen die Familien, der erstere die des Vaters Kleine, der andere die der Frau Marie und wie diese Witwe wird

Im Jahre 1805 war Ehrlich zehn ich aber kaum drei Jahre alt, da verließ mein Vater das Schloss des Fossés, das etwa ein Viertelstündchen von dem Hause des Vaters Kleine stand, um ein drei Stunden entferntes anderes Schloss, Antilley, zu beziehen.

Mein Vater hatte aus dem Feldzuge in den Alpen von dem St. Bernhardskloster ein Paar jener prächtigen Kunde mitgebracht, deren wertvolle Race die Mönche so sorgsam erhalten. Sie sehen aus wie zweijährige Löwen. Eben als wir nach Antillen ziehen wollten, warf die Hündin fünf Junge; zwei davon wurden verschenkt, zwei behielt die Alte und das fünfte hatte ein roher Mensch grausam vor die Tür geworfen.

Der immer im Freien umher wandernde Ehrlich ging zufällig vorüber, Hörte Das Winseln des armen kleiner Hundes, hob ihn auf und trug ihn nicht in das Häuschen seines Großvaters — an dessen Edelmut er zweifelte, da er bereite den Esel und den Ochsen zu füttern hatte — sondern in den Stall der Frau Marie.

So lange Bernhard — Ehrlich hatte den Hund kurze weg so genannt — Milch bedurfte, brauchte er sich nicht eben sehr zu sorgen. Die schwarze Kuh war ja da und den vereinten Bitten der beiden Kinder wurde es nicht schwer, von der mitleidigen und gefühlvollen Frau Marie die ihm nötige Portion Milch zu erhalten. Da der Hund aber heranwuchs, musste er mit seinem gewaltigen Appetit eine schwere Last für das Haus werden.

Trotzdem entschloss sich Ehrlich, den Bernhard in das väterliche Haus einzuführen. Er benutzte einen Augenblick, in welchem dasselbe leer war, ließ Bernhard eintreten und stellte sich vor denselben, um ihn gegen den ersten Zorn des Großvaters zu schützen. Aber nicht dieser kam zuerst, sondern Mutter Madelaine, die laut aufschrie, als sie ihren Ehrlich so neben dem Kunden stehen sah.

Es war ja treffend das Bild des Einfältigen auf dem Gemälde in der Kirche, es fehlte nun zur Ähnlichkeit gar nichts mehr, nicht einmal der Hund. Madelaine war eine gläubige Seele, die in allem die Band der Vorsehung erblickte. So glaubte sie denn auch jetzt, dass der Hund sich nicht nutzlos auf dem Wege des Knaben gefunden habe und dass es fast eine Sünde sei, Beide zu trennen, da sie ja und auf dem Bilde in der Kirche beisammen wären.

So blieb denn nur Vater Kleine zu fürchten, und diesem den Bernhard annehmlich zu machen war keine leichte Aufgabe. Vater Kleine hasste alles Nutzlose, und so fürchtete man denn sehr, er werde den Bernhard abweisen.