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Historischer Roman aus dem Jahr 1825 Das dritte Abenteuer um Luuk de Winter. Es gilt in Weimar mehrere Morde aufzuklären, bei denen Geheimrat Goethe durchaus behilflich ist.
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Seitenzahl: 364
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Luuk de Winter
Band 1
Jörg Olbrich – Das Geheimnis der Ronneburg
Band 2
Timo Bader und Hannah Steenbock -
Der Mannwolf von Königsberg
Band 3
Michael Buttler – Die Bestie von Weimar
Michael Buttler
Roman
ebook 011 Luuk de Winter 3
erste Auflage 01.06.2013
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Michael ButtlerLektorat: Christine Rix
Vertrieb: bookwire
ISBN: 978-3-943948-08-0
Für Sabine
April 1825, ein Gasthof im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach nahe Jena
Lange, nachdem im Wirtsraum Ruhe eingekehrt war, stand Wolf am Fenster seiner Kammer im ersten Stock und hielt Ausschau nach Beute. Er hatte sich den Namen selbst gegeben, weil er ähnlich ausgehungert war wie ein Graupelz im Winter. Aber nicht der Magen raubte ihm die Ruhe; es war ein anderes Verlangen, das ihn trieb.
Wolf hatte den Burschen zuletzt gesehen, als dieser die Pferde versorgte. Nun stand der Junge mit dem Rücken an das Stalltor gelehnt und kaute auf seinen Fingernägeln. Sein Alter war – wie so oft bei Schwachsinnigen – schlecht zu schätzen. Die Größe von Kopf und Gliedmaßen harmonierte nicht mit der des Rumpfes. Er besaß noch keinen Bartflaum, doch das hatte wenig zu bedeuten. Seine Bewegungen und die kindliche Sprache passten vielmehr zu einem Fünfjährigen.
Als Wolf nach seinem Mantel griff und den Inhalt der Taschen kontrollierte, spürte er, wie seine Hände zitterten. Heute würde es das erste Mal passieren. Endlich. Zu lange schon unterdrückte er seine Sehnsucht.
Er schlüpfte in den Mantel und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte in den dunklen Flur. Mit einer Hand schnappte er sich die Kerze vom Tisch, dann trat er aus dem Zimmer.
Im ganzen Haus war es ruhig. Die nach unten in den Gastraum führende Stiege lag in völliger Finsternis, und so hatte es Wolf selbst mit der Kerze schwer, die Stufen zu finden. Auch in der Schankstube gab es keine Lichtquelle. Die Ungeduld ließ Wolf unvorsichtig werden. Er ging nun schnell zur Tür und stieß dabei gegen einen Stuhl. Polternd fiel das Möbelstück um. Wolf hielt den Atem an, um zu lauschen, ob sich etwas im Haus regte. Er glaubte seinen Herzschlag pochen zu hören. Seinen Blick hatte er auf die Treppe gerichtet, ob von dort ein Licht erschien. Nichts passierte, alles blieb ruhig. Erneut wischte Wolf sich über die Stirn. Dann schalt er sich einen Narren. Jeder, den ein Bedürfnis nach Erleichterung heimsuchte, würde diesen Weg nehmen müssen, um zum Abort zu gelangen. Warum sollte er also nicht hier sein?
Wolf schob den Riegel an der Haustür zur Seite und zog sie gerade so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Dann schloss er sie wieder und schaute hinüber zum Stall. Der Bursche war weg. Wahrscheinlich hatte er sich ebenfalls zur Nacht gelegt.
Mit eiligen Schritten lief Wolf über den Hof, stellte sich mit dem Rücken zur Wand. Gegenüber sah er die Fenster des Gasthauses. Nirgendwo brannte ein Licht. Doch wenn jemand im Dunkeln nach draußen schaute, würde Wolf es nicht sehen können.
Also gut, dachte er und wandte sich zum Eingang.
Wolf zog das Tor auf und betrat den Stall. Insgesamt zehn Verschläge verteilten sich auf beide Seiten; nur die ersten waren belegt. Das schwache Licht kam von einer Lampe, die im hinteren Bereich an einem Pfosten hing. Langsam ging Wolf darauf zu, schaute sich dabei gründlich um, doch außer den Pferden, die vereinzelt ein Schnauben von sich gaben, war niemand da.
Plötzlich tauchte der Bursche hinter einer Trennwand auf. Er grinste und blökte wie eine Kuh. Wolf war von seinem Erscheinen so überrascht, dass er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
Es ist alles in bester Ordnung, dachte Wolf und versuchte, sich damit zu beruhigen. Es ist nur der Schwachsinnige.
Wolf wusste, der Bursche konnte sich nicht anders verständlich machen.
„Sei ruhig. Wir wollen doch niemanden aufwecken.“
Der Bursche legte den Kopf schief und blinzelte.
„Du machst Krach wie eine ganze Räuberbande.“
Wolf ging näher zu ihm hin, kramte dabei nach einer Münze und zeigte sie ihm. Der Bursche lächelte. Mit der anderen Hand hielt Wolf – in der Manteltasche verborgen – sein Messer.
„Willst du dir das verdienen? Dann komm näher zu mir, und ich erzähle dir, was du dafür zu tun hast.“
Der Schwachsinnige wandte sich um und winkte Wolf, ihm zu folgen.
„He, was soll das?“
Der Bursche winkte energischer.
Wolf seufzte. Einen Augenblick lang überlegte er, einfach wieder auf sein Zimmer zu gehen, doch er war noch nie so kurz davor gewesen. Er ging dem Burschen hinterher, der in einem der Verschläge verschwunden war. Als Wolf die Trennwand erreichte und hineinschaute, schüttelte er den Kopf. Der Bursche war dabei, sich die Hose auszuziehen.
„Nein, nein!“, rief Wolf und bemerkte erst im Nachhinein, wie laut er geredet hatte. Er zögerte, dann atmete er tief durch. Letztendlich war es gleichgültig, was der Bursche dort trieb. Wolf machte die letzten Schritte, holte das Messer hervor und stieß es dem anderen in den Bauch. Der Bursche begann wieder zu blöken. Wolf ließ die Münze fallen und presste ihm die freie Hand auf den Mund. Sein Gegner wehrte sich nun, fasste mit der Hand den Messerarm und wollte ihn wegdrücken. Wolf musste erkennen, dass der Bursche stärker war als er. Einzig das Gelenk der Hand, in der er die Waffe hielt, war noch frei. Wolf bewegte es, drückte die Klinge ein Stück nach oben. Der Bursche bäumte sich auf, riss die Augen auf, dann stemmte er sich noch ein letztes Mal gegen den Angriff und sackte schließlich auf die Knie.
Wolf wich zurück, zog das Messer dabei aus der Wunde und starrte den Burschen an, der nun beide Hände auf die blutende Wunde gepresst hielt und ihn wie ein kleines Kind anschaute, dem man gerade einen Klaps gegeben hatte.
Bis jetzt war es nicht so einfach gelaufen, wie Wolf es sich vorgestellt hatte. Sein Atem ging mittlerweile schwer, und seine Knie drohten nachzugeben. Mit der Schulter lehnte er sich an die Wand des Verschlags und starrte auf den Burschen, der sich nicht bewegte. Sicher würde er sterben, wenn er keine Hilfe erhielt. Aber wie lange würde das dauern? Außerdem war es nicht das, was Wolf wollte: Warten.
Ein paar Atemzüge lang sammelte er Kraft, dann trat er auf den Schwachsinnigen zu, der ihn unverändert musterte.
„Lass die Arme unten“, sagte Wolf. Der Bursche war offenbar daran gewöhnt, Befehlen zu gehorchen. Wolf griff in dessen Haare und zog den Kopf zurück. Dann setzte er das Messer am Hals seines Opfers an, das mittlerweile die Lider fest zusammengepresst hatte.
„Augen auf!“
Der Bursche gehorchte.
Ja, das war es, was Wolf wollte.
Er spannte die Muskeln an und stieß die Klinge mit einem kräftigen Ruck in die Kehle seines Opfers.
Frederike öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit ihrer Kammer. Etwas hatte sie geweckt, doch sie konnte sich nicht entsinnen, was es gewesen war. Sie brummte und vergrub sich unter ihrer Decke, hoffte, sie würde gleich wieder einschlafen.
Auf der ersten Etage, wo die Wohn- und Schlafräume lagen, polterte etwas zu Boden und zerschellte. Frederike setzte sich auf, horchte, ob vielleicht ihr Vater nachsehen ging. Doch es blieb ruhig.
„Also gut“, murmelte sie und schlüpfte in die Pantoffeln. Im Dunkeln schlich sie zur Tür und öffnete sie. Frederike hielt inne, hörte eine Stimme, so leise, dass man sie kaum wahrnehmen konnte. Sie sprach nicht, sondern sie wimmerte. Es kam von der anderen Seite des Flurs, aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern.
Ein eisiger Schauer lief Frederike über den Rücken. Plötzlich war sie hellwach. Sie stürmte über den Flur, tastete sich zur Tür und riss sie auf.
Die Fensterläden waren nicht ganz geschlossen. Das Licht des Vollmondes drang durch den Spalt, sodass Frederike eine Gestalt in einem weit geschnittenen Mantel erkennen konnte, die sich über das Bett beugte und ihre Mutter mit dem Knie niederdrückte. Mutter ächzte und stemmte sich vergeblich dagegen. Sie hatte nur eine Hand frei und schlug nach dem Gesicht des Angreifers, der versuchte, ein Messer nach unten zu stoßen. Für einen Moment hielten die Kämpfenden inne und schauten zu Frederike. Von dem Gesicht des Mannes konnte sie nicht viel mehr als seine Augen ausmachen, so sehr verhüllte es die Kapuze des Mantels. Mutter wollte etwas sagen, doch sie brachte nur ein Keuchen heraus.
Eigentlich hätte Frederike sich gegen den Fremden werfen, ihn mit ihren Fäusten verprügeln, weg von den Eltern ziehen und schreien sollen, damit die Magd und der Geselle geweckt und herkommen würden, um den Täter zu stellen. Doch sie konnte nichts von alldem tun. Sie stand nur da, erstarrt, und fühlte sich so hilflos und verloren, als würde sie vor ihrem Schöpfer stehen.
Was war mit Vater? Warum half er Mutter nicht? Dann war ihr klar, dass er das wahrscheinlich nicht mehr konnte.
Der Angreifer wandte sich wieder Mutter zu und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, dass sie aufschrie. Ihre Gegenwehr war für einen Augenblick erloschen. Ungehindert stieß die Gestalt das Messer in Mutters Körper. Frederike begriff kaum, was passierte, so schnell ging alles.
Mutter bäumte sich auf, röchelte.
Das Kichern des Mörders hallte durch den Raum, hörte sich an wie ein Eisregen, der auf das Dach niederprasselte. Die Gestalt drehte sich um und sah Frederike an. Das löste ihre Starre. Sie warf die Tür zu und rannte den Flur entlang. Mutter war tot. Vater wahrscheinlich auch. Wo sollte sie hin? Was sollte sie tun?
An der Treppe blieb sie stehen. Hoch? Zu Hilde? Dort säße sie in der Falle. Also hinunter!
Sie hatte bereits die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht, als oben eine Tür zugeschlagen wurde und schnelle Schritte über die Dielen stampften.
Frederike fühlte, wie es in ihrem Bauch kribbelte und von einem Augenblick auf den anderen ihr ganzer Körper davon erfasst wurde, wie ihr Herz so stark schlug, dass es ihr die Brust zu sprengen drohte. In ihrer Unachtsamkeit stieß sie mit der Schulter gegen die Wand, verlor auf der vorletzten Stufe das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Schmerz durchfuhr ihren Körper. Aufstehen! Sie musste weiter!
Während sie hörte, wie der Mörder zu ihr herunterkam, rappelte Frederike sich wieder auf, lief in die Küche und von dort auf den Innenhof.
Das Grundstück war komplett mit Gebäuden umfasst. Das Tor zur Straße war abgesperrt, ebenso die kleine Tür auf der anderen Seite, die in eine enge Seitengasse führte. Sie hatte die Schlüssel nicht dabei. Hastig blickte sie sich um: Lagerschuppen, Pferdestall, Vorratsschuppen. Christoph, der Geselle, ein Zimmer über dem Lager. Sie wollte schreien, doch sie brachte nicht mehr als ein Krächzen heraus.
Es polterte im Haus. Der Mörder!
Sie wandte sich zum hinteren Teil des Hofes, wo die Familie in einem offenen Verschlag das Brennholz aufbewahrte. Dort lag eine Axt. So schnell sie konnte, rannte sie die wenigen Meter und duckte sich hinter einem Holzstapel. Im selben Moment trat der Mörder auf den Hof und schaute sich unschlüssig um.
Damit sie die Axt erreichen konnte, musste Frederike zum Schlagklotz gelangen, der ein paar Meter weiter rechts stand. Sie würde ihre Deckung für einen Augenblick verlassen müssen. Das weiße Nachtgewand würde im Schein des Vollmondes wie ein Signallicht zu sehen sein. Trotzdem wollte sie es wagen.
Auf allen vieren krabbelte sie zur Seite, beobachtete dabei den Mörder, wie er sich im Kreis drehte, sie suchte. Als er sich zum Lager wandte, riskierte sie es. Sie streckte sich und zog die Waffe über den gestampften Boden zu sich heran. Das Holz des Griffes zu berühren gab ihr ein wenig Sicherheit.
Frederike verbarg sich wieder in ihrem Versteck und schaute in den Hof. Der Mörder war nicht mehr zu sehen. Das Blut lief wie Eiswasser durch ihre Adern. Wo war der Kerl? Und warum kam ihr niemand zu Hilfe? Hilde hätte durch den Krach im Haus längst aufgewacht sein müssen. Oder hatte der Mörder die Magd bereits getötet? Frederike traute sich nicht, um Hilfe zu rufen. Sicherlich würde der Mörder schneller bei ihr sein als der Geselle, der wohl noch im Bett lag.
Scheinbar endlose Sekunden vergingen und nichts rührte sich. Weil Frederike die ganze Zeit über in der Hocke saß, begannen ihr die Knie zu schmerzen. Doch sie traute sich nicht, sich zu bewegen, hatte Angst vor dem Geräusch, das sie dabei verursachen könnte.
Dann hörte sie plötzlich das Schlurfen von Schritten. Sie waren ganz nah. Hatte sie den Mörder nicht gesehen, weil er sich ebenfalls hier verbarg, hinter einem anderen Stapel Holz? Sie packte die Axt fester und spannte ihren Körper an, bereit sich zu wehren.
Da öffnete plötzlich jemand eine Tür. Frederike erkannte an dem leisen Quietschen, dass es die zum Lager war. Es musste Christoph sein, der von seiner Kammer aus etwas gehört hatte. Gott sei Dank!
„Christoph!“, rief sie und lugte um die Ecke ihres Verstecks. Nun hörte sie, wie der Mörder über den Hof lief, wieder ins Haus hinein. Frederike stand auf und erkannte Hilde, die vor der Tür zum Lagerraum stand und dem Mann folgen wollte.
„Nein, geh nicht ins Haus!“, rief Frederike.
Hilde verharrte. „Rike?“
„Er ist ein Mörder. Lauf und hol Hilfe! Hol Christoph!“
„Du liebe Zeit! Komm zu mir.“
Frederike überquerte den Hof.
„Wir müssen da rein“, sagte Frederike und deutete auf das Lager. Jeden Augenblick konnte der Mörder wieder herauskommen.
Die Magd hatte die Hände in die Hüften gestemmt. „Was ist hier los?“
„Mutter ist tot. Vater auch, glaube ich. Und ich dachte, auch du seiest ebenfalls …“ Ihre Stimme brach und plötzlich liefen ihr die Tränen über das Gesicht und sie konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Wenn jetzt der Mörder kam, hätte er ein leichtes Spiel mit ihnen.
„Hilde? Was ist los?“, hörte Frederike Christophs Stimme, dann seine hastigen Schritte, wie er die Treppe von seiner Kammer ins Lager herunterkam.
„Frederike sagt, da ist jemand im Haus. Schaust du nach?“
„Ein Einbrecher? Der kann was erleben.“ Christoph stürmte ins Haus.
„Sei vorsichtig“, rief Hilde ihm nach.
Frederike bemerkte, dass sie immer noch die Axt in der Hand hielt. Sie ließ das Werkzeug fallen und sich von Hilde in den Arm nehmen. Schweigend warteten sie ein paar Minuten und beobachteten, wie hinter den Fenstern nach und nach die Lampen entzündet wurden.
Gleich entdeckt er Mutter und Vater, dachte Frederike, als das obere Stockwerk erleuchtet wurde.
Schließlich sagte Hilde: „Komm, Kleines, hier ist es zu kalt für dich. Christoph wird gleich das Haus durchsucht haben. Wir können ja schon unten hineingehen.“
„Nein, nein, warte, bis er wieder da ist.“
Da erschien der Geselle in der Türöffnung.
„Keiner mehr da“, rief er. „Aber …“, ihm versagte die Stimme.
Frederike lag seit Stunden im Bett. Nachdem Dr. Zöller den Tod ihrer Eltern festgestellt hatte, hatte er ihr Bettruhe verordnet und einen Trank eingeflößt, der sie tatsächlich beruhigte. Ihre Augen brannten von den Millionen Tränen, die sie vergossen hatte. Vor ein paar Minuten waren Kriminalpolizisten im Haus gewesen, doch sie hatte nicht mit ihnen sprechen können. Die Herren hatten das Schlafzimmer ihrer Eltern untersucht und sich für den Nachmittag noch einmal angemeldet. Dr. Zöller, der nicht nur der Arzt, sondern auch ein Freund der Familie war, wollte dafür sorgen, dass ihre toten Eltern so bald wie möglich ins Leichenhaus gebracht werden sollten.
„Das können Sie nicht machen!“, hörte Frederike Hildes Stimme über den Flur.
Jemand ging auf und ab. Sie lauschte.
„Jemand muss sich um sie kümmern.“
„Hilde pflegt Rike und ich mache den Laden“, sagte Christoph.
„Das geht nicht so einfach, wie ihr euch das vorstellt. Frederike ist eine Waise. Sie braucht einen Vormund.“
„Rike ist siebzehn und vernünftiger als so manch einer von den alten Eseln“, sagte Hilde.
„Das Gesetz schreibt es vor. Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet. Lebt der Bruder ihres Vaters noch, Frederikes Pate?“
„Ja, ich glaube schon. Aber man ist in diesem Haus nicht gut auf ihn zu sprechen.“
„Und es gibt keine anderen Verwandten? Auch nicht von Seiten der Mutter?“
„Nein.“
„Dann müssen wir diesen Onkel benachrichtigen und ihn herbitten.“
„Nein!“, entfuhr es Hilde. „Das wäre dem alten Herrn nicht recht gewesen!“
„Ich kann verstehen, dass ihr um eure Anstellung bangt, zumal niemand euch ein Zeugnis ausstellen kann, aber …“
„Herr Doktor, könnte man nicht …“
„Es tut mir leid. Es geht nicht anders. Wir müssen diesen Herrn über die Geschehnisse verständigen.“
„Sie haben keine Ahnung“, fuhr Hilde auf. „Hausverbot hat er, seit dem, was damals passiert ist. Lebenslänglich. Das können Sie nicht einfach aufheben.“
Wie schon so oft fragte Frederike sich, was damals geschehen war, dass Vater seinen eigenen Bruder nicht mehr sehen wollte. Sie hatten ihn den Onkel aus Jena genannt, nur um seinen Namen nicht auszusprechen. Ob Frederike ihn überhaupt wiedererkennen würde? Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, mochte sie im Alter von fünf oder sechs Jahren gewesen sein.
„Es ist zu Frederikes Wohl“, sagte Dr. Zöller. „Christoph, du solltest diesen Herrn herholen. Und du, Hilde, tust in der Zwischenzeit dein Bestes, um das arme Kind zu trösten.“
„Als wenn ich jemals nicht mein Bestes in diesem Haushalt gegeben hätte! Vor allem für Rike. Ich bin so etwas wie ihre zweite Mutter.“
„Und ich soll wirklich zu diesem …“, begann Christoph. „Es geht nicht anders und damit gut. Gebt diesem Herrn doch erst einmal die Möglichkeit, sich zu zeigen, bevor ihr über ihn richtet.“
Die Glocke vom Hoftor klingelte.
„Alles ist noch in Aufruhr, und schon kommt der erste Kondolenzbesuch. Nichts ist vorbereitet!“, sagte Hilde.
„Christoph, machst du bitte auf?“
Einen Augenblick später hörte Frederike die aufgeregte Stimme des Gesellen durch das Haus hallen: „Er ist es! Der Onkel ist schon da!“
„Da ist was faul“, flüsterte Hilde, als sie mit Christoph allein war. Dr. Zöller war mit dem Onkel aus Jena in den Salon im ersten Stock gegangen. Sie stand am Herd und wärmte für ihn die Suppe von gestern auf.
Christoph nickte.
„Wie kann dieser Mensch nur so schnell da sein?“, fragte er. „Das ist Hexerei.“
„Rede keinen Unsinn, du Trottel.“ Hilde hob den Zeigefinger und deutete die Treppe nach oben. „Dieser Kerl führt etwas im Schilde, das sage ich dir. So viele Jahre war es still um ihn und jetzt taucht er plötzlich auf, ohne Bescheid zu wissen, was passiert ist, nur wenige Stunden nach dem Mord an seinem Bruder und seiner Schwägerin. Für wie blöd hält uns dieser … dieser …“
„Behalt´s für dich, Hilde. Er ist es nicht wert, dass du dich versündigst.“
„Pah!“
Sie füllte die Suppe in eine kleine Terrine. Dann spuckte sie hinein.
„Hilde, was machst du?“
Sie zuckte mit den Schultern und rührte um. Dabei verzog sie keine Miene.
„Das ist das Mindeste, was der da oben verdient.“
„Da ist ja meine kleine Rike.“
Frederike öffnete die Augen. Sie hatte geschlafen. Jetzt standen der Arzt und ein fremder Mann an ihrem Bett und schauten auf sie herunter.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen sie schlafen lassen“, meinte Dr. Zöller.
Der Fremde hatte eine Frisur wie ein Wischmopp. Die grauen Haare fielen ihm tief ins Gesicht. Auf seinen Wangen leuchteten rote Äderchen. Seine Hand legte sich auf ihren Arm.
„Aber du willst doch deinen lieben Onkel gleich sehen, stimmt´s nicht, mein Schatz?“
„Onkel Viktor?“
„Sie erkennt mich wieder, nach all den Jahren. Wenn nur der Anlass nicht so furchtbar wäre.“ Er schaute kurz nach oben und seufzte. „Aber nun bin ich für dich da.“
„Wir sollten sie schlafen lassen. Sie hat etwas zur Beruhigung bekommen.“
„Ja, sicher, sicher, alles, wie es der liebe Arzt befiehlt. Jetzt, wo Rike weiß, dass jemand da ist, der auf sie aufpasst, wird es ihr bald besser gehen.“
Die beiden ließen sie wieder allein. Frederike schloss die Augen und schlief erneut ein.
„Du musst etwas essen, Kindchen.“
Frederike seufzte. „Ach Hilde, ich kriege nichts runter.“ Sie schaute aus dem Fenster.
„Es wird bald wieder dunkel.“
Hilde strich ihr über das Haar.
„Ich weiß, was du denkst. Aber wir werden wachen. Christoph und ich, wir lösen uns ab.“
„Und Onkel Viktor?“
Hilde schnaubte. „Der werte Herr ist außer Haus in eine Gastwirtschaft gegangen. Mit der Barschaft deines Vaters, weil er selbst keine hat. Wahrscheinlich hat er sich schon ein paar Viertel in den Hals gekippt.“
„Hilde! Er gehört doch zur Familie.“
„Entschuldige, Rike.“
Es klopfte an der Tür.
„Ach ja, es ist wieder so ein Bursche von der Kriminalpolizei da, kaum trocken hinter den Ohren. Er möchte mit dir reden.“
Frederike fasste Hilde bei der Hand.
„Du bleibst bei mir, ja? Bitte!“
„Vor dem brauchst du dich wirklich nicht zu fürchten.“
Hilde half ihr beim Aufstehen und Ankleiden und führte sie einige Minuten später in den Salon. Dort stand ein junger Mann mit roten Haaren, kaum so groß wie sie selbst und so dünn wie ein Stecken. Ohne die Uniform, die er trug, hätte man ihn sicherlich einfach übersehen.
„Es tut mir schrecklich leid, wenn ich Ihnen Umstände bereite, doch meine Vorgesetzten haben mich geschickt“, sagte er eifrig.
Frederike setzte sich und deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber. Hilde blieb in der Tür stehen.
„Vielen Dank, Mamsell Börner, mein Name ist Hans Kreuzer. Wir waren heute schon einmal hier, aber da ruhten Sie.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Was vollkommen nachvollziehbar ist.“
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Oh, nein, nein, das ist nicht nötig. Geht es Ihnen gut? Ich meine, kann ich mit Ihnen über den … über das, was geschehen ist, sprechen?“
Frederike nickte.
Hans Kreuzer holte etwas zu schreiben aus seiner Jackentasche. Er lächelte und zuckte mit den Schultern. Dann schien ihm etwas einzufallen und er stand noch einmal auf, verbeugte sich. „Übrigens: mein herzliches Beileid, Mamsell Börner.“
„Danke. Was wollen Sie denn wissen?“
„Soviel wir wissen, ist der Täter durch das Schlafzimmerfenster Ihrer Eltern ins Haus gelangt, möglicherweise mit einer Leiter. Und so scheint er auch entkommen zu sein.“
Der Polizist sprach weiter, doch Frederike hörte ihm nicht zu. Sie dachte über seine ersten Sätze nach, dann schüttelte sie den Kopf und unterbrach ihr Gegenüber.
„Nein, der Vollmond schien durch die Läden. Sie waren nur einen Spalt offen.“
„Bitte?“
„Macht sich der Mörder die Arbeit, erst Fenster und Läden zu schließen, um sie bei der Flucht wieder zu öffnen?“
„Nein, aber woher wissen Sie das? Waren Sie etwa dabei, als der Täter Ihre Eltern …“
„Ja.“
„Sie haben ihn gesehen?“
Frederike nickte.
„Wie hat er ausgesehen? Was haben Sie erkannt?“
Frederikes Augen füllten sich mit Tränen, als sie an den Anblick ihrer sterbenden Mutter dachte.
„Ein Schatten. Ein Schatten mit einem Messer, mehr weiß ich nicht. Das Gesicht war nicht zu erkennen.“
Der Polizist kritzelte etwas aufs Papier.
„War er groß oder klein? Stand er aufrecht oder gebeugt?“
„Ich habe Mutter sterben lassen“, flüsterte sie.
„Nun, dann ist er zumindest auf diesem Weg geflohen. Der Geselle gab zu Protokoll, dass das Fenster weit offen stand. Der Mörder muss anschließend über den Holzverschlag und durch die Gasse an der Rückseite des Grundstücks geflohen sein.“
Frederike zitterte. Sie hatte sich in dem Verschlag versteckt, bis Hilde aufgetaucht war.
„Ich weiß sonst nichts“, sagte sie.
Der Polizist stand auf und verbeugte sich erneut.
„Ich danke Ihnen.“
Frederike nickte nur und starrte zu Boden.
„Kommen Sie“, sagte Hilde und brachte Kreuzer hinaus.
Salve! Dieses lateinische Wort war auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks in Goethes Stadthaus, vor einem Raum mit gelben Wänden, in den Boden eingelegt. Sei gegrüßt! Es brannte sich in Alberts Augen. Er wäre am liebsten davongelaufen. Bald würde er einem der bedeutendsten Männern seiner Zeit gegenüberstehen. Er, der kaum die Erwartungen seines Vaters erfüllen konnte. Dass er sich heute blamieren würde, war so sicher wie der Sonnenaufgang am Morgen. Es blieb nur die Frage, wie es geschehen würde.
„Halte dich gerade, mein Junge“, flüsterte sein Vater ihm zu. „Jetzt kommt es darauf an.“
Es waren bereits einige Gäste anwesend. Sie standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich. Einer der Herren wandte sich von seinem Gesprächspartner ab und schaute ihn an. Mit wenigen schnellen Schritten kam er auf sie zu. Albert blickte zu Boden.
„Willkommen in unserem bescheidenen Hause. Ich bin August von Goethe, der Sohn des Hausherrn.“
Er gab ihnen die Hand.
„Professor Johann Heinrich von Niedersamen“, stellte sein Vater sich vor. „Nebst Sohn Albert. Es ist uns eine Ehre, der Einladung Ihres Herrn Vaters Folge zu leisten.“
„Mein Vater kann nicht Nein sagen, wenn ihn die Karte eines so angesehenen Gelehrten und Kunstfreundes erreicht. Er möchte den heutigen Empfang nutzen, Sie persönlich kennenzulernen. Rechnen Sie damit, dass er Ihnen bei Gelegenheit ein paar Bilder vorlegen wird. Kommen Sie, ich mache Sie mit den anderen Gästen bekannt.“
Alberts Herz raste, legte seine Gedanken lahm, sodass er die Namen der Personen, die ihm vorgestellt wurden, im gleichen Augenblick schon wieder vergaß. Nur wenige bekannte Persönlichkeiten konnte er sich merken, wie Riemer und Meyer, der Künstler, mit dem Alberts Vater sich eine Weile unterhielt. Doch der Gastgeber selbst war noch nicht zugegen. Mittlerweile waren sie durch drei Räume geführt worden, in denen eine ganze Reihe von Kunstwerken untergebracht waren: hauptsächlich Gemälde, aber auch Kupferstiche und Plastiken.
„Misch dich unter die Gäste“, raunte ihm sein Vater zu. „Es macht sich nicht gut, wenn du an meinem Rockzipfel hängst.“
„Ich weiß doch gar nicht, mit wem und über was ich reden soll.“
„Mein Gott, Junge! Stell dich einfach irgendwo dazu.“ Mit diesen Worten wandte sich sein Vater von ihm ab und einer Gruppe von Leuten zu. Um ihn nicht noch mehr zu erzürnen, schlenderte Albert in einen der anderen Räume. Dort stand die Büste einer Frau, die ihm vorhin schon aufgefallen war. Ohne Sockel war sie beinahe so groß wie er selbst. Er machte einen Bogen um dieses Ding, als könnte es umfallen und ihn erschlagen. Dieses Haus war ein Museum.
Diener liefen umher und reichten Getränke. Albert wollte auch ein Glas erhaschen, doch er wurde einfach übersehen. Interessiert betrachtete er den Flügel.
„Ein schönes Stück“, sagte eine Frau, die plötzlich neben ihm stand.
Albert zuckte zusammen.
„Können Sie spielen?“
„Ja, ein wenig.“
Die Frau lächelte ihn an. Sie ging ihm bis zur Brust und war von fülliger Gestalt. „Sie sind bescheiden. Das mag ich. Möchten Sie sich nicht vorstellen?“
„Mein Name ist Albert von Niedersamen. Ich bin mit meinem Vater hier. Wir sind auf der Durchreise.“
„Ach, der charmante Herr, der nebenan über die Ölgemälde doziert.“ Sie kicherte. „Nun ist es aber an mir, etwas über mich zu sagen. Ich bin Fräulein Ulrike von Pogwisch. Herr von Goethe lässt mich in diesem Haus wohnen.“
Albert hob die Augenbrauen.
„Ottilie, meine Schwester, ist Vaters Schwiegertochter.“
„Vater?“
„Ach, Sie können es nicht wissen, aber ich darf den alten Herrn so nennen.“
Albert nickte, als habe er verstanden. „Ihre Schwester habe ich noch nicht gesehen.“
„Sie verbirgt sich immer noch. Die Arme hatte im letzten November einen Reitunfall, und dabei hat ihr Gesicht gelitten. Normalerweise macht Sie den Empfang als Herrin des Hauses. Nun muss August diese Aufgabe übernehmen.“
„Ist Ihre Schwester denn schwer verletzt?“
„Sie musste damals sogar genäht werden. Vor drei Tagen ist schon wieder ein Knochensplitter aus der Wunde ausgetreten. Doch das Schlimmste ist, denke ich, überstanden.“
Sie wiegte den Kopf. „Aber Sie haben ja gar nichts zu trinken.“
Sie hob den Arm und sofort kam ein Diener gelaufen. Das Fräulein reichte ihm ein Glas Wein.
„Spielen Sie doch etwas“, sagte Fräulein von Pogwisch. „Das geht doch nicht. Ich kann nicht einfach …“
Sie winkte ab. „Ach was! Wenn ich das sage, ist es in Ordnung. Und Vater – ich meine, Herr von Goethe – hört gerne Musik.“
Alberts Herz schlug schneller. Er stand hier zusammen mit einem Familienmitglied des Hausherren und konnte ihr diesen Wunsch doch nicht abschlagen.
„Nun gut. Wenn Sie das ausdrücklich wünschen.“
Fräulein von Pogwisch lachte. „Sie lassen sich aber gerne bitten, nicht wahr?“
Albert setzte sich an den Flügel und begann zu spielen. Als der erste Ton durch den Raum schwang, wandten sich die Leute ihm zu. Albert hatte die Gespräche unterbrochen, die Aufmerksamkeit aller hier im Raum auf sich gezogen. Er versuchte, sich auf die Noten zu konzentrieren, die er im Kopf hatte. Mehrfaches Dielenknarren verriet, dass nun auch aus den anderen Räumen die Gäste kamen. Er hörte das Getuschel. Natürlich redeten sie über ihn. Was flüsterten sie sich zu? Dass er sich unmöglich verhielt? Dass sein Spiel nur die lahme Nachahmung einer Notenfolge war? Albert schaute auf. Auch sein Vater war da. An dessen Miene war nicht abzulesen, was er von diesem spontanen Auftritt hielt. Albert erwischte eine falsche Taste und der schiefe Ton hallte durch das Zimmer, wurde von den Wänden zurückgeworfen. Nun war es passiert. Er hatte sich endgültig blamiert. Für einen Moment war er versucht, mitten im Stück abzubrechen. Nie aufgeben!, hallte plötzlich die Stimme seines Vaters in seinen Ohren. Albert spielte weiter.
Und dann betrat der Hausherr das Zimmer.
Frederike trat im dunklen Salon ans Fenster, hatte die Arme vor ihrem Bauch verschränkt und schaute hinaus auf die Straße. Ihre Eltern lagen im Leichenhaus. Onkel Viktor hatte das veranlasst. Er selbst war in den beiden Tagen, die mittlerweile vergangen waren, selten zu Hause gewesen.
Neben der Trauer, die sie empfand, beschäftigte sie die Frage, wie es nun weitergehen sollte. Obwohl ihr Onkel sich um die Nachlassangelegenheiten und die Beerdigung kümmerte, fühlte sich Frederike allein.
„Warme Milch mit Honig“, sagte Hilde hinter ihr. Frederike zuckte zusammen. Sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht gehört hatte, wie die Magd hereingekommen war.
„Das wird dir helfen, etwas Ruhe zu finden.“
„Ich bin ruhig“, sagte Frederike und wandte sich nicht um. Hilde machte Licht und fasste sie an den Schultern.
„Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und war etwa in deinem Alter, als dein Vater mich in dieses Haus geholt hat“, sagte Hilde. „Das ist über zwanzig Jahre her. Deine Eltern haben mir eine Berufung gegeben. Ich habe gerne für sie gearbeitet und ich bin ebenso gerne für dich da. Das Gleiche gilt für Christoph, auch wenn er es nicht sagt. Du weißt ja, wie er ist.“
„Ja.“
„Deine Milch wird kalt.“
„Seltsam, dass Onkel Viktor so schnell gekommen ist.“
Hilde schnaubte. „Ich kann mir auch nicht erklären, weshalb er ausgerechnet heute in der Früh vor der Tür stand. Nach all den Jahren. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder waren die Gläubiger hinter ihm her oder … Nein, das will ich nicht aussprechen.“
„Was meinst du?“ Frederike starrte Hilde einen Moment lang an, dann fuhr ihr der Schreck in die Glieder. „Nein, du glaubst doch nicht etwa, er hätte meine Eltern …“ Ihr versagte die Stimme.
„Er konnte vor der Abfahrt nicht wissen, was passiert ist. Er ist zwar eine faule Frucht an deinem Stammbaum, aber zu so etwas halte ich ihn doch nicht für fähig.“
„Was ist damals eigentlich passiert?“
Hilde ließ sie los und wandte sich ab. „Dein Vater und er haben sich überworfen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Trink deine Milch, Kind. Sie wird dir gut tun.“
Frederike gehorchte. Das warme Getränk gab ihr ein wohliges Gefühl.
„Christoph und ich werden alle Türen und Fenster verriegeln“, sagte Hilde.
Sie hörte Schritte auf der Treppe. Onkel Viktor erschien in der Tür. Eine Frau folgte ihm.
„Schau, mein Engel. Ich habe jemanden mitgebracht.“
„Oh nein“, flüsterte Hilde. „Nicht diese Person.“
Ganz in Schwarz gekleidet, einen Ordensstern an die Brust geheftet, ließ er den Blick durch den Raum schweifen: Johann Wolfgang von Goethe.
Alberts Hände schnellten von der Tastatur zurück, als habe er sich verbrannt.
Goethe schaute ihn an, dann trat er ein paar Schritte vor, so steif, als habe er einen Stock verschluckt. Albert spürte, wie er vor Aufregung zitterte.
„Wer sind Sie?“, fragte der Hausherr.
„Von Niedersamen, Albert von Niedersamen.“
Goethe zog die Augenbrauen nach oben. „Der Professor?“
„Nein.“ Alberts Vater war mit wenigen schnellen Schritten bei ihnen. „Der Professor bin ich, Exzellenz. Dies ist mein Sohn.“
„So, so. Warum hören Sie auf zu spielen?“
„Ich wollte Sie mit meinem laienhaften Spiel nicht belästigen.“
„Aber bei meinen Gästen ist dies erlaubt?“
„Ich habe den jungen Herrn gebeten, uns etwas vorzuspielen“, sagte Fräulein von Pogwisch.
„Schön. Sie entschuldigen mich, ich habe noch andere Gäste.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen.
Albert sah, wie sein Vater den Mund verzog. Von jedem anderen hätte sein alter Herr sich diese Behandlung nicht bieten lassen.
Auch Fräulein von Pogwisch schien das zu merken.
„Machen Sie sich nichts daraus. So verhält er sich immer bei neuen Bekanntschaften.“
Der Professor verbeugte sich. „Sie entschuldigen mich.“ Dann wandte er sich ab, ebenso steif wie der große Meister persönlich. Auch Fräulein von Pogwisch ließ Albert allein, der endlich vom Flügel aufstand und möglichst unauffällig durch die Räume schlenderte.
„Haben Sie schon von dem Mord gehört?“, sprach ihn jemand an.
Albert schüttelte den Kopf.
„Es ist erschreckend! Wenn der Mörder bei uns eingestiegen wäre … Ich mag gar nicht daran denken.“
Eine Frau gesellte sich dazu. „Waren Sie auch schon zum Kondolieren beim Börnerschen Haus?“
„Die Magd hat mich nicht vorgelassen. Was soll nur aus der armen Frederike werden?“
Von der Treppe drang Geschrei zu ihnen nach oben. Die Gespräche verstummten. Mehrere Personen polterten die Treppe hinauf. Eine große, schmale Gestalt betrat den Saal und zog scheinbar mühelos eine Dienstmagd hinter sich her, die sich an ihr festgeklammert hielt und zeterte. Der Mann trug einen langen, schmutzigen Mantel. Über die Schulter hatte er ein Gewehr gehängt.
Goethe schritt zwischen seinen Gästen hindurch und auf den Neuankömmling zu. Vor dem Flügel standen sich die beiden schließlich gegenüber.
„Was soll das, Herr? Warum dringen Sie mit diesem Aufsehen in mein Haus ein?“
Der Fremde neigte sein Haupt zu einer flüchtigen Verbeugung, die eher eine Beleidigung darstellte.
„Ihr keifender Hausdrache wollte mich nicht hereinbitten.“ Er sprach mit einem starken ausländischen Akzent. „Man sagte mir, ich finde Kriminalrat Schwabe hier.“
„Ich bin hier!“ Der Gesuchte bahnte sich den Weg durch die Gäste, bis er neben dem Hausherrn stand.
Der Fremde fletschte die Zähne. „Sehr gut, so habe ich Sie beide zusammen. Mein Name ist Luuk de Winter und ich muss mit Ihnen reden.“
„Lassen Sie sich von meinem Sekretär einen Termin geben“, sagte der Kriminalrat. „Dann sehen wir weiter.“
„Wie ich gehört habe, hat es vor zwei Tagen in Weimar einen Mord gegeben. Ich bin da, um ihn aufzuklären.“ De Winter machte eine abfällige Geste. „Danach kann weiter gefeiert werden. Vielleicht schließe ich mich dann sogar an.“
Schwabe wollte auffahren, doch Goethe fasste ihn am Arm. „Ihr Name ist mir bekannt“, sagte der Hausherr. „Wenn es wirklich so dringend ist, dann kommen Sie.“
Goethe führte die beiden in einen anderen Raum. Kaum waren sie zur Tür hinaus, fingen die Gespräche wieder an, lauter als zuvor, und sie drehten sich nur um ein einziges Thema: um den Fremden.
Alberts Vater lief durch die Verbindungstür ihrer Zimmer im Erbprinzen hin und her. Er tobte vor Wut. Goethe war nicht mehr erschienen.
„Die Gesellschaft dieses Landstreichers zieht er der unseren vor!“, rief er.
„Man wird dich hören, Vater.“
„Das ist mir egal! Sollen doch die Hausdiener kommen und die Beschwerden der anderen Gäste vortragen. Dann werde ich denen erzählen, welchen seltsamen Charakter ihr großer Olympier hat.“
„Die Leute werden morgen mit den Fingern auf uns zeigen.“ Der Professor wirbelte herum und griff zur Tür.
„Ein bisschen mehr Selbstachtung, mein Sohn. Wer sind wir denn?“
Der alte Herr schaute ihn noch einen Augenblick lang schweigend an, dann sagte er „Gute Nacht“ und schloss die Tür hinter sich.
„Gute Nacht, Vater.“
Viktor Börner fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Im Morgenrock seines Bruders stand er dem jungen Burschen gegenüber. Erst vor wenigen Minuten war er aufgestanden, hatte sich weder angekleidet noch gefrühstückt.
„Was wollen Sie?“
„Sie werden hiermit informiert, dass die Leichen Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin einer Untersuchung unterzogen werden“, sagte der Bote wie auswendig gelernt und verbeugte sich.
„Was für eine Untersuchung?“, blaffte Viktor.
„Kriminalrat Schwabe und ein ausländischer Spezialist werden anwesend sein.“
Viktor stemmte die Hände in die Hüften. Das war unglaublich! Sollte etwa die halbe Welt am Tod seiner Verwandten teilhaben? „Spezialist? Für was? Ist er ein Arzt?“
Der Bote machte einen Schritt zurück.
„Ich bin nur der Bote. Meine Nachricht für sie lautet: Sie werden hiermit informiert, dass die Leichen …“
„Ja, ja.“ Viktor winkte ab. „Und wann beginnt diese Untersuchung?“
„Um elf Uhr.“
Viktor schaute auf die Taschenuhr, die er in der Kommode seines Bruders gefunden hatte und seitdem als einen Teil seines Erbes betrachtete.
„Das ist in zehn Minuten. Wieso hat man mich nicht früher informiert?“
Der Bote zuckte mit den Schultern.
Viktor sprang vor und konnte sich gerade noch beherrschen, den Burschen nicht am Kragen zu packen.
„Das ist ungeheuerlich! So etwas gehört sich nicht! Keiner vergreift sich an den sterblichen Überresten von Mitgliedern der Familie Börner. Das werde ich nicht zulassen! Sie warten hier, bis ich angekleidet bin.“
Mit diesen Worten stürmte er aus dem Salon und in den hinteren Teil des Hauses. Dort lag das Gästezimmer, das er bezogen hatte. Notdürftig warf er sich die Kleidung über.
„Wassn los?“, nuschelte die Frau unter der Bettdecke.
„Ich muss weg, Maxi. Es wird nicht lange dauern. Bleib hier, bis ich zurück bin.“
Aus dem Bett drang ein Brummen, das alles bedeuten konnte.
Beim Hinausgehen kämpfte er mit den Ärmeln seines Fracks. Im Flur traf er den Boten auf der Treppe, der scheinbar ohne ihn verschwinden wollte.
„Warten Sie!“, rief Viktor.
Der andere wandte sich um. „Ich kann nicht länger warten. Ich habe noch weitere …“
„Das interessiert mich nicht. Sie führen mich jetzt zum Leichenhaus.“
Atemlos riss Viktor die Tür auf. Sie waren über den Markt Richtung Süden zum Frauentor und anschließend die Friedhofsstraße bis zum Neuen Gottesacker gelaufen. Vor dem Eingang hatte er den Boten entlassen, ohne ihm ein Trinkgeld zu geben.
Viktor hatte sich bereits darauf eingestellt, ein paar deutliche Worte gegenüber den Initiatoren dieser Untersuchung zu verlieren, doch was er nun sah, verschlug ihm beinahe die Sprache. Die beiden Toten lagen nebeneinander auf einem großen Tisch, als würden sie schlafen. Nur ihre Wunden und die Anzahl der versammelten Leute störten diesen Eindruck. Die Leichen waren von oben bis zur Körpermitte entblößt, der Rest war von Leichentüchern bedeckt. Viktor konnte die bleichen, zerstochenen Brüste seiner Schwägerin sehen. Vier Männer standen über den Tisch gebeugt. Drei von ihnen blickten auf, als Viktor eintrat.
„Was machen Sie da?“
Einer der Männer kam auf ihn zu.
„Wer sind Sie? Und was haben Sie hier zu suchen?“
„Mein Name ist Viktor Börner und ich bin ein Angehöriger der beiden Ermordeten. Weshalb schänden Sie diese armen Menschen? Was gibt Ihnen das Recht dazu?“ Viktors Worte hallten in dem Raum nach.
Ein Greis mit besonders aufrechter Haltung trat zu ihm und reichte ihm die Hand. Viktor erwiderte den Gruß in einem gewohnten Reflex.
„Ich bin Geheimrat von Goethe. Sie haben mein Mitgefühl, Herr Börner. Angehörige der Familie zu verlieren, ist immer ein schwerer Schlag. Ich bedaure zutiefst, dass Sie das hier mit ansehen. Sie sollten als Angehöriger lediglich über die Untersuchung informiert werden, des Anstandes halber. Nun gehen Sie, vergessen Sie, was Sie hier gesehen haben.“
„Den Teufel werde ich tun. Wer sind die anderen?“
Der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte, sagte: „Kriminalrat Schwabe.“ Er deutete auf die verbliebenen zwei, einen jungen Burschen in Uniform und einen Hünen. „Herr Kreuzer von der Kriminalpolizei und Herr de Winter.“
Der Mann mit dem ausländischen Namen zog mit den Händen eine der Wunden seiner Schwägerin auseinander.
„Die Stiche sind nicht tief“, sagte er. „Der Mörder hat ein Messer mit einer kurzen Klinge verwendet.“
De Winter richtete sich auf und schaute die anderen an.
„Ein Genickfänger vielleicht, ein Schälmesser oder ein anderes Küchenwerkzeug. Es gibt viele Möglichkeiten.“
„Deshalb vergreifen Sie sich an den Leichen?“, fragte Viktor. „Um festzustellen, dass der Mörder viele Arten von Messern benutzt haben könnte? Es könnte also ein Jäger, ein Koch oder eine Küchenhilfe gewesen sein? Lächerlich!“
De Winter schaute ihn zum ersten Mal direkt an. Viktor hatte noch mehr zu sagen, über Pietät und Anstand, darüber, dass er sich wunderte, weshalb bei dieser Prozedur so viele Leute anwesend sein mussten. Aber all diese Worte blieben ihm im Hals stecken, denn der Ausländer starrte ihm in die Augen, als wolle er ihn bannen.
Viktor versuchte den Blick abzuwenden, doch es gelang ihm nicht.
„Sie wollen doch sicher auch, dass der Mörder gefasst und zur Rechenschaft gezogen wird“, stellte de Winter fest. „Ich kann nicht versprechen, dass die Erkenntnisse, die wir hier und heute gewinnen, uns bei der Suche nach dem, der das angerichtet hat, weiterbringen. Aber jeder Hinweis ist es wert, ernst genommen zu werden. Man kann nie wissen, ob er am Ende der entscheidende Faktor ist, der den Täter überführt.“ Der Ausländer wandte sich wieder von ihm ab und widmete sich seiner Arbeit.
Sekunden der Stille verstrichen, dann räusperte sich der Kriminalrat. „Sie als Angehöriger der Opfer haben natürlich ein Auskunftsrecht, was das weitere Vorgehen betrifft. Es hat vor wenigen Tagen in Jena einen Mord gegeben, der bisher nicht aufgeklärt werden konnte. Herr de Winter ist im Auftrag der Familie des Opfers auf der Suche nach dem Mörder. Er ist ein Spezialist in diesen Dingen. Nun versucht er herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Mord in Jena und diesem hier gibt. Und wir sind froh, einen so kundigen Mann an unserer Seite zu wissen, nachdem unser Kriminalgerichtsdiener vor vier Wochen verstarb, der mit seiner Erfahrung Ermittlungen dieser Art wie kein anderer übernehmen konnte. Herr de Winter kam also zur rechten Zeit.“
„Wie standen Sie zu den beiden Toten?“, fragte de Winter wie beiläufig und machte sich nicht einmal die Mühe, ihn dabei anzusehen.
„Gut. Natürlich gut.“
„Wie gut?“
„Wir haben uns gegenseitig … geachtet.“
„Sie sind sich also aus dem Weg gegangen.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fuhr Viktor auf.
„Sie wohnen auch in Weimar, Herr Börner?“, fragte de Winter weiter.
„Ich komme aus Jena.“
Nun drehte sich der Ausländer doch wieder zu Viktor um und bedachte ihn mit einem kurzen, nachdenklichen Blick. Dann fuhr er mit seiner Tätigkeit fort.
„Was? Was wollen Sie damit andeuten?“, fragte Viktor.
„Ich habe gar nichts angedeutet. Wie war das vor drei Tagen? Sie sind benachrichtigt worden und sofort nach Weimar geeilt?“
„Ja. Ich habe nun ein Mündel, wissen Sie?“
De Winter reagierte nicht, und auch die anderen sagten nichts.
„Also dann …“ Viktor wollte plötzlich weg. De Winters Anwesenheit bereitete ihm Unbehagen. „Einen schönen Tag noch, meine Herren.“ Damit verließ er das Leichenhaus. Er brauchte dringend frische Luft.
Albert und sein Vater kamen gerade vom Schloss des Großherzogs Carl August, gingen an der Hauptwache vorbei. Das Angebot, mit einer Droschke zum Hotel gebracht zu werden, hatte der Professor abgelehnt. Die Wege in Weimar waren kurz, und Albert war froh über ein bisschen Bewegung. Die höfische Steifheit im Schloss hatte ihm das Gefühl gegeben, in einem Käfig zu stecken. Allerdings musste er sich wie immer beeilen, um mit dem strammen Schritt seines Vaters mitzuhalten, obwohl zwischen ihnen ein Altersunterschied von über dreißig Jahren bestand.
„Wie ist deine Meinung vom Großherzog?“, fragte der alte Herr.
Albert brauchte nicht lange zu überlegen. Er hatte ihren Gastgeber bereits nach wenigen Minuten lieb gewonnen.
„Ich habe mich in seiner Gegenwart wohlgefühlt. Er hat sich um uns bemüht. Und deine Expertenmeinung war ihm wichtig.“
„Ja, er ist zugänglicher als dieser griesgrämige Geheimrat. Ich fürchte nur, so mancher wird ihm auf der Nase herumtanzen.“
„Schwarze Schafe gibt es überall. Die meisten Leute, die mit ihm zu tun haben, werden dankbar sein für sein offenes Wesen.“