Für alle,
die in der Dunkelheit gewesen sind
und den Weg ins Licht zurückgefunden haben.
HO.PE
Homo Perfectus
Von Lügen und Vorurteilen
Impressum
1. Auflage
Copyright © 2024 Agnes King
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Sternfeder Verlag
Herausgegeben von: Sternfeder Verlag
www.sternfederverlag.de
Verlagslabel: Sternfeder Verlag
Bogenstr.8
58802 Balve
ISBN: 978-3-910956-28-5
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Playlist
HO.PE:
Dear God - Lawless, Sydney Wayser
Ab 2:52 Minuten > Trailersong
Big god - Florence + The Machine
Back home - Daniel Spaleniak
Gortoz a ran - Denez Prigent, Lisa Gerrard
Eira:
Queen of the underground - Flunk
Never let me go - Florence + The Machine
Strawberry Blonde - Sam Burchfield
Find my own way - RAIGN
Last dance - Scratch Massive
Only in my dreams - The Marias
Familiar - Agnes Obel
The strange in me - Medicine Boy
Perun:
Dodged a bullet - Greg Laswell
In my room - Graham Coxon
Something in my heart - Greg Laswell, Molly Jenson
Not the same man - Greg Laswell
Mess of a man - Matthew Mayfield
The wolf in your darkest room - Matthew Mayfield
Unsteady - X Ambassadors
Eira & Perun:
Save me some sunshine - Rafferty
Glitter - Rafferty
Let me save you - Ari Pulkkinen, Sami haxx Hakala
Lifetime ago - Greg Laswell
Farewell - UNKLE, YSÉE, ESKA, Elliott Power
Two days later - Fink
Fantasies - Llynks
After night - MXMS
Playlisten auf Spotify:
HO.PE/HO.PE BOOK/HO.PE - Eira n Perun
EINS – Frankfurt/Ugom
EIRA 1
Seit ich ein kleines Kind gewesen bin, glaube ich an das Gesetz der Anziehung. Zu dem gehört auch meine absonderliche Abneigung von Abschieden, da ich der felsenfesten Überzeugung bin, dass es zu Unheil führt.
Ehe ich mich in mein Heim begeben werde - so nenne ich es - verabschiede ich mich bei meinem Patienten, dessen langwierige Behandlung allmählich erfolgreich abgeschlossen ist. Schweißgebadet, müde aber überaus zufrieden schüttele ich meinen Kopf, weil ich darüber nachdenke, wie tollpatschig er sich sein Bein gebrochen hatte. Wenn ich so recht überlege, bin ich schon immer sehr gut darin gewesen Knochenverletzungen zu heilen. Die Worte meines Patienten schleichen sich in meinen Geist, was mich breit schmunzeln lässt:
"Ich habe doch nur den Ast meines Nachbarn abschneiden wollen. Er selbst hätte das Geäst über meinen Zaun wuchern lassen, bis die dicken Knollen an meinem Fenster klopfen würden."
Lange grübele ich über ihn nach, während ich meine gewohnte Strecke beinahe blind abwärts gehe und irgendwann in eine vom Unkraut befallene Straße abbiege. Am Ende meines Weges steht ein einsam wirkendes, weißes Fachwerkhaus. Für einen kleinen Moment halte ich inne und lege meinen Kopf schief. Es scheint, als würde es mich freundlich zu sich herwinken. Langsam laufe ich auf das Gebäude zu, in welchem ich bestimmt mein halbes Leben verbracht habe, und gehe hinein.
"Eira, Liebes, hast du deine Arzneitasche eingepackt? Hast du alles? Da fällt mir ein, ich habe dir ein paar Phytolexika in die Tasche gelegt. Du dürftest es dort gut gebrauchen. Och, wenn ich doch nur sehen könnte, w..."
"Ed! Für wie alt hältst du mich?", presse ich entnervt mit einem großzügigen Augenrollen zwischen meinen Zähnen hervor, als gäbe es keinen Morgen mehr. Ich sehe nach der Reisetasche, die auf der alten, braunen Récamiere liegt, um mich selbst darüber in Kenntnis zu setzen, wie viele Bücher ich die nächste Zeit durch die Gegend tragen darf.
"Nenne mich nicht so!", sagt er mit einem beleidigten Unterton. Mir fällt es schwer, mein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, sodass meine Mundwinkel leicht zucken.
"Ich wünsche mir nur, dass du vorbereitet bist. Du warst noch nie an diesem Ort. Die Menschen dort sind ruppig und man sagt, sie seien gefühlskalt wie die eisigen Berge um sie herum. Außerdem kannst du sie nicht alle retten! Haben sie dort denn nicht ihre eigenen Heiler?"
"Ed! Erstens, es sind ebenso Menschen wie wir. Zweitens warst du vor jeder meiner Reisen der Meinung, es wären gefährliche Zeitgenossen. Was das Heilen betrifft: Lass mich bitte selbst darüber urteilen, ob ich ihnen helfen kann oder nicht. Du weißt doch am besten, dass unser Volk die Fähigkeit hat, so gut wie alles an Verletzungen zu beseitigen, im Vergleich zu den jeweiligen Stammespflegern oder etwa nicht? Ich möchte mich neuen Herausforderungen stellen. Solange m..."
"Aber, Fridas Cousine, Sicilia, ist dort hingereist und hat all die Gerüchte bestätigt. Es war lange bevor du geboren wurdest. Ich zeige dir die Briefe!"
Tief ein- und ausatmen, ermahne ich mich selbst, um Edmund nicht im alten Schrank hinter mir einzusperren.
"Solange mir keiner etwas antut, ist alles in Ordnung. Noch einmal: Ich kann mich wehren und zugleich auf mich selbst aufpassen."
Traurig und voller Sorge blickt er drein und lässt seinen grauen Kopf hängen, ehe er zu der Schublade seines alten, aus massivem Holz und prunkvoll geschnitzten Sekretärs geht und eine kleine Schachtel herauskramt. Er öffnet sie und holt einen goldenen Armreif heraus. Er ist sehr aufwendig mit vier fingernagelgroßen Einfassungen und in der Mitte eines schweren, prächtigen Hämatits bestückt.
"Das hat deiner Mutter gehört, bevor sie ...", er räuspert sich und unterbricht seine bebende Stimme.
Mit seinen zitternden, tätowierten Händen macht er einen Schritt auf mich zu und legt mir das Schmuckstück um mein rechtes Handgelenk. "Sie hätte gewollt, dass du es bekommst. Mit diesem Stein solltest du dich gegen die Riesen wehren können. Eira, ich möchte dich nicht hier festhalten. Ich dachte nur, du würdest es dir vielleicht doch anders überlegen. Du bist die Beste von uns und du kannst mittlerweile weit mehr, als der alte Kauz, vor dir, es je vermochte."
Verstohlen schaue ich in das Antlitz meines Lehrers, Ziehvaters, Onkels. Eine kleine Erinnerung schleicht sich in meinen Geist hinein, als ich mich vor langer Zeit zum ersten Mal im Hangar verlaufen hatte. Schluchzend saß ich in einer kleinen Ecke, bis er mich völlig atemlos fand. Was für ein Ärger. Schon damals konnte er mich nur schwer loslassen. Ich habe nie wirklich gewusst, als was ich ihn bezeichnen sollte, nachdem er mich adoptierte.
Ich möchte ihn trösten und lege meine Hände sanft um sein faltiges Gesicht und küsse ihn leicht auf die Wange. Nach einer kleinen Umarmung löse ich mich rasch von ihm, nehme meine Tasche und gehe in Richtung Diele, damit es nicht zu emotional für uns beide wird.
"Fräulein! Du wagst es abzuhauen, ohne mir Tschüss zu sagen? Du undankbares Gör." Frida, die Frau von Ed, läuft mit schnellen, wogenden Schritten auf mich zu und stürzt sich in meine Arme. Sie drückt mich fest gegen ihren runden Körper und reicht mir eine große lederne Tasche.
"Die nimmst du mit, sonst verhungerst du mir! Du isst so wenig, mein Kind. Keine Widerrede!" Spätestens jetzt laufen doch die ersten Tränen über meine Wangen, indes Frida sich aus unserer Umarmung löst und die salzige Flüssigkeit mit ihrem pummeligen Zeigefinger auffängt. Sie hat recht. Ich vergeude binnen der Arbeit kaum einen Gedanken an Nahrung. Ich denke, ich brauche sie eben nur, um zu überleben. Es ist ein Treibstoff, der meinen Motor zum Laufen bringt. Nichtsdestotrotz ist es ein Wunder, dass ich nach all der Zeit nicht vom Fleisch gefallen bin.
"Danke, ich werde mich melden, sobald ich angekommen bin. Ich liebe euch."
Stockend entkommen die Worte meinen Lippen, während ich mich der Haustür zuwende und ihnen über die Schulter hinweg einen vorerst letzten Blick schenke. Frida zwinkert mir mit einem schiefen Lächeln zu, während ich das Fachwerkhaus verlasse.
Ich laufe bis ans Ende der Straße und dann wieder dort hinauf, wo mein letzter Patient wohnt. Ich kann nicht anders als sein Haus in Augenschein zu nehmen, während sich das Unkraut der Wege um meine Waden wickelt. Meine Beine führen mich immer weiter hinauf, bis zu einer runden riesenhaften Fläche. Der Boden ist mit rotbraunen Pflastersteinen belegt und die Häuser rundherum scheinen sich gleichwohl in diese zu ergießen. Dicke Blumenkübel stehen an fast jeder Holztür und zieren die Eingänge unserer heimischen Läden mit saisongerechten Wildpflanzen. Überall erreichen mich verschiedene Gerüche. Frisch gebackenes Brot aus der Bäckerei zu meiner Rechten, Wildgulasch aus der Schänke am hinteren Ende der Rotunde oder der simple Geruch eines Lagerfeuers, welches aus der Mitte des Platzes kommt.
Diesen Platz bezeichnen wir als eine Art Marktplatz, auf dem monatlich verschiedene Handelsstände aufgebaut werden und hier jähes Treiben herrscht. Es sind Stände aus verschiedenen Völkern der Welt, die ihre einheimischen Dinge wie Speisen, Edelsteine, Tücher Gewürze und vieles mehr anbieten. Ich setze mich auf eine Holzbank und warte auf meine Mitfahrgelegenheit, während ich meine müden Lider schließe. Ich recke mein Kinn, richte die Nase gen Himmel, um die Düfte meiner Heimat in mir aufzunehmen, zu verinnerlichen und in mir abzuspeichern. Lavendel, Kamille aber auch Tannen und etwas Lagerfeuer, das Brot und der unheimlich schmackhafte Geruch des Wildgulaschs erreichen meine Sinne und ich frage mich zugleich, welche Düfte mich wohl im neuen Land begleiten werden.
"Junge Frau? Sie dürfen einsteigen." Ich bemerke nicht, wie viel Zeit vergangen, und dass die Kutsche direkt vor mir stehengeblieben ist oder gar auf mich wartet. Sofort bin ich mir bewusst, dass ich womöglich nicht sonderlich viel von der Fahrt mitbekommen werde, da mein Geist sich durch den langen Arbeitstag schleichend aber gleichzeitig schnell verabschieden wird. Was, um ehrlich zu sein, nicht schlimm für mich ist.
Ich lasse mein Gepäck verladen und steige ein. Mit angelehnter Stirn streichen meine Finger über die feucht gewordene Fensterscheibe, um das fahle Grau, Gestein, Ruinen und die Einöde, außerhalb unserer Stadt, zu erblicken und schließe mit feuchten Augen meine Lider. Erschöpft, gleite ich schmunzelnd und langsam unter klappernden Geräuschen, Hufenschlägen und einem leichten Wind in die Welt meiner Träume ein.
Die Kutsche kommt mit einem Rucken zum Stehen. Ich öffne die Tür und sehe mich neugierig und voller Vorfreude um. Wir haben den alten, prächtigen Hangar erreicht und wie jedes Mal wieder bin ich über dessen Größe erstaunt. Vor sehr langer Zeit hatte man es als einen sogenannten Flughafen bezeichnet. Die Spuren des letzten Jahrhunderts zeigen sich zurzeit an der mit Efeu berankten Fassade, den von Moos befallenen Scheiben - zumindest die Überreste derer - und den zerstörten Fliesen.
Jedes Land besitzt bestimmt nur noch einen bis zwei der Fluglandeplätze. Die wenigen die überdauert haben. Manche Völker müssen wochenlange Reisen auf sich nehmen, um überhaupt einen anderen Kontinent zu besuchen, geschweige denn über das Meer fliegen zu können.
Unfassbar, dass diese Flugriesen stets in Gange sein können. Nach allem, was einst passiert ist. Die Flugzeuge, die noch funktionieren, gleichen Rostlauben. Ich glaube die Schweißer aus Kasachstan, dem Land der Starken, haben stetig eine Heidenarbeit damit, die Maschinen wieder in Stand zu setzen.
Meine Füße tragen mich in das große metallene Gebäude und ich werde von ihnen in das zweite Terminal geführt. Ich kenne mich hier sehr gut aus, denn bereits als ich klein gewesen bin, bin ich heimlich in einen der vielen Läden hineingehuscht und habe an duftenden Fläschchen geschnuppert. Eines davon hatte ich in unversehrtem Zustand gefunden und für besondere Anlässe behalten.
Kurz bevor ich ins Gate abbiege, bleibe ich zu einem kleinen Abschied vor einem der Läden stehen und ziehe einen Flacon aus meiner Jackentasche. Grasse dürfte der Name der Stadt der Düfte sein, sofern ich das kleine Schild am Gefäß richtig entziffert habe. Irgendwann werde ich dort hinreisen und mir selbst ein Bild über die Stadt machen, die meine Geruchsnerven wunderbar erreichen.
Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen laufe ich in die Richtung, in der ich das Flugzeug erwarte. Ich erreiche es und steige in das, was mich nach Shymkent bringen wird, ein.
Shymkent, ein Ort, über welchen ich bisher nur spärliche Informationen bekommen habe. Die Winter dort sind ausgesprochen hart und die Sommer können äußerst trocken sein. Gerüchten und Onkel Eds Auffassung zur Folge, soll die am meisten genutzte Nahrungsquelle über heimische Kräuter und wilde Tiere erfolgen, aus denen Dörrfleisch und haltbare Lebensmittel hergestellt werden, um die Winter überleben zu können. Harte Lebensverhältnisse im Vergleich zu dem Dorf, das ich in wenigen Minuten verlassen werde, in dem tatsächlich vier Jahreszeiten dominieren. Man kann sich stets auf sie einstellen und sich sicher sein, immerzu mit Nahrung versorgt zu werden.
Was die Kommunikation betrifft, hatten die Urgesteine glücklicherweise ihre Sprache - meine Sprache - in die ganze Welt getragen, sodass jedes Volk problemlos miteinander kooperieren, korrespondieren und kommunizieren kann, während man jedoch zusätzlich seine einheimische Sprache pflegt.
Im Land der Übergänger, der Transitus, ist es mir zugutegekommen. Viele Besucher, und auch ich, sind schwer schlau aus ihnen geworden, da ihre Einstellung zu Fremden konservativer Natur gewesen ist. Sie hatten wochenlang in ihrer alten Sprache gesprochen, sodass ich weder etwas verstehen konnte noch ihre Geheimnisse erfahren hatte. Ich kann es den Transitus allerdings nicht verdenken, nachdem die Mächte - die Imperiale -, Machu Picchu, den einzigen heiligen Ort der wenigen Südamerikaner beinahe vernichtet hätten.
Mein Geist schweift umher und endet bei einer kleinen Erinnerung. Ein kleines Gespräch, welches ich mit Ed gehabt hatte. Ed hat nicht gewusst, wie schön es ist, die verschiedensten Erfahrungen zu sammeln, mit sich zu tragen und daran zu wachsen. Er selbst hat mir immer wieder gepredigt:
"Begebe dich an neue Ufer, um zu wachsen. Werde nicht wie ich, meine Kleine, der immerzu hinter seinem Schreibtisch sitzt. Auch wenn es bedeutet, dass du nicht in meine Fußstapfen trittst."
Erneut hebt sich mein Mundwinkel zu einem Lächeln und ich lasse schläfrig, unter leicht gesenkten Lidern, meine Augen über die immer kleiner werdenden Landstriche schweifen, während das Flugzeug längst abgehoben ist. Ich liebe es, am Fenster zu sitzen und hinauszublicken. Kaum vorstellbar, dass Menschen, Häuser und Berge nun wie kleine Ameisen aussehen, bis alles zu einem farbigen Klecks des Landes wird.
Es ruckelt stark und ich kralle die Finger in die abgewetzten Armlehnen, damit meine Arme nicht durch die Luft geworfen werden. Ich muss eingeschlafen sein. Einatmen - ausatmen. Diese Maschine scheint von der ganz alten Sorte zu sein. Mit einem Stirnrunzeln schließe ich meine Augen und übe mich in Zurückhaltung des Mageninhaltes. Ehe ich würgen muss, berühren die Reifen der Maschine den Grund der Landestrecke und bleiben allmählich stehen.
Vier tiefe Atemzüge später und noch immer kralle ich mich in die Armlehne und achte sorgfältig auf die auf- und ab Bewegung meiner Brust, sodass ich das Interieur nicht mehr besudele, als es ohnehin schon ist. Eine raue, große Hand greift, die meine und bittet mich freundlich darum, das Flugzeug über die angelegte Treppe zu verlassen.
Langsam sammele ich mich, steige in einen alten Schulbus ein und wähle einen Sitzplatz in den vorderen Reihen aus.
"Glücklicherweise funktioniert er", murmele ich kopfschüttelnd vor mir her. Müsste man den Weg in die Berge des Ugom zu Fuß aufnehmen, wäre das ein guter Zweitagesmarsch. Wenn man sich beeilt und trainiert ist, wohlgemerkt. Die Landschaft sieht hier überall gleich aus. Wenige Anhaltspunkte. Kaum bis keine Straßen- oder Ortsbeschilderungen, die einen Hinweis darauf geben, in welche Richtung man sich begeben muss.
Holprige, ungemütliche Straßen nehmen wie die Zeit kein Ende, während sich der Bus nach und nach leert. Durch die vielen Umwege in die verstreuten Dörfer, im Umkreis der Hauptstadt, hat sich meine Ankunft um mehrere Stunden verzögert.
Verträumt blicke ich aus dem Fenster. Es ist eine sehr durchwachsene Berglandschaft. Seen und Flüsse münden in den dicken Bäuchen der Berge, wodurch die Umgebung in satten Grüntönen geschmückt wird. Einige Wasserfälle und kleine Baumgruppen verstecken sich in den hinteren Ecken des Gebirges, in dessen Nähe sich die buntesten Wiesen mit Kräutern aller Art und in voller Pracht abzeichnen.
"Dort drüben, hinter der Bergkuppe, lassen sich einheimische Kräuter finden", spricht der Busfahrer zu mir, indem er mich über den Rückspiegel direkt ansieht. Ich habe schon selbst einiges aus dem Fahrzeug heraus entdecken können, und zu meinem Glück folgen noch weitere wertvolle Informationen seinerseits. Ich bedanke mich still bei Edmund, dass er mir die Lexika in die Tasche gesteckt hat.
Noch ein kleiner Blick nach rechts, die Sonne ist fast hinter dem Horizont verschwunden, als ich endlich mein lang ersehntes Ziel erreiche.
Der Bus verlangsamt seine Geschwindigkeit und hält mit einem Quietschen an, während mir ein Gedanke „Hallo“ sagt. Kurz bevor ich aussteige, wühle ich hastig in meinem Rucksack herum und greife nach einem kleinen Gegenstand. Ich schenke dem freundlichen Fahrer ein Lächeln und gebe ihm eine Phiole mit dem Inhalt eines Schutzheilmittels von meinem Volk der Sanare. Als Dank für jegliche Informationen, welche er mir während der Fahrt mitgegeben hat. Mein kleines Geschenk ist das Mindeste, was ich ihm hätte geben können, denn Wissen ist Macht.
Ein leichter Wind fährt durch meine Haare, wodurch ich meinen Kopf etwas anhebe. Ich bin völlig überwältigt von dem herrlichen Anblick der umgebenden Berge. Der Himmel - zu dem Zeitpunkt in ein seichtes Lila und Orange getaucht - zeigt sich langsam von seiner sternenreichen Seite.
Mit dem Gepäck in der Hand schließe ich die Augen, um alle Düfte um mich herum aufzunehmen. Zahlreiche Blumen, Moos, kühles Nass erreichen meine Nasenflügel. Ein warmer Sommerwind bringt meine Haare durcheinander.
Völlig erschöpft und verträumt merke ich kaum, dass jemand mit mir spricht. Die weibliche Stimme klingt, als wären meine Ohren in einer tiefen Badewanne unter Wasser und sogar damit befüllt worden. Mit einem sauberen Akzent spricht mich eine junge Dame an.
"Guten Abend. Eira Strinneberg?" Ich muss mich schütteln, denn ich merke, dass ich mal wieder fern ab jeglicher Welten gewesen bin. Das passiert mir immer öfter. Zu oft – um ehrlich zu sein - sodass ich tatsächlich darüber nachdenke, mir irgendwann eine Pause zu gönnen. Irgendwann.
"Entschuldigung. Ja, das bin ich. Die Aussicht hat mich in ihren Bann gezogen." Die dunkelhaarige Frau kichert leise und deutet mit ihrer Hand auf das aus Holz bestehende Anwesen, in dem ich die nächste Zeit wohnen darf.
"Herzlich willkommen, mein Name ist Amrun. Ich muss gestehen, dass Sie nicht die Einzige sind, die derartig reagiert. Ich zeige Ihnen die Räumlichkeiten, während das Gepäck in Ihr Zimmer gebracht wird. Sie haben bestimmt Hunger." Diesmal ja. Sobald Amrun dieses Wort in ihren lieblichen Mund genommen hat, verkrampft sich mein Magen zu einem tiefen Grollen. Wie so oft habe ich gar nicht bemerkt, dass sich das Hungergefühl katzengleich angeschlichen und an meinem Geist gekratzt hat. Ich nicke knapp und gehe mit Amrun auf die Unterkunft zu.
Mein neues Zuhause, welches vielen Holzhütten gleicht, die ich von den seltenen Urlauben aus dem Süden meines Heimatlandes kenne. Ausladende Verandas, Holzpfeiler, die das großzügige Dach meines vorübergehenden Heimes stützen. Zarte Blumenkübel aus rotem Ton, die verschiedene Pflanzen beinhalten und an den Geländern sorgfältig angebracht sind. Ein kleiner Pfad, der zu dem Haus führt, wird von hohen Fackeln beleuchtet, die eine angenehme Wärme ausstrahlen.
Amrun geht mir voraus und schwingt mit einer gekonnten Armbewegung die massive hölzerne Eingangstür auf, die im eigentlichen Sinne eine doppelte Schwingtür ist. Mir bleibt die Luft weg, als ich mich umsehe. Das habe ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.
Dunkler Marmor, in dem sich ein prächtiger, goldener Kronleuchter spiegelt, erstreckt sich über das gesamte Erdgeschoss. Goldener Stuck und sehr aufwendige Verzierungen zieren die komplette Rotunde, dem riesenhaften Eingangsbereich, der in der Mitte von einer viel zu breiten Treppe geteilt wird. Genauso golden ruht auf den Stufen ein Teppich und verjüngt sich in der Eingangstür zu einem vier Fuß breiten Läufer. Zu dessen Linken und Rechten steigen anmutige Statuen unserer Urgesteine empor und laden den Gast dazu ein, die Stufen zu erklimmen.
Üppige, schwarze Sessel und kleine Kaffeetische schmücken, zusätzlich zu den vielen Gemälden, den großzügigen Raum. Im linken Flügel befinden sich Säle, in denen gespeist, gefeiert und entspannt wird, wie mir Amrun erklärt, während wir durch das Anwesen spazieren. Der Ostflügel, beinhaltet Schulräume und administrative Räumlichkeiten, in denen sich um technische, bürokratische oder bürgerliche Belange gekümmert wird. Gäste sowie Hausbewohner, beherbergen den ersten und einzigen Stock des Anwesens.
Wir nehmen die Treppe hinauf und laufen einen langen Gang entlang, der sich nicht sonderlich vom Erdgeschoss unterscheidet. Neugierig blicke ich von links nach rechts. Oben und unten, und pralle beinahe in Amruns Rücken, da sie abrupt vor einer Tür stehen bleibt. Das muss mein Zimmer sein, denke ich.
Wir treten ein und stehen in einer Diele, die vollkommen aus dunklem, fast schwarzem Holz verkleidet ist. Die Innenarchitektur gleicht der des Foyers im Erdgeschoss. Inmitten des Vorraums, der direkt in das riesenhafte Schlafzimmer führt, steht ein kleiner runder Tisch mit einer befüllten Bonbonniere. Alle Möbel und Dekorationen sind konsequent in einem eleganten Schwarz, Gold und Weiß gehalten, wie es die gesamte Einrichtung in diesem Haus zeigt. Es scheinen alles Relikte und Überbleibsel der alten Zaren zu sein, denn solch einen Reichtum habe ich nahezu nirgends anderswo erblicken können. Erstaunt schweift mein Blick umher, während Amrun sich leise bemerkbar macht.
"Wie ich sehe, möchten Sie gerne erst einmal ankommen. Ich lasse Ihnen das Abendessen heraufbringen."
"Vielen Dank, Amrun." Immer noch in meiner Faszination gefangen, bringe ich gerade so ein kurzes Lächeln fertig.
"Das Frühstück wird morgen in der Frühe im großen Speisesaal serviert. Wünschen Sie, geweckt zu werden?"
"Ja", hauche ich, da meine Stimme vor Müdigkeit versagt. Lautlos dreht sich Amrun auf ihren Absätzen herum und verlässt das Zimmer. Ich höre sie im Flur leise sprechen und dann setzt sich etwas in Bewegung. Als wäre alles bereits vorbereitet worden, huscht das Personal in meinen Raum hinein und präsentiert mir sämtliche Mahlzeiten, die auf einem Servierwagen ruhen. Brot, nach Knoblauch riechende Suppe, Räucherschinken, Eier und Käse befinden sich unter metallenen Deckeln. Und ja, ich bin wahnsinnig hungrig.
Nachdem ich mich in einen komatösen Zustand gegessen habe, überfällt mich die Müdigkeit in aller Gewalt und ich lasse mich auf das Bett fallen. Weich und gemütlich fühlt es sich unter meinen Gliedern an und ich vergesse meine Umgebung. Vergesse mich und alles, was ich kenne. Langsam gleite ich in das Universum meiner Träume.
Bevor mich das Personal heute Morgen zum Frühstück wecken konnte, bin ich von der Sonne selbst wachgeküsst worden. Dennoch hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich mich mit einem kleinen Bedauern aus der warmen Bettdecke herausgeschoben habe. Langsam tappe ich ins Badezimmer und schaue in meine blauen Augen. Ich neige meinen Kopf vor und streiche mir über das Gesicht. Habe ich abgenommen? Die Wangenknochen stechen weiter heraus und wirken hohler als vor ein paar Wochen. Ich habe zu viel Zeit damit verbracht in Tante Fridas alten Büchern zu schnüffeln, Wissen aufzusaugen und mich mit kulturellen Umgangsformen bekannt zu machen, um gut genug für die bevorstehende Reise vorbereitet zu sein. Wäre Tante Frida zudem nicht so aufdringlich gewesen, verhungerte ich schlichtweg.
Während ich darüber sinniere, lächle ich leicht und beginne mich für das Frühstück zu waschen und fertigzumachen.
Ich trete aus dem Zimmer heraus und mich überkommt ein wildes sprachliches Durcheinander. So leer und still das Haus bei meiner Ankunft gewirkt hat, ergibt es für mich heute ein völlig anderes Bild: Reges Geplapper, Gelächter, Klirren und viele donnernde Schritte, die durch die Flure getragen werden. Das Ganze macht die Atmosphäre zugleich lebendig und gemütlich, trotz der Größe und der nahezu kalten Einrichtung.
Langsam tapse ich die Treppen herunter und biege in den Flur mit dem großen Speisesaal ab. Mit seinen vielen Fellen, Geweihen und dunklen Holzvertäfelungen wirkt der Saal rustikal. Am Ende des langen Raumes befindet sich ein gemütlicher Kamin, dessen Sims mit goldenen Trophäen geschmückt ist. Es sind Jagdtrophäen, da vor Letzterem ein großes Bärenfell samt Kopf liegt. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich hier ziemlich wohl und schaue mich noch ein wenig um, ehe ich den Blick auf das großzügige Büfett richte. In einer hinteren Ecke entdecke ich zwischen großen Tafelrunden einen runden Tisch für eine Person, der für mich einladend aussieht. Ich entscheide mich für ihn und belege den Stuhl mit meiner grauen Strickjacke.
Das Büffet, das mich magisch anzieht, ist mit deftigen Pasteten, exotischen Früchten, ofenwarmem Brot und sämtlichen Marmeladen bestückt worden.
Lange sitze ich schon hier und trinke meinen dritten köstlichen Kaffee, während ich aus dem bodenhohen Fenster schaue und das äußere Geschehen beobachte.
Viele lachende Menschen, die motiviert an ihre Arbeit gehen, helfende Hände, freundliches Schulterklopfen und gegenseitiges Necken. Frauen und Männer gleichgestellt in ihren Aufgaben, was ich in anderen Ländern leider oft gegenteilig festgestellt habe. Hier ist einer stärker als der andere und dennoch vermag ich keinen Neid auszumachen. Sie scheinen alle glücklich zu sein, in dem was und wie sie sind, was sie tagtäglich tun. Ich entdecke bisher nichts von der vermeintlich ruppigen Art und Weise, die ihnen stets nachgesagt wird. Ich muss schmunzeln und an meinen alten Kauz denken. "Ach Onkel Ed, du alter lieblicher Kauz."
Ein Donnergrollen reißt mich gewaltsam aus meinen Gedanken heraus. Es ist eine tiefe männliche Stimme, die die Wände nahezu erzittern lässt. Über die Durchreiche der Küche kann ich Amrun erkennen, die mit einem blonden Hünen streitet.
"Ich habe dir oft genug gesagt, dass du hier drinnen nichts verloren hast! Geh an das verdammte Büffet, du ungezogener Riese!"
"Ich lasse mir doch nicht von einem jungen Mädchen, wie dir, Befehle erteilen!", gibt er erbost zurück.
"Junges Mädchen? Erstens vergisst du gern, wen du vor dir hast. Zweitens sind sowohl du als auch dein Vater auf mich angewiesen! Drittens bist du kaum älter als ich, also begib dich gefälligst ans Büffet oder du bekommst Hausverbot, verdammt noch eins!"
Ein beleidigtes Grummeln. Ich erkenne nicht viel von ihm, als er wutentbrannt in den Saal stürmt, zwei Teller hoch mit Essen auftürmt und wieder mit kräftigen Schritten heraus eilt. Amrun hat womöglich meinen fragenden Blick gesehen und kommt schnellen Schrittes an meinen Tisch.
"Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit. Er bringt mich jeden Morgen aus der Fassung." Mit einem Nicken deute ich ihr an, dass alles in Ordnung ist und entgegne:
"Wer ist er, dass er einfach in die Küche geht und sich bedient?"
"Ein verschwiegener, dickköpfiger Zeitgenosse, dessen Familie ich unter die Arme greife. Wir kennen uns seit einer halben Ewigkeit. Seit unserer Kindheit. Mit ihm werden Sie früher oder später oft zu tun haben, denn im Bergwerk gibt es einiges an Arbeit."
"Was genau meinen Sie, Amrun?" Sie stemmt ihre Hände in die Hüften und winkt danach mit einer Hand in Richtung Ausgang.
"Im Bergwerk gibt es oft Unfälle. Die Jungs haben dort vor acht Monaten eine alte Mine gefunden, die kurz darauf eingestürzt ist. Leider gab es viele Opfer und bis jetzt hatten wir keine kompetente Heilerin - wie Sie."
Mit einer kleinen Geste und einem Augenzwinkern bedeutet sie mir, hinauszugehen. Ich kann ihre Gedanken nicht deuten, aber vielleicht möchte sie mir damit sagen, die Umgebung im Tageslicht zu bewundern. Doch bevor ich hinaustrete, kann ich meine Augen nicht von Amrun lassen.
Ihre Gesichtszüge sind sehr weich und weiblich. Ihr langes schwarzes Haar wird von einem lilafarbenen Band zusammengehalten. Ihre Augen wirken wie ein Abbild der schönen grünen Wiese des Landes. Sie trägt eine goldene Kette mit einem geschliffenen silbernen Stein. Ein Lichtblitz durchfährt meinen inneren Geist und ich unterdrücke einen vergleichenden Blick auf meinen Armreif. Es ist ein Hämatit, wie ihn mir Edmund geschenkt hat. Warum besaß meine Mutter solch einen Stein, dessen Herkunft sich für mich bisher nicht ableiten lässt?
Mit meinen Gedanken entlässt mich Amrun in der Diele, um sich um die alltäglichen Dinge des Hauses zu kümmern.
Ich denke an die hitzige Debatte zwischen ihr und dem ungestümen Kerl. "Erstens vergisst du gerne, wen du vor dir hast. Zweitens sind sowohl du als auch dein Vater auf mich angewiesen!" Amruns Worte hallen in meinem Geist wider und geben mir zu verstehen, dass sie die Leitung des Anwesens sein muss.
Ich schiebe meine Gedanken beiseite, trete hinaus und spüre die Wärme des Sommers. Tagsüber riecht es hier angenehm anders als zur Abendstunde meiner Ankunft. Nach Zedernholz, dampfendem Asphalt, einer molligen Wiese, in die man sich zu gern hineinlegt. Es hat nahezu eine männliche Note.
Im Bann der Gerüche tragen mich meine Beine immer weiter in das Dorf hinein, bis ich an einem Handelsstand stehen bleibe und mir die Schnitzereien unserer Urgesteine betrachte. Hinter dem Stand erkenne ich einen Hügel, auf dessen Spitze Monolithe und ein großer alter Baum wurzeln. Der Platz zieht mich förmlich an, sodass mich meine Füße fast automatisch hin befördern. Ich frage mich in meinem Geist, wie alt dieser Baum sein mag, dessen Stamm etwa fünf Menschen brauchen würde, um umarmt werden zu können. Die Monolithe beschreiben einen Kreis, wie ich es aus meiner Heimat kenne. Legenden zur Folge sind es einst Kraftplätze gewesen, die die alten Germanen regelmäßig besucht und vergöttert haben.
Ich lehne mich gegen einen dieser Steine und lasse die Landschaft, die Gerüche und die Umgebung auf mich wirken. Freude quillt in mir hervor, sodass ich das Lächeln, welches stark an meinen Mundwinkeln zupft, nicht mehr zu stoppen vermag. Ich schließe in aller Ruhe meine Augen.
PERUN 1
"Dieses undankbare junge Ding", spreche ich immer wieder zu mir selbst. Ich kann es nicht verstehen, warum ich nicht wie damals in die Küche gehen und mir das Mittagessen nehmen darf, welches mir zusteht. Sie sollte froh sein, dass ich ihr die Position ermöglicht habe, nachdem sich mein Vater seit seinem Unfall nicht mehr vollkommen um das Domi kümmern kann. Ich hätte ihn damals davon abhalten sollen, weiterhin im Bergwerk seine Arbeit zu verrichten. Er hat zuvor schon genug als Leiter der Gaststätte und des gesamten Anwesens zu tun gehabt. Doch zur falschen Zeit ist er leider am falschen Ort gewesen. Wie wir alle.
Nach dem Vorfall hatte ich Vater vorgeschlagen, dass Amrun einen Teil seines Amtes übernehmen könne, da ich lieber das Bergwerk leite und nicht der Typ bin, im Büro zu sitzen. Ich kenne sie schon, seit sie ein kleines Mädchen gewesen ist, und schenke ihr seither mein Vertrauen. Zumal sie die meiste Zeit ihrer Kindheit in unserem Haus am Ende des Dorfes verbracht hat.
Gerade wollte ich mit zwei voll belegten Tellern zu meinem Lieblingsplatz, dem Hügel mit den Monolithen gehen, doch dieser ist besetzt. Ärger schwillt in meiner Brust an. "Wer besitzt die Frechheit, mir meine Pause zu vermiesen", frage ich mich murmelnd, ehe ich die Fremde genauer sehen kann.
Ihr kinnlanges Haar schimmert rotgolden, fast wie poliertes Kupfer, in der Sonne. Mir ist zunächst nicht aufgefallen, dass ich damit angefangen habe, sie zu mustern. Einmal. Zweimal. Ich habe sie hier noch nie gesehen, doch dann fallen mir die traditionellen Tätowierungen der Sanare auf ihren Händen auf. Sie ist eine Heilerin aus dem alten germanischen Reich. Soweit ich mich erinnern kann, ist nie zuvor jemand aus diesem Volk in unserer rauen Gegend gewesen. Zumindest seit ich geboren wurde.
Ich setze mich hinter das Häuschen des Kunsthändlers und lehne mich an dessen Rückwand, um meine Teller schnell zu leeren. Mich packt plötzlich die Muse und ich zücke mein Notizbuch aus der hinteren Hosentasche hervor, um sie zu zeichnen. Seit fast acht Monaten habe ich nicht mehr gezeichnet, denn ich habe keinen Grund, geschweige denn die Inspiration gehabt. Bis jetzt.
Um den schönen Fremdling besser zu erkennen, muss ich mich anstrengen und kneife meine Augen zu Schlitzen zusammen. Ich möchte mich nicht in ihre unmittelbare Nähe begeben, da sie mich höchstwahrscheinlich sehen und ertappen würde. Vermutlich fände sie es etwas skurril, wenn sich ein unbekannter Mann einer wildfremden Frau nähert, um sie heimlich zu zeichnen. Dieser Gedanke lässt mich kurz erschauern und innehalten, doch meine Finger schließen sich fester um den Bleistift und Striche kratzen bereits auf dem Papier herum.
Ihre Augen sind geschlossen und richten sich der Sonne entgegen. Sie kostet den Sommer, lädt sich auf, und genießt die Sonnenstrahlen. Ihre helle, goldene Haut leuchtet förmlich.
Die Nasenflügel ihrer zierlichen Nase beben, als würden sie alle Gerüche, die sie umgeben, aufnehmen. Sie wirkt gar nicht so klein, wie es mir sonst von Heilern berichtet worden ist. Sie ist stark, auf ihre Art und Weise. Zwar nicht wie die Frauen unseres Volkes, aber dennoch stark. Ich vermag es nicht den Blick von ihr abzuwenden, als sich plötzlich mein fester Griff zwischen Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen löst.
"Nicht schon wieder". Ich möchte nicht aufzählen, wie viele Bleistifte ich in meinem Leben schon zerbrochen habe. Als könnte ich nicht mit zierlichen Dingen umgehen, hole ich einen neuen Stift aus meiner Hosentasche heraus und zeichne mit einem leicht entnervten Kopfschütteln weiter.
Die Pause bewegt sich dem Ende zu, und mir schlägt ohne Ankündigung eine große Hand in den Nacken. Es kann nur eine Person sein, die so etwas macht. Schnell klappe ich das Notizbuch zusammen, ehe ich Tarek erblicke. Dieser Mistkerl.
"Na, hat dich die Muse geküsst?" Mit einem verschmitzten Lächeln deutet er auf das Mädchen auf dem Hügel.
"Geht dich nichts an. Ist es schon wieder soweit?" Ich schaue ihn über die Schulter hinweg an.
"Nee, oder? Ich erwarte dich schon seit fast einer halben Stunde im Bergwerk. Ich habe dich gesucht und nicht gedacht, dass du dich lieber ... anderen Dingen widmest." Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Augen zu rollen, und mich auf die Beine zu stellen.
"Schnauze. Was gibt es?" Möchte ich wissen.
"Es gibt eine unsichere Stelle auf der Ostseite. Die Träger verbiegen sich langsam und uns kommt die Decke entgegen."
"Habt ihr das Material bereitgestellt und die Stelle vorerst gesichert?", frage ich meinen Freund, während wir in Richtung Bergwerk laufen. Es befindet sich nur fünfhundert Meter von der Handelsstraße entfernt.
"Nein, konnten wir nicht. Die Lieferung kam noch nicht an und ..."
Tareks Worte werden von einem starken Beben unterbrochen. Ein lauter Knall, einer Explosion sehr nahe, ist der Ostseite entsprungen. Wir rennen in diese Richtung, ehe uns eine Flut an Gestein zu erschlagen droht.
Eine Staubwolke vernebelt unsere Sicht, sodass wir nur schwer den Steinen ausweichen können. Die kleinen Trümmer schneiden mir ins Fleisch und hinterlassen rote Striemen auf meinem Gesicht und am Hals. Am Eingang angekommen, zwingen wir uns in das schmaler werdende, noch offene, Loch, um nach unseren Mitarbeitern zu sehen.
"Perun, geh nicht zu weit rein, uns fällt buchstäblich die Decke auf den Kopf!" Trotzdem tu ich es. Die Rufe meiner Leute dringen an mein Ohr. Ich darf, oder will sie keinesfalls allein lassen.
"Tarek! Beweg dich hierher! Wir müssen sie herausholen!" Er eilt zu mir und greift nach der ersten Person, die ich ihm über seine Schultern hieve. Ich grabe mich immer tiefer hinein und ziehe an Armen, Beinen, Schultern.
"Wie viele haben wir?", brülle ich aus der Höhle heraus.
"Es fehlt nur noch Sasha!", schreit er mir entgegen. Der Berg scheint sich nicht mehr zu beruhigen, als bräche die Hölle aus.
Von der Decke bröckelt es auf meinen Kopf, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich schalte meine Stirnlampe ein und suche nach Sasha. Es ist zu riskant nach Tarek zu rufen. Allein das Echo meiner Stimme würde den Tunnel zum einstürzen bringen.
Es wird immer heißer und die Luft schwerer, je mehr ich mich in den Berg hineinbegebe. Das Atmen erweist sich als meine größte Aufgabe. Panik steigt in mir auf. Ein ähnliches Szenario hat sich bereits vor acht Monaten abgespielt.
"Bitte nicht noch einmal", murmele ich leise vor mich hin. Tief ein- und ausatmen. Ich lege eine Hand auf meine Brust, umfasse mein schweres Amulett und beruhige langsam die Atmung, sodass ich mich wieder etwas entspanne. Ein leises Stöhnen säuselt links hinter mir her.
"Sasha? Ich bin es, Perun. Melde dich." Ich fahre herum, blicke wild um mich, doch ich kann keine menschliche Gestalt ausmachen. Ein quälendes Geräusch, vermutlich unter zusammengepressten Zähnen, stiehlt sich aus irgendeiner Ecke heraus.
"Hnnng." Es muss Sasha sein. Ich spitze meine Ohren und suche nach einer Bewegung, einem weiteren Geräusch.
"H... hier", presst er mir entgegen, was von zwei Hustenanfällen begleitet wird.
"Bewege dich nicht. Ich hole dich hier raus", sage ich leise genug, damit sich das Echo nicht ausbreiten kann. Ich schaue nach ihm, bis ich endlich eine blutverschmierte Hand entdecke, "Sasha, bleibe ruhig", und nach ihm grabe. Stein für Stein schiebe ich zur Seite, um an seinen Körper ranzukommen. Endlich erblicke ich sein zertrümmertes, blutüberlaufenes Gesicht. Meine Finger langen in eine rote Flüssigkeit, während ich meine Hände an seine Wangen lege und auf ihn einrede, damit er bei Bewusstsein bleibt.
Vorsichtig ziehe ich an seinem Körper, doch seine Beine sind zwischen zwei großen Felsen eingeklemmt. Trotz meiner Physis fällt es mir mit den schrecklichen Luftverhältnissen schwer, die massiven Felsbrocken aus dem Weg zu räumen. Ein Stöhnen entweicht mir, während ich ihn mit aller Mühe freigrabe. Mein Blick fällt auf seine zerschundenen Beine.
Sasha hat jede Menge Blut verloren, und mich verlässt so langsam die Hoffnung, dass er je wieder laufen kann.
Vor meinem inneren Geiste blitzen die Verletzungen meines Vaters auf. Ich schüttle den Kopf, vertreibe sie. Ich darf es nicht an mich heranlassen.
Endlich lege ich Sasha um meine Schultern und zwänge mich mit angestrengten Schritten durch die kleinen Öffnungen hindurch, während direkt hinter mir die Decke einstürzt.
Ich laufe, so schnell es meine Beine erlauben, weiche fallenden Felsbrocken aus und erreiche das Ende des Tunnels. Tarek, der für mich den noch letzten vorhandenen Stahlträger hochhält, reicht mir seine freie Hand. Es geht alles so schnell. Es bleibt keine Zeit, zu zweit durch die Öffnung zu kommen, sodass sich die Entscheidung klar in meinem Geist manifestiert.
Statt Tareks Hand zu greifen, schiebe ich Sasha von meinen Schultern hinaus, ehe mich plötzlich die Dunkelheit umgibt und ich nur noch Staub einatme.
EIRA 2
Ich werde von einem explosiven Knall aus meinem Dösen herausgerissen. Verwirrt sehe ich mich um und bemerke einen gutaussehenden Mann, der auf mich zu gerannt kommt.
"Wie ich sehe ...", er macht eine Kopfbewegung in Richtung meiner Hände, "... bist du Heilerin. Willkommen. Mitkommen!"
Ehe ich über seine suspekte Begrüßung spotten kann, erkenne ich in der Ferne, warum er mich völlig außer Puste und auf diese Art und Weise angepöbelt hat.
"Was ist passiert?", frage ich ihn, während ich mich schnell auf meine Beine stelle und mit ihm in Richtung Berg eile.
"An der Ostseite gab es einen Unfall. Der Tunnel ist eingebrochen."
Ich falle ihm ins Wort. "Wie viele Verletzte?"
"Einer. Nein zwei. Bei einem bin ich mir nicht sicher, er wurde soeben verschüttet." Wir rennen zur Unfallstelle, als sich schon eine Handvoll Menschen an den Schutt rangemacht hat, um jemanden zu bergen. Während sie beschäftigt sind, sehe ich mich nach anderen Verletzten um und versorge sie. Einer von ihnen hat Quetschungen an den Beinen und mehrere Verletzungen im Gesicht. Mit wenigen Worten weise ich zwei gesunde Männer an, ihn ins Heilzentrum abzutransportieren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich, dass der gutaussehende Mann einen großen Rumpf entdeckt, der aus dem Gestein hervorlugt und ich trete ihm zur Seite.
"Da habe ich dich, du Mistkerl! Mich wirst du nicht so schnell los! Heilerin, ich halte diesen Felsen hier hoch und du ziehst ihn am Rumpf heraus." Mir ist nicht bewusst, wie er das anstellen will. Dieser Brocken muss mindestens eine Tonne wiegen, aber ich gehorche und warte auf sein Kommando.
"Auf drei! Eins. Zwei. Drei." Ich ziehe, so stark es mir möglich ist, an dem Körper. Erstaunlicherweise fällt es mir leichter, als ich gedacht habe, sodass ich mit dem Manneskörper schnurstracks hinten über falle und der Schönling den Fels im letzten Moment runterkrachen lässt.
Ehe ich den blonden Riesen aus der Bauchlage umdrehen kann, ist mein erster Impuls die Atmung zu überprüfen, indem ich vorsichtig seinen Kopf zur Seite drehe. Es ist der Mann vom Frühstück, stelle ich mit einem Blick in sein Gesicht fest.
Ich halte mein Ohr in die Nähe seiner spitzen Nase und warte ab. Zögerliche, aber unregelmäßige Luftströme geben mir zu erkennen, dass er noch atmet. Zunächst halte ich meine Finger an seine Halsschlagader und errechne seinen Pulsschlag.
Schon während ich ihn in die Seitenlage gebracht habe, spüre ich, wie meine Hände in eine warme, klebrige Flüssigkeit greifen. Blut.
Seine ausgeprägte Stirn zeigt eine klaffende Wunde. Das rechte Ohrläppchen, an dem sich vermutlich ein Ohrring befunden hat, ist zerrissen. Seine komplette Bauch- und Brustgegend ist von derselben roten Farbe durchzogen. Ich reiße sein Hemd auf, um zu sehen, was sich darunter verbirgt. Es erstreckt sich ein langer Schnitt, welcher vermutlich tief in seiner linken Leistengegend beginnt und dann schräg über seinen Bauch verläuft. Es gibt eine kleine Unterbrechung der blutigen Linie, die im Brustbein den Anfang findet und sich über die Brust, bis hin zu seiner rechten Schulter erstreckt. Höchstwahrscheinlich sind dabei Nerven verletzt worden, Sehnen-, Muskelstränge durchtrennt. Der arme Kerl wird vermutlich eine lange Genesungsphase über sich ergehen lassen müssen.
"Heilerin. Was ist?" Dieses Wort, diese Art.
"Also, erstens: Ich habe einen Namen, Eira. Zweitens, er ist zwar bewusstlos, wird es aber überleben. Es sind tiefe Schnittwunden, die vermutlich in der Armgegend nervliche Schäden mit sich bringen werden. Seine Organe wurden womöglich nicht verletzt, er hat aber viel Blut verloren. Wir müssen ihn dringend ins Heilzentrum verfrachten."
Der gutaussehende Mann scheint wieder etwas Farbe in sein Gesicht zu bekommen, ehe er mir seine Hand reicht.
"Ich bin Tarek. Sein bester Freund." Ich erwidere seinen Handschlag und frage: "Wie ist sein Name? Das wird mir den ganzen Prozess erleichtern."
"Perun."
Keinen Kilometer vom Bergwerk entfernt haben wir das große weiße Gebäude erreicht, während Tarek meinen Patienten über seine Schultern trägt. „Und er musste mal wieder in den sicheren Tod springen.“ Höre ich Tarek fluchen. Mit einem fragenden Blick schaue ich ihn an. Kopfschüttelnd erklärt er mir, dass sein Freund sich für einen Mitarbeiter in den Berg begeben hat. "Er lässt niemanden allein." Es sieht hier völlig anders aus als alle anderen Häuser im Dorf. Dies verwundert mich, da die Bewohner augenscheinlich viel Wert darauf legen, dass sich sämtliche Gebäude ähneln.
Perun haben wir auf eine spartanische Trageliege gehievt und in ein Behandlungszimmer gebracht. Meine Stirn tropft derweil vor Schweiß, während wir diesen über zwei Meter großen Koloss endlich auf das Krankenbett im Zimmer legen.
Die Räume sind eher minimalistisch dekoriert. Die Wände, Böden und Decken sind mit großen weißen Fliesen belegt, damit sich keinerlei Keime absetzen und man alles besser reinigen kann. Die Technik scheint hier aus der alten Zeit zu sein, aber gut zu funktionieren. Heute gibt es nicht mehr an jedem Ort der Welt eine derartig gutfunktionierende Technologie, seit der Umbruch sämtliches zerstört hat.
Zu meinem Erstaunen haben die Pervigeo alles, was ich brauche, um den Heilprozess meines Patienten zu starten. Zufrieden mache ich mich mit dem Zimmer bekannt und schmunzele über dessen hervorragende Ausstattung, was ich so tatsächlich nur aus meiner eigenen Heimat kenne.
Nachdem ich sämtliche Schränke geöffnet und durchforstet habe, nehme ich mir heraus, was ich benötige.
"Eira, das hier sind unsere Heilschwestern, sie stehen dir zur Verfügung und ..."
"Ich will nicht unhöflich sein, Tarek, aber ich brauche keine Hilfe. Am Unfallort habe ich mich um Verletzte gekümmert, denen Sie sich gerne annehmen können. Lasst mich bitte mit diesem Patienten allein." Ich arbeite lieber ohne Begleitung. Nachdem sich die drei Schwestern mit einem wortlosen Nicken verabschiedet haben, rufe ich Tarek an meine Seite.
"Kannst du dich darum kümmern, dass er frische Kleidung bekommt? Ich bräuchte eine Auflistung von früheren Verletzungen oder Krankheiten." Er schaut etwas entgeistert drein und kommt mir einen Schritt näher.
"Wir führen keine Listen von Krankheiten. Wir erkranken nicht und unsere Wunden heilen für gewöhnlich so schnell, dass wir keine Schäden davontragen. Es sei denn uns werden Körperteile abgetrennt, dann sieht das Ganze etwas anders aus."
Ich muss schwer schlucken und meine Wangen werden schlagartig heiß. Kurzzeitig habe ich vergessen, dass wir im Land der Pervigeo sind. Das habe ich in den Büchern, die Frida mir vor meiner Abreise als Tageslektüre zugeschoben hatte, gelesen. Ich habe gedacht, es sei wieder eines der vielen Gerüchte um dieses Volk, welche kursieren.
"Ah, danke. Dann eben frische Kleidung." Ich drehe mich um, ziehe mir Handschuhe an, nehme einen feuchten Tupfer in die Hand und mache mich an die Arbeit. Vorsichtig zerschneide ich die restliche Kleidung meines Patienten, um womöglich weitere Verletzungen zu entdecken.
Die Wunde in der Leistengegend ist schlimmer, als ich gedacht habe. Nachdem ich endlich einen freien Blick bekommen habe, tupfe ich achtsam die Stellen sauber und verfolge mit meinem Blick den Verlauf der stark klaffenden Wunde. Der Schnitt verjüngt sich bis in die Innenseite seines kräftigen Oberschenkels. Es ist ein Wunder, dass die Beckenarterie nicht durchtrennt worden ist.
Ich drehe mich um, will eine Schale mit Wasser füllen, doch Tarek steht so dicht hinter mir, dass ich mit meinem Rücken an ihn stoße und sein Atem mein Ohr kitzelt.
"Sicher, dass du ihm Kleidung anziehen möchtest? Gefällt dir denn nicht, was du zu sehen bekommst?" Meine Wangen werden kochend heiß vor Wut. Wortlos stoße ich ihn fest gegen den Hochschrank hinter mir, sodass dieser wackelt.
"Du kannst froh sein, dass ich kein Skalpell in der Hand halte. Geh und lass mich arbeiten. Ablenkungen dieser Art kann ich nicht gebrauchen."
Statt meiner Anweisung Folge zu leisten, grinst er dagegen über beide Ohren, während seine blauen Augen sich auf meinen Mund senken. Der Abstand zwischen uns wird plötzlich so dünn wie ein Blatt Papier, während er mir noch näher kommt. Unwillkürlich beginnt mein Herz zu tanzen und meine Atmung beschleunigt sich. Ich hasse mich für diese Reaktion. Er öffnet seinen Mund und ich spüre seine Worte auf meiner Haut, als er seine Stimme senkt und zu raunen beginnt.
"Und wenn ich dabei sein will? Wir drei?" Wobei will er dabei sein? Da dämmert es mir. Es reicht. Ich schüttele erbost meinen Kopf und ehe er sich versieht, ziehe ich ihn unsanft aus dem Raum heraus. Er stolpert über seine eigenen Füße und sitzt nun vor dem Behandlungszimmer auf seinem Allerwertesten. Scheinbar belustigt kichert er vor sich hin, was mich noch mehr verärgert.
Ich hasse es, nicht ernst genommen zu werden, und schließe die Tür ab. Für einen Moment lehne ich mich mit dem Rücken dagegen, atme durch. Tareks Kichern entwickelt sich zu einem Lachen und hallt jenseits der Tür wider.
"Hab dich nicht so. Ich sehe morgen nach euch, mit frischer Kleidung. Adieu!" Ich rolle mit meinen Augen, schüttelte den Kopf. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, vor wie langer Zeit ich so eine merkwürdige Situation erlebt habe. Oder, ob überhaupt.
Sobald ich den Eindruck habe, dass er wirklich gegangen ist, lasse ich meinen Blick über Perun schweifen. Über seine kurzen, blonden Haare. Das ebenmäßige, markante Gesicht. Seine lange Nase und die wohlgeformten, geschwungenen Lippen werden von seiner sonnengebräunten Haut unterstrichen. Es ist nicht nur so, dass er unheimlich groß ist, solch eine ausgeprägte Muskulatur habe ich bisher an keinem menschlichen Wesen gesehen.
Seine starken Schultern und Arme vermögen wahrscheinlich Tonnen zu bewegen, wie Tarek zuvor am Unfallort. Peruns Brust und Bauchmuskeln gleichen einer Hügellandschaft, indes seine Schweißtropfen in deren gleichmäßigen, tiefen Tälern kleine Seen bilden. Meine Augen wandern immer tiefer, ich beiße mir unbewusst auf die Unterlippe und der Blick gleitet weiter über seine massiven Oberschenkel. Mal zarte, mal tiefe Muskelstränge durchziehen seine Beine.
Sein schmerzerfülltes Stöhnen unterbricht mich und ich werde schlagartig aus meinen Gedanken herausgerissen.
Schande über mich, dass ich nicht bei der Sache bin. Schande über mein Haupt, dass ich mich durch einen Perversling ablenken lassen habe. So etwas ist mir noch nie zuvor passiert. "Tarek, ich hasse dich", sind meine einzigen Gedanken, die ich leise vor mich hinmurmele.
Tief durchatmen, Professionalität ist angesagt. Fluchend eile ich zum Krankenbett und hebe die Rückenlehne an, sodass Perun besser Luft bekommt. Danach lege ich meine Hände vorsichtig auf seine Brust, denn solange ich nicht alle Wunden vollständig inspiziert und versorgt habe, darf er nicht wach werden. Er würde sich durch zu schnelle und unkontrollierte Bewegungen unabsichtlich nur mehr verletzen. Konzentration. Ich gehe in mich, um meine Fähigkeiten heraufzubeschwören. Unter meinen Händen kribbelt es und es entwickelt sich eine pulsierende Wärme. Nach einer Weile regelt sich Peruns Atem und es wird still um ihn. Nun kann ich endlich die Schüssel mit Wasser befüllen, die Wunden vorsichtig säubern und ihn mit den Arzneien aus dem Schrank versorgen.
Es muss einiges genäht werden und ich weiß jetzt schon, dass es ein langer Abend werden wird. Mit meinen Kräften und den Fähigkeiten der Pervigeo, darf der gesamte Heilprozess allerdings nur eine Sache von maximal einer Woche sein. Das Einzige, was mir Sorgen bereitet, ist die Leistengegend und sein rechter Arm. Ich hoffe, dass seine Motorik langfristig nicht gestört sein wird und er kein Rechtshänder ist, während ich ihn mit einem sauberen, leichten Laken zudecke.
Ich schrecke auf, werde von einem leisen Klopfen geweckt, nachdem eine der Heilschwestern mit einem Tablett voller Speisen hineinkommt. Blinzelnd muss ich mich erstmal besinnen, wo ich überhaupt bin. Scheinbar habe ich gestern so lange gearbeitet, dass ich auf dem Stuhl, neben meinem Patienten eingeschlafen bin.
"Eira, ich habe Ihnen etwas Brot mit diversen Aufschnitten mitgebracht. Für Perun habe ich eine Hühnersuppe erwärmt. Ich glaube, das dürfte in Ordnung sein, oder?"
Ich streiche mir mit meinen Händen über das Gesicht und bedanke mich freundlich bei ihr. Wie aufmerksam. Eine Frage jedoch habe ich.
"Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Toiletten finde?"
"Ach, ja natürlich. Ich bringe Sie dorthin." Die Bäder sind nicht weit entfernt. Nur den nächsten Gang geradeaus und die erste Tür auf der linken Seite. Hier gibt es keine separaten Räume für Männer und Frauen, was mich etwas wundert. Ausgiebig wasche ich mir das Gesicht, meinen Hals, befeuchte die müden Arme und richte meinen verstrubbelten Kopf zu einer ansehnlicheren Frisur, bevor ich wieder hinausgehe. Ein Kaffee wäre schön und mir knurrt der Magen, aber mein Patient ist zunächst wichtiger. Im Zimmer angekommen finde ich Tarek vor, der mich bei meinem Auftauchen frech angrinst.
"Guten Morgen, schöne Frau. Ich habe zwei Kaffee mitgebracht."
Mir ist eigentlich danach, etwas Gemeines zu entgegnen, aber ich überlege es mir anders, als ich den wahnsinnig gutriechenden Kaffee vor mir herschweben sehe.
Wortlos reiße ich ihn aus Tareks Hand, setze mich auf den Stuhl neben Perun und schlürfe genüsslich an dem warmen Getränk.
"Ist das die Kleidung von Perun?", frage ich ihn und deute mit dem Kinn auf die Tasche in Tareks Hand.
"Aber natürlich. Ich habe dir außerdem noch etwas anderes mitgebracht." Ich runzele meine Stirn und warte ab. Er dreht sich um, bückt sich und greift nach etwas, was ich durch seine Statur zunächst nicht erkennen kann. Sobald er sich wieder umgedreht hat, baumelt plötzlich meine eigene Arzneitasche vor mir her. Mit großen Augen sehe ich ihn an und frage mich, woher er sie bekommen hat.
"Bevor du fragst, Heilerin ..."
"Eira." Ich verdrehe die Augen, indes er weiterspricht, "Entschuldige. Bevor du fragst, werte Dame, Eira ...", und noch ein Augenrollen meinerseits, "ich habe deine Tasche, die vermutlich Arzneien beinhaltet, aus deiner Unterkunft. Amrun hat sie mir gegeben." Fragend schaue ich ihn an.
"Woher wusste sie, dass sie dir genau die geben soll?" Langsam stehe ich auf und stemme meine Fäuste in die Hüften.
"Amrun ist mit Perun aufgewachsen und kam mir verzweifelt entgegengerannt. Ich habe ihr gesagt, dass du bei ihm bist und ihn pflegst. Dann hat sie mir die Tasche übergeben." Gerade möchte ich nach ihr greifen, doch er versteckt sie mit einer schnellen Bewegung hinter seinem Rücken.
"Was soll das denn jetzt? Gib sie mir!", entgegne ich, und werde erneut sauer. Dieser Kerl raubt mir jetzt schon den letzten Nerv und das so früh am Morgen.
"Was bekomme ich dafür?" Wieder wippt er sie spielerisch vor meiner Nase hin und her, als sei ich eine verfluchte Katze.
"Sind wir zwölf?" Ich lange nach ihr, bekomme sie aber nicht zu greifen. Tarek legt seinen Kopf schräg und lächelt mich strahlend an. Verflucht, das kann er gut.
"Na komm, spiel mit mir."
Verzweifelt verschränke ich meine Arme und atme tief ein und aus. "Was willst du?", frage ich ihn mit einem Unterton, während ich versuche, mich zu beruhigen.
"Eine kleine Gegenleistung. Ich möchte, dass du mit mir ausgehst."
Ich frage mich, was es mir Wert ist, denn ich habe wirklich keine Lust, mir am frühen Morgen solche Spielereien anzutun. Wir sind immerhin keine Kinder mehr.
"Na gut. Du weißt offensichtlich, wo ich momentan wohne. Also wann?" Er grinst noch breiter.
"Ich melde mich schon. Kümmere du dich erstmal um meinen Freund." Tarek greift in die Tasche, die er noch immer in der Hand hält und legt sorgsam die Kleidung neben mir auf den Tisch. Das Letzte, was er herauskramt, ist ein ledernes Notizbuch, welches er aber direkt an Peruns Kopfseite legt.
Ich beobachte jede seiner Gesten und muss zugeben, dass Tarek sich auf eine elegante Art und Weise bewegt. Er scheint trotz seines rotzfrechen Wesens ein korrekter, junger Mann zu sein. Die Neugier packt mich, weil er am Kopf seines besten Freundes stehen bleibt, ihm leise Worte ins Ohr flüstert und zum Abschied einen sanften Kuss auf die Stirn gibt.
Mit offenstehendem Mund bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm hinterherzusehen. Mir scheint, er hat mein Starren bemerkt, denn er dreht sich im Gehen halb zu mir um, deutet mit seinem Zeigefinger auf seinen Hintern und streckt mir dabei seine Zunge heraus.
"Idiot", murmele ich dennoch mit einem Grinsen vor mich hin.
Es ist wieder Zeit, mich um meinen Patienten zu kümmern, nachdem ich die letzten Schlucke Kaffee ausgetrunken und meine Hände sorgfältig gewaschen und desinfiziert habe. Zunächst prüfe ich, ob Perun Fieber bekommen hat. Seine Haut glänzt verdächtig und Schweißperlen zeichnen sich auf ihr ab. Doch seine Körpertemperatur ist normal. Sorgsam begutachte ich die Wunde an seiner Stirn, die gestern genäht werden musste.
Zu meinem Erstaunen sieht der Schnitt sehr gut aus. Sogar so gut, dass ich morgen schon die Fäden ziehen kann. Tarek hat mich zwar vorgewarnt aber, dass der Heilungsprozess so schnell verläuft, habe ich mir nur schwer ausmalen können. "So weit so gut".
Ich schiebe die Decke von seiner Brust und löse die Verbände, um zu schauen, was sich darunter verbirgt. Selbes Ergebnis, wie zuvor an der Stirn. Meine Augenbrauen wandern gefühlt über meinen Hinterkopf und ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Stelle für Stelle wasche, desinfiziere und beäuge ich jede Wunde. Ich muss schmunzeln, denn Edmund hat immer mit mir geschimpft, sobald ich meine eigene Herangehensweise seiner eigenen vorgezogen habe. Er ist immer der Meinung gewesen, dass jede einzelne Prozedur "nacheinander" getätigt werden muss, damit keine Wunde in Vergessenheit gerät und alles gründlich abgearbeitet wird. Ich bin ganz anderer Meinung - wie so oft –, da es mir enorm viel Zeit schenkt. Zeit, die ich für weitere Unfallopfer brauche und vor allem dem jungen Mann, für den Perun sich von den Trümmern begraben lassen hat.
Nachdem ich die Verletzungen an Kopf, Brust und Bauch erneut gesäubert, desinfiziert und verbunden habe, decke ich ihn obenherum wieder zu und lege die Leiste frei.
Der Verband sieht dort im Vergleich nicht so gut aus. Meiner Vermutung nach, muss der Schnitt lange nachgeblutet haben und das Ungünstige an dieser Stelle ist, dass hier ohnehin viel Bewegung besteht und sich meistens der Schweiß ansammelt. Langsam löse ich den Verband, der bereits an manchen Stellen eine dicke Kruste gebildet hat und bei der es besser ist, sie einzuweichen. Während ich eine Nierenschale aus dem Waschbecken hole, sie mit Wasser befülle und mit viel Geduld den Verband aufweiche, bete ich zu den Urgesteinen, dass sich diese Verletzung nicht entzünden wird. Am Ansatz des Adduktors hängt der Stoff noch fest, wodurch mir nichts anderes übrigbleibt, als Peruns schweren Oberschenkel zur Seite zu spreizen. Ich muss mich nah genug über die Stelle beugen, um überhaupt zu sehen, was ich da tue.
"Vorsichtig ziehen", spreche ich zu mir selbst.
Meine Fingerspitzen ertasten den festgekrusteten Stoff und ehe ich mich versehe, packt mich ohne Vorwarnung eine große Pranke am Handgelenk. Voller Schreck wird mein Herz binnen einer Sekunde unfassbar schwer. Ich schaue auf und begreife dann erst, dass es Peruns Finger sind, die mich fest im Griff haben.
Stechende Augen, die dem Gold einer Schlange gleichen, bohren sich in die meinen. Ich glaube, dass er selbst erst nach ein paar wenigen Atemzügen registriert, was hier los ist, weil sein Blick abwechselnd zu mir und zu seinem Schoß wandert. Er löst seine Umklammerung und drückt mit seiner freien Hand das zurecht, was sich gegen das Laken zu erheben droht. "Typisch, Mann", denke ich, spreche es lieber nicht laut aus.
Das Einzige, was mich dazu bringt, mich nicht zu rühren und etwas verunsichert, sind seine Augen, die mich womöglich versteinern wollen. In der Hoffnung, die Situation etwas aufzulockern und seinen Blick von mir zu lösen, bleibt mir nichts anderes übrig: Ich drücke ihm einen Spruch rein.
"Blinzelst du auch einmal oder muss ich dir demnächst Augentropfen bereitstellen?" Daraufhin bemerke ich, dass sich seine Wangen zunächst von einem zarten Rosa bis hin zu einem tiefen Rot verfärben.
Schlagartig packt mich das schlechte Gewissen und ich möchte mich dafür entschuldigen, ihn eventuell in Verlegenheit gebracht zu haben. Noch bevor ich meinen Mund öffne, kommt er mir zuvor.
"Zieh." Dieses tiefe Knurren aus seiner Kehle habe ich nicht erwartet. Seine Stimme vibriert durch den Raum und ich habe schier das Gefühl, der Boden würde daraufhin mit einem leichten Beben antworten.
"Ähm, was?", entgegne ich und blinzele einige Male.
"Zieh das Band ab", gibt er etwas erbost zurück und lässt seinen Kopf wieder in die Kissen gleiten.
"Ich muss es abziehen, dass sich die Wunde nicht entzündet. Es könnte etwas wehtun", erkläre ich ihm, während seine Antwort sich nur durch ein bockiges Schnauben äußert. Mich wiederum lässt seine Reaktion leicht schmunzeln.
Mein Patient erleichtert mir meine Arbeit, indem er noch immer in besagter Region seine Weichteile zur Seite drückt und das Bein zur Seite senkt, sodass ich besser dazwischenkomme. Innerlich zähle ich bis drei und ziehe schnell, aber vorsichtig an dem Verband. Es löst sich und ich kann den Bereich waschen und ein blutstillendes Heilmittel aus meiner Heimat auf die Wunde schmieren.
Naserümpfend schüttele ich, während dem Einmassieren, kaum merklich meinen Kopf. Diese Art Salbe aus Gundelrebe, Schafgarbe, Jod und Baldrian habe ich schon immer gehasst. Zum Einen riecht sie wahnsinnig unangenehm und zum anderen lässt sie sich durch ihre dickflüssige Konsistenz sehr schlecht auftragen. Dennoch wird sie helfen. Bei ihr werden weder Verbände noch Stoffstücke benötigt, da sie immerfort die Eigenschaft besitzt, Verletzungen zügig zu verschließen.
Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich, dass er jeden meiner Arbeitsschritte beobachtet. Wie ein Raubtier, das auf den Moment wartet, auszuscheren, um seine Beute zu reißen. Unter seinem musternden Blick gehe ich etwas entnervt um das Bett herum und widme mich der nächsten Baustelle, die aber besser aussieht, als ich gedacht habe.
Der tiefe Schnitt an seinem Arm schließt sich im selben Tempo wie die anderen.
"Könntest du es bitte unterlassen, mich zu beobachten? Ich bin hier, um dir zu helfen", entgegne ich, da es mir allmählich zu viel seiner Blicke wird. Keine Reaktion. Seine Schlangenaugen dringen immer mehr in mich ein. Will er meine Gedanken lesen, frage ich mich selbst.
"Ich werde dich jetzt wieder berühren, aber dazu bitte ich dich, deine Augen zu schließen." Seine Brauen runzeln sich fragend, dennoch folgt er zögerlich meiner Bitte.
Durchatmen. Ich lege mit geschlossenen Augen beide Hände auf Peruns Stirn und spreche alte Wörter der Haruspex, der Hohepriester aus Ägypten. Diese Magie ist die stärkste und älteste Form, die ich bisher kennengelernt hatte. Es ist jedoch unter der Prämisse geschehen, dass ich keinem anderen Erdling davon erzähle und sie nur nutze, um Gutes zu vollbringen.
Viermal muss ich dieses Gebet sprechen, bis ich mit beiden Händen ein Kraftfeld erschaffe und mit meinen Händen über seinen Körper fahre, ihn an seinen Knöcheln festhalte und positive Energie fließen lasse. Mit einer raschen Bewegung gehe ich wieder hoch zu seinem Kopf und ziehe imaginäre Kreise um ihn herum. Ich löse damit negative Gedanken, Empfindungen, Erlebnisse oder gar Schmerzen, damit er sich vollends seiner Selbstheilung hingeben kann. Mit einer Abwärtsbewegung über seine Fußspitzen beende ich die Prozedur. Ich warte etwas ab, bevor ich leise zu ihm spreche.