Höret die Stimme - Franz Werfel - E-Book

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Franz Werfel

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte Jirmijahs aus Anathot, des Propheten Jeremias also, aber es ist zugleich ein Meneteckel, ein Mahnwort gegen alle unverantwortlich herrschende Gewalt. Franz Werfel hat den Roman vom Leben und Leiden des großen Propheten eingebettet in eine Rahmenhandlung aus der Zeit der Entstehung des Romans, 1936, und ihn damit weit über das religiöse Thema hinausgehoben; er hat – der als Imperativ wirkende Titel verdeutlicht das – in einer Zeit totalitärer Herrschaft in Deutschland einen verschlüsselten Aufruf verfaßt, Widerstand zu leisten, aufzubegehren gegen die Staatsgewalt, gegen Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit der Mächtigen. So gesehen wird der Nebukadnezar des Romans leicht mit Adolf Hitler vergleichbar, werden die Leiden Jeremias' als die der Juden Deutschlands verstanden, wird die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 586 v. Chr. als apokalyptisches Bild für die Zukunft Europas zur Zeit des Nationalsozialismus erkennbar. Werfel reagierte mit diesem Bekenntnis aber auch zugleich auf Vorwürfe gegenüber seiner, des Juden, offen geäußerter Sympathie für das katholische Christentum wie gegenüber der Tatsache, daß er zu den Aktivitäten der neuen Machthaber in Deutschland lange geschwiegen hatte.

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Seitenzahl: 970

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Franz Werfel

Höret die Stimme

Roman

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Inhalt

Erstes Kapitel Gespräche am Toten MeerErstes Kapitel Gespräche am Toten MeerZweites Kapitel Eine Fahrt nach JerusalemDrittes Kapitel Auf dem TempelplatzViertes Kapitel Im TempelFünftes Kapitel Die Stimme Außen und InnenSechstes Kapitel Der Prophet im VaterhausSiebentes Kapitel Die Schule der GesichteAchtes Kapitel Wanderung und erstes ÄrgernisNeuntes Kapitel Der König ruftZehntes Kapitel Der TaumelbecherElftes Kapitel MeggiddoZwölftes Kapitel Das große RechtenDreizehntes Kapitel Unter den blühenden Säulen von NophVierzehntes Kapitel ZenuaFünfzehntes Kapitel Zenua wird angenommenSechzehntes Kapitel Der Gang durch die AmentiSiebzehntes Kapitel Das Schicksal vor dem ScherbentorAchtzehntes Kapitel Die Füße im BlockNeunzehntes Kapitel Jojakim und KonjahZwanzigstes Kapitel Das Werk der VerborgenheitEinundzwanzigstes Kapitel Glühende Kohlen und giftiger WeinZweiundzwanzigstes Kapitel Melech BabiluDreiundzwanzigstes Kapitel Eselsbegräbnis und HimmelsschlüsselVierundzwanzigstes Kapitel Die Fahrt durch den SternhimmelFünfundzwanzigstes Kapitel Das RinderjochSechsundzwanzigstes Kapitel Zidkijah und sein HausSiebenundzwanzigstes Kapitel Der Gefangene des BundesAchtundzwanzigstes Kapitel Der Triumph ZidkijahsNeunundzwanzigstes Kapitel Zwischen den Mauern, in den Gewölben, auf dem WachthofDreißigstes Kapitel Aus der Tiefe und aus der HöheEinunddreißigstes Kapitel Durch die FinsternisZweiunddreißigstes Kapitel Der RestDreiunddreißigstes Kapitel Im TempelAuf dem TempelplatzBibliographischer Nachweis
Höret die Stimme

Erstes KapitelGespräche am Toten Meer

Clayton Jeeves schwieg. Es war ein gespanntes und störrisches Schweigen, mit dem er das Gespräch der anderen begleitete, dessen schwebend leichter Ton im Widerspruch zum Gewicht seines Inhalts stand.

Sie saßen auf der Terrasse der Gastwirtschaft und tranken mit der gedankenvoll behaglichen Schlaffheit der frühen Nachmittagsstunde ihren Kaffee. Die Terrasse war weit ins Wasser vorgebaut. Konnte man aber diese dickflüssig schwärzliche Flut ohne Atem überhaupt noch Wasser nennen? Das unbestimmbare Element des Toten Meeres – nicht mehr ganz Flüssigkeit und noch nicht fester Stoff – dehnte sich schwerfällig hinaus, wo die österlichen Strahlen einer jungen Sonne in ihren Dunstgewändern ein wechselndes Schaugefecht darboten. Die südliche Ferne tat weh, ließ sich nicht fassen. Die Gebirge aber im Osten und Westen, die den Asphaltsee einklemmen, gaben dem Auge Halt. Waren es Berge oder versteinerte Wolken, kristallisierter Dampf der kochenden Bäche, die sich in das Becken von Sodom und Gomorrha ergießen? Das nahe Gebirg besaß noch einige Wirklichkeit, schien in dieser Erde zu wurzeln, die so anders ist als die Erde sonst. (Von dem bedrängenden Eindruck dieser Anders- und Einzigartigkeit vermochte sich das Gespräch der fünf Menschen nicht zu lösen.) Je weiter aber die Felsgebilde Moabs ins Unfaßbare hinausrückten, um so rascher verloren sie ihre überzeugende Berghaftigkeit. Durchscheinende Vesten aus Rauchtopas, Juwelentürme überragten die östliche Küste, geisterhafte Formungen aus Glasfluß, Salz und unbekannten Materien, in flaschengrünen, veilchenfarbenen, aquamarinhellen Tönen. Und es schien, daß die Gebirge all diese zauberischen Farben nicht von der Gnade der Lichtbrechung geliehen bekamen, sondern aus sich selbst, aus ihrer innersten Natur heraus Kristall und Juwel waren.

Milde Wärme herrschte, durchaus angenehm für weitgereiste Engländer, die schon ganz andere Klimate kennengelernt hatten als dieses, das mit einem treibhaushaften Lächeln ein wenig »Tropen« spielt. Schön war es, hier auf der Terrasse eine Stunde nach Tisch im Freien zu sitzen wie ohne Zukunft. Im Rücken der Gesellschaft erstreckte sich die schmale Ufersteppe des Toten Meeres mit ihren verschrumpften Kameldisteln und niedrigen Sidr-Sträuchern, über und über bereift von Gips- und blitzenden Salzkristallen. Dicht hinter dem dürren Kragen dieser Steppe begann die Jordan-Aue, das üppige Mündungsgebiet des heiligen Flüßleins, eine freundliche Wildnis voll grünbehäuteter Sümpfe und Tümpel, voll Schilfrohr und Weidendickicht, von glänzenden vogelumkreisten Pappeln überwölkt. Hier hatte man vorhin die berühmte Furt besucht, wo Johannes die Taufe an Jesus vollzogen haben soll. Griechische Pilger, in ihre weißen Sterbehemden gehüllt, waren eben mit einem Autobus angekommen, um nach geheiligtem Brauch in dem ziemlich reißenden Jordan ein Tauchbad zu nehmen. Frauen knieten am Ufer nieder und füllten, ernst und ängstlich niederblickend, die mitgebrachten Blechgefäße mit dem gelblichen Taufwasser an. Der Archäologe Burton, der an den Ausgrabungen in Jericho mitwirkte, hatte stumm auf die Blechgefäße hingedeutet, die insgesamt die Aufschrift »Vacuum Oil« trugen. Miss Dorothy Cowell hatte diesen weltweiten Widerspruch, der die Jahrtausende verband und trennte, in einem raschen Lachen gespiegelt.

Immer wieder traten in der Unterhaltung plötzliche Pausen ein. Dann schloß sich jedesmal um das verstummende Gespräch wie Wasser um einen versunkenen Stein eine überaus vernehmbare Stille, die mit keiner andern Stille der Welt zu vergleichen war. Dieser von durchsichtigen Geistergebirgen eingesäumte Ort schien aus dem ewigen Meeresrauschen des Universums ausgespart zu sein, um der Stimme entgegenzuharren, die von diesem allgemeinen Rauschen übertönt wird. Die Arbeiter der Asphaltwerke hielten Mittagsrast. Drang manchmal ein kehliger Menschenlaut von fern herüber, so war es, als schaudre die schwere lauschende Fläche des Sees unter ihrem gespielten Gleichmut zusammen. Ja dort hinten, einige Meilen fern, lag die schöne Jericho-Oase mit ihren Zitronen-, Orangen- und Grapefruithainen, ihren gesegneten Quellen, ihrem Scherbenberg aus grauer Vorzeit (in dem auch Mr.Burton wühlte), ihren arabischen Lehmhütten und hochtrabend betitelten Hotels. Selbst hier noch war der süße umhüllende Blütenduft zu spüren, den die Oase verströmte. Von Zeit zu Zeit aber wurde die Luft merkwürdig schwer, als wolle sie zu einer geleeartigen Speise gerinnen, die man nicht einatmen, sondern kauen muß. Nur an dieser plötzlichen Schwere der Luft ließ es sich erkennen, daß man in einer der tiefsten Mulden der Erde saß, die Oberfläche aller Ozeane mehr als vierhundert Meter hoch über den Köpfen.

»… Mittelpunkt der Welt …«

Die fünf – vier Männer und eine Frau – lösten ihre Blicke überrascht von den Juwelengebirgen des Toten Meeres und sahen einander an, als hätte nicht einer von ihnen diese Worte gesprochen, sondern eine feierlich gelassene Stimme außerhalb ihres Kreises. Dorothy Cowell lag, ein wenig abseits, in einem Strecksessel. Die Männer hatten ihre Stühle von dem Tisch mit seinen halbgeleerten Karaffen, Gläsern und Tassen weggerückt. Alle trugen schwarze Sonnenbrillen bis auf Clayton Jeeves, der äußerst kurzsichtig war und helle scharfe Gläser vor seinen langwimprigen Augen hatte. Er saß nicht nur in sein verstocktes Schweigen, sondern auch in diese sanftmütige Kurzsichtigkeit eingehüllt, die ihn von den andern entfernte und sehr schüchtern erscheinen ließ. Doch weder Cartwright noch Burton oder Major Shepston schenkten diesem Schweigen irgendeine störende Aufmerksamkeit. Nur Dorothy Cowells Blicke streiften Jeeves von Zeit zu Zeit. Wahrscheinlich fühlte sie sich verantwortlich. Sie hatte den jungen Schriftsteller mit den drei andern Herren vor einigen Tagen bekannt gemacht und gestern in der Halle des King David Hotel die Anregung zu diesem gemeinsamen Ausflug an das Tote Meer gegeben. Vielleicht dachte sie, Jeeves durch diesen Ausflug in Gesellschaft ungewöhnlicher Männer »herauszureißen«. Es war ein wohlgelungener Tag. Man ruhte in dieser kaum mehr irdischen Landschaft wie in die Tiefe eines geheimnisvollen Trichters gebannt. Ein Gefühl, das in den Worten vom Mittelpunkt der Welt seinen tastenden Ausdruck gefunden hatte. Professor Cartwright, der älteste in dieser Runde, rückte den Tropenhut, den er wegen seines völlig nackten Schädels trug, aus der Stirne, ehe er meinte: »Überall, wo wahre Religion entsteht, ist ein Mittelpunkt der Welt … Ähnliche Empfindungen hat man in Benares zum Beispiel …«

Cartwright unterbrach sich. Über sein farblos ordnungsuchendes Gesicht zog der Schein einer Korrektur. Er besaß übrigens mehr als jeder andre das Recht, über solche Gegenstände zu reden. Nach langjähriger Forschertätigkeit an verschiedenen Sanskrit-Instituten kehrte er soeben aus Indien nach London zurück.

»Mein Vergleich stimmt nicht …« verbesserte er sich. »Überall anders sind Pandämonien aller Art entstanden, Kulte und Philosophien; Religion im genauesten Sinne aber nur hier in diesem kleinen Lande … Und darum wird es schon der gottgewollte Mittelpunkt der Welt sein …«

Major Shepston, ein kleiner magerer Mann, der neben Cartwright saß, legte sein bräunliches Gesicht in hundert Falten.

»Eines steht jedenfalls fest«, meinte er bedächtig. »Der biblische Gott dieses Ländchens ist Weltsieger geblieben über alle andern Götter … Im Christentum und Islam … Bis auf weiteres wenigstens …«

»Keine Furcht«, lachte Burton, »in dieser sehr geweckten Generation und in den drei nächsten schläft gewiß kein Unbekannter Gott …«

Major Shepston sah plötzlich sehr betroffen drein, als sei er von seinen eigenen Ausführungen unangenehm berührt, zu denen ihn das Wort vom Mittelpunkt der Welt hingerissen hatte. Nach einer Weile fügte er wie zur Entschuldigung hinzu:

»Wenn man in diesem Lande so lange lebt wie ich, wissen Sie …« Shepston lebte und wirkte tatsächlich schon mehr als zehn Jahre in Palästina. Er war in amtlicher Eigenschaft dem Hochkommissär zugeordnet, kannte jeden Winkel zwischen Hermon und Sinaiwüste und liebte diese Welt so sehr, daß er sich zweimal schon geweigert hatte, sie um einer Beförderung willen zu verlassen. Sein gebräuntes ausgedörrtes Gesicht mit dem kleinen grauen Schnurrbart machte ihn älter, als er war. Der Archäologe Burton wiederum sah weit jünger aus, als seine Jahre es erlaubten. Auf seinem gewaltigen Körper saß ein erstauntes Milchgesicht, das nur durch die Fülle ausgeblaßter Sommersprossen, die Blatternarben glichen, etwas wie die Verwitterung der Erwachsenheit gewann. Seine hohe Stimme neigte leicht zur Feierlichkeit.

»Ich arbeite«, gestand er, »zwar noch nicht zehn Jahre in diesem Lande, aber immerhin schon über zehn Monate. Und mir ergeht es noch immer wie am ersten Tage. Wenn man diese uralten Orte mit ihren heilig vertrauten Namen betritt … Ein unvergleichlicher Schauder ist das … Ich bin kein Neuling und war schon bei vielen Grabungen in Hellas und Ägypten beteiligt … Die Erde hier ist nicht so üppig, so hingebend wie dort. Sie ist wortkarg, ja beinahe stumm, sie hält ihre Geheimnisse fest. Der kleinste Fund schon erregt Herzklopfen … Vielleicht liegt darin der Unterschied. Es ist der Unterschied zwischen Homer und Bibel …«

Und Burton schloß knabenhaft träumerisch:

»Oder wenn Sie wollen, der Unterschied zwischen Gymnasialzeit und Kindheit …«

»Homer und Bibel, Gymnasium und Kindheit! Ziemlich gut ausgedrückt, Schatzgräber«, brummte Shepston wohlwollend. »Wenn ein Knabe dieser aufgeklärten Zeit die Bibel noch mit der Kindheit identifiziert, wie muß es da erst den älteren Jahrgängen ergangen sein, die aus dem besten Puritanismus herkamen … Ich hätte dafür ein gutes Beispiel. Aber das ist eine Geschichte aus dem Krieg. Und wenn andre Leute Geschichten aus dem Krieg erzählen, stehe ich auf und entferne mich …«

Professor Cartwright ermunterte gelassen. Wenn er sprach, bewegten sich seine schmalen Lippen kaum:

»Wir sind alle überzeugt, daß Sie kein Heldenstück zum besten geben werden, Shepston …«

»Es ist nicht einmal eine Geschichte«, entschied der Major wegwerfend, »sondern nichts als eine nackte Tatsache ohne Pointe. Doch auf mich hat sie einen gewissen Eindruck gemacht. Sie betrifft Allenby, den Marschall … Ich war nämlich schon während des Krieges hier in Palästina. Bei der großen Vorrückung unsrer Armee hat man mich dem Stab als Ordonnanzoffizier zugeteilt. Die vierte türkische Armee hatte sehr starke Stellungen in der Ebene Jezreel auf der Linie Meggiddo – Affulle bezogen. Wir verbrachten die letzte Nacht vor unserem großen Angriff in dem Städtchen Dschenin. Sie kennen gewiß alle diesen Ort von der Fahrt nach Nazareth. Um zwei Uhr nachts etwa läßt mich der Marschall wecken und zu sich rufen. Er hat die Schwäche besessen, hie und da gerne mit mir zu plaudern. Ich glaube natürlich, es handle sich diesmal um eine dienstliche Aufgabe – der Angriff war für fünf Uhr morgens angesetzt –, und mache mich feldmäßig fertig …«

Vom Strecksessel her erklang die lachende Stimme der Frau:

»Also doch, ein kühner Ritt wenigstens!«

»Ganz im Gegenteil, Miss Cowell«, beruhigte sie Shepston bissig. »Der Marschall saß zwar über eine Karte gebeugt, aber es war durchaus nicht die große Generalstabskarte, in der unsre Stellungen eingezeichnet standen, sondern ein Atlas des biblischen Palästina. Und auf dem großen Tisch lag sonst nichts andres aufgeschlagen als zwei Exemplare der Heiligen Schrift. Es war ein nacktes elendes Zimmer in einem arabischen Hause, in dem Allenby einsam wachte. Er forderte mich auf, ihm kurze Zeit Gesellschaft zu leisten, er könne nicht schlafen, allzu viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum. Ich erwartete gespannt, etwas von den Sorgen zu hören, die den Geist des verantwortlichen Feldherrn in der Nacht vor der Entscheidung martern. Die Lage war ziemlich flau. Wir hatten den Marsch durch die Wüste, wochenlange Entbehrungen und schwere Verluste hinter uns. Die eigene Artillerie war beängstigend schwach, und in den letzten Monaten hatte der Feind die seine durch deutsche und österreichische Batterien bedeutend verstärkt. Der Suezkanal stand morgen auf dem Spiel, vielleicht das ganze Empire … Nun, von all diesen brennenden Fragen des nahenden Entscheidungstages kam kein Laut über die Lippen des Marschalls. Hingegen stellte er mit mir in seiner langsam strengen Art eine Prüfung an: Wie oft, mein Lieber, kommt Meggiddo und die Ebene Jezreel in der Kriegsgeschichte der Heiligen Schrift vor? Was wissen Sie darüber? Ich wußte ganz und gar nichts darüber, meldete es sofort mit der nötigen dienstlichen Zerknirschung und gab damit dem guten Alten die erwünschte Gelegenheit, mich ausgiebig zu belehren. Fünf oder sechs alttestamentarische Schlachten hatten, wenn ich nicht irre, in derselben Ebene stattgefunden, wo wir uns morgen schlagen sollten. Nur von diesen biblischen Affären sprach der Marschall und erwähnte gar nicht Napoleons Sieg am Berge Tabor, obgleich dieser doch ein bekanntes strategisches Beispiel auf allen Kriegsschulen bildet. Besonders eine Persönlichkeit und ein Kampf schienen ihn in jener denkwürdigen Nacht ausnehmend zu fesseln, vielleicht gerade deshalb, weil dieser Kampf traurig ausfiel … Sie sind der Historiker, Burton, helfen Sie mir! Wie heißt jener biblische König, der mit seinem kleinen Heer die gewaltige Übermacht Ägyptens bei Meggiddo angegriffen hat …?«

»König Josijah«, sagte der Archäologe nachsichtig, »derselbe, unter dem der Prophet Jeremias seine Wirksamkeit begann …«

»Ja, es stimmt, König Josijah! …« Shepston hatte sich selbst schon ungeduldig gemacht. »Sie sehen, es ist wirklich eine nackte Tatsache ohne jede Pointe. Nichts andres, als daß ein englischer Heerführer knapp vor einer der wichtigsten Aktionen des Weltkrieges seine Gedanken nicht dem gefährlichen Morgen, sondern der Bibel zuwendet. Vielleicht hat er sich durch diese Betrachtungen nur abgelenkt oder seine weiterarbeitenden wahren Gedanken hinter ihnen verborgen. Doch noch wahrscheinlicher ist es, daß der alte Allenby in der biblischen Geschichte, die für ihn Gotteswort und absolut heilige Geschichte war, gleichnisweise Stärkung und Trost für alle Fälle gesucht hat …«

Burton lächelte mit allen Sommersprossen seines Kindergesichtes:

»Großbritannien hat somit nach mehr als drei Jahrtausenden die achte oder neunte Schlacht von Meggiddo gewonnen. Eine solide Tradition! …«

»Man könnte aus Shepstons Geschichte ohne Pointe noch weitere Schlüsse ziehen«, warf Cartwright mit seiner besonnenen Stimme ein, ohne die Lippen zu bewegen. »Der bibeltreue General Allenby hat mit der Eroberung Palästinas eine sehr legitime Tat vollbracht, da ja das englische Volk selbst seine mythische Herkunft von den zehn verlorenen Stämmen Israels ableitet.«

Bei diesen Worten Cartwrights erhob sich Dorothy Cowell. Sie war ziemlich jung, noch keine dreißig Jahre alt, und trotz des entzaubernden Berufes einer Journalistin – man kannte sie in den Wandelgängen des Völkerbundpalastes sehr genau – eine außerordentlich hübsche Person. Ihr tiefschwarzes Haar, das von einer schmalen grauen Strähne durchzogen war, stand in reizvollem Gegensatz zu den großen blauen Augen, in denen ein energisches Feuer flutete und ebbte. Diese Augen ruhten jetzt eine Sekunde lang mit versteckter Unruhe auf Clayton Jeeves. Der Schriftsteller hielt sein kurzsichtiges Antlitz den Gesprächen, an denen er nicht teilnahm, lauschend voll zugewandt. An seiner gespannten, eingesponnen steifen Haltung hatte sich nichts verändert. Und dennoch war er auf einmal verfallen und schien einen Riesenbissen Verzweiflung mit Mühe hinabzuschlingen. Dorothy bemerkte es und glaubte den Grund des plötzlichen Verfalles zu erkennen. Das Unglück, das Jeeves vor wenigen Monaten getroffen hatte, mochte ihn wieder überwältigt haben. Sie trat zwischen ihn und Burton, vermutlich um ihrem Schützling zu helfen, um ihn zum Reden zu bringen.

»Die verlorenen Stämme …« wiederholte Dorothy melodisch und schaltete eine kleine Pause ein … »Wenn Sie genaue Auskunft über die verschiedenen Achtzehner-, Zwölfer- und Fünferkomitees in Genf haben wollen, werde ich Sie nicht enttäuschen … In der antiken Geschichte aber fühle ich mich bedeutend unsicherer … Der impertinent gelehrte Jeeves hier wird es bestätigen …«

Der Angeredete hob nicht einmal die Augen zu Dorothy. Die etwas spitze Heiterkeit der Journalistin hatte die Schatten nicht verjagt. Hingegen stand Burton auf, faßte Dorothy Cowell am Arm, führte sie zwei Schritte landwärts und deutete in die Richtung der Jordan-Aue, die in zartem Glast verschwamm:

»Dort! Haben Sie noch die Taufstelle vor Augen, wo wir den griechischen Pilgern begegnet sind?«

»Ich sehe diese schrecklichen modernen Ölkannen«, blinzelte Dorothy, »in die das heilige Wasser gefüllt wurde …«

Burtons Stimme klang hoch und feierlich:

»Ein hoffnungsvolles Symbol für uns, die wir alle solch schreckliche moderne Gefäße sind und dennoch mit dem Heiligen angefüllt werden könnten …« Der historische Schwärmer war jetzt in vollem Zuge. Das Milchgesicht auf dem Riesenkörper begann zu glühen. Seine Hand wies in die Richtung Jerichos, wo vor mehr als dreiunddreißig Jahrhunderten einige unansehnliche Nomadenstämme den Jordan überschritten hatten, um ihr zugelobtes Land in Besitz zu nehmen. Miss Cowell war plötzlich einem monomanischen Vortrag ausgesetzt, der die mutmaßliche Landnahme Palästinas durch jenes seltsame Nomadenvolk schilderte. Armseligen, schlechtbewaffneten Horden war es gelungen, eine in jedem Sinne hundertfach überlegene Urbevölkerung zu überwinden und sich einzuverleiben. Freilich, sie brachten etwas so Ungeheures mit, wie es die menschliche Geschichte vorher und nachher nie wieder erreicht hat. Einen einzigen Schöpfergott, der sie erschaffen und den sie erschaffen hatten … Zitate aus dem Alten Testament und aus ägyptischen Inschriften schmückten diese Darstellung. Ehe aber Burton noch zu Ende war, seufzte Dorothy gereizt:

»Die Historiker blicken auf uns Journalisten verächtlich herab. Doch ich sage Ihnen, Burton, wenn unsereins über ein zeitgenössisches Ereignis solch einen überfüllten Bericht erstattete wie Sie, keine Zeitung würde ihn drucken …«

»Sie vergessen«, schlug Burton zurück, »daß wir weniger lügen dürfen als ihr …«

»Und dabei hat die Wissenschaft den kostbaren Vorzug, unkontrolliert und undementiert lügen zu können …«

Dorothy Cowell hatte den Sieg und das letzte Wort behalten. Mit der Hartnäckigkeit aller unabhängigen und etwas herrschsüchtigen Frauen aber wich sie nicht vom Gegenstand:

»So, und jetzt weiß ich noch immer nicht, warum sich die angelsächsische Nation auf die verlorenen Stämme zurückführt …«

Professor Cartwright erwog vermittelnd:

»Die Römer haben ihren Ursprung ohne zureichendere Gründe von den Trojanern hergeleitet. Es ist eine Mythe wie jede andere. Aber hinter jeder Mythe steckt irgend etwas …«

»Ganz gewiß steckt etwas dahinter«, klagte Dorothy. »Wir sitzen jetzt schon mehrere Stunden am Ufer dieses herrlichen Toten Meeres und reden immer wieder von denselben Dingen, als ob es unsre eigenen bitteren Probleme nicht gäbe … Dabei ist mein heutiges Tagewerk noch nicht beendet, denn Clayton Jeeves hat mich eingeladen, den Tempelplatz unter seiner Führung zu besichtigen … Ihr seid ja alle besessen von diesem Heiligen Land …«

»Wahrhaftig! Dorothy hat recht«, sagte der Archäologe und ließ sich auf seinen Stuhl niederfallen. »Es ist oft das reinste Déjà vu …«

Ein scharfer Lärm ertönte plötzlich. Alle sahen sich nach diesem Lärm um, den der schweigsame Zuhörer Jeeves mit dem Ausklopfen seiner Pfeife verursacht hatte. Der Schriftsteller erwiderte den fragenden Blick Dorothys mit einem kleinen Lächeln, das ungefähr sagen wollte: Nur keine Teilnahme. Es ist weiter nichts! … Seine Stirne glänzte feucht. Die schwarzen Haare, die ihm in einem seltsamen Dreieck tief in die Stirne wuchsen, waren in Unordnung geraten. Jeeves trug im Gegensatz zu den anderen hellgekleideten Herren einen dunkelblauen Anzug und am linken Ärmel einen Trauerflor, der über den Ellenbogen herabgerutscht war, was ungeschickt, doch auch rührend wirkte. Die unvermittelte Aufmerksamkeit, die er erregt hatte, schien sein Unbehagen noch zu vermehren. Er senkte den Kopf ein wenig. Seine Augenbrauen bildeten einen geraden Balken.

»Hier ist der Ausdruck Déjà vu gefallen …«

Mit diesen Worten beendete Professor Cartwright die kurze Stille. Er nahm endlich den Tropenhut, der ihn schon lange gestört hatte, vom Kopf und legte ihn auf seine Knie, die in weißen Hosen staken. Man sah jetzt, daß sein Schädel wirklich vollkommen haarlos war, vom Scheitel bis zum Nacken. Seine Augenbrauen, die nur als nackte Wülste vorhanden waren, ersetzten zwei feingezogene Schminkstriche. Er glich gewissen Bildwerken ägyptischer Priester.

»Mein lieber Burton«, fuhr Cartwright mit schwach bewegten Lippen fort, »Sie haben von der rätselhaften und kurzlebigen Empfindung gesprochen, die uns dann und wann überkommt, wenn wir einen bestimmten Augenblick, eine bestimmte Situation, die wir gerade durchleben, schon einmal erlebt zu haben glauben. Für einen Augenblick ist die Zeit aufgehoben, das Nacheinander der Welt zerstört. Und darin liegt das Verwirrende, ja Schreckhafte dieses Erlebnisses, das man mit einer unsympathischen Bezeichnung Déjà vu nennt. Sogenannte psychologische Erklärungen gibt es dafür mancherlei. Ich aber hatte die Auszeichnung, mich mit einem sehr weisen Mann des Ostens gerade über diese Erscheinung unterreden zu dürfen … Ist Ihnen im Leben vielleicht schon einmal das Wort Akâsha begegnet?«

Burton schob die Sonnenbrille in die Stirn und kniff seine Augen abwehrend zu:

»Akâsha?! Das klingt stark nach Theosophie …«

»Sehr richtig, Mr.Burton, die Theosophen bedienen sich mit besonderer Vorliebe der Veden. Und Akâsha ist ein kaum übersetzbarer Begriff aus den Veden. Mein sehr weiser Freund hat ihn in der mir unvergeßlichen Unterredung als einen mentalen Stoff definiert, als eine Entfaltung der Uremanation, die unmittelbar der schaffenden Gottheit entströmt, um nach dem Weltgesetz in immer dichtere Zustände hinabzusinken, vom Lichtstrahl etwa übers Wasserstoffatom zu den festen Körpern. Nach der Überlieferung handelt es sich um eine übersinnliche Materie, die ungezählte Weltalter früher, älter und gottnäher ist als das Licht. Mein Freund, der übrigens auch über die vollkommenste wissenschaftliche Bildung verfügt, gebrauchte das Wort Bilder-Äther oder Erscheinungs-Äther …«

Cartwright stockte. Alle hingen an dem kugelglatten Kopf mit den gemalten Augenbrauen. Die unbeteiligte, gleichsam mathematische Ruhe, mit der er sprach, übte bannende Wirkung. Nur Clayton Jeeves hielt mit einer gequälten Drehung sein Gesicht abgewandt, das erstemal während dieser Gespräche. Vielleicht wollte ihm Cartwright für seinen Widerstand eine Rüge erteilen, indem er meinte:

»Es wird gleich klarwerden, wohin ich ziele …«

»Bilder-Äther …« wiederholte Major Shepston, fast stöhnend. Das Wort schien ihn anzustrengen und mit Unruhe zu erfüllen.

»All diese Namen«, gab Cartwright zu, »sind ja nur schlechte Umschreibungen, die das Unvorstellbare ins Vorstellbare ziehen sollen. Wir können uns zum Beispiel ganz gut vorstellen, daß der Lichtstrahl auf seiner hurtigen Fahrt von Stern zu Stern jene Bilder und Ereignisse, die er mit sich trägt, bis zu einem gewissen Grade verewigt oder zeitlos macht. Akâsha aber, diesen übersinnlichen Stoff, können wir uns nicht vorstellen, denn Akâsha ist das Vor-Licht, das Ur-Licht. Nach der Lehre meines Freundes enthält Akâsha in jeder seiner Partikeln alle Erscheinungen und Geschehnisse des Kosmos auf unbegreifliche Weise gleichzeitig und allräumlich. Wenn man sich zu hinkenden Vergleichen entschließt, so könnte man von einem geheimnisvollen Filmarchiv, einer lückenlosen Photomontage, der allumfassenden Chronik, dem kosmischen Protokoll, der ewig vergegenwärtigenden Erinnerung des Weltengeistes sprechen. Da Akâsha weit mehr noch als das Licht alles durchdringt, so durchdringt es auch uns. Auch unser persönliches Gedächtnis besteht nur kraft Akâshas. Ohne Akâsha gäbe es keinen Trieb zur Geschichtsschreibung. Was Sie Déjà vu nennen, lieber Burton, erklärt mein östlicher Freund mit einer plötzlichen Verdichtung Akâshas, die in unserem Geiste vergeblich zu Bewußtsein kommen will …«

»Mir fällt ein Buch ein«, sagte Dorothy Cowell mit halbgeschlossenen Augen, »es heißt ›An Adventure‹ …«

Sie wartete einen Augenblick. Da niemand das erwähnte Buch zu kennen schien, wagte sie sich weiter:

»Zwei Engländerinnen sind die Verfasser. Eine gewisse Anne Moberley; den Namen der andern habe ich vergessen. Ich denke mir zwei alte Damen strenger Herkunft, nüchtern, energisch, über jeden Verdacht von Hysterie und mystischer Schwärmerei erhaben. Sie erzählen demgemäß in einem trocken dokumentarischen Stil, wie sie einst einen Spaziergang durch den Park von Versailles nichtsahnend unternehmen, wobei sie plötzlich auf eine Gruppe von höfischen Schäfern und Schäferinnen stoßen … Die Geschichte spielt, glaube ich, an einem Frühlingstag des Jahres 1905 … Die Hofgesellschaft in der Schäferkleidung des Rokoko ist äußerst real, benimmt sich in keiner Weise gespenstisch, sondern plaudert und scherzt mit unbekümmerter Lebendigkeit. Nichts weist auf ein Phantom hin, obgleich es sich ja zweifellos um ein Phantom handelt, nur um ein gründlich ausgebildetes. Die beiden achtbaren Damen sehen jeden Knopf, jede Spange, jede Schnalle im banalen Tageslicht, sie unterscheiden die Gesichter, sie beschreiben Form und Lage gewisser entschwundener Baulichkeiten, die plötzlich genau dastehen, so zum Beispiel den berühmten Kuhstall Marie Antoinettes … Ihre Angaben werden von Fachleuten überprüft. Alles stimmt auf Elle und Zoll … Seltsamerweise wiederholt sich beim nächsten Besuch der Engländerinnen im Schloßpark das erstaunliche Abenteuer noch einmal … Das Buch hat Aufsehen gemacht … Ich weiß nicht, Mr.Cartwright, ob diese wahre Gespenstergeschichte hierher paßt …«

»Die andre Autorin von ›An Adventure‹ heißt Eleanor Jourdain«, erklärte Professor Cartwright milde. »Ich danke Ihnen, Miß Cowell, Ihre Gespenstergeschichte paßt ausgezeichnet hierher … Es gibt nämlich Örtlichkeiten, die mit Geschichte gesättigt sind, Mittelpunkte der Welt. Dort sammelt sich Akâsha, der geheime Bilder-Äther der Chronik. Dort durchdringt das Gewesene das Seiende und wird eins mit ihm, in lauernder Bereitschaft zur Auferstehung. Vielleicht erklären sich auch unsere Gespräche heute am Toten Meere damit. Denn nirgends durchdringt das Gewesene das Seiende so tief wie hier …«

Major Shepston stützte sein braunes, ausgedörrtes Gesicht düster in beide Hände:

»Demnach ist diese Welt voll von ihren Toten … Zu denken, daß der Mensch einmal durch Mißbrauch jener Chronik zum systematischen Totenbeschwörer werden könnte … Schrecklich … Schrecklich …«

»Sehen Sie nur, ich bitte, sehen Sie dort …«

Dieser hochgestimmte Ausruf kam von Burton, der aufgesprungen war, sich um seine Achse drehte und mit ausgestrecktem Arm in die Landschaft wies. Die Welt hatte sich mit der weiterrückenden Sonne wirklich eindrucksmächtig verwandelt. Die Gebirge des Toten Meeres waren erloschen. Nicht mehr funkelten Bastionen aus Kristall, Juwelentürme aus der Ferne herüber, sondern schiefrige Schatten spiegelten ihre unnennbare Schwermut im Gewässer der göttlichen Strafe. Alles Licht aber sammelte sich über einem nackten schrundigen Felskegel, der sich im Nordwesten der Oase von Jericho erhob. Die Sonne stand gerade über dem Gipfel und verzauberte die Materie des Felsens in ein übernatürliches Schleiergebilde von hauchgrauer Zartheit mit violetten Faltenwürfen. Es war wirklich so, als hätte ein geheimnisvoller Äther, Akâsha gleich, den Stein durchdrungen und entwirklicht.

»Sehen Sie doch den Berg Quarantana«, sprach Burton langsam, »den Berg der Versuchung, auf dem Christus vierzig Tage lang fastete, ehe der Satan zu ihm trat, um ihn zu versuchen …«

Alle schauten und schwiegen. Vielleicht fürchteten sie, jemand werde jetzt etwas sagen, das zu weit ging. Anstatt dessen aber erscholl eine Stimme, die ihre ungeduldige Rauheit kaum bemeistern konnte:

»Ich glaube, wir müssen rasch aufbrechen, wenn wir noch rechtzeitig in Jerusalem sein wollen, Dorothy …«

Clayton Jeeves hatte endlich gesprochen. Auf einmal bekamen auch alle andern Eile. Major Shepston rief den Kellner. Dann ging man über die salzblitzende Ufersteppe des Toten Meeres zum wartenden Wagen. Dorothy Cowell und Clayton Jeeves blieben ein paar Schritte zurück.

»Was haben Sie nur gehabt, heute?« forschte die Frau.

»Nichts«, sagte Jeeves.

»Haben Sie unsere Gespräche so verstört?«

»Ja«, sagte Jeeves.

Sie sah ihn aufmerksam von der Seite an:

»Es ist schwer mit Ihnen …«

Zweites KapitelEine Fahrt nach Jerusalem

Major Shepston besaß einen ziemlich geräumigen Wagen. Da er von seiner Verwundung im Kriege eine Schwäche des rechten Armes zurückbehalten hatte, konnte er ihn nicht selbst führen. Clayton Jeeves hatte schon bei der Morgenfahrt den Wunsch ausgesprochen, vorne beim Lenker zu sitzen. Auch jetzt wählte er, ohne erst zu fragen, denselben Platz. Dorothy Cowell, Cartwright, Burton und der Major konnten daher den durch die Glasscheibe von ihnen Abgesonderten ruhig zum Gegenstand ihres Gespräches machen, ohne von ihm gehört zu werden. Wer weiß aber, ob Jeeves sie gehört hätte, wäre er selbst unter ihnen gesessen. Seine gepeinigte Seele war in ein wirres Selbstgespräch verloren. Die drei Herren wußten von Clayton Jeeves so gut wie gar nichts. Sie hatten ihn ja erst vor wenigen Tagen durch Dorothy Cowell kennengelernt, die sich seiner mütterlich anzunehmen schien. Übrigens war ihr gestern die ehrerbietige Bemerkung entfallen, daß sie in Jeeves nicht nur einen hochbegabten Schriftsteller, sondern einen echten Dichter sehe, wenngleich sich dieses Urteil nur auf ganz spärliche Veröffentlichungen stützen könne. Professor Cartwright und Major Shepston hatten sofort wie zur Abwehr eingestanden, daß sie nicht die geringste schöngeistige Ader besäßen. Burton las zwar mit Vorliebe Gedichte, begnügte sich aber als Altertumsnarr und Ästhet, der er war, mit den Versen von Pindar bis Swinburne und hätte es für eine entehrende Zumutung gehalten, in der neuen oder gar neuesten Literatur bewandert zu sein. Doch nicht die schriftstellerische Begabung war es, die das Interesse der Männer an Clayton Jeeves erweckte. Sein von innen her verschattetes Gesicht, das unmögliche Schweigen heute, dieses eingesponnene Dasitzen, das sich, ohne feindselig zu sein, scharf distanzierte, kurz die beunruhigende Gesamtwirkung seiner Person zwang sie jetzt, aus der gebotenen Reserve ihrer Erziehung zu treten und ganz gegen Art und Gewohnheit Fragen über diesen Fremdling an Dorothy Cowell zu richten. Selbstverständlich war es Burton, der den beiden Älteren die Rolle des Neugierigen abnahm. Es entspann sich also um die Person Jeeves’ ein sonderbares Quintett, in dem er selbst, wenn auch nur als inneren Monolog, die führende Stimme entwickelte. Der Motor, der gewaltige Steigungen zu überwinden hatte, heulte dazu einen wehen Cantus firmus. Und die tragische Öde der Wüste Judäa mit ihren rot- und braungetönten Steinrunzeln, Felswunden, Kanten und Schluchten, ein äußeres Abbild innerer Zerrissenheit, zog als bedeutsame Begleitung vorbei.

Die Wiedergabe eines Selbstgespräches bleibt stets mit einer gewissen Unwahrhaftigkeit verbunden. Der Mensch redet sich selbst weder mit »ich« noch mit »du« an. Der Träger des inneren Lebens ist weder der Gedanke noch das Wort, obgleich auch diese beiden am inneren Leben mitwirken. Lange noch bevor die Seele ihre Spannungen in Sprache umbildet, erleidet sie die unabsehbare Flucht der Bilder. Und auch die Bilder sind bei weitem noch nicht die letzte Schicht der sinnenden Innerlichkeit. Man könnte in der Tat an einen mentalen Stoff, gleich Cartwrights Akâsha, glauben, an ein zartes Grundgewebe, auf dem die Bilder und Vorstellungen des Seelenlebens sich entwickeln. Cartwright aber und die andern im Fond des Wagens dachten jetzt nicht mehr an Akâsha noch auch an jene Gespräche, die der Anblick einer Landschaft aus ihnen hervorgelockt hatte, die an der Grenzmark zwischen Hier und Dort zu liegen scheint. Mit der geistigen Wandlungskraft weltgewandter Leute hatten sie die Metaphysik abgeschüttelt und saßen trockenen Verstandes da. Jeeves allein konnte sich von der Nachwirkung der Gespräche am Toten Meer, denen er die Teilnahme verweigert hatte, noch nicht befreien. Regungslos verharrte er neben dem Wagenführer und blickte geradeaus in Land und Wüste Judäa.

Ich bin krank – mit dieser Einsicht begann der Ablauf seiner Selbstbesinnung –, ich war immer krank, von Kindheit an, aber die Art der Krankheit verstehe ich erst seit gestern, seit meinem Besuch bei dem Nervenarzt in Jerusalem … Wäre ich übrigens ein Hypochonder, ja nur ein gewöhnlicher Kranker, so hätte ich nicht als dreiunddreißigjähriger Mensch gestern zum erstenmal meine Zustände einem Arzte gebeichtet … Mit meiner Mutter habe ich niemals darüber gesprochen … Und Leonora gegenüber habe ich erst kurze Zeit vor ihrem Tode eine Andeutung gemacht … (Merkwürdig, ich gab ihr, als wir uns verlobten, den Namen Leonora, und jetzt als Tote scheint sie vor mir in ihren alten Namen Mildred zurückzuweichen …) Sie war die einzige, die mit mir diese Last getragen hätte, obgleich sie meine vorsichtigen Andeutungen damals nicht sehr ernst nahm … Gewiß, Schwindsucht zum Beispiel wäre eine ärgere Last … Und doch, ich fühle, wie ich von Tag zu Tag immer hoffnungsloser verkohle, wie ich fremder werde, mir selbst und allen andern … Nie wieder werde ich eine Zeile schreiben können, denn das Bewußtsein der Krankheit raubt mir die Teilnahme am Leben … Lächerlich erscheint mir alles, was meine Zeitgenossen ergreift, ihre bohrenden Bücher langweilen mich, sternenweit bin ich von ihnen entfernt … Ist das schon der geistige Tod? … Wie widerlich habe ich mich heute am Toten Meere benommen … Diese Leute konnten ja nicht ahnen, daß sie mit der verfluchten Erwähnung des Déjà vu meine Wunde berührten … Sie konnten nicht wissen, daß mich derartige Gespräche in Furcht stürzen und erbittern … Ich hätte dem Arzt doch erzählen sollen, daß die stundenlange Depression, die mich vor einem Anfall quält, jedesmal mit dem Gefühl zusammenhängt »Das habe ich schon erlebt« und mit der gräßlichen und vergeblichen Bemühung, herauszubekommen, was eigentlich dieses sei, was ich schon einmal erlebt habe … Und heute ist wieder Donnerstag … Die letzten vier Donnerstage nacheinander ist es gekommen, immer gegen Abend … Heute soll es nicht wieder geschehen, darum habe ich mich mit Dorothy verabredet, ihr den Tempelplatz zu zeigen, denn in Gesellschaft ist es noch niemals über mich gekommen … Achtung! Warum bin ich dessen so sicher … Ich bin ja dessen gar nicht sicher … Seit Leonoras Tod, je weiter sie sich von mir entfernt, um so ärger ist es geworden, von Woche zu Woche … In den drei Jahren, die wir miteinander lebten, war ich so gut wie frei davon; hätte ich jene Andeutung nicht gemacht, sie hätte nichts gewußt … Leonora war mein Heil, und vor seinem Heil schämt man sich nicht … Daß ich mich dessen so schäme, ist sehr schlimm … Bin ich nicht geistig eitel genug, mich damit zu trösten, daß es immerhin eine edle Krankheit ist …? Im Altertum hieß sie sogar die Heilige Krankheit. Die größten Menschen litten an ihr, Propheten, der Apostel Paulus, Dostojewski … Sie holten sogar aus dieser Krankheit ihre größte Kraft … Ich hole nur Erschöpfung und Lähmung aus ihr. Doch vielleicht hängt das auch mit dieser geistflüchtigen Zeit zusammen, die sich wie eine wütende Bulldogge in die sogenannte Realität verbeißt und ganz andrer Gesundheiten und Krankheiten bedarf als der meinigen … Der Arzt hat übrigens den Ausdruck »Epilepsie« nicht gebraucht, sondern ihn nur fühlen lassen … Also auch er hat sich vor diesem Wort geschämt … Es ist ja wahr, ich bin noch niemals auf der Straße bewußtlos zusammengebrochen, habe keinen Schaum vor dem Mund, krampfe den Daumen nicht ein … Weniger eine echte Ohnmacht nennt es dieser Doktor, als eine durch Blutleere im Hirn hervorgerufene tiefe »Absence« … Ein schönes Wort, »Absence« … Vielleicht wäre eine pöbelhafte Ohnmacht erträglicher als diese Absence, diese unfaßbare Leere, dieses völlige Um-sein-Ich-gekommen-Sein, das schrecklicher ist als alle Vernichtung … Nein, nein, entsetzlicher Gedanke, Gott helfe mir, nur das nicht, nur keine Ohnmacht, kein Hinfallen heute vor Dorothy … Schon die Angst davor bringt es immer näher, und ich kann nicht wegdenken davon … Wie war es nur damals, als es mich mit sechs Jahren das erstemal überfiel …? Mutter fuhr mit mir in ein kleines Seebad. Der Anblick des Meeres löste es aus, diese ungeheuer bis zur Mitte des Himmels aufgetürmte Gottesmauer … Damals bin ich lange ohnmächtig gewesen … Ein sehr nervöses Kind, sagte die Besitzerin der Pension, wo mich Mutter verzweifelt zu Bette brachte … Ich erinnere mich aber genau, daß es nicht der Anblick allein war, sondern eine Frage dazu, die mich würgte: Warum bleibt dieses Ungeheuer, dieser gewaltige Gott in seinen Grenzen, warum macht er vor einem lächerlichen Sandstreifen halt, warum bricht er nicht vor und packt meine Mutter und mich …? Mein kleiner Geist war durch die finstere Mauer des nordischen Meeres Gottes ansichtig geworden und verging. Damit begann meine Krankheit … Und nun habe ich nach einer Ewigkeit das furchtbare Meergefühl meiner frühen Kindheit in der Bibel wiedergefunden, im Buche Jeremias … Es sind Verse von gewaltiger Schönheit … Ich werde sie jetzt leise vor mich hinsprechen, vielleicht helfen sie mir …

»… Der ich dem Meere den Strand zum Ufer setzte, darin es allezeit bleiben muß, darüber es nicht schreiten darf; und ob’s schon wallet, so vermag es doch nichts; und ob seine Wogen auch toben, so dürfen sie doch nicht darüber hinausfahren …«

Jeeves räusperte sich, denn der Chauffeur blinzelte schon das zweitemal zu ihm herüber. Dann wandte er den Kopf zur Seite, um seine nassen Augen zu verbergen. Der Wagen keuchte und krampfte sich ein besonders steiles Straßenstück empor.

»Wie das, er heißt nicht Jeeves?« fragte Major Shepston, der

Dorothy nicht genau verstanden hatte. Sie machte ihre Eröffnungen mit sehr gedämpfter Stimme, als könnte sie trotz der schalldichten Glasscheibe vorne gehört werden:

»Nein, so ist es nicht. Er heißt natürlich Jeeves … Mr.Jeeves, der zweite Gatte seiner Mutter, hat ihn adoptiert, als er ein dreijähriges Kind war. Er hat niemals einen anderen Namen getragen. Und doch, sein Vater war nicht Mr.Jeeves, sondern ein Mr.Paderborner …«

»Ich habe mir gleich gedacht, daß er trotz seines Namens kein voller Engländer ist«, erklärte Shepston und lehnte sich zurück, als sei eine beunruhigende Schwierigkeit damit befriedigend gelöst. Dorothy Cowell aber sah sich veranlaßt, gewissermaßen Verwahrung einzulegen:

»Ich verrate Ihnen das nicht, um einen Klatsch zu erzählen. Jeeves selbst spricht offen darüber …«

»Solche Dinge kommen vor«, meinte Burton gutmütig.

»Finden Sie, daß er orientalisch aussieht«, erkundigte sich Dorothy, worauf die Herren übereinstimmend urteilten:

»Nicht gerade orientalisch … Aber fremd …«

Dorothy Cowell bekannte mit leichtem Nachdruck:

»Ich finde, er sieht aus wie eine Gestalt aus der evangelischen Zeit … Wie irgendein Jünger auf dem Hintergrund eines italienischen Bildes … Er müßte sich freilich ein kleines Bärtchen wachsen lassen …«

»Und Sie, Miss Cowell«, stellte Professor Cartwright, der neben Dorothy saß, lippenlos und unbeteiligt fest, »Sie dürften mit Mr.Jeeves schon längere Zeit bekannt sein …«

»Länger, als ich eingestehen werde … Wir waren beide noch Kinder, sahen uns oft auf der Straße, denn unsre Familien wohnten in Nachbarschaft … Wirklich kennengelernt aber habe ich Jeeves viel später. In Paris knapp vor seiner Heirat … Wir haben doch einen verwandten Beruf, was er allerdings seinerseits erbittert leugnet.«

Der Wagen hielt mit einem Ruck. Schwarzblau, ein unermeßliches Fallbeil, fuhr der Himmel mit der Schneide des Horizontes in die rings ansteigende Bergwüste. Stimmen drangen her, ein gurgelnder Pilgergesang. Es war eine arabische Prozession, die in bunter Unordnung zum Nebi Musa wallfahrtete, um dort das legendäre Grab Mosis zu verehren. Am Scheitelpunkt der Straße zweigte ein Seitenweg zu jener geheiligten Anhöhe ab, wohin der pilgernde Haufen sich ergoß, dessen Gesang keinem frommen Chor glich, sondern einem wüsten Aufbegehren gegen Allah. Aus dem Gewoge weißer, gelber, brauner Burnusse, aus dem gereizten Tanz von Fez und farbigen Turbanbunden ragte ein fetter Schimmel mit goldgestickter Schabracke hoch, auf dem die unförmige Gestalt eines moslemischen Ulemas im grünen Seidenmantel einherschwankte. Rechts und links des kolossalen Reiters in Dunkelgrün trugen Derwische lichtgrüne Fahnen. Major Shepston, der alte Kenner des Landes, erklärte lachend, die Moslems wüßten genau, daß Mose kein irdisches Grab besitze. Allah aber habe für »die Bequemlichkeit der Rechtgläubigen« gesorgt und die sterbliche Hülle seines ersten Propheten auf den Nebi Musa versetzt, damit sie dort alljährlich zur Passahzeit von den wahren Bekennern verehrt werden könne.

Der wilde Farben- und Stimmenspuk wurde von dem durstigen Grau des judäischen Wüstenmergels schnell eingesogen. Wahrhaftig, diese Landschaft hatte ein in jedem Sinne ausgemergeltes, von einem unfaßbaren Geiste ausgemergeltes Antlitz. Mit erleichtertem Gesang schwebte der Wagen jetzt eine Bodensenkung wie auf einer Schaukel hinab. Rechts und links schossen aus dem allgemeinen Trümmerhaufen der Verzweiflung gezackte Blöcke, Turmruinen gleich. Professor Cartwright entschied gelassen:

»Nur hier und an keiner anderen Stelle der Welt sonst hat die Idee der Sünde gefaßt werden können …«

Jeeves saß noch immer regungslos wie zu Beginn der Fahrt. Er blickte nicht rechts und nicht links, nahm keine Erscheinung zur Kenntnis, schien nichts zu bemerken wie ein Eingeborner, dessen Augen keine Überraschung erwarten. Das, was in ihm vorging und was in vergröbernder Weise ein Selbstgespräch genannt wird, hatte auch durch die arabische Wallfahrt, durch das Anhalten des Wagens und die lebhaften Stimmen seiner Insassen keine Unterbrechung erfahren:

Nun bin ich in diesem Lande – so arbeitete es in ihm –, und ich habe doch niemals daran gedacht, in dieses Land zu gehen … Verrücktes Schicksal! … Nein, das Schicksal ist gar nicht verrückt, nur wir sind verrückt und blödsinnig und blind … Wenn ich mich auch hundertmal selbst betrügen möchte, so glaube ich doch fest an Sinn und Folgerichtigkeit … Vielleicht kann ich auch wegen dieses Glaubens nicht mehr arbeiten. Er unterscheidet mich von den andern. Alles, was heute geschrieben wird, beruht auf dem Gegenteil, auf der Überzeugung von der Sinnleere und Zusammenhanglosigkeit und darum auf tollen Assoziationen … Die andern sind frei dazu, ich bin nicht frei … Ganz tief in mir wohnt noch immer der alte kausale Gott, der Gott des Wenn-Dann … Er ist hier zu Hause … Wer weiß, vielleicht hat er mich hergelockt … Warum hat Leonora plötzlich diesen krankhaften Wunsch nach einer Reise gehabt? Sie, der man sonst die Annahme des kleinsten Geschenkes abbetteln mußte, warum gerade diesen verzehrenden Wunsch einer Reise nach Ägypten? Ich glaube, wenn ich das nicht haben kann, so werde ich krank, sagte sie wörtlich … Der ich sonst so gerne reise, warum hatte ich damals ein so böses Vorgefühl voll unablässig innerer Warnungen? Warum habe ich diese Warnungen niedergekämpft und keinen Widerstand geleistet? Und als sich Leonora auf die kleine Wohnung in dem arabischen Haus am Wasser kaprizierte, warum habe ich da nicht einfach nein gesagt? Unser Geld hätte auch für ein besseres Quartier gereicht, und alle Bekannten warnten uns vor der Epidemie, die dort niemals einschläft. Warum habe ich Leonora nicht überredet, die Einladung für eine Nilreise anzunehmen, ich wußte ja genau, daß sie ein Angebot der Rettung vor etwas Entsetzlichem war … Warum, warum, warum? … All diese Warums bilden eine lückenlose Kette von Ursachen, in denen Absicht und Lenkung liegt … Lag es in der Absicht dieser Lenkung, mich, mich, Clayton Jeeves, den nichtigen Jeeves, der nicht einmal Jeeves ist, auf dem Umweg einer Ehe und eines Todes nach Jerusalem zu holen? Denn ein Zufall war es nicht, daß mich Dorothy Cowell drei Wochen nach Leonoras Tod aus meiner Lethargie aufstörte und darauf bestand, daß ich ins Heilige Land gehe … Und warum hat mich die Fügung ins Heilige Land berufen? … Weil ich der Abstammung nach hierhergehöre? … Bin ich nicht ebensosehr und mehr noch Christ und Engländer und Weltbürger? … Gewiß! Mein Vater war der Jude Paderborner. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Er ging sehr leise aus der Welt, als wollte er zu meinen Gunsten seine Spuren verwischen. Dennoch muß er ein Mann der Überlieferung gewesen sein, denn er ersparte es Mutter nicht, daß an mir das Zeichen des Bundes vollzogen werde. Ich gehöre also dem Bunde an, und obgleich ich meinen Vater nicht gekannt habe, so ist er doch in mir, und seine Väter und Väterväter sind in mir bis zu dem ersten und letzten Vater … Und dieser erste und letzte Vater, der Gott meiner Väter, ist es, der mich in Widerspruch zu allen anderen setzt und der mir ein Los zuteilt, für das es keine Lösung gibt … Um mich ihm zu verbinden, lebe ich seit Wochen und Wochen im Studium der Bibel, ich, der ich eine ganz andersartige Erziehung genossen habe, so erkläre ich mir’s wenigstens. Unglaublich, mit welchem Gefälle die Schrift in mich einströmt, als werbe sie genau so um mich wie ich um sie. Das ist kein Lesen mehr, das ist ein Wiederkehren, ein Erinnern, denn ohne jede Mühe und Absicht behalte ich Hunderte von Versen im Gedächtnis … Ich verstehe so manches von Tag zu Tag tiefer, was meine Stammesgenossen, die dieses Land mit glühendem Willen wieder in Besitz nehmen, wahrscheinlich gar nicht verstehen dürfen. Ich aber verstehe es aus der Zweigeteiltheit oder Zweieinigkeit in mir, die mich hellsichtig macht … Es gibt keine Heilung für uns, keine irdische Regelung und Befriedigung, solange Er will, daß wir in bezug auf jede menschliche Gemeinschaft die Ewig-Anderen sind … Mit wahrhaft göttlicher Präzision ist jeder Durchschlupf auch für mich ausgeschaltet. Vielleicht hängt mit dieser Ausweglosigkeit auch meine Krankheit zusammen, die damit begann, daß ich, ein unwissendes Kind, Gottes nach unserer Art in seiner ganzen Unsichtbarkeit ansichtig wurde … Was hilft mir aber diese Erkenntnis? Heute ist Donnerstag, in drei Stunden wird es Abend sein, dann hat sich meine Zeit erfüllt … Nichts rettet mich, ich werde zusammenfallen, diesmal vielleicht mit Schaum vor dem Munde, neben der nichtsahnenden Dorothy … Schon jetzt sterbe ich vor Ekel und Scham … Soll ich mich entschuldigen und mit einer Ausrede nach Hause gehen? … Die Scham ist furchtbar, und das Alleinsein ist nicht weniger furchtbar … Es kommt, unausweichlich, ich spüre es … Der Arzt hat dieses Vorgefühl »Aura« genannt. Seit Stunden lebe ich schon in dieser Aura, die immer stärker wird … Wie die Wüste plötzlich rot geworden ist … Habe ich das schon einmal erlebt? … Ich muß mich auf Gedanken konzentrieren, die stärker sind als die Aura, auf Bilder, vor denen mein eigenes Selbst verschwindet, auf das allergrausamste Bild … Wie sie dalag und noch atmete …

An der abgründigen Schlucht vorüber, deren Ostseite die unzugänglichen Steinkäfige eines griechischen Strafklosters trägt, hatte der Wagen eine neue, äußerst schroffe Steigung erklommen. Jetzt senkte sich die Fahrt in eine völlig veränderte Welt. Die Rippen und Grate der Kalkfelsen, das Grau des Mergels, das Zinnen- und Zackenhafte der früheren Wüstengebilde, die noch den Ernst der Verzweiflung besaßen, es war nun dem völlig Gestaltlosen und Aufgelösten gewichen. Eine unübersehbare Ebene von Schollen, Erdscherben und verwitterten Steinbrocken öffnete sich, die nur eine einzige, abwechslungslose Farbe besaß, die Farbe getrockneten Blutes. Hier war die ernste Verzweiflung der Wüste Judäa und die Würde, die auch noch der Sünde innewohnt, übergegangen in den letzten Zusammenbruch, in die fade Hölle der Seelen, die sich selbst aufgegeben haben. Man hätte angesichts dieser braunroten Brocken, die rings alles ausfüllten, an das Totenfeld der Erde, mit Schädeln und Knochen übersät, am Tage des Jüngsten Gerichtes denken können. Abseits der Straße, tief im rostigen Erdbruch und Steinmoder, hockte eine Familie armer Wander-Beduinen. Vier schwarze, reglose Menschenflecken, zwei große, zwei kleine, ein niedres Zelt und ein versteinerter Esel hoben sich gegen die vertrocknete Blutfarbe der Bodenwellen ab, wie das letzte Leben, wie die bittere Neige der Menschheit vor ihrem Ende. Major Shepston bezeichnete den Ort:

»Adumim, Blutsteige! Das Rot kommt nur vom Eisenoxyd, das aber schließlich auch im Blute enthalten ist …«

Burton, der diese Belehrung nicht zur Kenntnis genommen hatte, wandte sich an Miss Cowell:

»Und sein Trauerband?«

»Habe ich darüber noch nicht gesprochen«, staunte Dorothy. »Eine wirkliche Tragödie … Jeeves’ Frau starb Weihnachten in Kairo … Mit dreiundzwanzig Jahren, an Polyneuritis, glaube ich … Sie war nur zehn Tage krank und völlig gelähmt …«

Die Herren schwiegen zum Zeichen ihrer gleichgültigen Anteilnahme, was Dorothy nicht davon abhielt fortzufahren:

»Er hat sie gepflegt, wie selten ein Mann eine Frau … Ein Wunder bei dieser egozentrischen Natur … Wenn ein armes Weib einmal krank wird, hält der Ehegemahl das zumeist für eine vorlaute Beleidigung seiner eigenen Wichtigkeit … Dabei war Mildred keineswegs ein Wesen über dem Durchschnitt, wenn auch reizend … Sie hatte übrigens einen eigenen Humor … Ein pathetischer Mann und eine humorvolle Frau, das ist eine gute Mischung, finden Sie nicht? … Es war beinahe die einzige glückliche Ehe, die ich gekannt habe … Vielleicht mußte die arme Mildred gerade deshalb sterben, denn vermutlich darf es dergleichen nicht geben …«

»Jene Männer, die am heftigsten liebten, trösten sich am schnellsten«, verkündete Major Shepston, der ein alter drahtiger Junggeselle war und in dieser Richtung nur unbedeutende und billige Erfahrungen gesammelt hatte. Sein Ausspruch schien Dorothy ernsthaft zu erbittern:

»Was Jeeves anbetrifft, so irren Sie sich verteufelt … Ich würde es keiner wünschen, seine zweite Frau zu werden … Der Mann hat eine gewaltige Kraft der Trauer in sich …«

Sie verstummte und blickte den Rücken des Schriftstellers an, der ihr Wort bestätigte, so viel Leiden drückte er aus.

Clayton Jeeves hielt den Kopf gebeugt, und seine schmalen Schultern waren nach vorne gefallen. In seiner Angst vor dem drohenden Anfall hatte er jene unvernarbten Bilder aufgerufen, die stärker waren als alles, stärker selbst als die Krankheit, jene schmerzlichsten Augenblicke seines Lebens, die hinter einem durchscheinenden Schleier immer bereitstanden, um hervorzubrechen. Sein innerer Monolog war jetzt nicht mehr durch Wort- und Gedankenfetzen, sondern ausschließlich durch die scharfe Taghelle dieser Bilder bestimmt. Er sah das weiße Zimmerchen im Hospital der Diakonissinnen. Es glich mehr einem billigen Absteigequartier als einem Krankenzimmer modernen Stils. Graue Gardinen hingen vor dem einzigen Fenster, unbegreiflich warum. Um diese Gardinen surrten Schwärme von widerlichen Schmeißfliegen. Jeeves mußte immerfort mit einem weißen Roßschweif die Fliegen von Leonoras Kissen verjagen. Sie konnte ja kein Glied bewegen. In ihrer überirdischen Güte machte sie die kindlichsten Scherze über alles, solange noch Stimme und Bewußtsein in ihr war: über die Ärzte, die Pflegerinnen, die Möbel, Tapeten, Gardinen und am meisten über ihre eigene Hilflosigkeit. Abgesehen von den Stunden, da sie in schauerlichen Schmerzen ihre Seele verstöhnte, hatte sie sich nur zweimal Clayton offenbart. In der ersten Nacht ihrer Erkrankung, als sie ihn mit gehetztem Blick anbettelte: »Laß mich nicht sterben.« Und am Todestage, als sie nach der Bluttransfusion ihm zuhauchte: »Laß mich sterben!« Es war der letzte kurze zusammenhängende Satz ihres Lebens gewesen. Später stand das Fenster dieses schrecklichen Zimmers offen. Ewig wird es nun offenstehen. Ewig wird der dunkelblaue entschlossene Tag des ägyptischen Winterfrühlings dieses Fenster füllen mit den Bildern seiner Palmen, Rhododendren und Goldsträucher, mit seinen ziehenden Nilbarken, die man in der Ferne sehen kann, und mit den tausend Sonnensperbern Ptahs, die in ausgespreiteter Schwebung zwischen Himmel und Erde stehen. Oh, daß dieser für immer erstarrte Tag so schön gewesen sein mußte, daß kein Regen oder Sandsturm ihn verhängt, entstellt, verlöscht hatte! Jeeves wendet den Blick vom Fenster zu Leonoras Bett. Ewig wird sie sterben. Ihre Agonie kann nicht vergehn. Das ist Akâsha, der geheime Stoff, der uns durchwebt und kein Erlöschen duldet. Wie lang und schwer ein Mensch doch stirbt! Noch sind Leonoras Lippen knospenrot und feucht aufgebrochen wie bei einem kleinen Mädchen. Doch der Arzt hat ihr schon kleine nasse Wattebausche auf die Augen gelegt, damit sie nicht austrocknen. Dann geht er, der Arzt, und Clayton Jeeves bleibt mit dem Tode allein, dessen letzten Entschluß er nun mit grausamer Aufrichtigkeit herbeisehnt. Der Tod aber läßt sich Zeit über Zeit. Wollüstig kostet er die Jugend seines Opfers aus. Ein Atemzug und noch ein Atemzug, röchelnd aus tiefster Tiefe, und dann eine schnelle Folge von leichten Atemzügen, als wende sich plötzlich alles wieder zum Guten. Das Geheimnis, das sonst fast niemals ein Mensch vom andern vernimmt, der schwere Herzschlag wird vernehmbar in dieser Stunde, je seltener, je lauter, wie stockender Uhrengang und Klöppelklang in nebliger Ferne. Und dann naht der Augenblick, der keinen Übergang kennt und wirklicher ist als alle andern Augenblicke. Die kundige Hand eines unsichtbaren Riesen wischt schnell über Leonoras noch immer lebendiges Gesicht und verfärbt sich und verwirft es …

»Jerusalem!« rief Burtons Stimme so hoch und laut, daß auch Jeeves sie hörte. Die Straße bog in das Tal Josaphat ein. Sie führte hoch über der Schlucht, in welcher der Bach Kidron sich zwischen die Heilige Stadt und den Ölberg einschneidet. Unten im Tale dehnten sich die Gemüsebeete in üppig vielfältigem Grün, denn die Stadt lag hoch, und der Frühling herrschte noch ungebrochen. Dichtes Weidengebüsch überwölbte die Rinnsale, so daß man von einem Bach nichts sah. Nur die weißen Häuserwürfel des Dorfes Siloa grüßten flüchtig. Die Straße aber ließ diese Heiterkeit links liegen und schraubte sich höher in den Ernst der Zypressen und wildverkrümmten Ölbäume, die dem Berg seinen Namen geben. Das hebräische Gräberfeld zog mit seinen Myriaden von Steinplatten vorüber. Dicht drängten sich die Grabtafeln aneinander, ein umwucherter Schieferbruch der Treue. Angeschmiegt an Josaphat, das Tal der letzten Erweckung, lagen die frommen Toten aus vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden. Aus allen Ländern der Welt waren sie übers Meer gekommen, um ihren Ruheort angesichts Jerusalems mit Besonnenheit zu wählen. Von allen Toten der Erde werden sie den kleinsten Weg zur Auferstehung haben, ebenso viele Schritte nur, wie ins Tal hinabführen. Dann tauchte Absaloms seltsames Denkmal auf, ein umgestürzter Becher, dem man den Boden weggeschlagen hat. Als Jesus auf dieses Denkmal hinabgesehen hatte, da war es schon nicht weniger verfallen gewesen als heute. Und von dort oben hatte er gewiß herabgesehn, von jenem Zypressenhain Gethsemane, dem Orte seiner Anfechtung …

Die unwiderstehlichste Gewalt aber wirkte von drüben, von der anderen Seite, wo auf dem Gegenfelsen des Tales das himmlische und irdische Jerusalem in dieser Stunde sich zu verschmelzen schien. Von den Bergen war Gewölk aufgestiegen und lag in prophetisch lichthaltigen Balken über dem Westen der Stadt. Die Sonne hatte, noch fern ihrem Untergang, aus allen Himmelshänden alles Gold gesaugt und häufte es über dem Tempelplatz zusammen. Die Türme, Kuppeln, Minarette dahinter wichen zurück, wurden zu einem selbstlosen Flimmern, das nur den breiten Mittelpunkt wirklich sein ließ, nur dem heiligen Bezirke diente, der sich wie eine eigene überdeutliche Stadt von der übrigen schwächeren Stadt abhob. Die Omarmoschee, deren Vieleck den Opferfelsen Moriah überwölbt, flammte in einer Feuersbrunst. Die Kettenmoschee am Südende des Platzes lag unter dem Glockensturz violetter Nachmittagsschatten. Die klare Luft wirkte wie eine Lupe. Man konnte jede Einzelheit unterscheiden. Die schlanken Säulen und Spitzbogen vor der großen Moschee wuchsen mit unbegreiflicher Plastik hoch. Aus Braun und Grau des Felsens entfaltete sich die grelle Stadtmauer, die das goldgetränkte Bild einfaßte.

Major Shepston klopfte an die Scheibe und ließ den Wagen halten. Stumm betrachteten sie alle die Ewige Stadt in ihrer Glorie. Jebu, Urusalim, Jeruschalajim, Zion, wie immer auch genannt, sie war die Stadt ohne Anfang und Ende, älter als die älteste Erinnerung, gewesen, seiend und werdend wie der Gott, der sie um den Felsen Moriah versammelt hatte, auf dem Abraham sein schweres Glaubensopfer darzubringen sich bereitet hatte. Ihr frühester König, dessen Name uns überliefert ist, hieß Melchisedek, gerechter König, und die Liturgie bewahrt sein Angedenken bis auf den heutigen Tag als Vorstrahlung des Messias. Die Tempel von Theben und Karnak waren gewaltige Rekonstruktionen von Trümmerstätten. Doch nur das Tote läßt sich rekonstruieren. Rom und Athen waren moderne Städte mit musealen Ruinenfeldern in ihrer Mitte. Jerusalem aber, die Hochgebaute, die dort in der Sonne loderte, besaß keine Ruinen. Sie hatte ihre Zeitalter nicht abgestreift und liegenlassen wie steinerne Häute. Die Tochter Zions stand immer wieder im Licht und lag immer wieder im Staube: Das Feuer Nebukadnezars, das Spitzeisen des Titus, der Pflug Hadrians war über sie hingeknirscht. Doch ihr wahrer Bestand hing von ihrem tatsächlichen Bestande nicht ab. Wer ihre Zeit zählte, zählte die Zeit Gottes mit, die ohne Zeit ist. Ihr Altertum war Gegenwart und ihre Gegenwart Altertum in der triumphierenden Verschmelzung des feurigen Bildes dort drüben, das die beherrschten Seelen der schauenden Engländer mit Wunderhauch, ja mit Erschütterung erfüllte.

Jeeves aber wußte, als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte, daß ihn an diesem Donnerstag heute niemand und nichts vor dem nahenden Anfall bewahren werde. Und er wußte auch mit derselben äußersten Bestimmtheit, daß ihn noch niemals ein schwererer Anfall bedroht habe. Vielleicht würde er nie wieder aus der Absence erwachen. Mochte es sein! Doch trotz aller Furcht und Scham trug Clayton Jeeves das seltsame Gefühl einer Frage in sich, die er ebensowenig wie die Antwort kannte, nach der er verlangte. Dieses krampfhafte Begehren aber, eine namenlose Aufhellung zu erfahren, gab ihm Mut, der Gefahr entgegenzugehen.

Drittes KapitelAuf dem Tempelplatz

»Ich verschwinde nächste Woche von hier, Clayton, hören Sie … Habe einen recht guten Auftrag nach Mitteleuropa … Dann werden Sie vollkommen allein sein, und niemand kümmert sich mehr um Sie … Bilden Sie sich übrigens ja nicht ein, daß ich mir einbilde, Sie werden mich entbehren … Wie schwer Sie es einem machen … Da bringe ich Sie mit wirklich ungewöhnlichen Menschen zusammen … Die Leute sind tadellos kameradschaftlich zu Ihnen … Sie aber sitzen da, taubstumm, hochmütig ablehnend, ein stolzes Bleichgesicht am Marterpfahl, ein Monument der Ungeduld und schlechten Erziehung … Ich begreife Ihren Zustand, Clayton, glauben Sie mir … Aber das geht doch auf diese Art länger nicht fort, das ist ganz und gar übergeschnappt … Herrgott, wenn man nur wüßte, was wirklich mit Ihnen los ist …«

»Gar nichts ist los mit mir«, lächelte Jeeves in starrer Freundlichkeit und schritt weit aus.

Sie hatten an der Zion-Zitadelle vorbei die Bazarstraße der Altstadt betreten, die, von düsterem Mauerwerk und vermorschtem Gebälk überdacht, auf unzähligen holprigen Stufen in südöstlicher Richtung zu den Grundmauern des Tempelplatzes abwärts führt. Ein zwiefacher Menschenstrom, der eine hinab-, der andere hinanflutend, zwängte sich mit wundersamer Schmiegsamkeit durch die enge Ader. Obgleich auch hier wie in allen Bazaren des Orients Kaufleute vor ihren schwarzen Ladenhöhlen die Ware feilboten, heisere Köche öldampfende Brutzelpfannen den Leuten entgegenstreckten, Straßenhändler, ihre Körbe auf Stangen balancierend, mit leidenschaftlichem Ungestüm vorwärtsstürmten, Esel, Ziegen, Schafe durch die Menge getrieben wurden – so herrschte doch in Jerusalems Bazarstraße trotz allem ein bedächtiger Ernst und eine feierliche Ruhe. Die Blicke der Menschen strichen mit erhabener Teilnahmslosigkeit geradeaus. Der Takt ihres wiegenden Schreitens ließ sich durch keine Verlockung unterbrechen. Dorothy und Jeeves wurden dicht aneinandergedrängt.

»Es ist nicht gerade ehrenvoll für mich, daß Sie keine Spur von Vertrauen zu mir haben«, sagte Dorothy.

»Sie waren so furchtbar gut zu mir«, erwiderte er gepreßt, »ich weiß gar nicht, wie ich danken könnte …«

Die Dankbarkeit hinter diesen leeren Worten, die einen trüben Nachgeschmack hinterließen, war echt, war die Dankbarkeit eines Schwerkranken für linde Handreichungen. Plötzlich aber glaubte Jeeves Dorothys Augen zum erstenmal zu sehen. Sie hatte die Kappe abgenommen. Die graue Strähne in ihrem Ebenholzhaar rührte ihn. Eine Frau, die sich ohne jede Hilfe durch das Leben schlug, lebensvoll, gescheit, mutig und nicht weniger allein als er selbst. Ein kräftiger atmender Mensch ging neben ihm. Durch ihr dünnes Foulardkleid hindurch spürte er bei jeder Berührung ihren kameradschaftlichen Körper. Da zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf: Wäre das nicht die Rettung? Sich selbst herausreißen durch einen neuen Beginn! Zu einer Frau fliehen! Ehe er aber noch mit aller Inbrunst seines Wesens diesen Gedanken verworfen hatte, schien dieser auf Dorothy übergesprungen zu sein. Sie löste sich abwehrend von Jeeves:

»Ich mache Sie aufmerksam, Clayton, daß ich nicht die leiseste Absicht habe, mich in Ihr Leben zu mischen … Wenn ich Ihre Aufrichtigkeit vermisse, so geschieht das nur, weil ich … weil ich etwas von Ihnen als Künstler halte …«

Sie wurden von einem Menschenknäuel aufgehalten, der sich ihnen entgegenwälzte. In der Mitte des Haufens schritt die erste jener drei Erscheinungen, die auf Jeeves während seines Ganges zum Tempelplatz einen starken Eindruck übten. Es war ein stattlicher Mann in einem himmelblauen Burnus von prächtigem Faltenwurf, der eine Schar von Bettlern und Straßenjungen mit sich zog. Einer der Effendis, der großen Gutsbesitzer dieses Landes, wahrscheinlich. Mit der rechten Hand drückte er einen seidenen Regenschirm an die Brust. In der Linken ließ er eine Anzahl von Piastermünzen klappern und hüpfen. Von Zeit zu Zeit warf er eine oder mehrere dieser Münzen seinem Lumpengefolge hin, das sich sofort um die Beute zu balgen begann. Er aber würdigte das Pack keines Blickes, sondern wandelte in seinem blauen Faltengewand mit weitem bodenprüfendem Schritt voran. Dabei blitzte sein schönes bartumsponnenes Gebieterantlitz vom Lichte einer unbezwingbaren Fröhlichkeit. Bewundernd drehte sich Dorothy um:

»Ein König der Legende … Salomo oder Harun al Raschid … Nicht wahr?«

Auch Jeeves blickte dem himmelblauen König lange nach, als wolle er diese Prachtgestalt seinem Gedächtnis genau einprägen. In Dorothys Stimme aber geriet eine neue Wärme:

»Ich weiß, was mit Ihnen los ist, Jeeves … Sie müssen wieder arbeiten, das ist alles … Nach all dem, was geschehen ist, werden Sie etwas sehr Großes machen …«

»Ja, ich werde nächstens genötigt sein zu arbeiten, Dorothy, das heißt irgendwelche Artikel zu schreiben, die ich vielleicht mit Ihrer gütigen Hilfe verwerten kann …«

»Wozu diese Selbstironie … Sie wissen ja genau, was ich meine …«

»Mit dem, was Sie meinen, ist es vorbei … Leonora hat’s mit sich genommen … Was sie in mir aber zurückgelassen hat, das … das macht jedes weitere Wort überflüssig …«

»Darf ich ein bißchen taktlos sein, Clayton? … Ich habe in Ihrem Zimmer ganze Stöße von Bibeln, Bibelkommentaren und religiösen Werken gesehen … Dergleichen entlehnt und liest man doch nicht zum Vergnügen … Ich hoffe, Sie haben einen Stoff gefunden, der Ihnen entspricht … Denn zu den Mikroskopikern des Alltags und zu den Pfadfindern unsres langweiligen Seelenlebens haben Sie nie gehört …«

»Irrtum! Ich suche keine Stoffe«, lehnte Jeeves scharf ab. »Ungefähr weiß ich, was ich einmal wert war … Ich bin ziemlich stolz darauf, daß ich keine meiner Sachen geschrieben habe, ohne … ohne … ein ekelhafter Ausdruck … ohne Inspiration …«

Dorothy schien an diesem Wort Anstoß zu nehmen:

»Mein Metier ist es, was ich sehe und höre, zu berichten … Ich kann mir daher nicht recht vorstellen, was das ist: Inspiration …«

»Absence mit Akâsha«, stieß er verzerrt hervor.

Sie standen jetzt vor einem niedrigen Gelaß, das schwarz und offen in ein verfallenes Haus eingeschnitten war. Der kurzsichtige Jeeves konnte zuerst in der Dunkelheit nichts wahrnehmen. Im Hintergrund des Raumes glomm ein halbverloschenes Kohlenfeuer. Nach und nach wurde für ihn eine Art Drehmühle mit Deichsel sichtbar, die in der Mitte der Höhle aufgestellt war. Ein Riese mit nacktem Oberkörper bediente diese Mühle, das heißt, die Arme auf die Deichsel gestemmt, beschrieb er rhythmisch Kreis um Kreis, immer und immer wieder. Was auf der Mühle gemahlen wurde, das blieb verborgen. Klar war nur, daß der Riese tausendmal am Tag seinen Kreis abschreiten mußte wie ein Zugtier. War das Bild schon schauerlich genug, so wuchs das Grauen noch, als der Riese sein gewaltiges Haupt aus der gesenkten Haltung eines Stieres plötzlich hob und sich als Blinder entpuppte, dessen wunde Augenhöhlen aus einem schweißfeuchten Gesicht ins Freie stierten. Einige der Vorübergehenden schienen ihn zu kennen und riefen ihm arabische Worte zu, die wie erbarmungsloser Hohn klangen. Der blinde Arbeitssklave aber kümmerte sich um nichts, sondern machte, gegen die Deichsel gestemmt, unaufhaltsam Runde um Runde. Nur einmal bleckte er die Zähne auf die Gasse hinaus, ohne in der Arbeit innezuhalten.