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Lynette Parker, im Jahre 2010 im Rahmen einer illegalen Kryokonservierung lebend eingefroren, erwacht, nur durch einen Zufall, 800 Jahre später. Mit Hilfe von Dr. Piet Kleve und einigen anderen Personen, muss sie lernen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sich radikal verändert hat. Die Menschheit, durch eine Pandemie auf ein Drittel reduziert, vermischt sich mit Rassen anderer Planeten, aber unterliegt, durch einen implantierten Chip gesteuert, der totalen staatlichen Kontrolle. Eigenständiges Handeln und freies Denken sind strafbar. Lynette, deren Leben, aufgrund ihrer Andersartigkeit in Gefahr gerät, schließt sich einer Gruppe Widerstandskämpfer an. Während anfangs nur die Lockerung der Kontrollmaßnahmen, durch Human Control dirigiert, angestrebt wird, werden zunehmend makabre Gräueltaten aufgedeckt. Genmanipulierte Kreaturen, Rassenhandel und Mord stellen Lynette und ihre Begleiter vor große Herausforderungen. Wird Lynette gegen ihren brutalen Widersacher, Commander in Chief Monroe, Masterpräsident von Human Control, Eurocity, bestehen können, der wahnsinnige Pläne verfolgt und sich durch nichts aufhalten lässt?
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Seitenzahl: 613
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Widmung
„Jedes Buch ist ein Tor zu einer anderen Welt!"
Für meine Mama, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand und mir dann und wann einen Tritt verpasste, damit dieses Buch endlich seinen Weg nach draußen findet.
Tomato
Kapitel 1.0
Kapitel 2.0
Kapitel 3.0
Kapitel 4.0
Kapitel 5.0
Kapitel 6.0
Kapitel 7.0
Kapitel 8.0
Kapitel 9.0
Kapitel 10.0
Kapitel 11.0
Kapitel 12.0
Kapitel 13.0
Kapitel 14.0
Kapitel 15.0
Kapitel 16.0
Kapitel 17.0
Kapitel 18.0
Kapitel 19.0
Kapitel 20.0
Kapitel 21.0
Kapitel 22.0
Kapitel 23.0
Kapitel 24.0
Kapitel 25.0
Kapitel 26.0
Kapitel 27.0
Kapitel 28.0
Kapitel 29.0
Kapitel 30.0
Kapitel 31.0
Kapitel 32.0
Kapitel 33.0
Kapitel 34.0
Kapitel 35.0
Kapitel 36.0
Kapitel 37.0
Kapitel 38.0
Kapitel 39.0
Kapitel 40.0
Kapitel 41.0
Kapitel 42.0
Kapitel 43.0
Kapitel 44.0
Kapitel 45.0
Kapitel 46.0
Kapitel 47.0
Kapitel 48.0
Kapitel 49.0
Kapitel 50.0
Kapitel 51.0
Kapitel 52.0
Kapitel 53.0
Kapitel 54.0
Finnland
22. Dezember 2010
22.35 Uhr
Das Projekt war abgeschlossen.
Für ihn gab es nichts mehr zu tun. Nichts, was offiziell vorgesehen war. Nur verabschieden wollte er sich noch, jedenfalls redete er sich das ein. Er schwitzte ein bisschen. Nicht vor Angst, einfach nur so. Zigarettenpause hatte er gesagt. Im Institut wurde der erfolgreiche Abschluss des Projektes gefeiert und die letzten Handgriffe für die Flutung des Sees gecheckt. Eile war angesagt. Er trat in den kleinen Vorgarten. Die Nacht hatte sich etabliert, es war bitterkalt und sternenklar. Vielleicht hätte er sich Nebel gewünscht, eine etwas geheimnisvollere Atmosphäre, Heulen und Zähneklappern, na, ja. Der mit Mosaiken belegte Weg, der sich schlangenartig um Buschwerk und Bäume wand, führte ihn in Richtung der Böschung und endete dort am Rande des trockengelegten Bettes eines künstlichen Sees. Bis zur Treppe der gleiche Mosaik. Hatte das eigentlich eine Bedeutung gehabt? War es notwendig gewesen, so einen Weg aus Mosaiksteinen anzulegen, arbeitsintensiv und teuer, im Grunde genommen völlig überflüssig?
Er lief den Weg entlang, schlug fröstelnd die Arme um sich und starrte misstrauisch in die Dunkelheit. Nicht, dass bekannt war, dass er sich heute Abend entschlossen hatte hierher zu gehen, aber er gehörte zu den Kompetenten, den Befugten, wie man so schön sagte, und konnte es wagen. Er betrat die Treppe. Niemand hatte ihn beachtet. Niemand hatte ihn aufgehalten. Ausnahmslos alle Teilnehmer des Projektes, der innere Stab, die technischen Mitarbeiter, die wenigen Assistenten, saßen beisammen und bereiteten die Flutung vor.
Aus dem flachen Betriebsgebäude hatten ihn zufriedene und muntere Stimmen begleitet. Keiner hatte auf ihn geachtet.
Das Projekt war abgeschlossen.
Er durchquerte das trockene Becken und blieb vor dem letzten Zugang der Anlage stehen. Tief atmete er die kalte Nachtluft ein und durchlief dann, in der vorgeschriebenen Zeit, alle eingerichteten Durchgänge und Sicherheitsschleusen der geheimsten Forschungsanlage Finnlands. Im Schlaf hätte er sie passieren können. Blieb dann stehen und senkte den Blick. Eine Hitzewelle strömte durch seinen Körper, er strich sich übers Gesicht und die schweißfeuchten Hände an den Hosenbeinen seines Overalls ab. Bei den Frauen hieß es Menopause und bei ihm? Seine Lippen verkniffen ein leichtes Lächeln und rasch wischte er sich noch einmal über die Stirn. Das würde nicht lange gut gehen, dachte er und die nächste Welle erfasste ihn bereits.
„Identifizieren Sie sich."
Die Ansage war klar und eindeutig. Er wartete und schwitzte.
„Identifizieren Sie sich."
Gedanken sausten in tausendstel Sekunden durch sein Gehirn. War es richtig, was er vorhatte? War es richtig? Hatte er sich diesen Schritt genau überlegt?
Ja, ja! Er musste sich einloggen. Nach der dritten Aufforderung würde der Vorgang abgebrochen und er hätte die Sicherheit am Arsch. Nun hatte er keine Zeit mehr die Konsequenzen in irgendeiner Form zu überdenken und schnell trat er mit dem silbernen Augenwächter in Blickkontakt.
„Identifiziert."
Lautlos glitten die Edelstahltüren auf ihren Schienen beiseite und gaben die Sicht auf das Eislabor frei. Kein Licht blendete ihn.
Nur zarte Lichtquellen erhellten die gefliesten Wände, den gleichfalls gefliesten Boden und die silbernen Zylinder, aufragend in der Mitte des Raumes. Es gab keinen Tisch, keinen Stuhl und auch keine Arbeitsflächen mehr.
Das Projekt war abgeschlossen.
Er durchquerte den Raum und blieb vor den Zylindern stehen.
Drei. Drei Menschen, Männer, waren hier im Laufe der letzten Jahre erfolgreich eingefroren worden. Sie waren übriggeblieben, von unzähligen fehlgeschlagenen Versuchen. Nach jahrelangen Vorbereitungen, intensiven Forschungsarbeiten und Experimenten und nach vielen Niederlagen, waren sie nun das Ergebnis. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt hatte er hier lange Zeit, mit vielen Ärzten, mit Dr. Dr. sowieso und einigen Professoren, Chemikern und Physikern, verbracht. In Finnland, in einer ausgebauten geheimen Forschungsstätte, deren Zugang in weniger als einer Stunde geschlossen wurde, war es gelungen, die Kryokonservierung durchzuführen. Kryokonservierung, dass Einfrieren von Menschen über Jahrzehnte hinweg und das anschließende Auftauen und die Wiederbelebung. Ihnen, hier in Finnland, war es gelungen, ein spezielles Abkühlverfahren zu entwickeln, welches gefährliche Kristallbildung in den Zellen verhinderte. Die Zellen hatten keinen Schaden genommen. Was nun? Würde es nachkommenden Forschern gelingen, Mittel und Wege zu finden, die tiefgekühlten Leichen, er konnte sie nicht anders nennen, wieder zum Leben zu erwecken? Er wusste es nicht. Diesen Prozess würde er und alle anderen, am Projekt Beteiligten, nicht mehr erleben, denn erst in hundert Jahren würde sich der See, durch eine komplizierte Programmierung festgelegt, selbständig trockenlegen. Dann lag es am Stand der Entwicklung, ob zukünftige Generationen fähig waren, die Probanden wieder zu beleben.
Seine Gestalt spiegelte sich in den aufrechtstehenden Zylindern. Alltäglich, unauffällig, nichts Besonderes. Er drehte sich ein bisschen hin und her und blinzelte den Zylindern zu. Oft hatte er gedacht, in ihnen hätte ohne weiteres auch Milch oder Wein lagern können, kein Unterschied. Er gluckste leise vor sich hin.
„Aber verrückt bin ich nicht, oder?" Er trat näher.
Auf den Zylindern waren großspurig die Zahlen 1, 2, 3 angebracht und das entsprechende Datum der Einlagerung und zusätzlich noch der Schriftzug „Projekt."
Projekt
3
abgeschlossen
25. Oktober 2010
Er lächelte wieder und sah sich versonnen in der nun stillen Forschungsstätte um. Irgendwie ergriff ihn Ehrfurcht und Trauer. Es war vorbei.
Zu Beginn des Experimentes wurde die Aufbewahrung noch wie ein Sarg gestaltet, waagerecht, etwa wie eine Kammer, ein Bettkasten in alten Bauernhäusern oder so ähnlich und die Ummantelung war aus gewalztem Edelstahl und noch mit einem Sichtfenster aus Glas ausgerüstet worden. Doch davon wurde Abstand genommen. Es war kein Problem der Installation, sondern eher die seelische Verfassung der Beteiligten gewesen, die für die Neugestaltung in Zylinder verantwortlich war. Die Probanden konnten im Grunde keine empörten Blicke mehr werfen und ihre Außenwelt nicht mehr betrachten, aber man hatte den Eindruck. Die vereisten Menschen, er, Dr. Fensch, nannte sie „Unsere Eisheiligen", schienen hinter den Glaseinsätzen zu lauern und jeden Tag auf die Mitarbeiter zu warten. Forderten diese bleich und stumm heraus, trotz ihrer geschlossenen Augen. Besonders grässlich war es, wenn ein Versuch abgebrochen werden musste. Obgleich er noch immer schwitzte, fror ihn auch. Er wendete sich ab und flüsterte.
„Nun lasse ich mal unsere Eisheiligen links liegen."
Hinter den Zylindern befand sich ein, von einer Schiebetür verschlossener, Durchgang, den er jetzt öffnete. Ein gleichermaßen steriler Raum tat sich auf. Hier lagerten die „Frischhalteladegeräte", die Erhaltungselektronik, bescheiden durch Atomstrom gesichert. Wieder gluckste er leise, denn wirklich niemand konnte vorhersagen, wie lange die Versorgung durchhalten würde.
Armdicke Kabel, bis hin zu kleinsten Drähten liefen durch diesen Nebenraum und paarten sich, geführt durch etliche Rohre und Röhrchen, mit den Zylindern im Zentrum der Forschungsstätte. Hier lagerten auch die Schwefelsäurelösung und der flüssige Stickstoff. Hier waren die großen Stahlschränke stehen geblieben und in einem Zwischenraum, sicher hinter einer unauffälligen Tür verborgen, hatte er, unbemerkt von den anderen Mitarbeitern, die Dublette eines kleinen Sarkophags deponiert. Das Original war leer in den angrenzenden Verbrennungsraum gebracht worden, aber dieser Raum wurde nicht gerne erwähnt. Es war vielmehr so, dass er überhaupt nicht erwähnt wurde. Es sprach nicht gerade für das Institut, dass nicht jeder Versuch geglückt war und es hatte sich nicht nur um freiwillige Versuchsobjekte gehandelt, was allgemein sowieso nicht bekannt war und jetzt, nach vielen schlaflosen Nächten, sein Gewissen nicht mehr drückte.
Er wollte jetzt nicht daran denken, wie viele Menschen in der Verbrennung endeten. Sie hatten sich gerne selbst betrogen und diese Tatsache versucht zu verharmlosen und gekonnt zu vertuschen. Was ihn wirklich noch immer staunen ließ war, dass er und sein kleiner Schrein nicht entdeckt worden war. Diese Aktion hatte ihn um Jahre altern lassen, aber er hatte nicht widerstehen können und seinen trotzigen Kopf durchgesetzt. Für sich und für Lynette, seine unfreiwilligen Eisheilige.
Mit ihr hatten sie eine neue Versuchsreihe gestartet und, nach monatelangem Tüfteln, eine exzellente Einfrierung hingelegt. Das Wasser hatte kein Eis gebildet, sondern war vielmehr in einen glasartigen Zustand geraten. Der Proband, die einzige Frau, war perfekt gefrostet. Er hatte keine Schwierigkeiten gesehen weiter vorzugehen, aber für die anderen schien das Experiment fehlgeschlagen zu sein. Sie hatten Probleme aufgezeigt und Hindernisse gesehen, wo er Lösungen angeboten hatte. Er protestierte. Stand aber mit seiner Meinung allein da und musste sich geschlagen geben. Er konnte sich nicht geschlagen geben.
Seine Entscheidung, das Experiment abzuschließen, war schnell getroffen und effizient von ihm durchgeführt worden. Er hatte SIE sozusagen am Leben gehalten. Jetzt vergewisserte er sich, ob auch an ihrem Behälter, mit der Bezeichnung X-1 „Lynette" beschriftet, alle erhaltenden Verbindungen angeschlossen waren und verknüpfte die letzten Leitungen. Sie lag waagerecht in einem der letzten Behälter mit Glaseinsatz und er strich sanft mit der Hand über das Fenster über ihrem Gesicht. Er hatte sie so gern angesehen. Sie sah noch so lebendig aus.
„Liebes", flüsterte er, „Lynette, meine Schöne, was haben wir dir angetan?"
War es frevelhaft? War es frevelhaft, was er hier unternommen und im Alleingang ausgeführt hatte? Oft hatte er sich diese Frage gestellt, doch nun war es wohl müßig, sie noch beantworten zu wollen. Es gab nichts zurückzunehmen.
Das Tagebuch, mit den Eintragungen über Lynette Parker, legte er in ein Seitenfach der Kapsel, welches in dem metallenen Behälter eingelassen war. Die Daten zu den anderen Probanten waren auf dem zurzeit kleinsten Datenträger mit 511 Byte Speicher mit kompakten Auswerteeinheiten, Durchmesser nur 9 x 4,5 mm, gespeichert und in der Seitenleiste eines Zylinders eingeschweißt worden.
Er verließ das Labor und passierte die Sicherheitsschleusen und die Sicherheitsvorkehrungen in umgekehrter Reihenfolge. Dann schloss er die versenkbaren, wasserdichten Tore, rieb sich die frierenden Hände und lief in der klirrenden Kälte den Weg zurück, um den Kreis der Verantwortlichen zu erweitern, die um 0.00 Uhr Ortszeit den künstlichen See und damit das Eisprojekt fluteten.
Eurocity 2795
Im Oval seiner Bürolandschaft, Human Laboratorien, stand Professor Frank Morgenstern in Gedanken versunken und sah auf die leuchtenden Fliesen zu seinen Füßen. Er war von einem modularen Baukastensystem mit würfelförmigen Chrom-Stahl-Rahmen umgeben. Die klaren Linien und das zeitlose Design boten einzigartige Vielfalt und Flexibilität. Mit Hilfe der genial konzipierten Verbindungsknoten und den Chromrohren waren sowohl kleine funktionale Einzellösungen als auch großzügige und exklusive Büromöbel in diesem Raum realisiert worden. Morgenstern atmete tief und wohlig ein und kleine Schauer liefen durch seinen Körper. Die im Büro von ihm aktivierte Witterungsbedingung, frühlingshaft frisch – laues Lüftchen – angenehme Wärme – zarter Sonnenschein, hoben sein Wohlgefühl auf Standard plus unendlich. Seine Arbeitsspeicher waren archiviert und für die Bedürfnisse des neuen Tages vorbereitet. Jungfräuliches Vakuum im Oberstübchen und sein Emotionsarmband leuchtete in sanften Grüntönen. Tja, scheinbar alles im grünen Bereich. Er lächelte und trat an die Fensterfront aus Sicherheitsglas, die sich durch das gesamte Oval seines Büros zog, etwa einen Meter über den Bodenfliesen und einen Meter zum Oval der aus tausend Kristallsplittern bestehenden Deckenverkleidung. Egal aus welcher Richtung sein Blick schweifen wollte, er konnte über Eurocity hinweg in die Ferne schauen.
In der Fensterscheibe spiegelten sich sein Gesicht und die bis auf die Schultern fallenden weißen Haare. Sein Blick war scharf, intelligent und leuchtete dunkelblau aus eingesunkenen Augenhöhlen. Fünfundsechzig Jahre, und so schlecht siehst du noch nicht aus, alter Junge. Auch einer von den Gedanken, die er sich erlauben durfte.
Vergnügt lächelte er sich zu, als vom Schreibtisch, einem Edelstahlwürfel mit integrierten Monitorflächen in verschiedenen Farben, ein leises Summen ertönte.
Auf der blauen Einlass- und Checkspur zu seinem Büro stand Dr. Richardson. Wie es schien, ruhig und gelassen. Er hatte ihn bereits erwartet und verfolgte den Sicherheitscheck auf dem blauen Feld seines Schreibtisches. Der Chip war korrekt aktiviert. Richardson, im vorgeschriebenen Schutzanzug, sah starr geradeaus und trug, außer einigen Papieren, nichts bei sich. Ein elektronisches Protokollbuch, was zur Besorgnis Anlass gegeben hätte, konnte er nicht ausmachen. Die Prüfungssensoren öffneten den Zugang und der Doktor näherte sich dem Schreibtisch, blieb aber auf dem blauen Feld der Zugangsspur, genau nach Vorschrift, stehen.
Morgenstern griff zu seiner Lesebrille und blätterte beiläufig in einem elektronischen Tagebuch, was ein Sicherheitsroboter aufgefunden und ihm in der Frühe übergeben hatte. Dabei befestigte er gleichzeitig das metallene Emblem von HumanControl an der Tasche seiner Arbeitskleidung. Gern hätte er die Stirn gerunzelt, aber die Sensoren seines Armbandes signalisierten Besonnenheit. Dr. Richardson blieb auch weiter im Lichtfeld der Identifikation stehen, legte das schriftliche Protokoll der letzten Versuchsreihe auf den Schreibtisch und warf einen flüchtigen Blick auf das Tagebuch. Morgenstern, der keine Sympathien für Richardson entwickeln konnte, umging nach Möglichkeit jedes Zusammentreffen. Als er ihn nun ansah, verspürte er das starke Bedürfnis etwas Unfreundliches zu sagen, doch er riss sich zusammen, schaltete das Mikrofon des Tagebuches ein und legte es in ein Fach seines Schreibtisches. Er verschloss es unter Eingabe eines Passwortes auf der integrierten Datenleiste, strich leicht über die Tischoberfläche und aktivierte mit einem winzigen Fingerdruck die Videoüberwachung des Büros, die Kamera war auf Richardson ausgerichtet. Dann warf er einen Blick auf die erste Seite des Protokolls.
„Sie haben keine Kopien angefertigt, Richardson?", fragte er in gedämpftem Ton.
Richardson schüttelte den Kopf und kniff seine Augen zusammen, wobei auf seinem linken Augenlid ein winziger Kristall aufleuchtete.
Das glaube ich jetzt nicht, dachte Morgenstern. Richardson? Niemals! Er beherrschte sich und ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Der Kristall war ein Zeichen, welches nur einem sehr geringen Personenkreis zur Verfügung stand und dem Großteil der Bevölkerung war die Existent des Prismas sowieso unbekannt. Sein Besitz war Beweis dafür, dass man einer bestimmten Gruppe von Menschen angehörte. Er, Morgenstern, trug auch einen Kristall auf dem Augenlid, aber wer ihn zugewiesen bekam, deckte ihn normalerweise so ab, dass er nicht auffiel und trug ihn nicht wie einen Button am Revers. Richardson, dachte Morgenstern verblüfft. Hielt der ihn für blöd, oder hatte er sich geirrt? Richardsons Brille vermittelte möglicherweise einen falschen Eindruck. Er blickte Richardson durch die dicken Brillengläser intensiv an. Wieder schloss dieser flüchtig die Augen und der Kristall blitzte auf. Er hatte sich nicht geirrt. Dass muss ich erst verarbeiten und in aller Ruhe darüber nachdenken, aber nicht sofort, nicht jetzt. Lass dich von diesem Herrn nicht überraschen Frank und handle nicht voreilig, dachte Morgenstern und vertiefte sich nun in den Bericht, wobei seine Gedanken bei seiner Verwunderung verweilten, dass Richardson ein Verschwörer sein sollte. Instinkte, die ihn noch nicht verlassen hatten, rieten zu äußerster Vorsicht.
Schwarz auf weiß las er, dass auch der letzte Versuch, einen tief gefrorenen Menschen, nach fast achthundert Jahren wiederzubeleben, fehlgeschlagen war. Der Bericht enthielt Zahlenkolonnen und detaillierte Analysen. Die gesamte Vorgehensweise der Experten auf diesem Gebiet war detailliert festgehalten. Jedes technische know how war mit modernsten Hightech-Computersystemen ausgeschöpft und dokumentiert worden. Ergebnis: Eine Panne nach der anderen. Was war passiert? Konnte Richardson es etwa erklären? Wie euphorisch sie gewesen waren. Du meine Güte! Die erste Chance für Eurocity, Menschen, die jeder Bürger für tot hielt, wieder zu beleben.
Das Team hatte sich mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt. Woran hatte es gelegen? Technischer oder menschlicher Defekt, technisches oder menschliches Versagen? Hatten psychische oder physische Strapazen die Körper negativ beeinflusst? Ja, das war hier die Frage und er musste sich ihr stellen. Es hieß, dass es in Versuchslaboren der anderen Weltstaaten,
Asiancity
Africancity
Austriancity
Amerikancity
einigen Wissenschaftlern bereits gelungen sei, eingefrorene Körper wieder zum Leben zu erwecken. Verdammt! Jedenfalls wurde das behauptet. Unabhängige Zeugen hatte es nicht gegeben und Berichten von Forschungsergebnissen über die Wiederbelebung von Menschen konnte man glauben oder nicht.
Er, Morgenstern, hatte jedenfalls noch keine „Auferstehung" miterlebt. Im Übrigen hatten diese Toten sicher auch nicht Jahrhunderte lang im Eis gelegen. Er lies sein Armband kurz rot aufglühen und täuschte dann, mit äußerster Willensanstrengung, Gelassenheit und Ruhe vor, sodass die Farbe seines Armbandes in sanftes Grün überging. Was war zu tun?
Schon wieder schloss Richardson die Augen und obwohl er nicht das Gesicht verzog, bekam sein Armband einen roten Schimmer. Schau, schau, er will mich herausfordern. Er hat sich nicht im Griff, dachte der Professor aufmerksam. So ist das nun mal mein Junge. Keine Gemütsbewegung kann verheimlicht werden. Nichts bleibt bei uns unter der Haut. Ich weiß sehr wohl, lieber Doktor, auch wenn Sie noch so blinzeln, dass Sie meinen Platz besetzen wollen. Da war es wohl gar nicht so unüberlegt, die Minikamera, im angehefteten Firmenemblem der Brusttasche, zu aktivieren. Er grinste leicht und dachte: Dein Armband verrät dich, mein Lieber.
Das Armband der Emotionen gewährleistete HumanControl, dass die Bürger von Eurocity sowie in den anderen Weltstaaten auch, keine Emotionen voreinander verbergen konnten. Was verbirgst du, Richardson, was möchtest du und was musst du verbergen? Er selbst hatte in vielen Jahren durch härtestes Konzentrationstraining gelernt, jede Emotion, die nicht sichtbar werden sollte, zu beherrschen. Es war möglich. Er konnte, wenn er wollte seine Gemütsbewegungen an- und abstellen. Es war möglich, das Armband zu manipulieren. Ihm war gelungen, etwas Individualität zu bewahren und eigene Gedanken zu entwickeln. Allerdings tat er gut daran, besonders in seinem Arbeitsumfeld, niemanden daran teilhaben zu lassen. HumanControl hatte überall seine Spione im Einsatz, aber Richardson, na ja? Für wie einfältig hielt ihn dieser Mann. War er noch sicher? War die Organisation in Gefahr? Angestrengt dachte der Professor nach. Wie weit würde Richardson gehen. Wie lange würde er sich beherrschen können. Hatte er die Ausdauer zwanzig Minuten ohne Worte still zu verharren? Wenn ja, würde das zweierlei bedeuten. Zum einen wäre Richardson gesammelter und beharrlicher, als er, Morgenstern, je vermutet hätte und zum anderen würde das demonstrieren, dass Richardson mit allen Mitteln mehr über das Bündnis erfahren und ausspionieren wollte. Wie konnte er sich soweit vorwagen, wenn er nicht vermutete, oder sogar wusste, dass Morgenstern dazu gehörte? Und woher wusste Richardson von dem Kristall, gab es eine undichte Stelle? Er musste den zentralen Kern der Gemeinschaft sofort unterrichten und die Kristalle mussten entfernt werden. Auf welche perfide Art möchtest du dir meinen Platz erobern? Mit allen Mitteln? Das will ich doch mal feststellen, denn nicht umsonst hast du mich das Prisma sehen lassen. Ich gebe dir zwanzig Minuten. Keine Bewegung von dir und kein Laut – rien ne va plus. Er setzte sich bequem hin, blätterte, als interessiere es ihn, im Protokoll und dachte daran, wie das Projekt angefangen hatte.
Bei Ausgrabungen am äußeren Stadtrand von Eurocity waren vor etwa zwei Jahren Bauroboter auf merkwürdige Mosaiksteine gestoßen. Sobald die Fremdkörper im Erdreich auftauchten, gaben Sensoren Alarm und Archäologen von HumanControl wurden mit der Untersuchung und Bestimmung der Funde beauftragt. Die Archäologen waren in Kürze vor Ort und hatten die Ausgrabungsarbeiten übernommen und überwacht. Nach tagelanger Arbeit konnten die Mosaike als kleiner Weg ausgemacht werden, der aber plötzlich abbrach. Mitten aus dem Verlauf gerissen. Ende. Intensiv wurde im Umkreis von etlichen hundert Metern nach dem weiteren Verlauf des Weges gesucht, aber der Weg war zu Ende. Erst ein aus Asiancity angeforderter Experte fand im Erdreich eine merkwürdige Steinwanne von beachtlicher Größe, in die eine kleine Treppe führte und an dieser Treppe endete der Mosaikweg. Im Verlauf der weiteren Ausgrabungen stieß HumanControl auf schwere Stahltore, die tief im Erdreich verankert waren. Nun wurden Sicherheitsroboter angefordert und die Ausgrabungen weiträumig abgesperrt. Der Fund war die Sensation des Jahres 2794. In unterirdischen Stahlkammern wurden 3 Zylinder mit eingefrorenen Personen gefunden. Zur Überraschung sämtlicher Experten funktionierte die Energieversorgung auch noch nach fast achthundert Jahren.
Noch 10 Minuten.
Richardson stand still, bewegte sich nicht und sein Armband hatte sich in ein beruhigendes Blau eingependelt. Er sagte kein Wort. Nach zwanzig Minuten stand Morgenstern auf, warf das Protokoll auf den Schreibtisch und fixierte Richardson erneut intensiv und dachte verblüfft: Es ist also äußerste Vorsicht geboten. Der Mann scheint zu allem fähig zu sein. Mit einer leichten, kaum wahrnehmbaren, Handbewegung bedeutete er Richardson sich auf eine markierte Fliese zu stellen.
In diesen brillanten toten Winkel seiner Bürolandschaft, den auszukundschaften ihn viel Schweiß und nächtelange Überlegungen gekostet hatte. Er rückte das Emblem von HC zurecht, ließ unauffällig ein Mikrophon in die Brusttasche gleiten und gesellte sich zu Richardson.
Dann zog er einen Datenhandschuh über die linke Hand, griff vorsichtig in eine Tasche seines Overalls, um mit einer schnellen Handbewegung ein funkelndes Prisma in die Vertiefung des Handschuhs gleiten zu lassen. Behutsam berührte er einige empfindliche Sensoren und Sekunden später materialisierten sich virtuelle Abbilder von Richardson und Morgenstern. Beide waren simultan mit ganzem Körper am Schreibtisch des Büros präsent, ohne wirklich dort zu sein.
„Nun reden Sie schon", forderte Morgenstern seinen Besucher auf und
Richardson begann leise und schnell zu sprechen.
„Ich wollte erst mit Ihnen Rücksprache nehmen, Professor, denn ich bin der Ansicht, dass HC die Ergebnisse nicht unbedingt auf die Nase gebunden werden sollten."
Morgenstern unterbrach ihn mit einer Geste. „Erklären Sie mir nur, übersichtlich und verständlich, was Sie nicht ins Protokoll aufgenommen haben. Erläutern Sie detailliert, was nicht Gegenstand der Untersuchungen war."
Richardson sprach hastig weiter und schloss den Bericht mit der Bemerkung.
„Für mich ist entscheidend, dass wir keinen Erfolg verzeichnen konnten. Das Ziel ist nicht erreicht worden und ich nehme an, das Material", hier legte er eine strategische Pause ein, „ist inzwischen verloren. Wenn ich bedenke, was uns in diesem Jahrhundert für Technologien zur Seite und welche Möglichkeiten uns damit offenstehen, wird mir ganz anders, denn was können wir? Wir können nichts. Wieso ist es uns nicht gelungen, der Lösung eines Versuches auf die Spur zu kommen, den unsere Vorfahren vor achthundert Jahren durchgeführt haben?
Verdammt, Morgenstern, wir müssen einige Informationen unter der Decke halten. HC wird uns sonst die größten Schwierigkeiten machen, vom dämlichen Commander mal abgesehen."
Er ließ sich langatmig und bösartig über HC und Commander in Chief Monroe aus und lies Morgenstern dabei nicht aus den Augen.
Morgenstern fasste sich an die Stirn und rieb seine schmerzenden Schläfen. Frank, nur kein Gespräch aufzwingen lassen. Der Herr fordert dich heraus. Du meine Güte! Jetzt hätte er gern mit der Hand auf den Schreibtisch oder auf Richardson eingeschlagen, aber er tat es natürlich nicht. Das wäre ein überflüssiger Energieverbrauch gewesen, doch die Energie brauchte er zur Abschirmung seiner Gedanken. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte Richardson mit einem harten Blick. Er verunglimpft vor meinen Ohren den Commander, sehr interessant. Nicht schlecht, dass ich das Mikrofon eingeschaltet habe. Aber vielleicht war es nur Taktik und Monroe wusste davon? Er würde es herausbekommen und wie nebenbei sagte er.
„Ich wusste gar nicht, Richardson, dass sie eine so große Abneigung gegen den Commander haben. Es wäre Ihrer Gesundheit sicher sehr abträglich, wenn er davon wüsste."
Sein Misstrauen war nicht ausgeräumt, nein, es hatte sich verstärkt. Was war Richardson eigentlich für ein Mann? Soweit ihm bekannt, war er fünfundvierzig Jahre alt, nicht verheiratet und auch noch nicht in irgendeiner Weise aufgefallen. Seine Gestalt war schlaksig, die Haare dunkel und kurz geschnitten. Er wirkte unscheinbar, manchmal sogar irgendwie schlaff und verbarg seine Wieselaugen hinter dicken Brillengläsern. Richardson hob leicht die Schultern, räusperte sich und fuhr fort.
„Ich wüsste nur zu gerne, warum diese Menschen bei lebendigem Leib eingefroren wurden. War es illegal? Warum wurden keine detaillierten Angaben, Berichte oder Denkschriften über das Experiment gefunden? Haben die Roboter alles entdeckt und ausgehändigt? Hier stimmt doch was nicht.
Vielleicht weiß HC doch mehr, als wir glauben. Gab es keine DVDs, CDs oder Datenchips, die es seinerzeit doch gegeben haben soll? Wir hätten irgendwo anknüpfen können, wenn es was gegeben hätte. Es wurden doch einige Fragmente gefunden, aber eben nichts Vollständiges. Was haben sich unsere Vorfahren nur dabei gedacht?"
Morgenstern fasste an sein Emblem von HC und drehte gedankenverloren daran herum.
Er blickte an Richardson vorbei und überlegte, ob dieser auch seine Gedanken verbergen konnte, dann beugte er sich vor und antwortete.
„Es ist faszinierend, dass die Einrichtung Jahrhunderte funktionierte.
Ich meine, da gab es diese unterirdische Anlage mit diesen Gängen, Sicherheitsschleusen und Geräten, die über achthundert Jahre immer weiterliefen und deren Energiequelle nicht versiegte. Atomenergie. Richardson, wissen Sie was das bedeutet? Nirgendwo auf der Erde gibt es noch Atomenergie. Nur aufgrund des alten atomaren Zeichens waren die Wissenschaftler gewarnt und wussten, welche Kräfte hier am Werk sind."
„Wieso hat HumanControl mit seinen Sensoren diese Energiequelle nicht schon viel früher gefunden? Wie ist das möglich, bei dem Kontrollzwang von HumanControl?", warf Richardson ein.
Morgenstern spürte einen weiteren Stich in seinen Schläfen und runzelte innerlich die Stirn.
„Sie sagen es, Richardson. In der Tat, kommt es einem Mysterium gleich, dass diese Atomenergie nicht in den letzten Jahrhunderten lokalisiert wurde. Ich nehme aber an, die Erklärung ist ganz simpel. Die Existenz von Kernenergie war nicht mehr relevant und warum sollten dann in irgendeiner Richtung Messungen vorgenommen werden. HumanControl konnte es also nicht wissen."
HumanControl.
HumanControl kontrolliert und überwacht seit mehr als dreihundert Jahren den Staatenverbund. Egal, was zum Beispiel in der Euroregion, der Eurozone oder Eurocity sowie in jedem anderen Staat passierte, es wird von HumanControl in einem Zentralspeicher aufgezeichnet und unter die Lupe genommen. In den vergangenen zweihundert Jahren war HumanControl dazu übergegangen, der Bevölkerung Informationen vorzuenthalten und zwar in einem Ausmaß, das seinesgleichen suchte. Umfassende Bildung wurde nicht mehr angeboten. Der größte Teil der Bevölkerung erfuhr nur noch das, was er wissen sollte. Die systematische Verdummung der Gesamtbevölkerung wurde mit allen Mitteln vorangetrieben. Die Sinne der Menschen verkümmerten, da sie tagtäglich von den Medien mit trivialer Kost überspült und der Geist, wenn er denn noch vorhanden war, ausgewaschen wurde.
Technisches Know-how der Vorgeschichte wurde nur in kleinsten Kreisen weiterentwickelt. Erkenntnisse früherer Jahrhunderte gingen scheinbar spurlos verloren und fast unbemerkt wurde die Menschheit nach und nach in die totale Abhängigkeit der Staaten und unter die Herrschaft von HumanControl getrieben. Dessen letzter unwürdiger Höhepunkt in Eurocity erreicht war, als Commander in Chief Monroe die Geschäfte an der Spitze übernahm.
Nur wenigen Individuen gelang es, die Lethargie zu überwinden und durch mühsames Wiedererlernen zu einem kritisch reflektierten Denken zurückzugelangen. Im Verborgenen. Die Kennung dieser kleinen verschworenen Gemeinschaft, ein Prisma auf dem Augenlid, musste, dank Richardsons heutiger Vorstellung, abgehakt werden. Der Professor seufzte leise.
Seit Generationen hatte sich die Welt auf erschreckende Weise verändert. Wo und was waren vor Jahrhunderten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen?
Als junger Mann hatte Morgenstern in Büchern, die auf dem Index standen, über diese Dinge gelesen.
Er hatte Horaz entdeckt und war dessen Worten „Sapere aude!", wage es, deinen Verstand zu gebrauchen, gefolgt. Es hatte ihn aufgewühlt, dass schon vor dreitausend Jahren große Denker über Geist und Seele der Menschheit nachgedacht und geschrieben hatten.
So hatte er „gewagt" und gelernt, wieder selber zu denken und zu handeln, als sich damit zufrieden zu geben, Vorgesagtes wiederzukäuen. Wir haben uns unwiderruflich verwandelt, durchzuckte es Morgenstern. HumanControl, mit dem fragwürdigen Geschöpf an der Spitze der Eurozone, versuchte sich am gläsernen Menschen, versuchte alles zu wissen und keinen Bürger entkommen zu lassen. Wieder einmal die totale Weltherrschaft?
„Kommen Sie mit, Richardson." Abrupt drehte er sich um, machte eine Bewegung mit dem Cyberspacehandschuh und ging vor Richardson auf sein Labor zu. Der letzte Blick in sein Büro zeigte ihn am Schreibtisch sitzend. Richardson war verschwunden.
Morgenstern gab die Codierung zum Labor ein und öffnete die Sicherheitstür. Der Raum war mit glänzend weißen Fliesen ausgelegt – komplett. Keine Fenster. Die vorhandenen Test- und Messgeräte gehören zu den unübertroffenen Lösungen in punkto Qualität, Genauigkeit und technischer Perfektion am Markt. In Zweierreihen waren Systemtische mit höhenverstellbaren Cockpits installiert, dessen Ablageboards optimal neigbar und zusätzlich mit Abrutschkanten gesichert waren. Einfache Bedienbarkeit, verlässliche und gut ablesbare Anzeigeninstrumente sowie präzise Einstellmöglichkeiten suchten im Bereich der Laborausstattung seinesgleichen. Zu den am meisten eingesetzten Einbauinstrumenten in die Tischaufbauten und Cockpits, der Laborausstattung, zählten vor allem Netzmodule mit Not-Aus-Taster, Trenntransformatoren, Spannungsversorgungen, Digitalmultimeter und weitere elektronische Messgeräte.
Ein ausgereiftes Luftzirkulationssystem im Cockpit sorgte dafür, dass die Warmluft zuverlässig abtransportiert wurde und die eingebaute Laborausstattung keinen Schaden nehmen bzw. sich nicht überhitzen konnte.
Der Raum sollte und musste absolut steril gehalten werden und so passierten Morgenstern und Richardson die Desinfektionsschleuse ohne Murren. Im Labor blieb Morgenstern vor einer Arbeitsfläche stehen und starrte auf eine Reihe kleiner Fläschchen, die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt waren. Seine Gedanken schweiften ab und fassten die Sensation, auf eingefrorenen Menschen gestoßen zu sein, zusammen.
Fast achthundert Jahre hatte die Anlage unentdeckt und sicher versiegelt unter Eurocity gelegen Erst die Großumbauten am Tunnelsystem vom Stadtteil Brieson hatten die unterirdischen Labore zum Vorschein gebracht. Unter allgemeiner Verwunderung wurden die Stahlwände geöffnet und noch verwunderter war man, als der Blick auf die medizinischen Geräte fiel.
Die drei großen, immer noch glänzenden, Behälter hatten nebeneinandergestanden, als warteten sie nur darauf gefunden zu werden. Für Professor Morgenstern war die Archäologie der Neuzeit. Früher buddelte man nach Sarkophagen und heute grub man eben metallene Behälter aus. Auch Morgenstern hatte sich gefragt, wie die Anlage bis heute funktionieren konnte? Aber an Atomenergie hatte er nicht gedacht. Alte Schriften klärten ihn über die Geißel der Menschheit auf und über das Atomzeitalter fanden sich Berichte weltweiter Katastrophen, Gaus und Lecks in maroden Kernkraftanlagen. Verseuchte Landstriche, unbewohnbar bis in die Ewigkeit. Da gab es die Berichte über Tschernobyl und Fukushima und andere verheerende Reaktorkatastrophen. Doch in früheren Jahrhunderten gab es auch die Organisation Greenpeace und andere aktive Umweltverbände, die sich für den Strahlenschutz einsetzten und gegen die Kernenergie anschrieen. De facto war, dass wegen nicht zu realisierender Endlager für tausende Tonnen radioaktiven Atommüll, der Ausstieg aus der Kernenergie nicht aufzuhalten war. Und die Atombombe? Verdammt, was lag bloß alles im Dunkel der Jahrhunderte verborgen?
Sein frisch angeeignetes Wissen über Atomenergie machte ihm auch klar, dass wahrscheinlich keine andere Energiequelle hunderte von Jahren durchgehalten hätte. Dann hätte der Fund nur aus vergammelten Überresten bestanden. Nun, und jetzt würden sich die drei Testpersonen in vergammelte Überreste verwandeln. Mist!
Die aufgefundene Unterlage, ein privates Tagebuch, aus dem hervorging, dass unter der Leitung eines gewissen Dr. Fensch, nicht nur legale Tests an Menschen durchgeführt wurden, trug nicht dazu bei, die seinerzeit angewandte Kryokonservierung zu entschlüsseln. Hier hatte ein Beteiligter seine privaten Gedanken zum Projekt niedergeschrieben und die Lösung des Problems ihnen überlassen.
Und HumanControl hatte schließlich ihm, Professor Morgenstern, Leiter des HumanControl Genlabors und seinem Team, den Auftrag erteilt, die eingefrorenen Menschen ins Leben zurückzuholen. Als wäre er ein Gott, der nur mit den Fingern zu schnippen brauchte. Ein Frösteln durchlief ihn. Sicher, die Wissenschaft hatte sich in den letzten achthundert Jahren weiterentwickelt und verändert, aber dennoch kannte er seine Grenzen und an die stieß er gerade. Ein weiteres Räuspern des Doktors unterbrach Morgensterns Gedanken.
„Professor...", nervös verschränkte Richardson die Arme vor der Brust. „Was ich eigentlich noch sagen wollte. Wir haben immer noch die Kapsel X-1 - Lynette."
Morgenstern starrte Richardson argwöhnisch an
„Sie reden von der Kapsel, die laut dem Tagebuch eines gewissen Dr. Fensch nur zu Testzwecken angelegt wurde? Von der Kapsel, die eigentlich gar nicht vorhanden sein sollte?"
Und als Richardson nickte wandte sich Morgenstern knurrend einem Regal zu, in dem einige Gläser standen, die mit merkwürdigen blauen Inhalten gefüllt waren.
„Ich sag Ihnen jetzt mal was, Richardson. Uns wurden etliche Versuche gestattet, beträchtliche Geldbeträge und andere Mittel zur Verfügung gestellt und anhand hoch technischer Möglichkeiten die Chance gegeben, vereiste Menschen zum Leben zu erwecken. Physisch und auch genetisch betrachtet, waren diese Menschen in einem perfekten Zustand und dennoch haben sie nicht überlebt und konnten von uns nicht zu neuem Leben erweckt werden.
Stellen Sie sich das doch mal vor, Richardson, nach vielen hundert Jahren war die Kühlung noch in Takt, aber wir waren nicht in der Lage, vielleicht auch wegen der fehlenden Informationen, die Objekte ins Leben zurückzubringen."
Morgenstern ging im Labor auf und ab.
„Dank der maßlosen Neugier von HumanControl haben wir, trotz aller Fehlschläge, noch weitere Versuche genehmigt bekommen. Doch auch damit sind wir nicht weitergekommen und das Material, wenn ich es denn mal so nennen darf, wurde immer schlechter. Ich werde mich mit HumanControl nicht anlegen, nur um einen weiteren Fehlversuche zu präsentieren."
Er verschwieg, dass HumanControl gar nicht über diese ominöse Kapsel informiert worden war und bezweifelte, dass Richardson davon wusste.
„Und das Material ist, wie ich schon sagte, inzwischen mehr als schlecht und kaum noch zu verwenden. Für mich ist das Projekt abgeschlossen. Mein Abschlussbericht wird heute eingereicht und dann werden wir wohl diese Sache zu den Akten legen müssen."
Innerlich fühlte Morgenstern sich wie ein Schuft, denn er hatte vor, wie sein Kollege vor hunderten von Jahren, ohne Genehmigung und Wissen von HC, mit dem Inhalt der letzten Kapsel noch weiter zu experimentieren. Ob es ihm allerdings gelingen würde, dass Experiment zum Erfolg zu bringen, war mehr als fraglich. Trotzdem wollte er es versuchen. Er musste nur rechtzeitig die Kapsel mit Lynette in Sicherheit bringen. Aber, schon wieder meldeten sich die Versagensängste in seinem Schädel. Verflucht, er hatte versagt. Ja gut, nicht nur er, aber es fühlte sich so an.
„Was machen wir denn nun mit der Kapsel?"
Richardson verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte Morgenstern fragend an. Doch dieser hatte sich wieder vor einem Regal postiert, starrte auf verschiedene Geräte und wippte auf den Zehen. Dann sah er Richardson an.
„Das was Human Control immer macht, wenn etwas nicht mehr zu gebrauchen ist."
Er zögerte und blickte zu Boden
„Lassen Sie den Behälter ins Labor GEN3 bringen, dann kann er mit dem morgigen Transport in die Verwertungsanlage gebracht werden." Dr. Richardson drehte sich um und verlies das Labor. Morgenstern sah nicht das bösartige Lächeln, aber er spürte es.
Wütend hastete Richardson durch das Institut. Mir platzt gleich der Kragen, dachte er erbittert. Morgenstern hat nicht auf mein Prisma reagiert. Bei ihm habe ich keins gesehen und auch sonst nichts Auffälliges feststellen können, aber der Herr ist ein schlauer Fuchs. Wie komme ich nur dahinter, ob der Professor der Organisation angehört. Verdammt, ich weiß, dass es so ist. Aber Monroe will Beweise und er wird mich zur Schnecke machen und mich so zusammenstauchen, dass ich unter den Teppich passe, wenn ich nicht bald mit einer Sensation aufwarte und Morgenstern ans Messer liefere. Dann kann ich die Beförderung auch gleich abhaken. Ärgerlich stieß er die Tür zum Labor GEN3 auf. Er hatte veranlasst, den Behälter „Lynette" hier abzustellen und da der Abtransport der Kapsel für den kommenden Morgen vorgesehen war, waren die Verbindungen der Versorgung gekappt, die Kapsel von ihrer Energiequelle getrennt und somit die Tiefkühlkette unterbrochen worden.
Richardson schloss die Tür hinter sich, rieb sich die brennenden Augenlider und ging auf den Sarg zu. Das Prisma hatte er sofort entfernt, nachdem er das Labor des Professors verlassen hatte. Warum hatte Morgenstern nicht auf das Prisma reagiert. Vielleicht hatte der Blödmann es nicht gesehen, aber sicher konnte er nicht sein. Alter Schurke, über dich werde ich noch hinwegsteigen, dachte er aufgebracht. Er stellte sich vor die Kapsel und sah durch das Glasfenster in das Gesicht der Frau, die darunter lag. Nachdem er den Deckel gelöst und sorgfältig beiseitegeschoben hatte, näherte er sich vorsichtig dem gefrorenen Gesicht.
Mit den Fingerspitzen berührte er die eiskalte Haut und strich zart über die gefrorenen Lippen.
Merkwürdigerweise wehte ihn eine klare Frische an. Er lächelte und dachte an einen Wintermorgen. Die junge Frau wirkte als schliefe sie nur. Sie würde sicherlich jeden Moment die Augen öffnen, aber sie tat es nicht. Ihr rotes Haar leuchtete. Das kleine ovale Gesicht sah hübsch aus und auf ihrer Nase waren viele kleine Sommersprossen versammelt.
Während die anderen 3 Versuchspersonen groß und sehr sportlich gewirkt hatten, war diese hier klein und zierlich. Die am Projekt beteiligten Forscher waren einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei ihr um eine Art Vorversuch gehandelt haben musste. Für das eigentliche Projekt, Männlichkeit bevorzugt, hatten die Ahnen etwas anderes gewollt. Was würde Dr. Fensch heute sagen, wenn er wüsste, dass seine gelungenen Experimente achthundert Jahre überdauert hatten, um dann zum Scheitern verurteilt zu werden. Das in grauer Zukunft Versager am Werk waren und seine Arbeit zunichte machten.
Er schloss kurz die Augen. Dann schnippte er gegen das Namensschildchen auf dem X-1 Lynette stand und überließ die Kapsel ihrem Schicksal. Schade, dachte er und verließ das Labor ohne den Deckel zu schließen.
Die Nacht senkte sich über die Stadt. Obwohl von Nacht konnte an vielen, vielen Nächten im Jahr keine Rede sein. In Eurocity konnte Tag und Nacht immer Tag sein, wie HumanControl es wollte. Doch in dieser Nacht war es Nacht.
In Labor GEN3, welches kaum benutzt und nicht bewacht wurde, standen lediglich ein paar metallene Kisten und glänzende Rohre an den Wänden. In der Decke war ein großes Fenster eingelassen durch welches das Mondlicht fiel und die glänzende Oberfläche eines Gefäßes beleuchtete, das in der Mitte des Raumes stand. Niemand bemerkte, dass sich darin etwas rührte.
Ein leises Wimmern war zu hören.
Der Deckel war leicht verschoben und auf der Stellfläche des Behälters hatte sich eine Pfütze gebildet, ein wässriges Farbgemisch, von dem ein merkwürdig modriger Geruch ausging. Darin hockte eine nackte junge Frau und zitterte an allen Gliedern. Sie konnte die Augen nicht offenhalten. Das Atmen fiel ihr schwer und nur mit Mühe quetschte sie ein Minimum an Sauerstoff durch ihre Kehle. Ihre Lunge brannte wie Feuer und in ihrem Kopf dröhnte es laut und anhaltend, sodass es ihr unmöglich war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Mit eiskalten, feucht klammen Fingern versuchte sie seit geraumer Zeit, ihre Umgebung zu ertasten, doch sie fand keinen Halt an den rutschigen Wänden, die sie umgaben. Zerschlagen und verzweifelt ließ sie sich gegen den Deckel fallen, der unter dem Druck nachgab und unter lautem Klirren auf den Boden rutschte.
Mit einem gequälten Aufschrei stürzte die Frau heraus, prallte auf glatte Fliesen und versank in umhüllende Finsternis. Als sie wieder zu sich kam, zog sie weinend und winselnd die schmerzenden Beine an. Sie versuchte aufzustehen, kam auf die Knie und hielt sich am Rand eines seltsamen Behälters, der dicht neben ihr stand, fest. Gott, was war das nur für ein Geruch? Ihre Muskeln fühlten sich wie Pudding an und wollten ihr nicht gehorchen.
Sie fiel zurück in die eklige Lache auf dem Boden. Igitt, wie eklig, dachte sie und merkte, dass sich Gedanken in ihrem dröhnenden Kopf formten, obwohl durch ihren Geist tausend Luftperlen schwebten und schwerer Sand alle Glieder lähmte. Nur mit großer Anstrengung schaffte sie es sich wieder hinzuknien. Mühsam unterdrückte sie die aufsteigende Übelkeit. Was ist mir denn geschehen? Was mache ich hier? Sie würgte und es dauerte geraume Zeit, bis sie im diffusen Mondlicht ihre Umgebung wahrnahm. Sie konnte nicht wirklich greifen und begreifen. Und wenn sie versuchte etwas zu fixieren, verschwamm der Raum, verschwammen die Gegenstände des Raumes, vor ihren Augen. Hier war sie noch nie gewesen.
Ängstlich wurde ihr bewusst, dass sie nackt war und wie ein erschrecktes Tier hielt sie die Hände vor den Körper und versuchte etwas zu entdecken, womit sie sich bedecken konnte. Kein Kleidungsstück, keine Decke. Es gab einfach nichts, womit sie sich verhüllen konnte. Nun erst mal Ruhe bewahren. Kriechend schleppte sie sich auf eine geflieste Wand zu und lehnte sich erschöpft dagegen. Lynette, jetzt reiß dich zusammen, dachte sie. Lynette? Sie war Lynette? Ja, natürlich, sie war Lynette.
Wieder presste sie die Augen zu und versuchte die Stunden des Tages zu rekonstruieren. Nach dem letzten Seminar war sie mit ihrer Freundin noch auf einen Kaffee gegangen und dann, wie immer, durch den Park gelaufen, um zu ihrem Auto zu kommen. Es war dunkel, aber alle paar Meter stand eine Laterne und beleuchtete Wege, Sträucher und Sitzbänke.
Du meine Güte, sie ging doch jede Woche denselben Weg, aber heute musste ihr jemand aufgelauert haben. Mit den Fingerspitzen tastete sie nach ihrer Schulter, irgendetwas hatte sie gestochen, aber die Haut fühlte sich glatt und unbeschädigt an. Sie erinnerte sich an ein Knacken und an den Griff auf ihrer Schulter. Ja, und an einen stechenden Schmerz.
Doch bevor sie reagieren konnte, war es dunkel in ihr geworden. Sie griff sich wieder an die Schulter Wenn ihr bloß nicht so kalt wäre. Sie umschlang ihren Körper mit den Armen und versuchte ihre Gedanken zu sortieren.
Vielleicht hatte ein Triebtäter sie überfallen und sich ihrer dann entledigt, schoss es ihr durch den Kopf, denn sie fühlte sich vergewaltigt. Oh ja, sie fühlte sich am ganzen Körper vergewaltigt. Deshalb war sie auch so zerschlagen und durcheinander. Polizei, sie musste zur Polizei und Anzeige erstatten, vorausgesetzt sie kam auf die Füße. Sie tastete mit den Händen über ihren Körper und griff sich zwischen die Beine, sie war überall nass und feucht und roch überall scheußlich.
„Lynette", murmelte sie und strich sich über das Haar. Sie roch an der Hand und schüttelte sich, auch das Haar roch abscheulich und fühlte sich verfilzt an. Beruhige dich erst einmal, sammle deine Kräfte und dann sieh zu, wie du hier wegkommst.
Plötzlich ein Geräusch. Sie zuckte zusammen und versuchte ihrem rasselnden Atem Einhalt zu gebieten. Es ging nicht. Sie war froh, dass sie überhaupt etwas Luft bekam. Was, wenn der Täter zurückkam, um sie umzubringen? Panisch kroch sie hinter eine Kiste. Was für ein lächerlicher und vergeblicher Versuch, als ob sie sich verstecken konnte. Sie wusste ja nicht einmal wo sie war, wie sie hierhergekommen und wer dafür verantwortlich war. Und sich wehren, war wohl in ihrem Zustand auch nicht drin. Mit aufgerissenen Augen starrte sie im Raum umher. Erkannte nun, in dem schwachen Lichteinfall, die metallenen Kisten, die glänzenden Rohre an den Wänden und den merkwürdigen Behälter in der stinkenden Brühe. Und dann lag da noch ein Teil, was wie der Deckel zu dem Behälter aussah. Grässlich! Kein weiteres Geräusch, es blieb still. Ein Zittern durchlief sie. Es war still, still wie in einem Grab. Doppelt grässlich! Und ihr war so was von kalt. War irgendwo eine Tür? Vorsichtig wagte sich Lynette wieder vor. Sie zog sich an einer Kiste hoch und versuchte auf kraftlosen Beinen zu stehen. Mit ausgestreckten Armen schlurfte sie Schritt für Schritt weiter.
Mit jeder Bewegung, mit jedem Schritt schmerzten ihr Körper und ihre Füße. Die Beine waren taub. Nach einer gefühlten Ewigkeit ertasteten ihre Hände Ecke und Wand und wieder eine Ecke und eine Wand. Sie fiel auf die Knie, schleppte sich aber auf allen Vieren weiter in eine Richtung. Links oder rechts herum war ihr dabei nicht klar, aber endlich fasste sie in eine Vertiefung, die die eintönigen Fliesen unterbrach. Vielleicht war hier eine Tür. Ja, hier waren Kerben und Fugen. Mit ungeschickten Fingern suchte sie nach einem Griff oder Türknauf, aber da war nichts. Verdammte Scheiße. Wieder ergriff sie Panik und immer fieberhafter flogen ihre Finger über die glatten Oberflächen. Ah, sie atmete auf, als sie die kleine Ausbuchtung ertastete. Kaum hatten ihre Fingerspitzen die Vertiefung berührt, glitt eine Tür zur Seite.
Blitz, Schmerz, Blitz! Greller Lichtschein traf Lynette's empfindliche Augen, sodass sie sie zupressen musste. Schmerzen durchzuckten erneut ihren Schädel. Es roch nach Chemie, nach Desinfektion und nach etwas, dass Lynette sich nicht erklären konnte. Die Gerüche mischten sich mit ihrem widerlichen Eigengestank. Ihre Nase streikte. Sie blinzelte, um die geschundenen Augen an das grelle Licht zu gewöhnen. Nun tränten die Augen und sie konnte nur wie durch einen trüben Schleier ihre Umgebung erkennen. Sie zwinkerte nervös. Vor ihr lag ein langer Gang. Die Wände waren nackt und gefliest, bis auf einige Rillen und Fugen, die vielleicht Türen waren. An der Decke, über den vermeintlichen Türen, hingen kleine schwarze Kugeln, aus denen ständig rote Lichter blitzten.
Lynette tastete sich vorsichtig in den Gang und merkte, dass der Boden Wärme ausstrahlte. Eine Fußbodenheizung, was für eine angenehme Feststellung. Ah, wie wunderbar. Sie fiel hin, breitete die Arme aus und legte sich der Länge nach auf die warmen Bodenplatten.
Ihr war, als habe sie noch nie Wärme gespürt, als wäre nur Kälte ihr Leben gewesen. Sacht durchzog nun diese Wärme ihren Körper und sie stöhnte vor Befriedigung und Wohlbehagen.
Im Augenblick war es ihr so was von egal, ob sie jetzt überrascht würde, nackt wie sie war. Sie hob den Kopf und blickte zu den vermeintlichen Türen. Jede der Türen hatte eine andere Farbe und auf dem Boden waren in einigem Abstand goldfarbene Linien eingeprägt. Die Linien liefen von den Türen durch den Gang und von einer Tür zur nächsten und verschwanden dann um eine Ecke. Lynette versuchte aufzustehen, war aber nicht in der Lage dazu. Sie betrachtete aus ihrer liegenden Position die goldene Linie vor der Tür, durch die sie gekrochen war. Sie wollte sich bewegte, sich weiter vorrobben, doch ihr Körper war schwer wie Blei und ihr wurde schwarz vor Augen. Wellen von Übelkeit durchfluteten sie und die Schwärze vor ihren Augen verwandelte sich in ein flimmerndes Farbgewitter. Ihr Körper kribbelte, als liefen hundert Ameisen über sie hin, als steche man sie mit tausend Nadeln und sie dachte entsetzt: Oh, Gott, ich kann nicht mehr. Ich muss sterben. Nein, ich will sterben. Aber, eins muss ich noch schaffen, das muss ich noch schaffen! Mühsam streckte sie den rechten Arm aus. Ihre Finger kratzten über die Fliesen und mit den letzten Reserven ihres geschundenen Körpers berührte sie eine der goldenen Linien. Augenblicklich ertönte ein durchdringender Alarm.
Lynette, die eben noch sterben wollte, zuckte zusammen und sah wie Rillen und Fugen aufgerissen wurden. Aha, also Türen. Ein kleiner stämmiger Mann rannte den Gang entlang, starrte sie entgeistert und verblüfft an und blieb bewegungslos stehen. Lynette verkrampfte sich, zog die Knie an den Körper und rollte sich auf dem Boden zusammen. War das der Täter? Sie wollte nicht, dass dieser Mann sie anstarrte und sie fühlte wie Hitze in ihr Gesicht stieg. Der Mann erwachte aus seiner Erstarrung und neigte leicht den Kopf.
„Sicherheit, schnell, wir haben hier eine unbefugte Person", rief er. „Benachrichtigung sofort an Professor Morgenstern und die Leute von HumanControl. Und", er hielt kurz inne, „stellt auch das fürchterliche Heulen ab."
Lynette wollte sich die Ohren zuhalten, aber sie war nicht in der Lage ihre Arme zu bewegen. Es ging nicht mehr. Was war das nur für ein Alptraum, wo war sie nur hineingeraten? Der Mann ging vorsichtig auf Lynette zu, neigte sich herunter und sprach auf sie ein. Doch Lynette, immer noch in der Lärmwolke gefangen, war gar nicht in der Lage zu verstehen, was der Mann ihr sagen wollte.
„Hilfe, nein, lassen Sie mich in Ruhe", winselte sie.
Sie duckte sich weiter zusammen und versuchte in den dunklen Raum zurückzukriechen. Plötzlich dröhnende Stille - der betäubende Alarm war verstummt. Nun verstand sie auch, was der Fremde, in sanftem ruhigem Ton zu ihr sagte.
„Ich werde Ihnen nichts tun. Ich bin Paul."
Lynette blinzelte den Mann eingeschüchtert an. Er war vor der Raumtür stehen geblieben und sah weiterhin neugierig, überrascht und intensiv zu ihr herunter. Wieder neigte er den Kopf.
„Wir brauchen einen Helferwagen oder am besten einen M2 am Laborausgang 3."
„Kommt sofort", ertönte eine Frauenstimme aus dem Nichts.
Einige Augenblicke später kam lautlos ein blauer Stahlwürfel angefahren und blieb hinter dem Mann stehen.
Dafür sind also die Linien, dachte Lynette. Aber, wieso hatte ihre Berührung der Linie einen Alarm ausgelöst, wenn dieses Gefährt sich ohne ein Geräusch näherte? Was Lynette nicht wusste, im selben Moment, als sie die goldene Linie berührte, hatten die Kontrollsensoren sie als Fremdkörper erfasst und den Alarm ausgelöst und dieses Zusammentreffen vermittelte ihr nur den Eindruck von Ursache und Wirkung.
Mit einem leisen Klicken öffnete sich der Würfel und der Mann entnahm ihm eine Decke, die er Lynette über den Rücken legte. Der Stoff schien lebendig zu sein und schmiegte sich wie eine Haut um ihren Körper. Er war sehr weich und strömte beruhigende Wärme und Zuversicht aus. Sie wollte jetzt an nichts mehr denken, sich nicht bewegen müssen und nur diese Wärme spüren. Die Welt bestand für sie nur aus den warmen Fliesen und dieser flauschigen Decke. Der Mann murmelte etwas vor sich hin, dass sich wie „Was für ein Ding" anhörte.
Aber, es war ihr so was von egal. Sie wollte nicht gestört werden. Sie wollte schlafen und zu Hause in ihrem Bett aufwachen. Eine weitere Tür öffnete sich und man könnte sagen, Professor Morgenstern kam herbeigerannt. Seine weißen Haare wehten ihm hinterher und wirkten zerzaust, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden. Sein Gesicht war hochrot und ebenso sein Emotionsarmband. Keine Spur mehr von gelassener Konzentration. Auch er blieb wie angewurzelt stehen, griff sich an die Brust und begann zu keuchen.
„Du meine Güte", rief er. Seine Hände fuhren fahrig über seinen Kittel, an dem die Knöpfe offenstanden
„Ich bekomme einen Herzinfarkt. Das kann doch nicht wahr sein."
Vor Stunden schon hatte er vorgehabt, sich in GEN3 seinem heimlichen Experiment zu widmen. Doch er war kurzfristig zu einer Unterredung mit Commander in Chief Monroe und Richardson aufgefordert worden. An den Verlauf dieser Auseinandersetzung wollte er jetzt nicht denken. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Er beugte sich zu Lynette herunter und starrte auf die weiche Decke unter der sich ihre schmale Gestalt abzeichnete.
Vorsichtig zog er die Decke ein Stück zur Seite und betrachtete Lynettes Kopf und Rücken. Verwirrt dachte er. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich, nein, es ist phantastisch und wunderbar und er durfte es erleben. Zauber, Magie, Hexerei? Egal!
Behutsam, als könnten seine tastenden Hände etwas beschädigen, strich er der jungen Frau zu seinen Füßen über das Haar. Lynette hatte in ihrer warmen Umhüllung einige Kräfte gesammelt und schlug nach der Hand, die sie berührte. Was hatte sie dieser Mann anzufassen?
„Paul, ich brauche einen Transporter", rief der Mann über seine Schulter in den Gang. Dann kniete er sich neben Lynette auf die Fliesen, legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken und nahm eine demütige und beschwichtigende Haltung ein.
„Hören Sie", sagte er mit gedämpfter Stimme. „Ich bin Professor Morgenstern. Ihnen wird nichts passieren, Sie sind hier in Sicherheit. Wir wollen Ihnen helfen. Haben Sie Schmerzen?"
Lynette runzelte die Stirn. Habe ich Schmerzen? Der Typ fragte SIE, ob SIE Schmerzen habe? Ihr ganzer Körper war ein Schmerz. Sie nickte und flüsterte rau.
„Bin ich in einer Anstalt?"
Morgenstern, der sich im Moment auf das Wesentliche, also auf das Hier und Jetzt, konzentrieren musste, erlaubte sich ein leichtes Schmunzeln. Er war sehr überrascht, Ja, auch verunsichert, was hier geschehen war und wie es geschehen konnte. Doch diesem Wesen gegenüber durfte er sich keine Schwäche erlauben und sie schon gar nicht zeigen. Selbst in seinen Ohren klang es, als wolle er eine Verrückte davon überzeugen, wieder in ihre Zelle zurück zu kehren. Er würde sie wie seinesgleichen behandeln und später darüber nachdenken, wer sie war und woher sie gekommen war und wieso sie lebte. Lächelnd schüttelt er den Kopf.
„Nein, Sie sind in keiner Anstalt."
Lynettes Augen verdunkelten sich Ihre Zunge fühlte sich pelzig und geschwollen an und das Sprechen fiel ihr so schwer, dass sie kaum verständlich krächzte. „Aber was tue ich hier und warum habe ich nichts an?" Ihre Gedanken überschlugen sich.
Mittlerweile hatte sich eine Gruppe von Menschen um sie versammelt und sie wurde von allen Seiten angegafft. Fragen wurden laut geäußert. Wer ist das? Woher kommt dieses Wesen? Was ist geschehen? Eine Frau, mit streng zurückgekämmten Haaren löste sich aus der Gruppe und trat näher. Sie sah absolut perfekt aus, trug einen weißen Anzug und zog ein kleines rundes Gerät aus der Tasche. Damit ging sie auf Professor Morgenstern zu und fragte.
„Was ist geschehen, Professor? Kann ich behilflich sein?"
Mit knapper leiser Stimme teilte ihr Morgenstern mit, dass diese junge Person krank, sehr schwach sei und Hilfe benötige. Sofort bewegte die Frau sich auf Lynette zu, streckte ihre rechte Hand aus, in der eine kleine goldene Scheibe sichtbar wurde, und sagte.
„Analyse."
Morgenstern fuhr herum und zischte.
„Nicht jetzt, können Sie das bitte auf später verschieben, Dr. Stein? Wir möchten die Patientin erst nach N124 bringen lassen."
Die Frau trat zurück und Morgenstern deutete mit einer Handbewegung den umherstehenden Leuten an, Platz zu machen. Ein roter Würfel bahnte sich seinen Weg durch die Menge und blieb neben dem blauen Würfel stehen, er öffnete und entfaltete sich zu einer Transportliege.
„Piet, fassen Sie mit an", rief Morgenstern dem Mann zu, der dem roten Würfel gefolgt war. Dieser ließ sich nicht lange bitten und beugte sich gleich zu Lynette herunter.
„Junge Frau, ich werde Sie jetzt hochheben und auf die Trage legen. Ist das okay für Sie?"
Blaue Augen blickte Lynette an. Er wirkte nicht bedrohlich und Lynette nickte zaghaft. Der Mann, den man Piet gerufen hatte, legte den Stoff enger um Lynettes Körper, hob sie vorsichtig hoch und legte sie auf die Liege. Kaum hatte er sie abgelegt, zog sich eine Plane über der Trage hoch, so dass Lynette vor weiteren Blicken geschützt war.
„Trage aktiviert", ertönte eine elektronische Stimme. „Temperatur geregelt. Sauerstoffzugabe eingeleitet."
Lynette fürchtete sich, alles war so fremd und so eine Liege hatte sie auch noch nie gesehen. Wo war sie nur hingeraten, wo gab es solche Geräte? Was hatte man mit ihr vor? Sie befand sich doch in einer Anstalt, aber sie musste sich vorerst ergeben, denn sie war nicht in der Verfassung zu protestieren, wegzulaufen oder einen Streit anzufangen. Also blieb sie ruhig auf der Liege ausgestreckt und genoss die sie umhüllende Wärme und die geheimnisvollen Kräfte, welche der Decke entströmten und in sie eindrangen.
Morgenstern scheuchte die Gruppe Menschen auseinander und empfahl seinen Mitarbeitern, sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Unter enttäuschtem Gemurre löste sich die Gruppe auf und Morgenstern wischte sich den Schweiß von der Stirn
„Piet, Dr. Stein, kommen Sie mit."
Er klopfte gegen die Trage und rief. „Transport zu N124."
Zu seinem Leidwesen sah Morgenstern sich veranlasst, Dr. Stein und Dr. Kleve in kurzen Worten über die Existenz der jungen Frau zu unterrichten und dass dieses Lebewesen bitte wie ein rohes Ei behandelt werden sollte.
Die Trage setze sich in Bewegung und fuhr mit ihrer ungewöhnlichen Last zu ihrem Bestimmungsort. In einem runden Raum, der in sanftes grünes Licht getaucht war blieb die Liege stehen. Lynette hatte das Gefühl, sich in der Kuppel eines Domes zu befinden. Der Petersdom in Rom fiel ihr dazu ein. Was natürlich absurd war, da eine Kuppel ja ganz weit vom Boden entfern war und nur vom Boden aus bestaunt werden konnte. Wie konnte sie dann darinstehen?
Ihre Gedanken sprangen hin und her und sie hatte das schmerzliche Empfinden, sie wäre in tausend Teile zerbrochen.
Nichts fügte sich zusammen. Sie musste sich vorerst mit dieser Situation abfinden und sich in ihr Schicksal fügen. Plötzlich wurde die Schutzplane heruntergefahren und Lynette blickte in drei Gesichter. Professor Morgenstern lächelte freundlich.
„Lynette?", fragend zog er die Augenbrauen hoch. „Das ist doch Ihr Name, richtig?"
Lynette schluckte und bewegte bejahend den Kopf.
„Sie befinden sich bei HumanControl. Dies sind Dr. Anne Stein und Dr. Piet Kleve."
Er wandte sich der blonden Frau zu.
„Anne ist Ärztin und wird Sie untersuchen", dann nickte er dem Mann zu, der sie auf die Trage gelegt hatte. „Anschließend wird sich Piet um Sie kümmern. Er ist äh...", Morgenstern kratzte sich am Kinn, als suche er nach Worten. „Ich würde sagen ein Psychologe. Ja, so nannte man das wohl." Zufrieden mit sich hob er die Schultern. „Und ich bin Professor Morgenstern, der Leiter dieses Instituts."
Argwohn breitete sich in Lynette aus. Was sollte diese Komödie? Wozu brauchte sie einen Psychologen, wenn sie nicht in einer Anstalt war. Wieso überhaupt einen Arzt, zwei Ärzte. Na gut, ihre Konstitution schien zurzeit nicht die Beste. Ihre Augen brannten immer noch und in ihrem Innern rumorte es, als würden die Organe Trommel schlagen. Sie wollte Erklärungen und so versuchte sie sich aufzurichten und krächzte.
„Wo bin ich und was ist passiert? Wer hat mir das angetan? Ich will..."
Morgenstern unterbrach sie.
„Mädchen, Sie wollen erstmal gar nichts. Sie müssen sich erst einmal beruhigen. Ich möchte, dass Sie zuerst untersucht und stabilisiert werden und später wird Piet mit Ihnen über alles sprechen. Sie können meinen Leuten vertrauen. Niemand hier ist an Ihrer Lage schuld. Wir wollen Ihnen helfen, damit Sie schnell wieder auf die Beine kommen." Mit einem Nicken, in Richtung der Frau und einem gebellten „kommen Sie mit" in Piets Richtung, entfernte sich der Professor mit raschen Schritten.
Mit diesem energischen Verhalten brachte er zum Ausdruck, dass das Gespräch für ihn beendet war und er keinen Widerspruch duldete. Piet eilte dem Professor mit langen Schritten hinterher und rief.
„Warten Sie, Morgenstern, Frank, verdammt! Was geht hier vor. Was ist das für ein Mensch?"
Natürlich ahnte Lynette nicht, dass sowohl Morgenstern als auch Piet zu gerne geblieben wären um sie nicht aus den Augen zu lassen. Morgenstern hätte am liebsten sofort herausgefunden, wie und warum Lynettes Körper den Konservierungsprozess überstanden hatte. Aber zu seinem Leidwesen musste er zuerst den Leuten von HumanControl, sprich Commander in Chief Monroe, Rede und Antwort stehen. Den Commander nicht sofort zu unterrichten, wäre dumm und es nicht zu tun, hätte weitreichende, lebensbedrohliche Konsequenzen für ihn. Die zu erwartenden Schwierigkeiten wollte er sich lieber nicht ausmalen. Schon jetzt hatte er Bauchschmerzen und Piet würde er gerne zur Unterstützung mitnehmen. Er seufzte laut, aber leider ging das nicht. Er musste allein in die Höhle des Löwen. Aber vor allen Dingen musste Lynette erst mal körperlich versorgt werden und so überließ er sie schweren Herzens Dr. Stein, damit sie den ersten Ergebnisbericht schreiben konnte.
Natürlich war das plötzliche Aufwachen des Probanten X-1 nicht unentdeckt geblieben. Die Sensoren hatten Lynette erfasst und HumanControl war somit automatisch von ihrer Präsenz informiert worden. Per Chipbefehl war Morgenstern bereits mehrfach gerufen worden, um sich in der Zentrale einzufinden und Erklärungen abzugeben. Er musste sich jetzt beeilen, denn Monroe wartete nicht gerne.
„Piet, ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären. Vielleicht später, falls ich hier noch mal auftauche. Nur so viel, diese junge Frau ist über achthundert Jahre alt und gerade wieder zum Leben erwacht. Kümmern Sie sich um sie, wenn Anne sie stabilisiert hat, aber bitte, nicht verängstigen."
Morgenstern hastete weiter und überlegte fieberhaft, wie er Commander in Chief Monroe die Existenz der fremden Frau erklären sollte und warum er es erst jetzt tat. Piet starrte ihm mit offenem Mund hinterher.
Nachdem Morgenstern und Piet den Raum verlassen hatten, beugte sich die blonde Frau über Lynette.
„Hallo, meine Liebe, ich werde mir jetzt Ihre Vitalfunktionen anschauen. Anschließend mache ich einige Tests mit Ihnen."
Sie fasste in eine Tasche ihres weißen Anzuges, den hier jeder zu tragen schien, und zog die goldene Scheibe heraus, die Lynette bereits auf dem Gang gesehen hatte. Munter redete die Ärztin weiter. „Sie sehen ein bisschen merkwürdig ...", sie biss sich auf die Zunge und verstummte. Dann hob sie die Scheibe, hielt sie auf Lynette gerichtet und sagte. „Analyse."
Die Scheibe brummte und blitzte kurz auf. Lynette wagte kaum zu atmen. Dr. Stein lächelte zufrieden.
„Na also, Sie sind von robuster Natur."
Sie klappte einen kleinen Metallkasten auf, in dem sich medizinische Gerätschaften befanden und entnahm dem Kasten ein kleines Stäbchen, dass sie Lynette kurz auf die Haut ihres Armes drückte. Lynette verspürte ein kurzes Pieken, dann war es auch schon vorbei.
„Was, was ist das, was haben Sie gemacht?"
„Oh, ich habe Ihnen nur Blut abgenommen."
Dr. Stein steckte den Stab in einen Behälter und drückte einen Knopf „In wenigen Sekunden wissen wir, ob alles so ist, wie es sein soll."
Sie lächelte und tastete vorsichtig Lynettes Bauch ab, die sogleich wieder ein unangenehmes Ziehen in ihren Eingeweiden spürte. Ihr Magen knurrte und in ihrem Darm blubberte es.
Dr. Stein half Lynette sich aufzurichten. „Ich gebe Ihnen jetzt ein Mittel, dass Ihre Muskulatur unterstützt und aufbaut, damit Sie sich rascher erholen. Sie sind ein wenig eingerostet."
Lynette schüttelte den Kopf.