Himmlisches Feuer - Hadmar von Wieser - E-Book

Himmlisches Feuer E-Book

Hadmar von Wieser

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Beschreibung

"Der Himmel hatte die Farbe alter Knochen. Südwind trieb zerfetzte Wolken gegen die Gipfel der Weltenmauer. Der riesenhafte Gott hob seine sechs Arme. Kommt nur her, ihr Wurmtreter!" Als am Himmel über dem fernen Serkan Katau ein neuer Stern aufgeht, deuten ihn die Mächtigen des Reiches voreilig als ein Zeichen, die von Legenden umrankten Blauen Götter anzugreifen. Einzig die Hohepriesterin Lü hegt Zweifel, doch sie hütet sich, diese offen kundzutun. Während die Schlacht ihren unheilvollen Lauf nimmt, geht himmlisches Feuer nieder. Der Kaiser flieht und läßt ein sterbendes Heer zurück. Zur selben Zeit nähert sich der entflohene Sklave Strolch dem Schlachtfeld. Noch ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn an die Seite eines Blauen Gottes zwingt – und einer Frau zuführt, die ebenso leidenschaftlich liebt wie er ... "Das größte deutsche Fantasy-Epos, das jemals geschrieben wurde." Wolfgang Hohlbein

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Seitenzahl: 775

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"Der Himmel hatte die Farbe alter Knochen. Südwind trieb zerfetzte Wolken gegen die Gipfel der Weltenmauer. Der riesenhafte Gott hob seine sechs Arme. Kommt nur her, ihr Wurmtreter!" 

Als am Himmel über dem fernen Serkan Katau ein neuer Stern aufgeht, deuten ihn die Mächtigen des Reiches voreilig als ein Zeichen, die von Legenden umrankten Blauen Götter anzugreifen. Einzig die Hohepriesterin Lü hegt Zweifel, doch sie hütet sich, diese offen kundzutun. Während die Schlacht ihren unheilvollen Lauf nimmt, geht himmlisches Feuer nieder. Der Kaiser flieht und läßt ein sterbendes Heer zurück. Zur selben Zeit nähert sich der entflohene Sklave Strolch dem Schlachtfeld. Noch ahnt er nicht, dass das Schicksal ihn an die Seite eines Blauen Gottes zwingt – und einer Frau zuführt, die ebenso leidenschaftlich liebt wie er ... 

"Das größte deutsche Fantasy-Epos, das jemals geschrieben wurde." Wolfgang Hohlbein 

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

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Copyright © 2003 by Hadmar von Wieser

Copyright © Idee, Konzeption und Herausgeberschaft: Bernhard Hennen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-696-0

facebook.com/edel.ebooks

E s ist das Wesen weltumspannender und welterschütternder Ereignisse, daß auch ihre Wurzeln sich über die ganze Welt erstrecken. Dies ist mir – in aller Bescheidenheit – als einer der Vier bewußter als jedem anderen. Denn einer von uns stammte von einem Ort, der nicht weiter entfernt liegen könnte: von der anderen Seite dieser Welt, deren Naturgesetze und Grenzen so katastrophal verändert wurden.

Dieser eine war es, der aufgrund seiner Eigenart Zeuge der Ereignisse vom frühen Beginn bis zum Ende war – wiewohl gerade er selbst später in Frage stellte, dergleichen denn wirklich erlebt zu haben. Dieser eine war vielleicht der unbestechlichste Zeuge eines Beginns, der weiter zurückreicht als alles, was von Menschen überhaupt bezeugt werden kann – und zugleich war er denkbar ungeeignet als Zeuge für diese Chronik, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Erinnerungen festzuhalten: denn Erinnerungen, die schiere Vorstellung, daß etwas früher gewesen war, waren ihm fremd. Ja, dieser eine ist das beste Beispiel der vorliegenden Chronik für jenes Geheimnis, das Wahrträumer und wahr werdende Träume erzeugte – und zugleich ist seine Geschichte die größte Schwachstelle dieser Chronik, weil seine reine Erwähnung immer die Frage aufwirft, was ein Traum ist und ob er nicht selbst ein Traum war.«

SCHWESTER DOLORES,

CHRONIK EINER VERLORENEN ZEIT,

BD. 11, NIEDERGELEGT ZU CANTAMO

IM 540. JAHR DER ABWESENHEIT GOTTES

Der Blaue Gott

Der Unvollendete Palast, Serkan Katau,am Morgen des 22. Tages im Vierten Mond im Jahr 472der Blauen Götter

Der Himmel hatte die Farbe alter Knochen. Ein steifer Südwind trieb die zerfetzten grauen Wolken gegen die fernen Gipfel der Weltenmauer. Zwischen den Wolkenhaufen war der neue Stern zu sehen, eine Faust aus kaltem Licht, die heller als ein zweiter Mond inzwischen auch bei Tag leuchtete.

Der Blaue Gott stand unbeweglich auf dem Ringwall – wie eines jener Standbilder, die in beinahe jedem Tempel des Kontinents zu finden waren. Sein Gesicht war einem Alptraum entsprungen, den Kinder in ganz Serkan Katau geträumt hatten. Die tellergroßen Augen waren wie im Wahn aufgerissenen. Das Maul wirkte riesig genug, einen Unterarm zu verschlingen – und niemand auf der Welt zweifelte daran, daß der Blaue Gott ebendies auch jederzeit täte, wann immer er die Gelegenheit dazu bekäme. Aus dem Unterkiefer ragten, Dolchen gleich, zwei Stoßzähne bis hinauf zu den Nasenlöchern, welche unaufhörliche Tobsucht zu blähen schien.

Es hätte selbstmörderischen Mutes bedurft, dein Blauen Gott so nahe zu kommen, um zu bemerken, wie seine Augen sich bewegten. Aus der Nähe aber war unverkennbar, daß der glotzende Blick über die Ebene unter ihm schweifte. Irrlichternd glitt er über das gewaltige Heer, das den Unvollendeten Palast von allen Seiten umgab.

Der Marschtritt der letzten Aufstellung nehmenden Einheiten war verklungen. Doch das Knattern der roten Fahnen im Wind, das Rumpeln und Quietschen der Belagerungsmaschinen und Geschütze, die zahllosen kleinen Geräusche Hunderttausender Harnische und Waffen und das nervöse Schnauben Zehntausender Streitrösser vereinigten sich zu einem beunruhigenden Rauschen, das so stetig war wie die Stimme des Windes.

Schlagartig ging ein Ruck durch die kolossale Gestalt des Blauen Gottes. Sein metallener Lendenschurz klirrte. Die sechs Arme hoben drohend die monströsen Waffen. Und aus dem grotesken Maul dröhnte eine Stimme mit einer Lautstärke, die in der Tat geeignet schien, bis in die hintersten Reihen des feindlichen Heeres zu dringen: »Kommt nur her, ihr Wurmtreter, wenn ihr eine auf die Fresse haben wollt!«

Am Labyrinth

Grenzfestung Tartang Tung, das Labyrinth, Turga-Busch, nordöstliches Serkan Katau, nach der Großen Regenzeit im Jahr 471der Blauen Götter, zehn Monate vorher

»Sie werden durchbrechen!« Die Stimme des Waffenmeisters unter dem roten Maskenvisier klang erregt.

»Nicht solange du lebst, Waffenmeister!« antwortete Hauptmann Kang streng, ohne den Blick vom Feind zu wenden. Stählerne Gewißheit lag in seiner Stimme. Er haßte es, wenn ein Offizier vor seinen Kriegern Unruhe zeigte. Zu oft hatte er erlebt, wie diese Unruhe in den Kriegern Widerhall fand. Und er wußte, daß es sein Vorbild war, welches wiederum den Wachtmeistern und Waffenmeistern Sicherheit gab.

Aber natürlich hatte der Krieger recht. Wenn ihm nicht bald eine überraschende Lösung einfiele, würden die berittenen Turga durchbrechen. Kang hatte seine Leute ehrgeizig weit auseinandergezogen: fünfhundert Krieger fast über ein Läng verteilt, eine Manneslänge zwischen jedem Ziang.

»Es ist nun einmal schon fast Tradition«, sagte Kang grimmig hinter seinem Visier, »daß sie angreifen, wenn der Boden nach der Regenzeit wieder fest ist.«

Ein Stamm der Turga war auf seinen struppigen kleinen Pferden und schmutzigen Kamelen in das Labyrinth eingedrungen. Fast jedes Jahr beschloß ein Khan, die undurchdringlichen Mauern anzugreifen.

Irgendwann hatten die Buschreiter gemerkt, daß sie in die Falle geritten waren: Was wie eine Lücke zwischen zwei Festungen gewirkt hatte, war nichts anderes als eine Sackgasse innerhalb des Labyrinths. Nun sahen sie die Mauern, die sich dreitausend Götterfuß zur Linken und dreitausend Götterfuß zur Rechten erstreckten; vor ihnen ragte eine weitere Festung auf.

Kangs Faust bekam die gefährlichste Aufgabe zugeteilt: durch ein Tor hinaus zwischen die Mauern stürmen und eine Sperrlinie aus Lanzenträgern bilden. Es ging nicht darum, die Turga einzusperren, sondern sie aufzuhalten, bis die bereits verständigte Barbarenreiterei eintreffen und die Angreifer gegen die Mauern drängen würde, wo die Kreuzbogenschützen und Bambusschleudern die Horde zerschlügen.

»Hauptmann ...« Die Stimme des Ersten Wachtmeisters klang deutlich verunsichert.

Indessen griff die Unruhe von dem Glied auf den Finger über. Der turgische Kriegskhan hatte seine Brüder und Sippenhäuptlinge um sich geschart und beratschlagte – aber Kang wußte, daß die heißblütigen Buschreiter nie lange redeten. Gleich würde der Anführer den Ausbruch befehlen. Er hatte mindestens vierhundert Reiter hinter sich. Sie würden als Keil durch die katauekischen Lanzenträger fegen wie ein Kreuzbogenpfeil durch das Fell eines Kamels.

»Übernimm das Kommando, Erster Wachtmeister!« Kang gab seine Position auf, senkte die Standarte und schritt mit stolzen Kriegerschritten von seiner Linie fort.

»Komm her, Khan!« Kang klappte das Visier hoch und schrie so laut, daß ihn nicht nur die Turga, sondern auch möglichst all seine Leute hörten. »Oder bist du zu feige, allein gegen einen Lanzenkämpfer anzutreten?« Kangs Worte ertönten selbstverständlich in der Sprache des Reiches der Tugend; ein jeder Kataueke erwartete, daß man ihn verstand. Und der Khan hatte in der Tat genug verstanden, um sich mittels einiger Zügelhiebe aus dem Pulk seiner Berater zu befreien. Mit einem schrillen »Turga!« ging er zum Galopp über.

Kang lief ihm entgegen. Ein Zweikampf mußte in ausreichender Distanz zu allen anderen Kämpfern stattfinden. Gleichgültig, wie er ausginge – er würde die Turga eine kostbare achtel Stunde lang beschäftigen. Sie liebten es, ihre Kraft, ihren Mut und ihre Ehre zur Schau zu stellen. Sie haßten es, wenn sie ihre Herausforderungen zu den Mauern des Labyrinths hinauf johlten und die disziplinierten Ziangs des Länder überspannenden Feldes der Krieger nicht einmal antworteten. Diesmal hatten sie ihre Antwort.

»Turga!« Der Khan sprengte heran wie ein gereizter Wasserbüffel – ein Wasserbüffel mit Lederhaube, Tätowierungen und Nasenring. Sein Umhang aus Hundefell flatterte im Wind. Am Zaumzeug des struppigen kleinen Pferdes hingen mindestens vier Skalps. Er hielt die Zügel zwischen den Zähnen und hatte Wurfspeer und Krummsäbel erhoben. Den Hornbogen jedoch hatte er stecken lassen. Er zeigte deutlich, daß er einen ehrbaren Kampf begehrte – soweit es Ehre gab für einen Reiter, der einen Fußkämpfer angriff. Aber der Fußkämpfer war ein Standartenträger im kaum durchdringbaren roten Harnisch der Kataueken.

Der Wurf kam früher als erwartet, aber mit erschreckender Kraft: Beinahe schnurgerade flog der Speer heran. Kang wandte sich aus der Hüfte heraus zur Seite und wehrte den Speer mit dem Schaft ab. Die Spitze schrammte am Kachelpanzer über seine Brust hinweg, und der Schaft dröhnte schmerzhaft gegen das Maskenvisier.

Betäubt schüttelte Kang den Kopf, als der Turga auch schon herankam, den Krummsäbel über seinem Haupt kreisend. Die Zügel in der Linken, riß er das Pferd mit einem brutalen Ruck zur Seite.

Doch die Spitze von Kangs Standarte hatte nicht, wie erwartet, auf die Brust des Pferdes gezielt. Die Turga beschimpften die Kataueken als Feiglinge, weil sie ihre Pferde töteten. Kang aber waren Turga-Ehre und Tierliebe gleichgültig; für ihn galt die Finte.

Der Zusammenprall raubte beiden fast das Bewußtsein. Die Klinge schlitzte dem Khan Oberschenkel und Hüfte auf und riß ihn aus dem Sattel, während der Säbelhieb Kangs Helm sprengte. Der Hauptmann raffte sich auf, in den gepanzerten Fäusten einen gesplitterten Standartenschaft; ein Keil aus Eisenblech riß ihm die Kopfhaut auf, Blut troff ihm in die Augen. Der Khan wand sich am Boden, unfähig, sich zu erheben, aber den schartig geschlagenen Krummsäbel noch immer wie den Stachel eines Skorpions gereckt.

Ohne über einen Waffenwechsel auch nur nachzudenken, sprang Kang hinzu. Das Stück Holz in seiner Hand wehrte den ersten Säbelhieb ab, dann traf sein Tritt den Ellbogen des Turga, und ehe der sich herumwerfen konnte, trieb ihm der Krieger den geborstenen Schaft in den Hals.

»Die acht Künste des Tötens, auch mit Stock, Bein und Faust«, knurrte Kang grimmig, ehe ihm schwarz vor Augen wurde.

Entlassen

Innere Kammer der Grenzfestung Tartang Tung, vier Tage später

»Tugend! Hauptmann Kang lauscht deinem Befehl!« Mit einer einzigen Bewegung riß sich der muskulöse Offizier den rotlackierten Helm mit dem Maskenvisier vom Kopf und warf sich auf die Knie. Hier im Labyrinth, an der Grenze zu den Barbaren, legte man weniger Wert auf Umgangsformen denn auf schnelle Reaktionen. Trotzdem ein bißchen zu heftig, dachte Kang; er fühlte, daß der frisch verbundene Schnitt am Scheitel wieder aufgebrochen war.

Der General betrachtete den vor ihm knienden Offizier mit einem Schweigen, dessen Dauer Kang überraschte. Es wäre gewiß nicht sehr tugendhaft, wenn ihm nun Blut über das Gesicht ränne ...

»Der Edle kennt nicht nur die Tat, sondern auch den rechten Augenblick dafür«, sagte der alte Luchs, wie die Heerschar den General nannte. Kang kannte das Zitat; wie so viele, die einen wahren Krieger beschrieben, stammte auch dieses vom Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste.

Selbstverständlich hatten ihm die Wundärzte gleich nach dem Aufwachen Bericht erstattet: Die Turga hatten nach dem Zweikampf gezögert, besonders beeindruckt davon, daß beide Kontrahenten wie tot dagelegen waren. Schließlich waren sie doch durch die Reihe der Lanzenkämpfer gebrochen, aber sie hatten so viel Zeit verloren, daß die Barbarenreiterei, bestehend aus ihren bereits unterworfenen Vettern aus der Eroberung Turgatan, sie hatte zurückwerfen können. Dem Kessel aus Lanzenkämpfern und Reiterei war höchstens ein Viertel der Feinde entkommen.

»Kang hua Schiang«, sagte der Kommandant, »du bist entlassen.« Die Stimme drang metallisch gellend aus der Mundöffnung seiner Maske, aber ihr Klang war eigentümlich versöhnlich.

Nur ein winziges Zucken, irgendwo zwischen den unergründlich schwarzen Augen und dem dreifach gegabelten Bart, verriet, wie sehr dieser Satz Kang traf. »Und du hast Post aus der Stadt der Mantikoren.« Mit diesen Worten hob der alte Luchs eine scharlachrote Schriftrolle empor.

Kang zögerte kurz: Wie hatte er zu reagieren? Sonst warf man dem Untergebenen die schriftlichen Befehle zu, vom Himmel zur Erde, wie die Macht fließt. Das Scharlachrot jedoch hatte er noch nie anders gesehen als von der Hand eines knienden Boten emporgereicht in die Hand eines kommandierenden Offiziers. Er erhob sich daher ruckartig, hielt den Helm mit der Linken umfangen und streckte die Rechte dem General entgegen.

Als Kangs sehnige Finger die Hülle fühlten, erschauderte er: Seide ... Rote Seide! Ein Schreiben direkt aus Mantikor Leng, wo der Höchste Kriegsherr der Geheimen Kammer das größte Reich der Welt regierte.

Der Plan desGöttergleichen

Hochtempel von Tschöng-Hau Leng, Serkan Katau, Westküste, ebenfalls im Sechsten Mond im Jahr 471 der Blauen Götter

»Was hat er getan?« Lü näng Huangos Stimme war schrill vor Verblüffung, wenn nicht gar Empörung. Ja, es war viel eher Empörung.

Nur einen Atemzug später wurde ihr bewußt, wie sehr ihr Ausbruch der Etikette zuwiderlief. Gefährlich – vor allem wenn man so über den direkten Willen des Göttergleichen sprach.

»Welch überaus überraschende Entscheidung des Herrn der Unwandelbaren Ordnung«, flötete sie, nun wieder gefaßter. Allein die hektischen Bewegungen ihres Fächers verrieten, welche Gefühle sie bedrängten. Nein, wie dumm. Nach all den Jahren des Aufstiegs sich angesichts dieser Nachricht solch eine Blöße zu geben ...

»Und wie gedenkt der Herr der Unwandelbaren Ordnung ...«, sie dehnte die Pause vor dem Zitat ins Unerträgliche, blickte versonnen aus dem Fenster und erkannte, daß dies nun wieder zu geringe Aufmerksamkeit zeitigte. Also schnellte sie herum und bemühte sich, so wenig anzüglich wie möglich zu fragen: »Wie gedenkt der Herr der Unwandelbaren Ordnung die Götter zu verspeisen?«

Fong-Kuoy näng Tschüeng war alles andere als ungefährlich. Und er war nicht bloß ein Bote aus Mantikor Leng, der Stadt der Mantikoren. Er war Lüs Vorgänger als Hohepriester Tschöng-Hau Lengs gewesen. Bis zu jenem gnadenreichen Tag, als ihn die Berufung zum Gesandten der Geheimen Kammer des Himmlischen Willens erreicht hatte.

Lü war heute noch stolz auf ihre Intrige. Ja, sie hatte diesen Mann gehaßt: nicht nur für all die Abartigkeiten, die er ihr während ihrer Ausbildung zugemutet hatte, sondern auch dafür, daß er mit seinem feisten Leib jene Kammer besetzt hatte, nach der sie gestrebt hatte. Aber wie beseitigte man einen Qengtan, der fünfzehn Jahre mehr an Macht, Erfahrung und Verbündeten besaß und sich soeben damit abzufinden begann, daß die Innere Kammer des Hochtempels von Tschöng-Hau Leng Endpunkt seines Beamtenlebens sein würde?

Die Antwort war der Hohe Inspektor der Geheimen Kammer gewesen, der sich auf seiner Suche nach einer geeigneten Berufung dazu herabgelassen hatte, der Meinung einer begabten Herrin der Dritten Kammer Gehör zu schenken. Nun, er hatte mehr getan, als sich nur Lüs Meinung einzuholen. Lü dachte nur ungern an jene anderthalb Tage im Garten der Freuden zurück, wenn es auch der Tugendhafte Weg des Himmlischen Willens gewesen war, was dort geschehen war.

»Mit Macht«, riß Fong-Kuoys Antwort Lü aus ihren Gedanken. Ein gleichmütiges Lächeln lag über seinem rot geschminkten Gesicht. Täuschte sie sich, oder klang auch in seiner Stimme etwas Anzügliches mit? »Mit der überlegenen Macht seiner unbesiegten Heerscharen.« Nein, da war nichts Anzügliches. »Wie sein göttergleicher Ahnherr, der Kriegsherr der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste. Sein Name sei gesungen in jedem Wunsch, der zum Himmel steigt.« Wenn Fong-Kuoy Hintergedanken hatte bei diesem Satz, dann hatte er seine Stimme und seine Miene jedenfalls besser in der Gewalt als Lü.

»Natürlich wird der Herr der Unwandelbaren Ordnung nicht allein gegen die Blauen Götter kämpfen«, führte Fong-Kuoy weiter aus. Seine undurchdringlichen schwarzen Augen schienen Lü zu durchbohren. Bei ihren Ahnen! Er lauerte förmlich darauf, daß sie sich eine weitere Blöße gäbe.

»Die Kriegsherren der Inneren Kammer haben ihm acht mal acht mal acht mal acht Gefährten erwählt. Aus dem Länder überspannenden Feld der Krieger haben sie die würdigsten Helden ausgesucht, den Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer auf diesem Weg zu begleiten, so wie einst die acht Prinzen den Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, begleiteten.«

Wie dumm, wie unsäglich dumm. Lü näng Huango begriff, in welche Falle sie geeilt war. Fong-Kuoy war mit dieser Neuigkeit nur zu einem Zweck nach Tschöng-Hau Leng gekommen: um sie zu prüfen – um zu sehen, wie sie bei dieser gleichermaßen erfreulichen wie unglaublichen Nachricht reagierte. Und sie hatte versagt. Sie hatte die Gewalt über sich verloren, war vom Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens abgewichen und hatte gezeigt, daß sie nicht imstande war, eine Entscheidung von reichsweiter Bedeutung zu tragen und mit zu verantworten.

Aus! Fünfundzwanzig Jahre makellosen Aufstiegs umsonst. Vielleicht hatte sie soeben gar eine direkte Berufung in die Stadt der Mantikoren verspielt! Fong-Kuoy war nicht ihr Feind – ebensowenig, wie er ihr Freund war. Aber wenn er eine Verbündete für seinen Aufstieg in der Hauptstadt gesucht hatte, dann wußte er jetzt, daß sie nicht die geeignete wäre.

»Welchen Zeitpunkt«, fragte sie und hörte, wie verräterisch belegt ihre Stimme klang, »haben die Orakel bestimmt?«

Fong-Kuoys Lächeln blieb unverändert, ohne maskenhaft zu wirken. Lü mußte zugeben, daß er mit seinen über fünfzig Jahren eine überaus stattliche Erscheinung besaß: Er war feist wie die meisten Priester; seine runden Wangen unter der roten Schminke verliehen ihm den Ausdruck von Zufriedenheit. Die fleischigen Lippen verrieten Feinsinnigkeit und daß es für ihn nicht leicht war, Befriedigung zu finden. Mit der achtzackigen Schleierbandhaube wirkte er erhaben, dem Himmel ebensosehr verbunden wie der Erde. Lü fühlte erneut, wie tief sie diesen Mann gehaßt hatte.

»Die Orakel haben noch nicht endgültig gesprochen«, meinte Fong-Kuoy beiläufig, doch dann fügte er lauernd hinzu: »Natürlich bekunden sie alle das Wohlwollen des Himmlischen Willens für dieses bedeutende Unterfangen.«

»Das bedeutendste Unterfangen dieser Dynastie«, beeilte sich Lü zu ergänzen, »soweit ich das in aller Bescheidenheit beurteilen kann.«

»Dieser Dynastie – und der nächsten«, sagte Fong-Kuoy näng Tschüeng geheimnisvoll.

Lü hatte das Gefühl, sich wieder gefangen zu haben. Gleichmut, ermahnte sie sich. Nur nicht zu diensteifrig wirken. Aber das hörte sich nach höchster Politik an.

»Zweifellos wird diese Heldentat des Herrn der Unwandelbaren Ordnung auch die Annalen der nächsten Dynastie erleuchten«, bestätigte sie und ließ in den letzten Worten die Andeutung einer Frage erklingen.

Fong-Kuoys feiste Hand mit dem mächtigen Ringsiegel griff beiläufig nach der Teeschale. Vier Finger, vier Ringe, dachte sie. Das Siegel in Gestalt einer gravierten Jadeplatte überspannte die vier Finger der rechten Hand – so wie ihr eigenes. Seit Fong-Kuoy den Hochtempel betreten hatte, versuchte sie herauszufinden, ob er ein Zeichen der Geheimen Kammer trug. Sie streckte die Hand ebenfalls nach dem Tee aus.

»Es wird die Heldentat seiner Dynastie sein«, setzte Fong-Kuoy die Spiegelfechterei fort, »vielleicht sogar die begründende.« Er führte die zweite Hand zur Tasse, aber seine unergründlichen Augen durchbohrten Lü weiter. Diesmal war sie gefaßt. Eine neue Dynastie?

»Ist es das, was man in den Geheimen Kammern der Stadt der Mantikoren sagt?«

»Das ist, was man in den Inneren Kammern der Stadt der Mantikoren sagt.« Fong-Kuoys Lächeln schien um eine Winzigkeit breiter zu werden. Eine Schlag mit dem Fächer, begriff Lü langsam, mitten ins Gesicht. Dummchen, hatte er gesagt, das ist längst beschlossene Sache. Das weiß schon jeder leitende Beamte – außer denen, die so weit ab vom Schuß sind wie du. Er lachte sie aus. Aber das Lächeln hieß auch: Du hast ja mich. Du weißt es noch immer eher als die anderen Provinzpriester. Daher die wartende Teetasse.

Gehorsam umfaßte nun auch sie die Tasse mit beiden Händen. Sie haßte sich dafür. Fong-Kuoy hob seine Tasse und dankte der Erde in allen acht Himmelsrichtungen, bis er Lü zutrank. Ihre Bewegungen folgten seinen ohne erkennbares Zögern. Für einen Moment blitzte etwas in seinen dunklen Augen auf. Erinnerte er sich an die Lektionen, die er ihr erteilt hatte? Ja, darin war sie stets gut gewesen. Gehorsam und Anpassungsfähigkeit. Zuweilen hatten sie ihre Ambitionen so sehr verdeckt, daß Lü selbst sie vergessen geglaubt hatte. Aber die Leidenschaftlichkeit, die am Grund des Meeres ausharrte, hatte sich immer wieder Geltung verschafft.

»Der Himmlische Wille sei unser Wille«, sprach er den Priestersegen – und wie jedesmal gab er der Floskel einen Beiklang von Verheißung.

»Der Himmlische Wille sei unser Wille«, sagte auch Lü.

Gedanken

Innere Kammer des Hochtempels von Tschöng-Hau Leng, zwei Stunden später

»Endlich«, seufzte Lü, während der Pförtner hinter ihr die vier Vorhänge der Inneren Kammer schloß. Sie legte den Fächer beiseite und trat zum Erker. »Ich hatte erwartet, daß das Gelage mit Fong-Kuoy anstrengend sein würde.« Lü näng Huangos Blick schweifte über die Stadt unter ihr: ihre Stadt. Tschöng-Hau Leng mochte nur eine Eroberung am Rande des Reiches der Tugend sein, aber was die Küche anging, hatte sie Unvergleichliches zu bieten. Die Pfauenschiffe brachten die exotischen Waren der Barbaren aus dein fernen Ajuna geradenwegs hierher, in den Hafen von Tschöng-Hau Leng.

»Hattest du den Eindruck, daß der höchstehrwürdige Fong-Kuoy näng Tschüeng zufrieden war?«

»Höchstehrwürdige Lü«, sagte die alte Nühen, als sie hinter dem Wandschirm hervorkam, »was für eine Frage an eine alte Frau! Ist es nicht viel wichtiger, ob du zufrieden warst?«

»Er war gierig nach den bitter-süßen Speisen, mit denen er aufgewachsen ist, und niemand weiß besser als ich, was er am meisten liebt.« Lü verbesserte sich: »... was am meisten geneigt ist, in ihm einen Wunsch zu erzeugen, den er als Priester sofort zu stillen hat.« Die Hohepriesterin sog die würzige Meeresluft ein und dachte an das Gelage zurück. Geschmorter Storch mit Duftreis und Zitronenmus – sein Lieblingsgericht. Ein Tisch mit Früchten, auf dem insbesondere die heimische Ananas und Granatäpfel aus dem Norden nicht fehlen durften. Dazu Wein aus dein Merkantilischen Imperium, verfeinert mit Muskat und Kirschblüten. Und am Ende statt feinster Köstlichkeiten einfache Reiskuchen, mit einer Prise Haschisch bestreut. Eine Erinnerung an seine Mutter, wie er ihr einmal in einem selten offenen Augenblick gestanden hatte, nach einer Nacht, in der sie ihm ... Lü schüttelte unwillig den Kopf und trat vom Erker zurück in die Innere Kammer.

Ihr Blick fiel auf den mannshohen merkantilischen Silberspiegel. Sie betrachtete sich kritisch, drehte den Kopf, ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen, und wandte ihren Körper ein wenig zur Seite. Die rote Schminke war makellos, und die weiß gemalten Himmelsbrauen verliehen ihrem Gesicht etwas Überirdisches. Das blaue Seidenkleid mit dem ausladenden Kragen ließ erahnen, wo ihr Leib weiblich weich war, ohne seine Schwächen zu offenbaren. Aber es war lange her, daß sie die Schleierbandhaube abgenommen und einem Mann ihr Haar enthüllt hatte.

»Nein«, sagte sie mit jäher Härte, »das Gelage ist nicht wie erwartet verlaufen. Fong-Kuoy machte mir ein Kompliment – weil es nicht tugendhaft gewesen wäre, eine Frau ohne eine Bestätigung ihrer Schönheit zu verlassen. Dann ließ er sich von zwei jungen Priesterinnen aufhelfen und ins Schlafgemach führen.«

Lü erschauderte unter dem Ansturm von Gefühlen: Kränkung, Erleichterung, Abscheu – und Panik. Ja, ein tödlicher Schatten der Angst fiel über ihre Seele – einer Angst, die sie bislang immer bezwungen hatte.

Sie warf sich selbst einen prüfenden Blick zu. Vor ihr lag ihr achtunddreißigster Frühling. Unwillkürlich glitten ihre Fingerspitzen über ihre Wangen. Auch die Ziegenmilchbäder und die mangalische Vulkanerde, die sie nun schon jeden Tag auflegte, konnten nicht länger verbergen, was ihre Finger überdeutlich fühlten. Sie begann alt zu werden.

Ihr Blick fiel auf die Hand mit dem Ringsiegel. Für dieses Zeichen hatte sie viel geopfert. Die Rechte war steif geworden von den vier breiten Ringen, die das Siegel trugen. Aber ebendieses Siegel zeichnete sie als Herrin der Inneren Kammer aus und erlaubte nun ihr, all ihre Wünsche erfüllt zu sehen.

Und was war mit diesem ihren Wunsch: nicht alt zu werden? Eine Priesterin hatte keine unerfüllten Wünsche zu haben. Doch den Wunsch konnte ihr niemand erfüllen: kein Gläubiger, kein Priester, kein Blauer Gott.

Die Blauen Götter!

Lü fühlte, wie ein Schauder ihr Rückgrat hinabfuhr, halb heilig, halb voll Entsetzen. Der Herr der Unwandelbaren Ordnung würde im Frühling ausziehen, um die Fangs, die Blauen Götter, zu erschlagen.

»Ich habe noch nie einen Fang gesehen.« Tschöng-Hau Leng lag durch drei Eroberungen vom Unvollendeten Palast der Blauen Götter getrennt. Lü war nie ausgewählt worden, die Roten Steine der Mangalischen Küste zum Opfer zu bringen. In früheren Jahrhunderten, so hieß es in den Tempelchroniken, war der Hohepriester noch selbst ausgezogen, um dem Befehl der Götter Gehorsam zu leisten. Aber heutzutage wurde jeder rote Edelstein erst nach Mantikor Leng geschickt, der Stadt der Mantikoren.

Es war ein offenes Geheimnis, daß die Kammern der Geomauten, der Nautiker, der Astrologen, der Alchimisten, der Architekten und der Lebensdeuter ihren Anteil erhielten, ehe sie eine Karawane zusammenstellten. Mehrfach, so hieß es in den letzten Jahren, waren einfach nicht genug Rote Steine übrig geblieben, daß sich überhaupt eine Karawane gelohnt hätte.

Und die Blauen Götter hatten geschwiegen! Nein, eigentlich schlimmer: sie hatten geflucht. Sie hatten den Sterblichen üble Drohungen entgegengeschleudert. Doch dabei war es geblieben. Es war Jahrhunderte her, seit die Fangs zuletzt ausgezogen waren, um jeden Sterblichen zu erschlagen, der ihnen die Roten Steine vorenthielt. Das war noch zu Zeiten des ersten Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, gewesen.

»Und nun dieser Auftrag«, stöhnte sie. »Ausgerechnet ich.« Lü blickte nach der silbern durchwirkten Klingelkordel. Sollte sie den Herrn der Kammer der Ordnung rufen und sich die Chronik bringen lassen? Sie unterdrückte ein Gähnen. Nein, nicht nach diesem Festmahl. . Ihre Hände betasteten mißbilligend ihren Bauch. Sie hatte sich mit der Feder erleichtert, aber dennoch fühlte sie sich aufgebläht.

Hatte sie Wünsche? Routiniert erforschte Lü ihr Gemüt. Vielleicht sollte sie sich einen der jungen Priester kommen lassen. Der kleine Giung war niedlich – und respektvoll und leidenschaftlich dazu. Nein, sie wollte keinen Mann. Wie so oft hatte sie keine Wünsche. Alles, was sie fühlte, war diese hungrige Leere an einer Stelle ihrer Seele, die nicht einmal einen Namen hatte.

Die Straße nach Norden

Nördliche Königreiche, jenseits des Qiu, ebenfalls im Herbstdes Jahres 471 der Blauen Götter

»Wasser!« Etwa fünfzig Schritt weiter gab es irgendeinen Aufruhr. Eine Sänfte war angekommen, von vier weißen Pferden getragen. Die Sklaventreiber, die eben noch bäuchlings am Boden gelegen hatten, liefen eilfertig herum und schrien: »Los, ihr nichtswürdigen Tiere! Schafft Wasser her!« Dabei schlugen sie mit den Geißeln auf jeden Sklaven ein, der sich in ihrer Reichweite befand.

Der Stiernackige, der am Abschnitt das Kommando hatte und vor dem auch die Sklaventreiber buckelten, war unvermutet selbst zum Wurm geworden. Das Gefährt war zu breit – oder vielmehr die Straße zu schmal. Die Arbeiter hatten noch Steinplatten auf der Straße gelagert, die in den nächsten Stunden verlegt werden sollten. Der Stiernackige wand sich wie ein Aal vor dem Würdenträger in der Sänfte, von dem lediglich die rechte Hand mit dem beeindruckenden, drei Finger bedeckenden Ringsiegel und eine hochrote Stirn zu sehen waren.

Strolch atmete auf. Wie jedem Sklaven war ihm jegliche Unterbrechung der Arbeit nur recht. Seite an Seite standen sie seit Wochen im Lehm und verbreiterten die Trasse, verlegten die Reismatten und richteten die Steinplatten darauf aus. Einige tausend Sklaven waren es gewiß – jedenfalls so viele, daß die Reihen von Strolchs Arbeitsplatz aus in beiden Richtungen bis zum Horizont reichten. Die Kataueken schienen beinahe alles in unüberblickbaren Scharen anzugehen. Früher hatte Strolch geglaubt, es könne niemals mehr Menschen geben, als sich im stolzen Maganta, der Hauptstadt des Merkantilischen Imperiums, zum Fest der Entrückung Gottes versammelten.

Aber gleichgültig, wie viele Arbeiter die Sklaventreiber zur Verfügung hatten: Strolch blieb immer der Ajunäer. Einen Kopf größer, mit abartig hellem, kurzem Haar und einer langen Nase, die zum Draufschlagen einlud. Was auch immer in seinem Glied falsch lief: Strolch bekam Knute oder Geißel dafür zu schmecken. Und abends, wenn die Aufseher besoffen vom Reisbier durch die Reihen der angepflockten Sklaven wankten, war es einerlei, wie finster es war oder wie sehr es regnete: Strolchs Haar war zwischen den schwarzen Zöpfen weithin zu erkennen und schien unwiderstehlich dazu aufzufordern, ihm mit Tritten, Flüchen und perversen Spielchen klarzumachen, daß er selbst unter Sklaven noch Abschaum war.

»Wasser, ihr Ratten!«

Wahrscheinlich wollten sie zumindest die Pferde tränken, wenn der Bonze schon warten mußte. So nannten die Kataueken ihre rotgesichtigen Schreiber.

Strolch setzte sich in Bewegung und versuchte zu erraten, wo die Aufseher sie hintrieben. Dann erwischten ihn die ersten Schläge. Strolch wurde mit den anderen zum Strom hinunter geprügelt. Sie waren mindestens hundert Mann, die als Kette ins Schilf getrieben wurden. Der Boden wurde sumpfig. Schilfstoppeln zerstachen ihnen die bloßen Füße, Blutegel krochen schleimig an ihren Waden hoch.

»Nimm das, Mißgeburt!« Natürlich war es der Ajunäer, dem sie den Eimer in die Hand drückten und den sie mit einem Geißelhieb über die Schultern zum Wasser jagten. Strolch füllte den Eimer und reichte ihn dem nächsten Sklaven. Dann schlug er um sich in dem Versuch, sich die Stechmücken und die Blutegel vom Leib zu halten. Wenn man schnell genug zugriff, bissen sie nicht. Zuschlagen und klauben, zuschlagen und klauben. Zwischendurch kamen noch einige Eimer.

Dann biß der erste Egel. Strolch ging in die Knie, um ihn sich vom Fuß zu reißen. Während er im schmutzigen Wasser kniete und im Schlamm wühlte, um den Egel an seinem Rist zu packen, wurde ihm klar, daß die Sklaventreiber dieses Problem nicht hatten. Von denen war nämlich keiner im Schilf Mindestens fünfzig Schritt trennten ihn von den Prügelknechten. So weit waren sie sonst nur abends weg, wenn er angepflockt war. Fünfzig Schritt durch kniehohen Schlamm und brusthohes Röhricht und durch mindestens ebenso viele Sklaven.

Strolch ließ sich ins Wasser fallen. Der Sklave hinter ihm kämpfte ebenfalls mit einem Egel. Zwei kräftige Ruderbewegungen mit den Armen. Strolch war in Maganta immer ein guter Taucher gewesen. Schilfstoppeln und Flußmuscheln zerkratzten ihm Bauch und Beine, als er losschwamm.

Dann fühlte er die Strömung. Wenn jetzt bloß nicht einer der anderen Sklaven schrie! Den Ajunäer verpfeifen, damit du nicht selbst den Stock zu spüren bekommst. Aber selbst wenn einer der Sklaven Alarm gegeben hätte, so hätte Strolch es unter Wasser nicht gehört. Und zurück konnte er ohnehin nicht. Ich wurde abgetrieben, Euer Blutrünstigkeit. Ehrlich, ich wollte nicht fliehen. Warum sollte ich? Es geht mir doch gut als Sklave. Nein, Strolchs Hafengaunereien zogen nicht bei dieser dünkelhaften Rasse, deren Sprache er kaum sprach.

Er tauchte erst auf, als Funken vor seinen Augen tanzten. Dann schwamm er mit der trägen Strömung weiter. Mindestens eine Viertelstunde an einförmigen Reihen von Sklaven entlang, die hundertfünfzig Schritt entfernt an der Straße schufteten. Möglichst weit hinaus in die Strömung, um schnell hier wegzukommen, aber nicht so weit, daß man seinen Kopf jenseits des Schilfes gesehen hätte.

Kurz erwog er, den Strom zu überqueren, aber der war so gigantisch wie alles in Serkan Katau. Dabei war es nur ein Zufluß des riesigen Stromes, den sie Qiu nannten. Das andere Ufer war ein verwischter gelber Strich am wolkenverhangenen Horizont.

Endlich war er frei – das erste Mal frei, seit er auf diesen gleichermaßen sagenhaften wie verfluchten Kontinent gekommen war! Der Blutegel an seinem Rist war inzwischen feist wie eine Pflaume. Und dem jungen Ajunäer wurde klar, daß sich ein, zwei Monde Fußmarsch in jede Richtung eine Kultur erstreckte, deren Volk ihn immer hassen, jagen und demütigen würde.

Die Stadt der Mantikoren

Mantikor Leng, zentrales Serkan Katau,im Achten Mond im Jahr 471 der Blauen Götter

Endlich! Kang gab seinem Pferd die Zügel, als die Silhouette Mantikor Lengs aus dem diesigen Nachmittagslicht auftauchte. Fünf Wochen! Fünf Wochen auf den besten Straßen der Welt, vom Labyrinth zum Qiu und dann den Strom abwärts nach Süden – und nun lag sie vor ihm: die Hauptstadt des Reiches der Tugend. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er unwillkürlich nach einem Hügel gesucht, um sich einen Überblick zu verschaffen: eine Gewohnheit aus zwanzig Jahren in fremdem oder feindlichem Land. Doch hier gab es keine Hügel – nur Reisfelder, Obstplantagen, flache Bauernhäuser, Kanäle und Straßen bis zum Horizont.

Die Palaststadt des größten Reiches der Welt benötigte keine Mauern und keinen Schutz. Der Kriegsherr der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, hatte sie dereinst mitten in der Ebene des Qiu und nördlich der undurchdringlichen Regenwälder gegründet. Sie war das sichtbare Zeichen, daß der Göttergleiche und all seine Nachfahren zur Herrschaft bestimmt waren: unangefochten von den Ungeheuern, die er erschlagen hatte, unangefochten von den Göttern, denen er seinen Tribut an Roten Steinen gezollt hatte, unangefochten von jedem anderen Volk Serkan Kataus und erst recht unangefochten von Königen und Häuptlingen, deren Blick nicht über den Rand ihres Stammlandes hinaus reichte.

Vierundzwanzig Jahre! So lange hatte Kang am Labyrinth gekämpft. Vierundzwanzig Jahre lang hatte er diese Stadt verteidigt und nicht begriffen, wie weit entfernt sie lag. Natürlich hatte er wie jeder Offizier gewußt, daß zwischen dem Labyrinth und Mantikor Leng drei Eroberungen lagen. Aber niemand, der nicht anderthalbtausend Lang geritten war, konnte diese Strecke begreifen. Vierundzwanzig Jahre in der Heerschar am Labyrinth – und nun war er entlassen worden.

Es schien, als schwebte die Stadt in einem Licht, das sie selbst hervorbrachte. Umgeben von einem goldenen Dunstschleier, beherrschte die Große Pagode von Gingang Gao das Panorama aus Palästen, Tempeln und Kammern, unzähligen Kasernen, Magazinen und Reisspeichern sowie das weit gefächerte Netz der Kanäle und Gärten.

Wieder trieb der Offizier seinen Schecken an. Aber die Stadt schien nicht näher zu kommen. Er hatte gewußt, daß sie groß war, und er hatte gesehen, welche Heerscharen und welche Mauern sein oberster Herrscher aufbieten konnte. Und er hatte gelernt, daß die Herren der Kammer der Tugendhaften Ordnung eine neue Zahl hatten erfinden müssen, um die Einwohner der Hauptstadt zu zählen. Aber keine seiner Erfahrungen hatte ihm wirklich verdeutlicht, welch unvorstellbare Macht die turmartig bis zu den Wolken aufragende Heimstatt seines Gebieters innehatte.

Kang passierte die erste Garnison. Wie in allen Städten, die er auf dem langen Ritt ins Zentrum durchquert hatte, hatte er die scharlachrote Hüllrolle eben erst gezogen, als sich der Wachtmeister bereits verneigte und ihm eigenhändig die Schranke öffnete. Für einen Moment tauchte am Rande seines Bewußtseins der argwöhnische Gedanke auf, welchen Mißbrauch der Besitz solch einer Botschaft ermöglichte. Aber nein, dachte Kang, wie könnte er je etwas anderes tun, als der Botschaft zu folgen, wie könnte jemand sie tragen, dem sie nicht bestimmt war.

Die neue Heerschar

Festung Gingang Tung, Mantikor Leng,drei Wochen später

»Ihr seid die Helden des Reiches, welche die Herren der Inneren Kammer des Krieges auserlesen haben.« Die Stimme des grauhaarigen Generals schallte über den gewaltigen Kasernenhof von Gingang Tung. »Acht mal acht mal acht mal acht seid ihr an der Zahl. Ihr wurdet auserwählt, dem Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer selbst als Waffenknechte zur Seite zu stehen.«

Ein Krieg also, dachte Kang – ein Krieg, in dem der Göttergleiche mit eigener Hand streiten würde. Er fühlte, wie sein Mund feucht wurde von Kampfesgier.

Dieser Gedanke war es, der ihn und alle Krieger während der folgenden Tage beflügelte, während sie daran gingen, eine Heerschar zu bilden, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Kang mußte sich an die Gesichter seines Kommandanten und seiner Rangesgefährten gewöhnen. Wenn General Tüfang hua Hidong mit seinen acht Hauptleuten sprach, trug er nie eine Maske, und ebenso hielten sie es untereinander.

Ob der Göttergleiche ebenso unmaskiert focht? War es wahr, daß er unverwundbar war? Daß sein Gesicht im Kampf von göttergleicher Raserei entstellt wurde? Dies jedenfalls berichtete die Historie von seinem Ahnherrn, dem Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste. Und als Kang ein junger Rekrut gewesen war, hatte ihm ein Priester erklärt, daß sie alle Masken trugen, weil ihr Gesicht zugleich das des Herrn der Unwandelbaren Ordnung war und ihr Zorn der des ersten Kriegsherrn, der das weltumspannende Reich von Serkan Katau geschaffen hatte.

Kang fühlte einen heiligen Schauder. Dann mußte der Zorn des Göttergleichen unermeßlich sein ... Kang hatte seine Heerscharen gesehen, ein ums andere Mal, wenn sie im Labyrinth in ihren unerschütterlichen Speerwäldern und treffsicheren Schützenreihen den Barbaren des Turga-Busches entgegengetreten waren. Die Turga waren tapfere Kämpfer auf wilden Pferden, halbe Tiere meist, gehüllt in Pelze und getrieben von den Zaubern ihrer unbekannten Ahnen. Aber kein Volk konnte es mit den Kriegern des Reiches der Tugend aufnehmen – nicht mit der tödlichen Effizienz der acht Künste des Tötens, nicht mit ihren kaum durchdringbaren roten Harnischen, nicht mit dem grausamen Zusammenspiel zwischen Lanzenträgern und Schwertschwingern, Kreuzbogenschützen und Katapulten, schwerer Reiterei und flinker Barbarenreiterei, und schon gar nicht mit der schieren Zahl an Ziangs, die der Höchste Kriegsherr der Geheimen Kammer aufbieten konnte.

Und nun würde das Länder überspannende Feld der Krieger ausziehen, angeführt vom Göttergleichen höchstselbst. Welcher Feind mochte solch gewaltige Aufmerksamkeit verdienen?

Fallobst

Irgendwo in den Nördlichen Königreichen, zu Winterbeginnim Jahr 471 der Blauen Götter

»Kommt doch, ihr stumpfnasigen Reisfresser. Hugga Hugga!« Strolch hüpfte von einem Bein aufs andere wie ein betrunkener Affe und wedelte dazu mit seinen dünnen Armen. Die Pflückerinnen glotzten von den Leitern herab, einige kicherten. Die Knechte setzten die Weidenkörbe ab und kamen näher.

»Ihr kriegt mich nicht, ihr kriegt mich nicht«, spottete Strolch. Er führte die Hände an die Schläfen, um ihnen Eselsohren zu zeigen, aber als die Grasbüschel knisterten, die er um die Handgelenke gebunden trug, hielt er inne. Nicht nötig, dachte er, du siehst schon lächerlich genug aus. »Hugga Hugga!«

Einer der kräftigsten Knechte in vorderster Reihe rief etwas Kehliges zu seinen Gefährten. Weiter hinten antwortete einer mit wenigen Worten, aus denen sich eines hervorhob: »Gingaling.« Verrückt! Das erste Wort, das Strolch in Serkan Katau gelernt hatte – oder zumindest das, welches er wohl am häufigsten gehört hatte.

»Jaja, ihr Reisfresser, das verrückte Gespenst aus Ajuna ist da.«

Der bullige Obstpflücker in der ersten Reihe zog eine Sichel vom Gürtel und hob sie – eindeutig bedrohlich. Abstand halten, sagte sich Strolch. Er sprang einige Male nach links, dann zurück. Sehr gut, nun kamen auch die Pflückerinnen von den Leitern und folgten den Männern.

»Wung Ling«, rief er nun das Zauberwort. Er hoffte inständig, daß die Bauern ihn tatsächlich für einen Reisgeist hielten – oder zumindest so reagierten, wie sich das seine sauberen Spießgesellen ausgedacht hatten. Sein Blick glitt über die hinteren Reihen, in der Hoffnung, einen der Halunken auftauchen zu sehen. Dort hingen noch einige der fremden, orangefarbenen Früchte mit der harten Schale an den Bäumen.

»Hy’ä!« rief einer der Knechte. Tücke, dachte Strolch grimmig. Nein, das war das Wort, welches er am häufigsten gehört hatte: Hau ab! Hier bist du selbst als Reisgeist Ajunäer, fluchte er. Da flog die erste faulige Mandarine.

Strolch sprang schnell nach rechts und wich weiter zurück. Drei weitere Knechte bückten sich. Er wich erneut aus, aber schon traf ihn klatschend die erste Frucht. Und dann kam ein Stein daher!

»Verreckt doch alle«, kreischte Strolch, eher an seine Kameraden hinter den Obstbäumen als an die Angreifer gerichtet. Als er sich zur Flucht wandte, traf ihn ein Stein an der Schulter. Er schrie auf vor Schmerz und rannte geduckt los. Ein weiterer, tieffliegender Stein verfehlte ihn nur um Haaresbreite.

Nichts wie weg! Strolch schlug einige Haken zwischen den Bäumen. Hinter ihm prallte eine letzte matschige Mandarine auf. Er hörte Gelächter und ärgerliche Rufe. Dann gelangte er an den Rand der Plantage. Er machte einen Schwenk zur Seite und folgte dem Rain. Wie man sich verdrückte, hatte er in seinem miesen kleinen Leben nun wirklich gelernt. Nicht über freies Gelände laufen, solange sie noch so nahe sind. Am besten nicht auf Kontinente reisen, die nur aus freiem Gelände bestehen ...

Hunger

Im einem nahen Wäldchen, in den Abendstunden

Das mußten sie sein! Strolch hörte fröhliche Stimmen im Unterholz. Es roch betäubend stark nach Melisse und Salbei. Sein Magen knurrte so laut, daß er glaubte, einen Tiger hinter sich zu haben. Entgegengehen oder warten? Egal, sie werden dich sowieso wie Abschaum behandeln. Hauptsache, was zu fressen.

Strolch bog die fremdartigen Farnwedel seines Verstecks zur Seite und bewegte sich auf die Gruppe zu, die sich aus der Abenddämmerung schälte. Narbenfresse ging vorneweg, Kudung scherzte gerade mit Schlampe. Keiner würdigte ihn eines Blickes. Sie stapften ins Innere des Wäldchens, wo sie den Buchsbaum ausgeholzt hatten. Einer nach dem anderen ließen sie sich hinfallen. Strolch suchte mit begehrlichen Blicken nach der Beute. Zwei der Strauchdiebe trugen ein zusammengerolltes Tuch schräg über dem Leib, in dem Strolch runde Formen auszumachen glaubte.

Einauge hatte orangefarbenes Fruchtfleisch im Bart hängen. Sie hatten also schon gegessen! Er wandte sich um und besah sich die anderen genauer. Auch Narbenfresse schien satt zu sein.

»Was willst du?« herrschte Kudung ihn auf katauekisch an. Strolch bemerkte, daß er in der Mitte des Lagers stand. Unwillkürlich hatte er sich breitbeinig aufgebaut. Doch jetzt wagte er nicht, Kudung in die Augen zu sehen, daher irrte sein Blick über die bronzegelben Gesichter der anderen.

»Essen«, sagte er, »Obst!«

Kudung gab eine abfällige Antwort, die Strolch nicht ganz verstand. Früh weglaufen? Narbenfresse knurrte irgend etwas wie üblich Unverständliches und deutete vorwurfsvoll auf sein Tragetuch. Zu wenig Beute? Wollten sie ihm jetzt einreden, er sei zu früh geflohen? Strolch fühlte die Schwellung auf seiner Schulter pochen.

»Ich essen«, wiederholte Strolch und riskierte einen Blick auf Kudungs kräftiges Kinn. »Gesetz.« Einauge stimmte ein höhnisches Gelächter an. Klar, falsches Wort bei einem Gesetzlosen. »Bande Gesetz«, verbesserte sich Strolch.

»Hy’ä!« herrschte ihn Kudung mit der Geste eines Gutsbesitzers an, der einen Sklaven entläßt. Dann griff er nach Schlampe, die zu kichern begann. Er vergrub seinen Kopf an ihrer Schulter und tat etwas, das sie quieken ließ. Als er sich umblickte, schien er überrascht, daß Strolch noch immer da stand.

»Narbenfresse!« rief er befehlerisch. Narbenfresse tat kurz so, als ob er bereits eingeschlafen wäre. Als Kudung nichts weiter sagte, hob er vorsichtshalber den Kopf. Kudung nickte in Strolchs Richtung. Grunzend griff der Kataueke in sein schmutziges Tragetuch. Dann warf er Strolch eine bräunliche Mandarine zu, die in seinen Händen sofort zerplatzte.

»Mehr!« rief Strolch. Narbenfresse gab wieder ein Geräusch von sich wie eine Sau am Trog und griff betont widerwillig in das Tuch. Dann überlegte er es sich, warf Strolch den Beutel vor die Füße und drehte sich zur Seite.

Strolch lauschte in seinen Bauch hinein, in diesen dumpfen Knoten aus Hunger, Demütigung, Wut und Verzweiflung. Zwei zermatschte Mandarinen und eine steinhart getrocknete Kante Reisbrot, die Narbenfresse wohl nach dem Einbruch in der Windmühle vor zwei Wochen einfach vergessen hatte – und dafür hatte der junge Abenteurer sich anderthalb Stunden angeschlichen, mit Steinen bewerfen lassen und dann bis zur Dämmerung auf die anderen gewartet. Vor Verzweiflung hatte er angefangen, mit befeuchteten Fingern Ameisen aufzupicken und zu schlucken.

Strolch konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal wirklich satt gegessen hatte. Narbenfresse konnte halbwegs mit Schlingen umgehen und brachte, wenn sie einige Tage verweilten, manchmal ein Kaninchen, ein Moschustier oder eine Springratte mit – aber sie verweilten selten länger als bis zum ersten Überfall. Einauge behauptete, Fische speeren zu können, aber die zwei Mal, da er einen erlegt hatte, hatte er nur Kudung etwas abgegeben.

Wiederholt hatten sie Schlangen mit Steinen erschlagen. Schlampe hatte sie geöffnet, ausgenommen, mit Steinen gefüllt und dann in die Glut eines verlöschenden Feuers geschoben. Irgendwie garten die heißen Steine dann das Fleisch. Aber auch davon hatte Strolch stets nur die Schwanzenden mit Unmengen von Wirbeln abbekommen.

Und nun lag der Winter vor ihnen. Strolch war sich angesichts der fremden Pflanzen und der unbekannten Feldfrüchte nicht sicher, was sie erwartete, aber es war deutlich, daß es kälter und trockener wurde. Jedenfalls kälter als in Maganta um diese Zeit. Die Baumreihen, die die Pflücker an diesem Tag abgeräumt hatten, waren die letzten der Plantage gewesen und die Früchte durchwegs überreif. Nicht, daß es im Herbst so viel einfacher gewesen wäre, an Nahrung zu gelangen: Die Kataueken hatten überall Feldhüter stehen, und ständig waren berittene Aufseher unterwegs, um entlaufene Sklaven aufzuspüren.

Genau das war er: ein entlaufener Sklave. Auch wenn sie ihn auf dem Schiff nicht gebrandmarkt hatten, genügte sein Aussehen, um ihn zu verraten. Seit er bemerkt hatte, wie die Kataueken auf sein straßenköterblondes Stoppelhaar reagierten, versuchte er es morgens stets mit der Kohle des Lagerfeuers zu schwärzen. Aber seine Nase – für hiesige Verhältnisse ein echter Zinken – und sein langes, hageres Gesicht konnte er ebensowenig verbergen wie seine langen Arme und Beine, die selbst für einen Ajunäer schlaksig wirkten. Ganz davon zu schweigen, daß er größer war als Kudung, der in der kleinen Bande durchaus als kräftig gewachsen galt.

Was hast du Esel erwartet? Wie jeden Abend zermarterte Strolch sich den Kopf. Was, bei der Kakerlakenkutsche des Buckligen, hatte ihn dazu gebracht, sich auf die Nauke zu schleichen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Dabei hatte er es über Wochen hinweg geplant. Damals hatte das sagenhafte Serkan Katau in buntesten Bildern vor seinem geistigen Auge gestanden. Aber Strolch konnte die Bilder nicht mehr sehen. Alles, was er sah, wenn er nun die Augen schloß, waren die vertrauten Gassen von Magantas Hafen, die ihm noch vor einem Jahr so unerträglich erschienen waren.

Es war nicht der Schmutz gewesen und nicht einmal der Hunger, dem er hatte entfliehen wollen. Nein, was er nicht ertragen hatte, war der Spott gewesen. Daß die Burger, Handwerker und Soldaten ihn wie einen Straßenhund betrachteten, daran hatte er sich gewöhnt. Aber daß ihn selbst die anderen Tagelöhner und Tagediebe stets nur Strolch genannt hatten ...

Am schlimmsten war sein Vater gewesen. Wenn er überhaupt sein leiblicher Vater war! Das hatte ihm der alte Hurenbock immer wieder hinterhergeschrien, seit Verachtung, Haß und Prügel Strolch keinen Laut mehr hatten entlocken können.

Nun gut, seine Mutter hatte mit anderen Männern geschlafen – bisweilen auch für Brot, Wein oder einige ungelochte Münzen. Meistens war es im Winter gewesen. Er zitterte beim Gedanken an die Kälte ... wie sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und er sich zu seinen zwei Schwestern ins andere Bett gedrückt hatte. Und während ihn Ellbogen und Knie in eine fügsame Wurst verwandelt hatten, die halb aus dem Bett gehangen und sich halb an die Schwester geklammert hatte, hatte er gelauscht. Seine Schwestern hatten stets behauptet, nichts davon zu wissen, aber er kannte den fremdartigen Klang, den Hunger und Schnaps und eine seltsame Erregung der Stimme seiner Mutter verliehen hatten. Und obwohl die fremden Männer meist nur gegrunzt und gestöhnt hatten, hatte sie leise zu ihnen mit dieser seltsamen Stimme gesprochen.

Nein, die meisten waren gar keine fremden Männer gewesen. Dann und wann hatte sie einen katauekischen Seemann mitgebracht, der stets einige gelochte Münzen dagelassen hatte. Einmal war es auch ein Bürger in feinem Tuch gewesen; aber da hatte es gleich Streit gegeben, weil er der Frau nichts hatte geben wollen. »Ich habe schon den Braten bezahlt«, hatte er immer wiederholt. Doch die anderen Männer waren Schauerleute und Träger wie sein Vater gewesen.

Im Herbst, wenn die Nauken zurück nach Serkan Katau segelten, verödete der große Hafen von Maganta. Die Krämer der Nachbarstädte und die einheimischen Fischer hatten vergleichsweise kaum Ladung und vor allem kein Geld. Dann mußten die Männer losziehen. Manche gingen landeinwärts, um in den Bergwerken und Wäldern zu schuften. Manche hatten zu dritt oder viert ein eigenes Boot, mit dem sie auf das Weiße Meer zum Fischen hinausfuhren. Die anderen lungerten in den Tavernen und Spelunken herum und versuchten sich mit Wein zu betrinken, der so gewässert war, daß nicht einmal die Kinder davon einschliefen, wenn sie vor Hunger weinten. Und manch einer ging dann eben mit einer Frau mit, die noch einsamer war als er – auch wenn es die Frau eines Freundes war.

Und Strolchs Vater – der Hurenbock? Der Junge hatte nie erfahren, wie er diese Winter verbrachte. Die Eltern hatten ständig darüber gestritten. Im Nebelmond hatte der Vater von seinen unfehlbaren Plänen »mit den anderen Jungs« erzählt. Einmal wollten sie einen Wal fangen, dann einen Schatz heben, der nach der Götzenschlacht vergraben worden war. Dann war wieder von einer gescheiterten Nauke die Rede, deren Seidenballen, Gewürzsäcke, Haschischfladen und Zuckerkisten man nur noch am Strand einsammeln mußte. Manchmal sprachen sie darüber, sich mit den Schmugglern und Erpressern der corona einzulassen.

Aber schon im Wolkenmond war er wieder dagewesen, meist mit »guten Freunden«, die er im Vorjahr noch nicht gekannt hatte. Mutter hatte ihn angefleht, etwas zum Essen vorbeizubringen, aber meist hatte der Tag damit geendet, daß er die paar Münzen, die Mutter mit dem Gießen ranziger Talglichter verdient hatte, auch noch mitgenommen hatte. Im Schneemond war er dann wieder wochenlang unterwegs gewesen – aber die »guten Freunde« waren immer häufiger zu Besuch gekommen. Doch die einzigen, die jemals Geld ins Haus gebracht hatten, waren die Kataueken gewesen.

Strolch konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er begriffen hatte, wie unvorstellbar reich die Fremden sein mußten ... Er war elf Jahre alt und stand mit seinen Freunden am Hafen, wo eine Nauke vor Anker lag. Bei ihnen saß der alte Stumpfbein-Mateo, der in der Flotte des Merkantilischen Imperiums als Seesoldat gedient hatte, bis er hei einem Gefecht gegen Galeeren der Ehernen Liga ein Bein verloren hatte.

Mateo erklärte Strolch, wie so eine Nauke gebaut war und wie sie betrieben wurde: der kastenförmige Rumpf mit den Aufbauten in der Mitte, die seltsamen Ausleger, die roten Pfauenfächersegel.

»Und das ist der Kapitän?« fragte Strolch, plötzlich atemlos, als ein Kataueke in weißem Leinen das Fallreep hinaufstieg. Der Junge kannte den Mann. Der schwarze Zopf, das bronzegelbe Gesicht, die schmalen Augen, die weiße Kleidung – all das wäre verwechselbar gewesen. Aber um den Hals trug der Mann ein großes Amulett aus Silber und rotem Edelholz, das ein fremdartiges Ungeheuer darstellte. Dieses Amulett kannte Strolch: Er hatte es vergangene Nacht in der Dunkelheit angestarrt, während der Mann atemlos auf seiner Mutter gelegen hatte.

»Der Kapitän?« Stumpfbein-Mateo schmunzelte. »Ach was, das ist ein einfacher Seemann.« Dabei deutete er auf den Mann, der auch schon am Hauptmast aufenterte, um die Vertäuung der gerefften Pfauensegel zu überprüfen.

Doch Strolch hatte nur das glückliche Lächeln seiner Mutter vor Augen, die in der Früh mit drei achteckigen Silbermünzen gespielt hatte, in der Mitte gelocht wie alle katauekischen Münzen. Und als er mittags nach Hause gekommen war, hatte die ganze Hütte geduftet von dem Eintopf, den seine Mutter gekocht hatte, mit echtem Hammelfleisch und frisch gebackenem Brot ...

Vorzeichen

Hochtempel von Tschöng-Hau Leng,im Zehnten Mond im Jahr 471 der Blauen Götter,zu Beginn der Kleinen Regenzeit

Mit dem Vergnügen einer geübten Intrigantin stellte Lü näng Huango fest, daß sie immer deutlicher Veränderungen in Tschöng-Hau Leng wahrnahm, die ihr ohne Fong-Kuoy näng Tschüengs Nachrichten entgangen wären.

Auf den Kais des riesigen Hafens wurde zunehmend darüber gesprochen, daß man nach der Regenzeit keinen Reis zum Handel mit Ajuna laden werde, weil der Reispreis so gestiegen sei, genauer gesagt der Preis für Reismehl – wie man es benötigte, um ein großes Heer zu versorgen.

Da und dort erschienen Viehhändler aus den zentralen Eroberungen, die den großen Schweinemästern die Tiere gleich herdenweise abkauften und diese noch im Koben schlachten ließen. Das Fleisch wurde eingesalzen und auf ihre Karren verladen; die Häute spannten sie darüber. Das ergab nur Sinn, wenn man das Fleisch weiter transportieren wollte, als es sonst üblich und einträglich war, und wenn man mit bereits vorgegerbtem Leder dort ankommen wollte.

Immer häufiger erschienen Offiziere oder stolze Mütter der Kriegerkaste im Hochtempel, weil die Schwertweihe ihres Sohnes ein halbes Jahr vorverlegt worden war. Nervöse junge Männer brachten ihr Erstopfer als Zeichen, daß sie nun ein Mann waren.

Mehrere Male spendeten wohlhabende Tempelbesucher, die um ein Orakel baten, so großzügig, daß Lü beschloß, eigenhändig die Eingeweide des Opfertiers zu deuten.

Der eine war ein Händler. Eigentlich gehörte er zur Kaste der Bonzen, aber er hatte nie ein Amt innegehabt. Schon sein Vater war mit Karawanen an der ganzen Mangalischen Küste zu Reichtum gekommen, und der Erbe hatte nie anderes getan, als die Güter Tschöng-Hau Lengs gegen die der benachbarten Eroberungen zu handeln. Er wollte wissen, ob er im neuen Jahr an Bord einer Nauke gehen sollte, mit einer Ladung Zucker, Seide, Haschisch und Tee, um sie bei den Barbaren Ajunas gegen Wein, Salz, Eisen und Glas zu tauschen.

Im Kreis der brodelnden Kessel, die die Halle der Himmlischen Mächte mit betäubendem Parfümgeruch erfüllten, konnte Lü ihm guten Gewissens raten, statt dessen »Räder zu kaufen« und weit den Tschöng-Strom aufwärts zu schicken, wo hunderttausend Hände des Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer darauf harren würden, genährt zu werden.

»Ist mir im kommenden Jahr der Blauen Götter bestimmt, meine Ehre zu mehren?« fragte Hauptmann Kapaung, dessen Katapulte die Hafenfestungen von Tschöng-Hau Leng verteidigten. »Lauzöng, o Lauzöng, Tugendwächter, weise mir den Tugendhaften Weg des Himmlischen Willens.«

Lü fand auf dem Weg zum weißen Orakelaltar, die heiligen Lorbeerblätter kauend, mit Hilfe weniger Fragen im Plauderton heraus, daß der Krieger einen Versetzungsbefehl zu einer neuen Einheit erhalten hatte. Wahrscheinlich grübelte er nun, ob er die Anzeichen für einen Heerzug richtig deutete und wie er hier, an der seit zwei Menschenleben befriedeten Mangalischen Küste, Heldentaten vollbringen sollte. Daß er in vollem Harnisch erschienen war, bestätigte Lüs Einschätzung.

Und ihre Einschätzung war alles, was sie hatte. Als sie den Himmel anrief, fühlte sie sich einsam und ungehört wie immer. »Der Himmlische Wille sei mein Wille«, deklamierte Lü. Dann setzte sie dem Widder mit der rotgefärbten Wolle die Sichel an die Kehle und durchtrennte sie mit einem Schnitt. Das Tier versuchte entsetzt zu blöken und taumelte, während sein Leben auf den mit Roten Steinen verzierten Altar sprühte.

Lü stellte fest, daß es eine Weile her war, daß sie zuletzt geopfert hatte – zumindest ein Tier; der Schnitt war nicht ganz sauber gewesen. Doch der Hauptmann hatte einen ganzen Gürtel Gold bezahlt, den Sold eines Mondes, und durfte würdige Behandlung erwarten. Auch das Tier war prachtvoll: gehörnt, wie es den oberen Kasten zustand, und die Wolle rot eingefärbt wie der Harnisch, mit dem sich die Krieger bewehrten.

»Gut war der Tod des Tieres«, deklamierte Lü den zweiten Ritualspruch. Dann öffnete sie den Bauchraum des Widders und trennte Herz, Lunge, Magen, Leber, Nieren, Milz, Gedärme und Hoden heraus. Jedes der acht Organe wurde in eine dafür vorgesehene Schale gelegt, begleitet von Lüs traditionellen Lobrufen. Dann nahm sie die acht Kännchen und begoß jedes Organ mit den acht Ölen: Myrrhe, Rose, Zirbel, Moschus, Wal, Safran, Kampfer und Lavendel. Feierlich beugte sie sich über die Schale und starrte in die Schlieren aus Öl und Blut auf dem Fleisch, in denen sich das Licht der Lampions in allen Regenbogenfarben spiegelte und brach.

»Du solltest mit deinen männlichen Säften weniger verschwenderisch umgehen«, begann sie streng. Ein Rat, mit dem sie ihr ganzes Priesterleben jeden Mann getroffen hatte, ob er seinen Samen nun einer Frau überließ, die ihm gerade den Verstand vernebelte, den Wartenden Mädchen oder dem Stroh seines Lagers.

»Verschwende keine Gedanken daran, einen Sohn zu zeugen.« Der Hauptmann war bekannt genug, daß der Hochtempel über ihn eine Schriftrolle angelegt hatte. Daher wußte Lü, daß er eine Gattin und eine Konkubine hatte und von letzterer nur eine Tochter. Und ein Mann, der in den Krieg zog, bestieg seine Weiber unweigerlich mit dem Gedanken, sich Unsterblichkeit in Gestalt eines Sohnes zu verschaffen.

»Die Kraft deines Mannesstammes mündet in dir.« Auch ein Klassiker: er würde sich in jedem Fall geschmeichelt fühlen – und wenn er heimkehrte und sie ihm wider Erwarten doch einen Sohn geboren hatten, würde er diesen als den Ozean betrachten, in den sein Mannesstamm gemündet war. Außerdem erlaubte ihr diese Überleitung, ihn nun wirklich mit Ratschlägen für den Krieg zu beeindrucken.

»Du stehst vor dem größten Gegner deines Lebens.« Lü stellte erstaunt fest, daß tatsächlich in den Falten des Magens – der traditionell für Konflikt stand – zu sehen war, daß der Mann bis ans Lebensende übermächtigen Feinden gegenüberstehen würde. Sie fühlte, wie der Krieger auf der anderen Seite des Altars gespannter verharrte.

»Euer entscheidender Kampf findet auf festem Boden statt.« Die Frage, die ihn letztlich beschäftigte, war die Natur seines Gegners. Jetzt konnte er zumindest davon ausgehen, daß er nicht gegen irgendwelche mangalischen Seeräuber kämpfen würde. »Du wirst viele Gefährten haben. Und die Zahl der Feinde wird überraschend gering sein.« Theatralisch hob sie den Kopf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Sie verspürte einen Hauch von Betroffenheit, als sie die kindliche Erwartung in den Augen dieses starken Mannes sah. »Aber unterschätze deinen Feind nicht – nicht für einen einzigen Augenblick.«

Die Stimme des Hauptmanns war rauh, als er sprach. »Werde ich ... bestehen?« Eine gute Frage, dachte Lü und vertiefte sich in den Verlauf der Gedärme. Eine auffällig dicke Ader, ungewöhnlich für ein so rein ernährtes Tier. Eine Prüfung, kein Zweifel.

Lü war beeindruckt, wie sehr jedes Organ dieses Tieres das gleiche besagte: Die bevorstehende Entscheidung war eine absolute – ganz oder gar nicht. Was sollte sie einem Mann sagen, der vermutlich gegen die Blauen Götter kämpfen würde, vielleicht aber auch nur seine Stadt bewachte, während andere Ziangs wirklich in den Krieg zogen?

Sie blickte auf das Walöl, das sich auf Lunge und Hoden am längsten gehalten hatte. Dieser Mann war stark.

»Du wirst alle Kraft brauchen, die du aus deiner Ehre und deiner Pflicht sammeln kannst«, dehnte sie die entscheidende Antwort, »und du wirst sie haben, wenn ...« – urplötzlich war Lü eine wundervolle Formulierung in den Sinn gekommen – »die längste aller Wachen beginnt.« Sie hob den Blick wieder und begegnete dem des Kriegers. Sein Gesicht wirkte entspannt. Er schien sich bekräftigt zu fühlen, aber dennoch hoffte er auf einen deutlicheren Rat.

»Greife nicht als erster an«, sagte Lü. Sie war selbst überrascht, wie fürsorglich ihre Stimme klang. »Warte, bis die Gefahr über deinem Haupt am größten ist – und dann kämpfe wie noch nie!«

»Der Himmlische Wille sei mein Wille«, stieß der Mann erregt hervor und beugte das Haupt, bis seine Stirn den roten Marmorboden berührte. Er erhob sich mit klirrendem Harnisch, machte mit einem zackigen Ausfallschritt kehrt und verließ den Hochtempel. Seine Haltung war die eines Mannes, zu dem die Götter gesprochen hatten.

Lü entzündete an einer blauen Räucherfratze ein Feuerstäbchen, um damit das Fleisch in den Schalen in Brand zu setzen. Dabei fiel ihr sinnender Blick nochmals auf jene dicke Ader. Die Priesterin fühlte sich schuldig. Sie hatte ihm nicht gesagt, daß die Ader, sich ständig verbreiternd, bis zum Ende des Dickdarms führte ...

Götterfresser!

Festung Gingang Tung, Mantikor Leng, im Elften Mondim Jahr 471 der Blauen Götter

»Tu-gend!« Hauptmann Kangs Befehl hallte über den Paradeplatz. Acht mal acht mal acht Krieger erstarrten zu roten Wächtern.

»Hoi!« dröhnte ihre Antwort und vermengte sich mit dem gehorsamen Brüllen der sieben anderen Menschenblöcke. Kang wandte sich im Ausfallschritt um. Das Bewußtsein, daß die sieben anderen Hauptleute ohne einen Lidschlag Verzögerung das gleiche taten, erfüllte ihn wie immer mit Stolz.

General Tüfang hua Hidong stand kurz unbewegt da, und Kang ahnte, daß sein Blick hinter der Maske ebensolchen Stolz ausdrückte. Dann vollführte auch der General Ausfallschritt und Wendung.

Kang überlief ein Schauer. Es gab nur zwei Situationen im Leben eines Ziang, wo eine ganze Heerschar und ihr General sich in die gleiche Richtung wandten: wenn sie dem Feind gegenüberstanden oder einem Vorgesetzten, für den auch ein General nur ein Krieger war. Und noch waren sie nicht im Feld ...

Der Herr der Unwandelbaren Ordnung! In Kürze würde Kang hua Schiang den Höchsten Kriegsherrn der Geheimen Kammer erblicken – den Göttergleichen, für den er seit über zwanzig Jahren focht. Kangs Kopf hinter der metallisch roten Maske war unbewegt, sein Blick ruhte auf der Empore am Kopfende des Platzes. Die zwei roten Mantikorenstatuen ließen keinen Zweifel, wem dieser Platz vorbehalten war. Die rot-blau-weißen Fahnen wehten im sanften Ostwind, der die Ebene so fruchtbar machte, und die kunstvoll gestickten Schriftzeichen sangen das Lob des Kriegsherrn der Geheimen Kammer, der die Mantikoren bezwang und verspeiste, und seiner Nachfahren, die das Reich der Tugend so begnadet regierten. Ja, der Wille des Himmels war ohne Zweifel mit diesem Herrscher und seinem Volk, und selbst die Blauen Götter waren ihm Freund.

Wenn nur die zwei Turga im Vierundsechzigsten Glied still stünden! Kang hätte niemals gewagt, die Entscheidung der Herren der Inneren Kammer des Krieges in Frage zu stellen – aber er fand es kaum annehmbar, daß man ihm die zwei Barbaren mit den Nasenringen zugeteilt hatte. Sie waren außergewöhnliche Helden, daran bestand kein Zweifel; das war jeder Krieger, der zu dieser neuen Heerschar abkommandiert worden war.

Aber Turga waren Barbaren, die nach Senf und Zwiebel, nach Leder und dem Urin ihrer Pferde rochen. Die Haltung und die Disziplin der Krieger des Reiches der Tugend