HORROR 004: Der zweite Sohn Gottes - Michael Buttler - E-Book

HORROR 004: Der zweite Sohn Gottes E-Book

Michael Buttler

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Beschreibung

HORROR 004: Der zweite Sohn Gottes

von Michael Buttler: „Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte!“

 

Es war scheißkalt. Hannes war schon seit Stunden unterwegs. Mit jedem Schritt sackte er bis zum Knöchel im Schnee ein. Er besaß nur ein paar alte, abgetragene Halbschuhe, und so waren seine Füße trotz des unermüdlichen Laufens kurz vor dem Erfrieren.

Seine Habseligkeiten hatte er auf einem Fahrrad verstaut, das er neben sich her schob. Ein altes, klappriges Ding, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Der Schnee machte ihm das Vorankommen schwer, aber Hannes musste noch durchhalten.

 

Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte. Und das kam so…

 

Die Buch-Reihe HORROR von hary-production.de löste 2009 die Romanheftreihe HORROR ab. Diese war seit Februar 2002 die einzige freie HORROR-Reihe im gesamten deutschsprachigen Raum und ist nach wie vor bestellbar - sowohl als eBook als auch im Druckformat unter anderem über hary-production.de! Sie umfasst die ganze Palette des Themas: Psycho-Thriller a la Hitchcock sind genauso vertreten wie Mystery, Grusel und Dark Fantasy. 

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Michael Buttler

HORROR 004: Der zweite Sohn Gottes

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

HORROR 004

 

Der zweite Sohn Gottes

 

Michael Buttler:

„Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte!“

 

Es war scheißkalt. Hannes war schon seit Stunden unterwegs. Mit jedem Schritt sackte er bis zum Knöchel im Schnee ein. Er besaß nur ein paar alte, abgetragene Halbschuhe, und so waren seine Füße trotz des unermüdlichen Laufens kurz vor dem Erfrieren.

Seine Habseligkeiten hatte er auf einem Fahrrad verstaut, das er neben sich her schob. Ein altes, klappriges Ding, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Der Schnee machte ihm das Vorankommen schwer, aber Hannes musste noch durchhalten.

 

Dabei wusste er noch gar nicht, dass ausgerechnet er… jene Art von Auserwählter sein sollte, ohne den die Menschheit keine Chance mehr hatte. Und das kam so…

 

Impressum:

Erstauflage: 2009

Diese Auflage: 2016

Copyright by HARY-PRODUCTION

Canadastraße 30 * 66482 Zweibrücken

Telefon/Fax: 01805 060 343 768 39

www.HaryPro.de

Titelbild: Thorsten Grewe

Covergestaltung: Anistasius

ISSN 1614-3299

1. Kapitel

Die kleinen Dinge des Lebens

Es war scheißkalt. Hannes war schon seit Stunden unterwegs. Mit jedem Schritt sackte er bis zum Knöchel im Schnee ein. Er besaß nur ein paar alte, abgetragene Halbschuhe, und so waren seine Füße trotz des unermüdlichen Laufens kurz vor dem Erfrieren.

Seine Habseligkeiten hatte er auf einem Fahrrad verstaut, das er neben sich her schob. Ein altes, klappriges Ding, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Der Schnee machte ihm das Vorankommen schwer, aber Hannes musste noch durchhalten.

Er war in einem ähnlichen erbärmlichen Zustand wie sein Fahrrad. Auf den Sperrmüll der Gesellschaft abgelegt, wollte kaum ein Mensch noch etwas mit ihm zu tun haben. Er bot keinen besonders Vertrauen erweckenden Anblick. Das lange, braune Haupthaar reichte Hannes bis unterhalb der Schulterblätter. Sein Gesicht war wegen der vielen roten Barthaare kaum zu finden. Jemand hatte ihn einmal mit einem Waldschrat verglichen und Diogenes hatte ihn gestern noch Rübezahl genannt.

Der Winter in diesem Jahr war schnell gekommen und im Verhältnis zu den letzten Jahren besonders unbarmherzig zu Menschen wie ihm, die kein Zuhause, keine Familie und keine Zukunft hatten, und die ihr gesamtes Habe auf einem ollen Drahtgestell mit Rädern transportierten. Zu Leuten eben, denen selbst die kleinen Dinge des Lebens fehlten.

Bis vor wenigen Tagen war Hannes noch in dem alten Lagerhaus einer bankrott gegangenen Firma untergekommen. Sie waren zu fünft gewesen und wollten nicht ins Wohnheim. Dort gab es nur Ärger mit den Fremden, dort wurde geklaut und man fühlte sich beengt in den kleinen Zimmern in denen sie wie die Tiere im Stall lebten und jeder den Ausdünstungen der anderen ausgeliefert war, wo keiner von ihnen den geringsten Freiraum, die geringste persönliche Sphäre hatte.

Schnüffler, der so hieß, weil er nach den Dämpfen von Lösungsmitteln süchtig war, berichtete, er habe im letzten Winter auf einem Bauernhof gearbeitet und war dafür auch gut untergebracht gewesen. Es wäre ganz einfach, die Unterkunft zu bekommen, denn die Bauern könnten immer jemanden zum Arbeiten gebrauchen. Hannes hatte sich vorgestellt, wie angenehm es wäre, eine eigene kleine Kammer unter dem Dach eines Bauernhauses zu bewohnen.

Nun murmelte er einen Fluch und starrte auf den Schnee zu seinen Füßen. Das hatte er nun von seinem kleinen Traum. Es mussten noch fast sechs Kilometer nach Klarenfeld, dem nächsten Ort sein.

Hannes könnte schon längst in seiner warmen Kammer sitzen und seine Füße der Heizung entgegen strecken, aber er war aufgehalten worden. Auf einer öffentlichen Toilette fand er einen Fixer, halb tot, holte Hilfe, musste Erklärungen abgeben und ein Protokoll unterschreiben, das zu formulieren ein Beamter geschlagene zwei Stunden brauchte.

Geld für den Bus hatte Hannes nicht, aber er war der festen Überzeugung, es noch vor dem Abend nach Klarenfeld zu schaffen. Doch nach wenigen Kilometern hatte es so heftig zu schneien angefangen, als wollte eine höhere Macht verhindern, dass er an sein Ziel kam. So etwas hatte Hannes noch nicht erlebt: Innerhalb einer halben Stunde war es nicht mehr möglich, normal voran zu kommen. Und es fiel immer noch Schnee vom Himmel.

Mit seinen behandschuhten Fingern nestelte Hannes eine kleine Flasche mit einer braunen, scharfen Flüssigkeit hervor. Es war nicht mehr viel drin; den Rest trank er in einem Zug aus und schüttelte sich, als er das Brennen in seiner Kehle spürte. Der Schnaps wärmte ihn vorübergehend, und Hannes gab sich gerne der kurzen Täuschung hin. Er wusste, es war eigentlich falsch jetzt Schnaps zu trinken, wusste um die Wirkung, die Alkohol in seiner jetzigen Situation hatte. Der Alkohol würde seine Poren öffnen und ihn später noch wesentlich mehr frieren lassen.

Wütend warf er die Flasche in den Schnee und ging schneller.

Hannes wusste nicht, wie weit es noch bis Klarenfeld war. Aber bei diesem Tempo war er sicher, erst am späten Abend anzukommen. Wenn er bis dahin nicht erfroren war. Und ein Quartier hatte er bis dahin noch lange nicht.

Außer seinem Keuchen und dem Schnarren, das Hannes mit jedem Schritt erzeugte, wenn seine Füße im Neuschnee versanken, war es ruhig. Aus diesem Grund stutzte er, als er ein tiefes Brummen hörte.

Hannes blieb stehen und lauschte. Durch den Schnee war es schwer das Geräusch zu lokalisieren. Hannes schaute sich um, auch nach oben. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Scheinwerfer eines Autos zwischen dem weißen Vorhang aus herabfallenden Schneeflocken erkennen konnte. Der Wagen kam aus der Stadt und nur langsam voran, fuhr nicht viel schneller als Schritttempo.

Vielleicht wollte der Fahrer ebenfalls nach Klarenfeld?

Immer deutlicher erkannte Hannes die Umrisse des Gefährts. Das Auto war etwas höher als ein normaler PKW. Schließlich sah Hannes, dass es sich um ein Pickup handelte, der ihn und vor allem sein Fahrrad problemlos transportieren könnte.

Hannes winkte, hoffte, der Fahrer würde darauf eingehen.

Und tatsächlich: Der Wagen hielt zwei Meter vor Hannes an.

Es war nicht zu erkennen, wer in dem Auto saß. Hinter der Windschutzscheibe war es dunkel.

Die Autotür schwang auf.

Hannes ging das kurze Stück zurück und schaute in den Innenraum des Fahrzeugs. Es handelte sich um einen Zweisitzer. Der Beifahrerplatz war leer. Die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet. Auf der Fahrerseite erkannte Hannes nur einen dunklen Schatten.

Leg dein Fahrrad hinten drauf und steig ein.

Es war Hannes, als habe er die Stimme des Fahrers gar nicht gehört, trotzdem waren die Worte verständlich bei ihm angekommen. Die Kälte, dachte Hannes und schüttelte den Kopf. Es war ihm auch egal, dass der Fahrer nicht nach seinem Ziel gefragt hatte. Alles war besser, als diese eisige Hölle hier draußen. Vorsichtig hievte er das Fahrrad auf die offene Pritsche und sah zu, dass seine gut verpackten Sachen nicht herunter fielen.

Für einen Augenblick dachte Hannes daran, dass der Fahrer nun vielleicht los fahren würde, um ihn seiner letzten Habe zu berauben. Aus diesem Grund hielt Hannes sich an der Pritsche fest, bis er die Beifahrertür erreicht hatte. Das gab ihm ein bisschen Sicherheit, obwohl er wusste, dass er nicht dazu in der Verfassung wäre, sich über die Kante zu ziehen, sollte der Fahrer tatsächlich anfahren.

Hannes setzte sich und schloss die Tür. Vom Gebläse strömte ihm ein muffiger, warmer Wind entgegen.

Der Fahrer ließ den Wagen wieder anrollen. Obwohl Hannes nun direkt neben ihm saß, war der andere für ihn nicht mehr als ein grauer Schemen.

„Danke auch“, sagte Hannes. Seine Mundwinkel schienen wie festgefroren und so nuschelte er und war sich nicht sicher, ob sein Wohltäter ihn überhaupt verstanden hatte.

Hannes wartete darauf, dass der Fahrer so etwas wie ‚Keine Ursache‘ oder ‚Wo soll es denn hingehen‘ sagte. Aber er blieb still.

„Ich will nach Klarenfeld. Ich dachte, das ist nicht mehr weit. Da habe ich mich wohl getäuscht. Es wäre prima, wenn Sie mich dort raus lassen.“

Der Fahrer zeigte erneut keine Reaktion. Langsam wurde es unheimlich. Verstohlen schielte Hannes zur Seite. Außer einem undeutlichen zerfaserten Schatten erkannte er nichts. Hannes schüttelte den Kopf, zog sich die Handschuhe aus und rieb sich das Gesicht, anschließend die Augen. Die Kälte und der Alkohol machten ihm offensichtlich zu schaffen. Das mochte erklären, warum er neben sich keine eindeutige Gestalt sehen konnte, nicht aber, weshalb der andere nicht mit ihm redete.

Wahrscheinlich nahm der Kerl normalerweise keine Anhalter mit und hatte nur Mitleid mit Hannes gehabt und bereute es schon wieder.

Oder er redet nicht mit dreckigen Pennern, die er bald aus dem Wagen schmeißt oder nur so zum Spaß alle macht, verdrischt oder überfährt oder beides.

Hannes schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Warum sollte der Fahrer dieses Wagens das tun? Er hätte das vorhin viel einfacher haben können.

Vielleicht ist er ein Genießer, wie ein Schickimicki-Typ im Edel-Fressstall. Viele von Hannes‘ Kumpanen hatte es so oder ähnlich erwischt. Für manche Menschen waren sie Ungeziefer, das man platt trat.

Hannes versuchte den Gedanken zu verdrängen. Er stellte sich eine kleine, gemütliche Kammer bei einem Bauern unterm Dach vor, dachte daran, wie herrlich es sein würde, sich in einem weichen Bett auszustrecken, während der kalte Wind über die Ziegel pfiff.

Die warme Luft, die aus der Heizung des Pickups kam, verwandelte Hannes‘ Fußzehen in schmerzende Klumpen. Ein paar Minuten länger da draußen, und sie wären ihm vermutlich abgefroren.

„Nett von Ihnen, mich mitzunehmen“, sagte Hannes und schaute erneut zum Fahrer, sah aber weiterhin nur einen wabernden Schatten, selbst als er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen kniff und sich konzentrierte. Es war vergeblich. Hannes gab es auf.

Hoffentlich hast du dich nicht zu früh bedankt.

Außer dem gleichmäßigen Brummen des Motors und dem leisen monotonen Blasgeräusch der Lüftung war es still im Wagen. Das leichte Schaukeln, mit dem das Auto durch den Schnee fuhr, wirkte ein bisschen hypnotisierend auf Hannes. Draußen tanzten die Schneeflocken, bis sie von der Windschutzscheibe eingefangen wurden und schmolzen. Sie erschienen Hannes wie aufgescheuchte kleine Zauberwesen, Feen oder Elfen oder wie die Dinger hießen. Mit den Augen versuchte er einzelnen Flocken zu folgen. Hannes hatte bald Mühe, die Augen noch offen zu halten und gab der Erschöpfung schließlich nach.

Als sie von der Landstraße abbogen, wachte Hannes wieder auf und rieb sich die Augen. Er konnte nicht länger als ein paar Minuten geschlafen haben und fragte sich, ob sie sich nun auf der Abzweigung nach Klarenfeld befanden.

Trotz des Schnees erkannte Hannes, dass sie auf einer ziemlich schmalen Straße fuhren, vielleicht sogar nur einem Feldweg. Die Fahrbahn war nur eineinhalb Mal so breit wie der Pickup. Zu beiden Seiten befanden sich zugeschneite Gräben, die tiefer lagen, als der Weg.

Für einen Moment dachte Hannes erneut daran, dass der Fahrer ihn vielleicht doch um die Ecke bringen würde und ihn deswegen ins freie Feld beförderte, doch dann sah Hannes zwischen den dicken Schneeflocken kleine Lichter, die im Takt der Stoßdämpfer auf und nieder hüpften: Häuser und Straßenlaternen.

Sie kamen an einem großen, dunklen Gebäude vorbei, vielleicht einer Scheune. Kurz darauf erfassten die Scheinwerfer des Autos ein Ortsschild, das zwar nahezu komplett zugeschneit war, doch den Namen der Ortschaft konnte man trotzdem noch erahnen:

Klarenfeld

Er hatte es geschafft.

„Danke, falls Sie extra für mich abgebogen sind.“

Noch immer sagte der Fahrer nichts. Nicht mal eine beiläufige Bemerkung über einen Umweg, den er wegen Hannes fuhr.

„Oder wollen Sie sowieso hierher?“

Obwohl er nun wieder mit dem Fahrer sprach, vermied es Hannes, seinen Nebenmann erneut anzusehen.

„Sind Sie zufällig Bauer und brauchen fürs Grobe so einen wie mich? Ich mache fast alles“, sagte er. Im gleichen Moment bereute Hannes seine Worte. Eigentlich wollte er mit diesem unheimlichen Kerl nicht mehr zu tun haben, als dass dieser ihn irgendwo absetzte, wo Hannes alleine zu recht kam.

Sie erreichten das erste Haus, offensichtlich ein Bauernhof mit Wirtschaftsgebäuden und passierten ihn, ließen ihn rechts liegen. Das zweite Haus war etwas kleiner, hatte seinen Hof scheinbar von der Straße abgewandt und stand auf der linken Seite. Auch hier fuhren sie vorbei.

Allmählich sollte er anhalten und mich raus lassen.

Beim dritten Hof hielt der Fahrer den Pickup unvermittelt an. Die Tür auf der Beifahrerseite ging von alleine auf. Zwei Sekunden saß Hannes bewegungslos, glaubte, sein Herz sei stehengeblieben. Dann verlor er die Fassung und stürzte nach draußen, fiel in den Schnee und verharrte so einen Moment auf allen Vieren. Hannes schaute zum Wagen und sah, wie die Tür des Pickups von alleine wieder zuschlug.

Vielleicht ein elektrischer Türöffner. Bei den Fenstern geht das doch auch.

Der Wagen fuhr nicht weiter.

Er wartet darauf, dass du dein armseliges Fahrrad von der Pritsche hebst.

Hannes stand auf und trat an die Ladefläche, hinter dessen Wand ein Lenker, eine Pedale sowie seine auf dem Gepäckträger verstauten Sachen hervorschauten. Mit beiden Händen griff er zu, packte das Rad am Rahmen.

Jetzt fährt er los, in diesem Augenblick. Fährt mir die Füße mit den Reifen platt. Ich werde hier verrecken.

Hannes spannte seine Muskeln, hob das Fahrrad über die Pritschenwand und ging zwei Schritte zurück, doch der Pickup blieb immer noch stehen. Hannes überprüfte, ob er alle seine Sachen beisammen hatte. Eine Plastiktüte, die er lose am Lenker hängen hatte und in der eine Kinderdecke steckte, die ihm als Kopfkissen diente, fehlte. Hannes ließ das Rad vorsichtig in den Schnee ab und wandte sich wieder dem Auto zu.

Der Fahrer wartet, bis ich fertig bin. Woher weiß er, dass mir noch etwas fehlt?

Hannes tastete suchend nach der Tüte, fand sie und zog sie zu sich heran. Dann ging er wieder zurück zu seinem Fahrrad. Der Pickup nahm seine Fahrt wieder auf und zuckelte langsam die Straße hinunter. Hannes schaute ihm nach, bis er hinter dem fallenden Schnee verschwand, den er vor ein paar Minuten für wirbelnde weiße Zauberwesen gehalten hatte. Irgendwann waren die Rücklichter nicht mehr zu sehen, der Motor nicht mehr zu hören.

So dankbar Hannes seinem Wohltäter auch war, so froh war er auch, ihn wieder los zu sein.

Hannes stand vor einem Bauernhof, dessen Wohnhaus, wie bei den anderen Höfen, die er bisher in diesem Dorf gesehen hatte, nur wenige Meter von der Straße entfernt stand. Ob sein Wohltäter wohl meinte, Hannes solle es hier zuerst versuchen?

Ist auch egal. Ein Hof ist wie der andere.

2. Kapitel

… nicht mal den Hund vor die Tür.

Herbert saß auf der Couch und genoss den Gameshow-Revival-Abend im Fernsehen. Das widerliche Ooonk des Zonk schlug dem Fernsehkandidaten entgegen. Der Mann lächelte gequält. Herbert konnte ihm am Gesicht ablesen, was er dachte: Scheiße, Scheiße, Scheiße. Die Studiozuschauer riefen wie im Chor „OOOH“.

Herbert war der Meinung, dass es diesem Arsch nur ganz recht geschah. Konnte den Hals nicht voll genug kriegen, der blöde Affe.

„Heeerbeeert!“ hörte er die kratzige Stimme seiner Mutter aus der Küche.

Scheiße.

„Heeerbeeert!“

„Was denn?“ schnauzte er verärgert zurück.

„Lass Toby raus.“

„Lass Toby raus“, äffte er seine Mutter leise nach, so dass sie es nicht hören konnte. Dann sagte er etwas lauter: „Scheiße!“

Herbert nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. Mit beiden Händen stützte er sich anschließend von der Couch ab und hievte sich in die Höhe. Es war nicht einfach aufzustehen, wenn man mit einsachtundsechzig zu klein war für sein Gewicht. Als ihn seine Mutter das letzte Mal genötigt hatte, sich zu wiegen, hatte die Waage zweihundertzwanzig Pfund angezeigt. Schnaufend blieb Herbert einen Augenblick stehen.

„Hörst du?“

„Ja, verdammt!“

„Du sollst nicht fluchen, du Nichtsnutz. Solange du in diesem Haus wohnst, wirst du nicht fluchen.“

„Ja, verdammt!“

„Herbert, du bist eine Schande.“

Verdammt. Sie hatte recht. Er war fünfunddreißig Jahre alt, hatte außer einer abgebrochenen Bürokaufmannsgehilfenlehre, zwei Jahre Bund und einem dreckigen Job bei der Bahn, bei dem ihn bereits alle frisch ausgelernten Hosenscheißer herumkommandieren durften, nichts in seinem Leben zustande gebracht. Abgesehen von seinem Leibesumfang natürlich.

„Komm her, Mistköter“, rief Herbert den kleinen, braun-weißen Mischlingshund.

„Ruf ihn beim Namen, Herbert.“

Das war unnötig. Seinen richtigen Namen hatte Toby von Herbert noch nie zu hören bekommen. Bei ihm hörte er auf Mistköter. Die kleinen Schlappohren hüpften auf und ab, als der Hund in leichtem Trab und mit wedelndem Schwanz um die Couch kam. Herbert griff nach der Tüte mit den Kartoffelchips, wandte sich zur Eingangstür und öffnete sie. Sofort war Mistköter herbei und schlüpfte durch den Spalt nach draußen in die eisige Kälte hinaus. Herbert schaute ihm hinterher. Der Hund hüpfte vorwärts, weil er bei dem frisch gefallenen Schnee keine andere Möglichkeit hatte, vom Fleck zu kommen.

„Bleib in der Tür stehen, Herbert.“

„Ja, ja.“ Herbert konnte sich selbst kaum verstehen, so undeutlich kamen die Worte aus ihm heraus. Er hatte sich gerade eine Handvoll Chips in den Mund gesteckt, zog die Tür wieder zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

In der Tür stehenbleiben! Soweit würde es noch kommen. Bei diesem Wetter jagten normale Menschen nicht einmal ihren Hund vor die Tür, nur Mutter ihren Mistköter. Und der Kerl freute sich noch darauf.

Kopfschüttelnd ließ Herbert sich auf die Couch fallen, als gerade ein Fernsehkandidat eine Reise nach Kanada gewann, die hinter Tor 1 versteckt war.

Kanada, dachte Herbert, da ist es auch scheißkalt. Warum verschenken die so einen Blödsinn? Na klar, weil da sonst keiner hin will.

„Ich glaube, das ist genug, Herbert. Es ist so kalt draußen. Ruf Toby wieder rein.“

Herbert verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und hievte sich erneut von seinem Sitz. Er schlurfte wieder in den Flur und öffnete die Haustür.

„He, Mistköter, komm her“, rief er barsch in das eisige Dunkel. Es schneite immer noch ziemlich stark. Herbert konnte den Mistköter nirgends sehen.

Er schaltete die Lampe über dem Hauseingang ein. Der Lichtkegel reichte nur bis zur Hälfte des Vorgartens und ließ die Garage links und die Schuppen, die sich rechts am Haus entlang zogen, im Dunkeln. Allerdings konnte er die Spuren des Mistköters im Schnee sehen. Er war rechts ums Haus zu den Schuppen gelaufen. Scheiße, dachte er, jetzt konnte er da draußen herum tappen, den Hund suchen und sich dabei den Arsch abfrieren. Zum wievielten Male dachte er daran, dass sie jemanden beauftragen müssten, noch ein paar Lampen mehr um das Grundstück zu verteilen. Ihres war das letzte in der Straße, direkt vor den Feldern. Das Licht der letzten Klarenfelder Straßenfunzel reichte nicht bis zu ihnen.

Mit einem weiteren „Scheiße“ auf den Lippen griff er nach seinem Daunenanorak und zwängte sich hinein.

„Was ist denn, Herbert?“, rief seine Mutter. Sie war immer noch in der Küche.

„Der Köter kommt nicht. Ich muss ihn suchen.“

„Dann zieh dich warm an, Herbert.“

„Jajaja“, murmelte er, schleuderte die Hausschuhe von den Füßen und zog sich die alten Stiefel seines verstorbenen Vaters an.

Als Herbert in die Kälte hinaus trat, wirbelten sofort die Schneeflocken um ihn herum. Die Tür ließ er einen Spalt offen.

Er folgte den Spuren zu den Schuppen. Hier war es dunkel. Herbert konnte die Spuren nur noch mit Mühe erkennen. Dem Hund würde er für diese Aktion einen gewaltigen Tritt in den Arsch verpassen.

„Hey, du Mistköter, wo bist du?“ rief Herbert. „Sieh zu, dass du verdammt noch mal herkommst.“ Nichts regte sich. Es herrschte diese bedrückende Stille, wie es typisch war, wenn es schneite. Das einzige, was er hörte, war sein eigenes Schnaufen und das Knirschen seiner schweren Schritte, wenn seine Füße im Schnee versanken, aber kein Geräusch, das vom Mistköter stammen konnte.

Herbert wandte sich dem letzten der drei Schuppen zu. Dort lagerte und verfaulte das alte Gerümpel seines Vaters. Die Werkzeuge und Maschinen lagen seit fünf Jahren allesamt noch so da, wie der alte Herr sie hinterlassen hatte. Während die anderen Türen neuer waren und aus Metall bestanden, handelte es sich bei der letzten noch um eine dieser Türen, die aus Dachlatten zusammengenagelt war und es kleinen Tieren ermöglichte, hindurch zu schlüpfen. Unten war eine Latte abgebrochen und ließ auch genug Platz für Mistköter.

Herbert schob den Riegel zurück. Die Scharniere knarrten fürchterlich. Herbert erwartete, dass eine ganze Mäusefamilie vor Schreck flüchten und ihm entgegen sprang.

In dem Schuppen gab es kein Licht. Er was vielleicht vier mal drei Meter groß. Herbert wusste, der alte Kram stapelte sich hier drin. Lediglich der erste Quadratmeter war leergeräumt, so dass man den Raum gerade so betreten konnte.

Der Mistköter schnüffelte oft hinter den alten Brettern an der Rückwand herum. Vielleicht hatte er dort hinten bei seiner Expedition irgendwas angestoßen, wodurch das Gerümpel in Bewegung geraten war und ihn unter sich begraben hatte.

„Wäre auch nicht schlimm“, murmelte Herbert. Zwei, drei Tage hysterisches Gekreische seiner Mutter, danach würde Ruhe sein und Herbert würde den Hund nicht mehr ständig zur Tür hinaus lassen müssen.