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Nach »Das Floß der Medusa« und »Die Eroberung Amerikas« erzählt Franzobel in »Hundert Wörter für Schnee« die abenteuerliche Geschichte der Eroberung des Nordpols.
Im Herbst 1897 bringt der US-amerikanische Entdecker und Abenteurer Robert Peary sechs Inughuit, so der Name der im Norden Grönlands lebenden Menschen, auf einem Dampfschiff nach New York. Untersucht sollen sie werden, vor allem aber ausgestellt und hergezeigt. Vier von ihnen sterben schnell an Tuberkulose, einer wird zurückgebracht – der neunjährige Minik aber bleibt. Seine Geschichte – Taufe, Schule, betrügerischer Pflegevater, Flucht – sorgt für Schlagzeilen. In Franzobels Roman wird Minik nicht nur zum Spielball zwischen der zivilisierten amerikanischen Kultur und der angeblich primitiven eines Naturvolkes. Sein Schicksal ist ein Heldenlied auf den Überlebenskampf eines beinahe ausgestorbenen Volkes, das bewiesen hat, wie der Mensch selbst in der unwirtlichsten Gegend überleben kann.
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Seitenzahl: 679
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Im Herbst 1897 bringt der US-amerikanische Entdecker und Abenteurer Robert Peary sechs Inughuit, so der Name der im Norden Grönlands lebenden Menschen, auf einem Dampfschiff nach New York. Untersucht sollen sie werden, vor allem aber ausgestellt und hergezeigt. Vier von ihnen sterben schnell an Tuberkulose, einer wird zurückgebracht — der neunjährige Minik aber bleibt. Seine Geschichte — Taufe, Schule, betrügerischer Pflegevater, Flucht — sorgt für Schlagzeilen. In Franzobels Roman wird Minik nicht nur zum Spielball zwischen der zivilisierten amerikanischen Kultur und der angeblich primitiven eines Naturvolkes. Sein Schicksal ist ein Heldenlied auf den Überlebenskampf eines beinahe ausgestorbenen Volkes, das bewiesen hat, wie der Mensch selbst in der unwirtlichsten Gegend überleben kann.
Franzobel
Hundert Wörter für Schnee
Roman
Paul Zsolnay Verlag
für Ramona
Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und dabei doch Schaden an der Seele nimmt?
Matthäusevangelium 16,26
Ein Mensch entschuldigt sich, wenn er jemandem auf die Füße tritt. Manche aber schauen nur und sagen Oha. So einer war Robert Edwin Peary, der einem ganzen Volk auf die Füße gestiegen ist.
Der Arktisforscher, Dieb und Auf-die-Füße-Treter saß trübsinnig im Kaminzimmer seiner Villa, stierte in brennende Buchenscheiter, spürte ein Kribbeln in den nicht mehr vorhandenen Zehen und drei Wörter im Kopf — Betrüger, Lügner, Versager. Da stürzte ein Mann zur Tür herein, ballte die Faust und brüllte: »Wir haben ihn!«
Robert Peary sah zu dem Eindringling, dann zu Josephine. Seine Frau verstand, dass das Folgende nicht für sie bestimmt war. Der hat zu viel Gesicht und zu wenig Kopf, dachte sie über den Störenfried, außerdem ist er auffällig gekleidet. Sie erhob sich und schritt mitsamt Stricknadeln und Wollknäueln aus dem Zimmer.
— Was haben wir? Peary stocherte mit einem Schürhaken im Feuer.
— Etwas, das ihm den Boden wegzieht. Herbert Bridgman, der Sekretär des Arctic-Clubs, war so überschwänglich, dass ihm Pearys Nachdenklichkeit gar nicht auffiel.
— Cook ist erledigt!
Peary zwirbelte an seinem Bart, ließ sich in einen Fauteuil fallen, zog sich die Stricksocken von den Füßen und griff nach seinen Zehen. Aber da waren nur Stummeln mit groben, unförmigen Nähten.
— Cook ist tot! Bridgman ballte die Faust. Erledigt!
Am 2. September 1909 war eine Eilmeldung über die Presseagenturen gegangen: Doktor Frederick Cook hat den Nordpol entdeckt! Wenig später behauptete Robert Peary, den nördlichsten Punkt der Welt erreicht zu haben.
Cook erhielt Glückwünsche vom Präsidenten und von Buffalo Bill. Kinder fragten ihn, ob ihm der Weihnachtsmann begegnet sei, und in Dänemark erhielt er ein Ehrendoktorat. Barkeeper schufen einen Cook-Cocktail, Modisten entwarfen Cook-Hüte und ein Konditor den Cook-Nordpol-Windbeutel. Doktor Frederick Cook war ein Held.
Und Peary? Jener Robert Peary, der zwanzig Jahre lang alles unternommen hatte, um den Nordpol zu bezwingen? Der hagere, schnauzbärtige Mann riskierte alles für sein Ziel. Um den Triumph betrogen zu werden, war inakzeptabel. Niemals! Dieser fette, kleine, schwammgesichtige, großnasige Hurensohn hat mir den Stinkefinger gezeigt, mir den Fehdehandschuh hingeworfen.
Peary verkündete, Cook sei ein Lump, ein Lügner, und ihm, Robert Edwin Peary, stünde der ganze Ruhm der Poleroberung zu. Seine Anhänger glaubten ihm, und abgesehen von seiner Frau bemerkte niemand das Zweifeln in seiner Stimme.
Und nun hatte Bridgman, er trug eine rot-weiß karierte Jacke, weiße Reiterhosen und kniehohe Stiefel, etwas gefunden, das der Sache eine Wendung gab. Den Sekretär irritierten die Füße des Entdeckers. Die kreuzförmig gezogenen Narben waren kein schöner Anblick. Angeekelt und fasziniert zugleich starrte er zu den fleischigen Knöpfen, die an einen Drachenrücken erinnerten.
— Zigarre? Bridgman hatte ein kleines Kistchen hervorgezaubert und hielt es so nahe vor Pearys Gesicht, dass dieser nur braune Streifen sah.
Der Polarforscher hob abwehrend die Hände und lauschte den Ausführungen des nun paffenden Sekretärs. Pearys Glut, die ihn einst in den Norden getrieben hatte, war erkaltet. Voller Enthusiasmus war er vor bald 25 Jahren losgezogen, um den Pol zu erobern. Er hatte seine Reisephobie überwunden, unmenschliche Strapazen ertragen, sieben Zehen eingebüßt, zwei Bälger mit einer Einheimischen — Kinder der Freude wurden sie genannt — gezeugt, nun war er ausgebrannt, litt an Blutarmut. Und alles wegen des verdammten Pols. War er tatsächlich dort gewesen? Oder hatte er neun Tage zu früh umgedreht? Seine grönländische Geliebte ging ihm durch den Kopf, sein farbiger Begleiter, der seit der Rückkehr nichts mehr von sich hören ließ. Beinahe ein Vierteljahrhundert war Matthew Henson … voll der Blitz … in Pearys Dienst gestanden, und nun tauchte er ab? Die Leute vom Arctic-Club flirrten durch Pearys Kopf, die Journalisten, der Präsident höchstselbst — sie alle waren noch im Besitz all ihrer Zehen. An einen dachte er aber ganz bestimmt nicht — an einen, der wie eine Zimtstange in der Zigarrenkiste war — Minik. Und auch nicht an das Volk, dem er auf die Füße gestiegen war. Oha.
Bridgman fiel ein Aschewürmchen zu Boden. Als er sich bückte, um es wegzupusten, sah er eine alte Zeitung, bei der jemand einzelne Buchstaben eingekringelt hatte. Bevor er entziffern konnte, welches Wort sie ergaben, wurde er von einem markerschütternden Schrei erschreckt. Ein Schrei war das, der in alle Poren drang, sich durch Gehörgänge schraubte, Trommelfelle durchbohrte, Synapsen in die Weichteile trat, ins Hirn stach wie ein eiskaltes Getränk, ein Schrei, der purer Wille war, Pearys rötliche Barthaare zum Erzittern brachte, in seinen nicht mehr vorhandenen Zehen pochte, Bridgmans Zigarre aufflammen ließ, ein Schrei, der, wie man sagte, einen bis ins Knochenmark erschütterte.
— Eeeeeeiiiiiiiihhhhh! Der Schrei kam aus einem Nebenraum und klang nach Josephine.
Bevor wir diesem Aufschrei nachgehen, springen wir zwei Jahrzehnte zurück, in das Tauwetter Nordgrönlands. Schon lange hatte man hier nicht mehr das Glück gehabt, dass ein Walfänger an der Küste zerschellt oder auf Grund gelaufen war, es angespülte Kisten, Fässer und andere Kostbarkeiten gab. Immer seltener wagten sich Fangschiffe so hoch in den Norden. Versuche, die Nordwestpassage zu finden, gab es kaum mehr, weshalb die Inughuit — Menschen, wie sich die Einheimischen hier nannten — keinen Kontakt zur Zivilisation hatten und dem auftauchenden Punkt am Horizont gespannt entgegenblickten. Es ist das Dampfschiff Kite, wir schreiben Juli 1891, und an Bord sind Peary und Cook.
Die Geschichte könnte auch Der Koch, der Eskimo, Peary und seine Frau heißen — wie ein Film von Peter Greenaway. Sie spielt in Nordgrönland.
Was kommt heraus, wenn sich Holz mit einem Ei paart? Ohrenschmalz! Bei Miniks Geburt vor drei Jahren wären Astrologen ob der Sternenkonstellation in Ekstase geraten. Ein Komet schoss über das Firmament, aber die Weisen aus dem Morgenland hatten nicht hergefunden. Hirten gab es keine, Ochs und Esel waren hier nicht überlebensfähig. Da der Säugling mit offenen Händchen zur Welt kam, während andere Neugeborene die Fingerchen zu Fäusten ballten, um ihr Schicksal festzuhalten, stand fest, zumindest für einige: Dieses Kind war außergewöhnlich.
Minik! Beim nördlichsten Volk der Welt wurden einem schreienden Säugling so lange Namen aufgezählt, bis er sich beruhigte — der Name, bei dem dies geschah, war dann der seine. Für die Inughuit war alles Leben ewig. Sie glaubten, während einer Schwangerschaft hielt der Name eines Toten Einzug.
Die Mutter, Manik, was Ei heißt, hatte dutzende Namen heruntergebetet. Minik zählte nicht dazu. Andere gefielen ihr besser: Eqopaluk, Avatanguaq, Qintak … Namen, die Schaum auf kochender Suppe bedeuteten, großer Verdreher oder Knochenmark. Minik wollte nicht über ihre Lippen. Weil das Nieselregen heißt, sämiger Fischtran, Ohrenschmalz? Nein, aber der einzige Minik, den Manik kannte, war ein Gauner und Kannibale. Eqopaluk, Avatanguaq, Qintak … Als ihr nichts mehr einfiel und der Schreihals zu ersticken drohte, rutschte es heraus — Minik. Hastig sprach sie es aus. Das Kind verstummte. Minik — Dichtungsöl, Nieselregen, Ohrenschmalz, Gauner, Kannibale. Dem Vater — sein Name Qissuk bedeutet Holz — gefror das Lächeln, und im Gesicht der Mutter spiegelte sich Entsetzen. Minik. Ein Moment des Grauens überkam Vater Holz und Mutter Ei — Ohrenschmalz!
— Bestimmt ist ein böser Geist in deinen Bauch gekrochen? Qissuk brüllte. Hast du junge Seehunde gegessen? Die Namensseele eines bösen Menschen ist in meinen Sohn geschlüpft. Er hatte Lust, seine Frau zu verprügeln oder den Knaben auf der Stelle zu erwürgen, aber Qissuk beherrschte sich, ging hinaus und erschlug einen Hund; und da es ihm daraufhin kaum besser ging, gleich noch einen zweiten.
Manik dockte den nun Minik heißenden Säugling an ihre Brust und leckte ihm Milchreste vom Gesicht.
Ein halbes Jahr später fiel etwas an dem Jungen auf — die Augen! Miniks dunkelbraune, fast schwarze Iris war in einen hellblauen Kreis gefasst, in strahlendes Eisbergblau. So etwas hatte man noch nie gesehen.
Jetzt war er drei Jahre alt, stand mit seinen Eltern am Ufer und blickte zu dem Schiff, das langsam näher kam.
Peary war fünf Jahre zuvor — New York erhielt gerade seine Freiheitsstatue, und der Apotheker John Pemberton brachte ein Hirntonikum gegen Menstruationsschmerzen namens Coca-Cola auf den Markt — schon einmal hier gewesen, und als er jetzt, Juli 1891, wieder aufkreuzte, erkannten die Grönländer ihn bereits von fern, wie er da am Bug der Kite stand.
Die Kite hatte einen weiten Weg zurückgelegt: Von Amerika aus, um Neufundland herum, hatte sie sich durch Meerengen gequetscht, die Inseln des Eismeeres passiert, war durch schier endlose Nebelsuppen geschippert, hatte Gebiete voll breiiger Eisschollen durchquert, Untiefen umschifft und schweren Stürmen standgehalten. Nun folgte sie den Kajaks der Eingeborenen und legte an. Das Schiffshorn tutete, und eine schwere Ankerkette ließ den Festmacher, wie die Inughuit den Anker nannten, ins Wasser. Man fierte eine Schaluppe, warf die Strickleiter hinab und ruderte zwei Menschen an die Küste. Aber wie erstaunt waren die Grönländer, dass nicht Peary, sondern eine großgewachsene Person ihr Land betrat. Sie trug ein bodenlanges, moosgrünes Kleid, einen ausladenden, mit bunten Bändern umwickelten Hut und hohe, geschnürte Stiefel, mit denen sie wie auf rohen Eiern ging. Die Gestalt hielt einen aufgespannten Schirm und sah mit der geschnürten Taille aus wie ein aufrecht laufendes Stück Robbendarm. Ihr Gang signalisierte, ich weiß, ich bin zu groß. Die eingezogenen Schultern verrieten, dass sie sich in diesem Körper nicht recht wohl fühlte.
Das war Josephine Cecilia Peary, die erste weiße Frau in der arktischen Tiefkühltruhe. Keine Schönheit, aber eine imposante Erscheinung, die durch hohe Wangenknochen, eine helle Haut und dunkle Augen Kontur gewann.
— Ich weiß nicht, ob ich das befürworten kann, hatte der Kapitän ihren Wunsch kommentiert, als Erste an Land zu gehen.
— Kapitän, kennen Sie das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren? Josephine blickte ihn streng an, und der Schiffsführer ließ sie die Leiter hinabsteigen. Jetzt stand sie an Land, trat gegen einen porösen Schädelknochen … bestimmt von einer Robbe … hob ihn auf und flötete:
— Was ist mit dir? Die trockene Luft kratzte in ihrer Kehle, sie atmete durch ihre kühn gezogene Nase und roch nur … Kälte. Hibbelchen, wie Peary sie nannte, schüttelte den Kopf. Diese Küste bot einen öden, ungastlichen Anblick. Für eine Lady, die es gewohnt war, sich ihre Zeit vor Schaufenstern, in Modehäusern oder beim Friseur zu vertreiben, gab es hier wenig Attraktives. Weder Souvenirläden noch Grünanlagen oder Restaurants, nicht einmal Cafés. Nur steiniges Ufer, das in eine kahle, windgepflügte Geröllwiese überging und in einer Schneelandschaft endete. Keine Bäume, nicht einmal Büsche!
Nordwestgrönland? Welch eine gottverlassene Gegend. Dass es frostig werden würde, war Josephine klar, aber von der Kälte zu wissen, bedeutet etwas anderes, als sie zu spüren. Blau schimmerten die Gletscher zwischen den rötlichen Felswänden und dem glitzernden Wasser. Keine Zivilisation, nur verschlissene Zelte, halbvermoderte Schlitten und Gerüste mit aufgespannten Fellen. Und trocknende Socken? Nein, diese schwarzen Fetzen waren — Josephine konnte es nicht fassen — Fleisch. Angewidert schüttelte sie den Kopf.
War es ein Fehler mitzukommen? Peary hatte versucht, ihr die Reise auszureden, sie aber hatte gebettelt, ihn begleiten zu dürfen.
— Das ist ein Ort, wo die schlimmsten Laster florieren, wo Kälte, Dunkelheit und Siechtum alle dahinraffen, hatte er versucht, sie umzustimmen. Ein Ort, an dem Wilde leben, die rohes Fleisch essen.
Der Name Grönland, Grünland, den Erik der Rote diesem Eiland umgebunden hatte, um Siedler anzulocken, war ein Etikettenschwindel, die Lüge eines mittelalterlichen Touristikers. Grün war hier allenfalls die Hinterseite der Ohren jener, die dumm genug gewesen waren, sich herlocken zu lassen. Was hatte sie hier zu suchen? Josephine Peary war durch und durch eine Dame des 19. Jahrhunderts — moralisch, steif, frömmelnd. Es war da aber noch etwas, das sie sich nicht erklären konnte, eine Lust auf Wildnis. Im Sommer wollte sie im Freien schlafen, und wenn sie im Herbst die Hirschbullen hörte, was klang, als würden schwermütige Alphörner aus der Mitte der Erde tröten, spürte sie einen schier unbezwingbaren Drang, in den Wald zu laufen und sich diesen Tieren hinzugeben. Hirschen! Bereits als Pubertierende war sie zum Entsetzen ihrer Mutter losgezogen, um sich diesem verlockenden Röhren auszuliefern. Tief hinein in den Wald hatte sie sich zwar nie gewagt, aber das Verlangen war geblieben.
Dieses Mal gab es keine Umkehr, sie stand im Norden Grönlands. Hier war nichts gerade, rechte Winkel gab es kaum, keine Stufen, keine Linien, kein Grün. Dafür Licht! Ein Licht, das einem die Netzhaut wegbrannte. Und Eingeborene. Sie trat einen Schritt zurück und staunte über die kleinen, in Fellhosen und Pelzjacken steckenden Menschen, die schüchtern Abstand hielten. Wörter wie Schrumpfzwerge und Gnome fielen ihr ein. Runde, speckige Gesichter, kleine Nasen, lange schwarze, verfilzte Haare. Josephine, die sich wie Schneewittchen hinter den sieben Bergen vorkam, verstand kein Wort von dem, was diese Zwerge kreischten. Sie wusste nicht einmal, ob in dieser Sprache Wörter existierten. Einer von ihnen näherte sich in einer Art ballenbelastendem Vorfußgang und mit eingedrehten Händen. Es war klar, der Mann war gehandicapt. Er brachte den Mund nicht zu, an seiner Unterlippe hing ein Speichelfaden, gedehnte Laute gab er von sich, woraufhin alle lachten. Zweifellos der Dorfdepp.
— Qapipiluarteq! Qapipiluarteq war Qissuks Bruder und Miniks Onkel. Es war ungewöhnlich, ja, fast ein Wunder, dass er hier trotz seiner Beeinträchtigung überlebt hatte. Normalerweise wurden solche Menschen im Säuglingsalter erdrosselt — Eugenetik aus ökonomischen Gründen. Manche Inughuit schafften das aber nicht, setzten die Kinder aus, warfen sie in Eislöcher oder Schluchten. Qapipiluarteq jedoch lebte, und er zupfte an Josephine Peary.
Manik wollte ihn wegzerren, Qapipiluarteq riss sich los und umarmte die fremde Riesin. »Greif mich nicht an!«, kreischte sie. Der dreijährige Minik betrachtete die Szene regungslos, er kannte die Eigenheiten seines Onkels.
Mittlerweile kamen andere. Auch sie begannen, Josephine zu berühren. Die Lady klopfte ihnen auf die Finger.
— Was fällt euch ein? Das kompromittiert mich! Dann besann sie sich ihrer Rolle, ging auf die kleinen Männer zu und fuhr ihre Hand aus wie die Klinge eines Klappmessers.
— Guten Tag. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Josephine Peary.
— Piuli? Sie blickten sie verdattert an.
— Guten Tag, mein Herr. Ich heiße Josephine Peary. Sie können auch Hibbelchen sagen wie mein Mann, oder einfach Jo. Wie ist Ihr Name? Du verstehen? Ich Josephine. Sie nahm eine Hand und schüttelte sie. Ich Josephine. Du? Wie heißen?
— Sie sprechen nicht gerne ihre Namen aus, erklärte der Matrose, der sie an Land gerudert hatte. Sie haben Angst, dass dabei ein böser Geist Macht über sie bekommt.
— Gehört sich das? Indigniert ließ sich Josephine zurück zum Schiff rudern. Sie war nicht nur die erste weiße Frau in Nordgrönland, sie war die erste Dame. Jo hatte eine Schule für höhere Töchter besucht, Bücher wie Gutgemeinte Worte an katholische Frauenzimmer gelesen, sie wusste, dass es sich nicht schickte, in die Sonne zu gehen, weil das unanständige Bräune verursachte. Deshalb hatte sie immer ihren Schirm dabei. In Josephines Gesicht steckte ein Rest von jenem aristokratischen Gestus, der ihre schlesischen Ahnen ausgezeichnet hatte, aber es war auch ein Gesicht mit Sommersprossen, meist überpudert, weil diese sandfarbenen Pigmente als unfein, ja als geradezu ordinär galten. In ihren Kreisen hieß es, Bergsteigen sei nichts für höhere Töchter, weil man davon große Füße und pralle Waden bekomme. Aber in Josephine steckte auch ein Hibbelchen — kindlich und verspielt, ein in die Korsage geschnürter Wildfang, der sich nach dem Röhren der Hirsche sehnte und alles und jedes mit Märchen verglich. Auf Fotos würde sie später verhärmt aussehen, aber noch sammelte sie Blumen, um sie in Büchern zu pressen, umarmte Bäume, sprach mit Dingen und sagte Hups-Dideldups. Sie mochte Pferde, sammelte Stöckchen und Steinchen auf ihren Wegen und liebte es, Wörter zu verdrehen.
— Helfen Sie mir mit dem Schädelknochen. Halten Sie meinen Schirm. Ich habe genug gesehen. Wir können nach Hause fahren. Sie kletterte an Deck, spürte ihr zu eng geschnürtes Mieder — ohne war man nicht richtig angezogen — und schenkte dem Kapitän, der ihr die Hand entgegenstreckte, ein mildes Lächeln.
— Was meinten Sie mit dem Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren?
— Darin kommt ein Fährmann vor, der genug vom Fährmanndasein hat.
— Ein Kapitän ist kein Fährmann. Kapitän Bartlett zog an seiner Pfeife.
— Wie man’s nimmt. Josephine sah, wie die nach ihr an Land gegangenen Männer schwankten, als wären sie betrunken, weil ihre Körper es gewohnt waren, das Schaukeln des Schiffes auszutarieren. Bin ich auch getaumelt? Das wäre unschicklich. Dennoch war dieses Herumtorkeln lustig anzusehen. Wackelmänner.
Matt Henson, Pearys Diener, rief ein paar Sätze Richtung Land, die Eingeborenen blickten irritiert auf.
Henson war der Einzige, der sich mit der Sprache der Eingeborenen vertraut gemacht hatte. Aber die Inughuit verstanden ihn nicht, was zum einen daran lag, dass ihre Sprache S-Laute durch ein Hauchen ersetzte, Endsilben verschluckte und vieles durch eine eingerollte Zunge presste, zum anderen daran, dass Hensons Wortschatz beschränkt war. Der Schwarze hatte feine Gesichtszüge — Josephine konnte ihn sich als Liftboy in einem Grandhotel vorstellen. Oder als Mohr im Märchen. Darüber hinaus war er ein Büchernarr, der sich wunderlich ausdrückte, wenn man ihn nach dem Inhalt fragte.
— Es geht um einen kleinen dicken Diener, Madam, der seinen verrückten Herrn beschützt. Die Geschichte spielt in Holland zur Ritterzeit. Der Herr ist unglücklich verliebt und kämpft gegen Drachen, die sich als Windmühlen verkleidet haben. Nur dank seines klugen Dieners wird er nicht zu Schrot vermahlen wie die bösen Buben bei Wilhelm Busch.
— Aber Don Quichote spielt nicht in Holland.
— Ich lese das Buch, Madam. Leser zu sein, heißt, die Welt zu begreifen. Außerdem ist der Leser immer klüger als seine Literatur.
Matthew Alexander Henson träumte von Afrika, dem Kontinent seiner Ahnen, umso erstaunlicher, dass es ihn jetzt nach Grönland verschlagen hatte. Ein paar Jahre lang war er als Schiffsjunge zur See gefahren, und mit 18 wurde er Laufbursche bei Steinmetz und Söhne, dem nobelsten Hutgeschäft von Washington, D. C., wo ihm eine glänzende Zukunft als Portier oder Hausmeister winkte. Doch Matt war für anderes bestimmt. 1887 begegnete ihm sein Schicksal in Gestalt eines hageren Mannes mit ernsten Zügen, dünnen Lippen, rotem Schnurrbart und dem festen Willen, Weltgeschichte zu schreiben — Robert E. Peary. Manchmal kommt das Leben an Weggabelungen, und dann wieder kommt die Weggabelung zum Leben. Nie ist klar, ob man wählen kann, nachher aber gibt es kein Zurück. Als Peary bei Steinmetz und Söhne einen Tropenhelm erstand und beiläufig bemerkte, dass er einen Burschen suche, zeigte der Chef auf Matt.
— Wenn Sie nichts gegen Neger haben, hätte ich da jemanden.
Als Henson bemerkte, dass er gemeint war, blickte er verschämt zu Boden und sah Pearys polierte Schuhe. Der Rothaarige trug eine maßgeschneiderte Uniform und hatte einen Blick, dem keiner standhielt. Damit kann er Steine zertrümmern. Erlaubte sich der alte Steinmetz einen Scherz? Peary sah zu dem Burschen mit der Schiebermütze.
— Wollen Sie ihn loswerrrden? Peary rollte das R wie ein Spanier.
— Henson ist ein guter Junge. Den bläst so schnell nichts um.
Peary forderte Matt auf, den Mund zu öffnen, sah makellose Zähne, kniff ihm in die Wange und fragte, ob er des Lesens und Schreibens mächtig sei?
— Jawohl, Sir. Matt verschwieg, dass er nicht nur Moby-Dick, Onkel Toms Hütte und Geschichten von Edgar Allan Poe gelesen hatte, sondern so gut wie alles, was ihm in die Hände gekommen war. Romane, Bücher über die Physiognomie der Seele, das Tierleben Afrikas oder Benimmregeln bei Hofe. Bücher, hatte der Kapitän eines Schoners dem Schiffsjungen Matt einst gesagt, sind eine Waffe gegen die Dummheit.
— Was hast du für eine Schuhgrrröße?
— Neuneinhalb. Wollen Sie mir Stiefel kaufen?
— Mein Diener muss mir die Schuhe weichlaufen.
Matt betrachtete Peary. Mager wie Suppenkasper, 130 Pfund, wenn er nass ist. Kein hedonistischer Lebemann, aber eine kerzengerade Haltung, stechend blaugraue Augen, ein spitzes Kinn und das faltenlose Gesicht verrieten Pearys vordringlichste Eigenschaft — Entschlossenheit.
— Und was hätte dieser Bursche zu tun? Sie in einer Sänfte durch die Gegend schleppen? Schuhe polieren? Nun war es Matt, der redete. Die Weißen erlaubten sich einen Scherz auf seine Kosten? Gut, das konnte er auch.
— Nicarrragua, wo ich einen Kanal bauen werrrde. Peary sprach in barschem Kommandoton, begann aber, mit den Fingern zu reiben, und ging auf Henson zu, bis sich ihre Gesichter unangenehm nahe waren. Matt wollte zurückweichen, blieb aber wie angewurzelt stehen.
— Die Wilden dorrrt sind ein unzivilisierrrter Haufen, es wimmelt von Moskitos und Krrrokodilen, das Land ist ein Sumpf voller Würrrmer, Schlangen, Spinnen. Hast du Lust, mich zu begleiten? Was zahlt man dir hier als Botenjunge?
— Zehn Dollar, Sir, aber mit Trinkgeld komme ich auf 15?
— In der Woche?
— Im Monat, Sir. Matt blickte verschämt zu Boden.
— Gut. Ich bin berrreit, monatlich fünf — …, nein, sagen wir, zwanzig Dollar zu bezahlen.
— Nicaragua klingt verlockend, Sir, aber … Matt lächelte … ich darf das Hutgeschäft nicht im Stich lassen. Er blickte zu Steinmetz.
— Ach was. Er habe in seinem Leben schon viele Köpfe gesehen, kluge und weniger kluge, große und kleine, spitz zulaufende, flachstirnige und gewölbte, Köpfe von Eheleuten und Geschwistern, aber selten seien ihm zwei Schädel untergekommen, die so formidabel zusammenpassten wie jene von Peary und Henson.
— Wussten Sie, dass die Köpfe der Amerikaner in den vergangenen zweihundert Jahren größer geworden sind? Die Aufzeichnungen von Steinmetz und Söhne belegen das. Zwei Zoll.
— Abgemacht. Peary ergriff Matts Hand, und für einen Moment dachten beide, einen feuchten Lappen anzufassen. Doch nur Sekundenbruchteile später packten beide mit aller Kraft zu. Sie lächelten, während an ihren Hälsen dicke Kabel hervortraten.
Matt erwartete, dass nun der Scherz aufgelöst würde, aber nichts dergleichen geschah. Sein Leben hatte eine Abzweigung genommen, und er konnte es nicht glauben. Nicht einmal als Peary eine Adresse aufschrieb und sagte, wann er sich einzufinden habe. Noch beim Packen fühlte es sich seltsam an, dass er nun in den Diensten des Ziviltechnikers Robert E. Peary stand. Der alte Steinmetz war freundlich gewesen und hatte ihn nur selten geschlagen. Aber für den Hutmacher war es normal, dass ein Botengänger auf dem Werkstattboden schlief, den Nachttopf seines Herrn ausleerte, der Frau des Hauses Badewasser brachte und allein in einer Kammer aß, meist Bohnen und Kartoffeln, während sich die Familie an Fleischtöpfen und Bierkrügen verköstigte. Dafür stand ihm die Bibliothek zur Verfügung.
Wegen dieser Bücher hatte Matt alles ertragen, sogar die Angst vor der Hutmacherkrankheit, woran bei Steinmetz über kurz oder lang alle zugrunde gingen. Ein alter Geselle musste wegen übelriechender Kieferfäule entlassen werden. Andere litten unter zitternden Händen, Zahnausfall und schwarzen Flecken. Weil man so viel an fremden Köpfen herumdoktert. Tatsächlich kam es vom Quecksilber beim Filzen, aber das wussten weder Steinmetz noch seine Söhne, und die Hutmachergesellen schon gar nicht.
— Was schleppst du da an, hatte ihn Peary bei der Einschiffung gefragt. Bücher? Was wir da unten brrrauchen, sind Wurrrmpastillen und Mittel gegen Schlangenbisse.
Selbst als sich Matt und sein Herr durch feuchte Urwälder kämpften und Peary am Tisch des Präsidenten von Nicaragua speiste, Henson aber mit dem Personal in der Küche aß, konnte er es nicht glauben. Immer noch dachte er, der Rotschopf würde ihm bald eröffnen, dass es sich um einen Jux handelte und Matt noch Laufbursche bei Steinmetz und Söhne sei. Wochenlang kämpften sie sich durch unwegsames Gelände, überquerten Flüsse, durchstreiften das subtropische Dickicht, erschossen Krokodile, zertraten Spinnen, vertrieben freche Affen, aber Peary verlautbarte nichts dergleichen. Stattdessen wurden Vermessungen angestellt und Pläne gezeichnet, während Matt Stiefel putzte, Mahlzeiten zubereitete, Zelte aufbaute und Latrinengruben aushob. Seinem Herrn schien es nichts auszumachen, wenn der Bohneneintopf angebrannt schmeckte oder das Brot hart war, ihm ging es ausschließlich um seine Mission. Wie ein Herr und sein Knecht, wie zwei Beckett-Figuren kämpften sie sich durch surreal anmutende Gegenden. Der Weiße mit Tropenhelm, Moskitonetz und aufrechter Haltung, sein Diener bepackt wie ein Maulesel.
Peary schimpfte auf die schwüle Hitze, die ausgiebigen Regengüsse und die verdreckte Bevölkerung, verfolgte aber unbeirrbar seine Pläne. Während Henson mit Einheimischen tanzte oder Schmöker verschlang, brütete der Zivilingenieur über Skizzen, tüftelte an Kanalverläufen, Wehrsystemen, Staustufen, träumte von einem zweiten Suezkanal, der den Atlantik mit dem Pazifik verbinden und seinen Namen unsterblich machen sollte.
In keinem seiner Bücher war Henson einem so unnahbaren Menschen begegnet. Gegen Peary war sogar der alte Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte ein geselliger Kerl. Er erinnerte an Kapitän Ahab, nur war sein weißer Wal ein Kanal. Pearys Kommunikationsform war der Befehl. Und mit dem rollenden R klangen seine Sätze wie ein schnurrender Motor. Er kommandierte Matt, die Einheimischen, auch sich selbst. Was er sonst von sich gab, waren Verkündungen — etwa, dass der Verstand der einzige Gefährte eines Mannes sei, aus Unehrlichkeit nie etwas Rechtes entstehe. Erwiderte Matt anderes als »Jawohl, Sir«, wurde er zusammengestaucht.
Ruhm, hatte Peary immer gesagt, war alles, was er wolle. Ruhm — und seine Begleitmusik. Warum? Weil er ihm zustehe. Eine gigantische Wasserstraße, die mit Wehrsystemen zehn Höhenmeter überwindet, sollte ihn bringen. Der Peary-Kanal. Es kamen aber weder der Ruhm noch ein Kanal, es kam eine Katastrophe. Geldgeber zauderten, Politiker änderten ihre Meinung, das Kanalprojekt wurde eingestellt.
— Nein! Nein! Nein! Das darrrf nicht sein. Ich prrrotestierrre!
— Matt versuchte zu retten, was zu retten war, doch schon flog alles Geschirr durch die Gegend.
Abends saß Peary als Häufchen Elend am Tisch, stocherte in seinem Bohneneintopf herum und sprach von der Rückreise. Der Mann war in sich zusammengefallen wie eine Socke, die eben noch als Handpuppe einen General gespielt hatte.
Henson legte den Arm um seinen Chef und sprach zu ihm wie ein väterlicher Freund.
— Man begegnet vielen Unsternen im Leben, doch wenn man weiß, wo Polaris steht, kann einem nichts passieren. Ihr Polarstern ist voll der Blitz, leuchtet klar und hell, Sir. Das ist wie in Moby-Dick, in dem es um einen tätowierten Harpunier geht. Der weiß auch, was seine Bestimmung ist und wie er sie erreicht.
— Dann also Plan B. Peary seufzte. Der strenge Mann war plötzlich weich geworden, sprach von Josephine Diebitsch … ein sonniges Gemüt mit milchweißer Haut, Grübchen an den Wangen und etwas zu großen Füßen …, die er zu heiraten beabsichtigte, und von Grönland, das er im vergangenen Jahr vergeblich zu durchqueren versucht hatte.
— Eine fürrrchterrrliche Gegend, unfrrruchtbar, windig und arrrschkalt. Trrrotzdem müssen wir hin, weil es dorrrt etwas zu gewinnen gibt — Ruhm! Ehrrre! Unsterrrblichkeit!
Zuerst Nicaragua, nun Grönland, das seit dem Tod Eriks des Roten auf der Weltbühne keine Rolle spielte. Ein paar Jahrzehnte waren Narwalzähne als vermeintliche Einhornhörner auf den Höfen Skandinaviens als Potenzmittel gefragt, aber dann fiel die eisige Insel dem Vergessen anheim.
Hielt ein Neger dem arktischen Klima stand? Pearys Förderer waren skeptisch. Aber jetzt war Matthew Alexander Henson hier. Genauso wie die Frau, der man von dieser Reise entschieden abgeraten hatte.
— Was sagen Sie? Voll der Blitz, oder? Noch nie habe ich ein blaueres, heller leuchtendes Meer gesehen. Saphirblau. Matt strahlte.
— Hier ist der kälteste Ort der Welt. Nachts hat es Minusgrade, dabei ist Sommer. Das ist unschicklich. Jo rümpfte die Nase. Ich habe genug. Ich will zurück.
Während der Fahrt war die Nacht immer kürzer geworden, doch noch an Grönlands Südküste hatte es ein paar Stunden Dämmerung gegeben. Nun war es hell rund um die Uhr, die Sonne lief am Himmel im Kreis. Wurde man hier verrückt? Wie reagierten Lebewesen auf diese 24-stündige Helligkeit?
Josephine verstand nicht, weshalb ihr Mann zum Nordpol wollte. War es aus demselben Grund, weshalb ein Bergsteiger auf den Gipfel musste? Weil er da war! Aber der Nordpol war gar nicht da. Sie sah verrottetes Moos an den Klippen, eine von fahlen Gebirgszügen umrandete Bucht, hingetupfte Eiszungen, aber keinen Nordpol. Sie empfand kein Glück des Ankommens, schüttelte den Kopf und verschwand unter Deck.
Peary hatte geahnt, dass sich eine Frau in der Arktis vermarkten ließe. Tatsächlich waren die Zeitungen aus dem Häuschen, aber nicht alle waren begeistert. Patriotische Frauenvereine, Pfarrer, Ärzte, ja, selbst der Verband texanischer Viehzüchter reagierten empört. Eine Frau am Pol, das sei ein Skandal und der Untergang aller Zivilisation.
Josephine ließ sich davon genauso wenig beeindrucken wie von den Stimmen, die sie vor Peary gewarnt hatten. Ihre Eltern, die Schwester, der Bruder, Freundinnen, alle waren sich einig, dass sie die Finger von diesem Zivilingenieur lassen solle. Es gab doch reichere, gesprächigere, besser aussehende Verehrer … Aber Hibbelchen war starrköpfig wie ihr Mann, der sie zielstrebig umwarb und eines Tages mit dem Brustton der Überzeugung verkündete:
— Heirrraten? So schrrrecklich ist das nicht. Anderrre tun es auch. Sie sah ihn verwundert an und flüsterte:
— Sie sind abstoßend, Robert E. Peary. Jo lächelte und küsste ihn.
Am 11. August 1888, ein Jahr nach dem Nicaragua-Desaster, traten sie vor den Traualtar. Birnchen — weil Peary nach Birne klang — war ein röhrender Hirsch, bar jeder Romantik. Er hatte ihr auf seine ungelenke Art eröffnet, dass er Ruhm und Ehre zu erwerben gedenke und sie, Josephine Diebitsch, zu seiner Frau auserkoren habe. Widerspruch zwecklos. Lehne sie ab, würde er sich an die Schwelle ihrer Haustür setzen und nicht weggehen, bis sie einwillige.
— Mein Gott, ist der mager. Josephines Mutter betrachtete ihn durch das Lorgnon und rümpfte die Nase. Und dann die roten Haare. Er wird doch hoffentlich kein Jude sein?
Jo mochte ihn — erst wie ein Mädchen Puppen, dann wie die Schwester den kleinen Bruder, irgendwann wie eine Frau den Mann.
Leutnant Peary musste seine Vorgesetzten vom Pol überzeugen, ungeheure Summen auftreiben, mit Widerstand zurande kommen, weitermachen, selbst wenn man ihn für einen Spinner hielt.
Während in Grönland der kleine Minik heranwuchs, traten Robert und Josephine Peary die Hochzeitsreise an.
Der Honeymoon in Sea Bright, New Jersey war alles andere denn romantisch. Zwar nächtigten sie in einem mondänen Hotel, dessen von schlanken Eisenstelen dominierte Fassade römischen Badeanlagen nachempfunden war, gab es feine, von livrierten Kellnern servierte Speisen, Weine aus Kalifornien, bot der malerische Strand die Möglichkeit zu Spaziergängen, doch etwas störte die Idylle — Mutter Peary, die sich ebenso wie Henson im Schlepptau des Brautpaares befand.
Jo hatte sich Händchenhalten erwartet, innige Blicke und tiefes Röhren, aber Peary sprach nur von seinen Plänen: Grönland durchqueren, den Pol erobern, auf der Adler-Insel in der Casco-Bucht ein Haus bauen. Josephine sollte ihm eine Fahne nähen … das ist das Privileg und die Hauptaufgabe der Frauen von Polarforschern …, die er am Pol hissen konnte.
— Und Kinder?
— Kinder? Sea Bright war für eine ältere Klientel eingerichtet, seine Gäste konsumierten Appetitanreger und Abführmittel, unterhielten sich über Verdauungsstörungen und Einläufe. Ja, Kinder vielleicht auch.
— Siehst du den Bärrrtigen am Nachbarrrtisch? Schau nicht gleich hin. Peary rieb mit seinen Fingern, als wollte er ganz Sea Bright zerbröseln. Das ist Morrris Jesup, einer der Grrründer des Naturrrhistorrrischen Museums.
Jo wandte ihren Kopf und sah ein Paar, das sich aggressiv anschwieg.
— So dürfen wir nie werden, Robert. Versprich es mir.
— Soll ich mich ihm vorstellen? Pearys Fingernägel kratzten den Tisch. Er ist unerrrmesslich reich. Wenn er meine Polexpedition unterrrstützt … Pearys Gedanken drehten sich wie Zahnräder, setzten etwas in Gang. Bevor Frau oder Mutter widersprechen konnten, sprang er auf und trat an Jesups Tisch. Der Geldsack fühlte sich sichtlich gestört. Peary sagte etwas von Mission und Berufung … Jesup wimmelte ihn kurzerhand ab.
— Er ist interrressierrrt. Josephine schwieg, und alles, was Muttern von sich gab, war taktlos. Schon dass sie dauernd Bertie statt Robert sagte …
— Bertie hat als Kind Fensterscheiben eingeschlagen, weil er dachte, dass dann ein Engel erscheint. Stimmt doch, Bertie? Bertie hat als Kind Vogeleier gesammelt und versucht, sie auszubrüten. Später hat er Vögel ausgestopft und Käfer aufgespießt. Im Winter bei offenem Fenster schlafen, minutenlang die Luft anhalten, 14 Zwetschkenknödel essen, immer ist ihm etwas eingefallen. Und stellen Sie sich vor, vor zehn Jahren hat man Bertie den Posten eines Schuldirektors angeboten. Aber er hat gesagt, Schuldirektor ist nichts für mich. Bertie will nicht sterben, ohne etwas Großes vollbracht zu haben.
— Nicht so laut, Mutter. Peary saß aufrecht da und sah, wie sich Jesup zu ihnen umdrehte.
— Oft habe ich gesagt, Bertie, bleib bescheiden, sei zufrieden mit deiner Stellung, aber Bertie wird Zivilingenieur, Berti geht nach Nicaragua und neuerdings zum Nordpol … Hat man das schon gehört? Nordpol? Dabei wurde er von der Navy eingestellt. Von fünfhundert Bewerbern …
— Zweihunderrrt!
— Von zweihundert Bewerbern hat man ihn ausgewählt, meinen Bertie.
Als Jesup das Restaurant verließ, blickte er sich nicht um. Seine Frau hob ihr Lorgnon und rümpfte die Nase.
— Hallo, Mister Teesupp! Josephine eilte dem Paar hinterher. Teesupp? Dem Mann wurden Jacke und Zylinder gereicht, und während Jo auf ihn einredete, ließ er sich beim Anziehen helfen. Jesups Frau verzog das Gesicht, und Jo sprach von menschenfeindlichen Gegenden, von Ängsten, die sie nachts im Wald befielen, und dass es Mut brauche, zum Nordpol zu gehen.
— Da kann einen das Hirschröhren noch so locken.
— Ihr Mann glaubt hoffentlich nicht, dass er am Nordpol Hirsche findet?
— Aber nein, ich spreche von dem Alphornröhren aus der Erdenmitte.
— Schön, dass wir geredet haben. Jesup und Gemahlin verabschiedeten sich.
Zurück am Tisch, wurde Jo von Fragen überhäuft:
— Was hast du gesagt? Wie hat er reagiert?
— Seine Gesichtsfarbe! So etwas habe ich noch nicht gesehen. Sie ist bläulich.
Peary hatte weder einen Blick für die angeschwemmten Muscheln noch für die Sonnenuntergänge. Netze flickende Fischer interessierten ihn genauso wenig wie die pittoresken Austernsammler. Und wenn Jo davon sprach, dass der Strandspaziergang wie das Aufwachen sei, wenn das Hirn noch auf Halbmast hing und man von einer Tapsigkeit umfangen wurde, sah er sie irritiert an.
Zu einer Hochzeitsreise gehört fraglos auch der Vollzug der Ehe, doch Berties zärtlichste Geste war das Abschlecken eines Tellers.
Sie hatten sich bisher nicht angerührt, stillschweigend lautete die Vereinbarung, das Ganze erst in Sea Bright in Angriff zu nehmen. Sie dachten an Vorstoß, Rückzug und dazwischen an ein ordentliches Scharmützel. Gleich einem Krieg fürchteten sie die Sache, und gleich einem Krieg sehnten sie sie auch herbei. Noch aber lagen die Parteien in ihren Befestigungen, noch trauten sie sich bei all dem mütterlichen Bertie-Sperrfeuer nicht aus ihren Gräben.
Am ersten Abend war die Begegnung mit Jesup dazwischengekommen, am zweiten hatten sie zu viel Wein getrunken, am dritten war Jo müde, am vierten machte ein Monolog von Pearys Mutter … Bertie hier, Bertie da … jede Lust zunichte, aber irgendwann ließ es sich nicht mehr aufschieben, musste zum Angriff geblasen werden. Geblasen? Na ja, Josephine war ängstlich wie jede junge Frau, der etwas Unbekanntes bevorstand, aber bereit fürs hirschige Röhren, doch dazu kam es nicht. Für Peary war es eine häusliche Pflicht, die generalstabsmäßig geplant und erledigt werden musste. Er ging in etwa so sensibel vor wie jemand, der mit Stahlwolle einem Topf zu Leibe rückt. Es lag mehr an seinem Bart denn an seiner Leidenschaft, dass Jos Gesicht nachher ein einziger roter Fleck war. Für sie hätte eine Übung bei Turnvater Jahn vermutlich mehr Eindruck hinterlassen als dieses kurze Punzieren.
So verlor Jo das, was als ihr wertvollster Besitz galt, die Unschuld. Sie kam sich vor wie eine entwertete Briefmarke, abgeschleckt und abgestempelt. Sie ahnte, dass Birnchen nur geheiratet hatte, um das Thema abhaken zu können. Um jemand zu haben, der ihm eine Fahne näht. Trotzdem wollte sie es sich nicht eingestehen, dass ihr Mann ein Holzklotz war; immerhin war er imstande, schmalztriefende Liebesbriefe zu schreiben, sie zu umgarnen, und, sobald sie sich zurückzog, zu umschmeicheln. Im Grunde wusste sie jedoch, dass sie die Bertie-Mutter nie würde verdrängen können, nicht einmal sie, eine geborene Diebitsch mit adeligen Vorfahren und der Fähigkeit, Gerichte wie Erbsensuppe mit gezuckerten Bohnen und Mohn oder Kartoffelpüree in Suppe zuzubereiten. Zumindest war sie nicht mehr Teil der Fischereiflotte, wie man die unverheirateten Damen nannte, aber sollte sie deshalb mit 25 Jahren ihre Sehnsucht nach dem Röhren des Hirsches aufgeben?
Auf dem Weg in die Kajüte kam ihr der Koch entgegen, der mit einem Gemolkene-Kuh-Gesichtsausdruck aus der Toilette trat.
— Das Essen darf nur mit sauberen Händen angefasst werden. Dafür gibt es heißes Wasser und Seife. Josephine hielt ihm den Robbenschädel hin und blies durch geschlossene Lippen. Brrr. Außerdem will ich so rasch wie möglich wieder nach Amerika.
— Ich auch, Madame. Der kleine Dicke nickte.
Peary humpelte mit Storchenschritten über das Deck und winkte »seinen Huskys«.
— Kommt an Bord! Entladen! Die Inughuit gehorchten. Pizarro hatte mit dreihundert Mann das Millionenreich der Inka erobert, weil er Spiegel dabeihatte und man ihn für göttlich hielt. Der Spanier brachte den Eingeborenen Alkohol — auch eine Art Spiegel. Bei den Eskimos reichten Kekse. Eskimos? Ja, so nennen wir sie gelegentlich, aber nicht, um gegen das Diktat der politischen Korrektheit zu verstoßen, sondern weil sie die Bezeichnung selbst gebrauchen, egal, ob sie nun Fleischesser, Schneeschuhmacher oder sonst etwas bedeutet. Für grönländische Inuit ist Eskimo kein Schimpfwort, für uns auch nicht, während sich kanadische Ureinwohner lieber flüssiges Blei in die Ohren gießen lassen, als diese Bezeichnung zu akzeptieren.
Peary nannte sie Huskys, aber er sagte auch Oha, anstatt sich zu entschuldigen, wenn er ihnen auf die Füße stieg. Als 15-jähriger hatte er Regeln aufgestellt: Rede stets die Wahrheit, verteidige deine Meinung, lass dich nicht vom Weg abbringen … Ganze Hefte hatte er mit solchen Binsenweisheiten gefüllt, jetzt, mit 35, hielt er sich immer noch daran. Obwohl er die Geister des Inlandeises, die Mächte der Tupilaks, Gespenster und Götter spüren konnte, weigerte er sich, daran zu glauben. Peary war fest entschlossen zu siegen. Kein Unfall konnte ihn stoppen.
Ein Unfall? Den haben wir noch nicht erwähnt. Zehn Tage ist er her. Das Schiff pflügte durch die Baffin-Bucht, sie staunten über die Farbenpracht des Polarmeeres, über gewaltige Eisberge, die in tiefblauen Farbnuancen strahlten.
Das Treibeis verwandelte sich in Trümmereis, und irgendwann war die Kite von kleinen Schollen, sogenanntem Pfannkucheneis, umfangen. Kein weiches Rauschen wie im Eisbrei war zu hören, sondern metallisches Raspeln. Als das Schiff endgültig im Schwitzkasten … oder besser Gefrierkasten? … steckte, ließ es der Kapitän vor- und zurückstoßen, was Butting hieß und alles vibrieren ließ. Peary beschwichtigte. Dies sei ein normaler Vorgang, den er bereits oft erlebt habe.
— Und wenn das Schiff festfriert? Jo durchzuckte es, sobald der Kapitän abrupt die Richtung änderte. Werden wir dann sterben?
— Sterben ist nicht iblich. Doktor Cook, Pearys Expeditionsarzt, lächelte. Damals waren sich die beiden noch sympathisch. Cook, ein kleiner Mann mit großer Nase und tschechischer Sprachfärbung, verströmte frivole Heiterkeit. Amüsant, gesellig, witzig — Pearys Antipode. Während der Expeditionsleiter seinen Plänen nachhing und auf Fragen nicht reagierte, schwadronierte der Arzt. Beide waren sie ohne Vater aufgewachsen — Peary als Einzelkind unter der Obhut einer Helikopter-Mutter, Cook als Zeitungsausträger, Kegeljunge, Kohlenschlepper, Blutegelköder. Für fünf Egel gab es beim Apotheker einen Vierteldollar. Cook fügte sich Schnitte an den Beinen zu und watete so lange durch Sümpfe, bis er welche an sich hängen hatte — kleine blutgefüllte Ballons. Später gründete er eine Milchauslieferfirma — zweifellos gesünder.
Oder war das alles erstunken und erlogen? Frederick Cook wickelte die Leute um den kleinen Finger — erst seine Brüder, später seine Geschäftspartner, die Patienten, irgendwann die halbe Welt. Als Arzt war er beliebt, aber schnell gelangweilt. Nichts als Verkihlungen und Verdauungssterungen. Also zögerte er keinen Augenblick, als es hieß, dass Robert E. Peary einen Expeditionsarzt suche.
»Männer für gefährliche Reise gesucht. Geringe Verdienstmöglichkeit, schlechtes Wetter, lange Monate vollständige Dunkelheit und große Risiken garantiert, sichere Heimkehr fraglich. Im Erfolgsfall winken Ruhm und Anerkennung.« So bewarb später Ernest Shackleton seine Expedition. Peary gab es ein paar Nummern kleiner.
Nun beruhigte Cook Pearys Frau, die das Vor- und Zurücksetzen des Schiffes skeptisch verfolgte. Eisiger Wind schlug an ihre Wangen, und Jo dachte an ihren Badeanzug, den sie nicht brauchen würde. Auch Abendkleider, Lackschuhe und Perlenketten waren eingepackt, weil sie überzeugt war, dass diese Reise letztlich mit einem prächtigen Empfang enden werde.
Da gab es einen gewaltigen Knall, das Ruderblatt wurde von einer Eisscholle jäh herumgerissen, und ehe man wusste, was geschehen war, entglitt dem Rudergänger das Steuer, eine eiserne Pinne schoss pfeifend durch die Luft und traf ausgerechnet Pearys Unterschenkel. Der Entdecker gab keinen Laut von sich, lächelte erst, machte dann aber ein Gesicht, das Bestürzung über diese Respektlosigkeit ausdrückte. Er setzte an zu einem seiner cholerischen Anfälle … Rrrr, doch plötzlich schwand all seine Autorität. Er war erschrocken von der Intensität des Schmerzes, wurde kalt und bleich mit leichtem Grünstich — wie die Wasserlinie eines Eisbergs bei diesigem Wetter, so dass er Josephines Schreie nur gedämpft wahrnahm. Er sank zusammen wie … die Socke einer Handpuppe? — nein, diesmal wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Josephine brüllte, der Mann am Ruder beteuerte seine Unschuld.
— Shakespeare, sagte Henson. Es ist wie bei dem jungen Liebespaar, das sich am Ende um die Ecke bringt. Da fragt man sich auch, wozu das gut sein soll.
— So tun Sie doch etwas! Josephine kreischte.
— Literatur macht uns zu besseren Menschen, Madam.
Cook rannte zu seinem Arzneimittelkoffer — Opium oder Chinin? Opium bei Husten, Chinin gegen Fieber … Oder ein Einlauf? Ein Rauchklistier? Er entschied sich, dem Verwundeten Brandy einzuflößen … Was Brandy nicht heilt, mecht nicht heilbar sein … und schnitt den Stiefel auf.
Lassen Sie das meine Sorrrge sein, wollte Peary brüllen, brachte aber keinen Ton heraus. Sein Seufzen klang wie ein Ballon, dem Luft entwich.
— Beide Unterschenkelknochen, kennte man meinen, sein gebrochen, zum Glick ein glatter Bruch. Aber keine Angst. Cook tat geschäftig und beruhigte Jo, die kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen. Ich hatte einen ähnlichen Fall in Brooklyn. Sie werden es in Zukunft merken, wenn das Wetter umschlägt, aber sonst mecht nichts zurickbleiben.
Cook ließ sich von Henson Bretter bringen und zimmerte einen Kasten um das mit Baumwolle gepolsterte Bein, der an eine Weinkiste erinnerte. Dann verabreichte er dem Patienten … Wollen Sie mein Bein beerdigen? … Laudanum und Morphium, worauf Peary vier Tage lang durchschlief. Als er erwachte, schimpfte er sofort auf Norwegen, dieses vermaledeite, heimtückische, dumme Land.
— Und wenn sie hunderrrtmal Schneeschuhe und Skier und Aquavit errrfunden haben! Norrrwegen, das diesen Frrridtjof Nansen herrrvorrrgebrrracht hat, diesen Eindrrringling, der sich errrdrrreistet hat, Grrrönland zu durrrchquerrren … Es war mein Plan gewesen, als errrster Mensch Grrrönland zu durrrchquerrren, aber dieser Nansen ist mir zuvorrrgekommen … Sprach Peary von Grönland, meinte er sein Grönland. Nansens Tour war eine Anmaßung. Also blieb nur der Pol. Alles wegen Norrrwegen! Können die sich nicht darauf beschränken, Pullover zu stricken?
Peary musste zwar das Bett hüten, ließ sich aber einen Kompass bringen, um den Kurs des Schiffes zu überwachen, weil er fürchtete, man würde gegen seinen Willen die Heimkehr antreten.
Tatsächlich wollten viele auf der Kite zurück. Manche raunten, dass eine Frau an Bord Unglück bringe, das Seerecht heilig, ein Schiff kein Ort für Weiber, ihre Anwesenheit ein schlechtes Omen, das Nordmeer gefährlich sei, ja, man die Heimreise antreten müsse. Für Peary war das ausgeschlossen. An der Nordküste Grönlands wollte er ein Haus bauen, überwintern und im Frühjahr 1892 das Inlandeis ergründen, und, sofern das Wetter mitspielte, zum Pol vordringen. Dann, erklärte er den Deckenbalken seiner Kajüte, wird die Welt den Namen Peary kennen.
Neben seiner Frau, dem Diener Henson, Doktor Cook und Kapitän Bartlett waren ein junger Norweger, Eivind Astrup, und weitere Expeditionsteilnehmer an Bord — darunter der 25-jährige John Verhoeff, ein kleingewachsener Zyniker mit teigigem Gesicht, schütterem Haar und starkem Bartwuchs, der von seinem Vater, einem Financier Pearys, mitgeschickt worden war, um das sogenannte richtige Leben kennenzulernen.
Dieser Verhoeff war wie ein spitzer Stein im Schuh. Von Anfang an gab er sich aufsässig, legte sich mit den Matrosen an, beschwerte sich, weil es nur einmal pro Woche Süßwasser zum Waschen gab, Salzwasser die Seife nicht löste, der Schmutz nur herumgeschoben wurde. Er beschwerte sich über das Essen, konnte Henson nicht ausstehen, weil er schwarz war, sogar Pearys Unfall kommentierte er sarkastisch. Als sich der Kapitän weigerte, einen Eisberg anzusteuern, damit er sich jahrtausendealtes Eis in den Whiskey kippen konnte, flippte er aus.
— Eis, das bereits zu Jesus’ Zeiten existiert hat. Ich bestehe darauf.
— Dreht sich der Eisberg, reißt er uns alle in die Tiefe. Heilige Makrele! Sie werden noch genug Eis kriegen.
Peary ahnte, dass es wegen Verhoeff Ärger geben werde. Niemals hätte er ihn ausgewählt, hätte nicht sein alter Herr darauf gedrängt. Darüber hinaus waren da ein Ornithologe, ein Insektenkundler und der Korrespondent des New York Herald. Sie alle mussten einen Vertrag unterzeichnen, der festhielt, dass es das oberste Ziel der Expedition sei, Grönland zu durchqueren, Peary der Befehlshaber war, sich nach Beendigung der Reise niemand öffentlich darüber äußern durfte. Weiters war es für die Dauer eines Jahres untersagt, irgendetwas darüber zu publizieren. Alle unterschrieben. Ob Peary auch seiner Frau einen solchen Vertrag abnötigte? Zuzutrauen wäre es ihm.
Die Kite würde, solange die See nicht zugefroren war, zurück nach Neufundland schippern und sie im nächsten Sommer wieder abholen. Das bedeutete zwölf Monate Nordgrönland — inmitten einer unzivilisierten Wildnis.
Nun, da die Maschine abgestellt und der Anker auf Grund gelassen war, merkten sie eine fast gespenstische Stille. Peary kümmerte sich um die an Bord gekommenen Inughuit.
— Piuli! Piuli! Sie umarmten den Rotschopf, klopften auf die Unterschenkel-Kiste, lachten. Ein Fass mit Keksen wurde geöffnet. Aber es war Henson, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie betasteten sein Gesicht, hielten ihn für einen der Ihren und verstanden nicht, wie dieser schwarze weiße Mann an Bord des Schiffes gekommen war.
— Wofür haltet ihr mich? Für eine Schwarzwälderkirschtorte?
Nachdem sie sich beruhigt hatten, widmeten sie sich den Keksen, die sie zuerst mit magischen Sprüchen beredeten, dann unmanierlich mampften. Was waren das für Menschen? Cook staunte über ihren zwergenhaften Wuchs, der Norweger scherzte mit Qissuk, und Peary kniff einem Dreijährigen in die Wange. Minik, da haben wir ihn wieder, den kleinen Grönländer, der sich seinen Namen selbst ausgesucht und eine besondere Ausstrahlung besaß. So nahe wie jetzt sollten sich die drei Hauptfiguren dieser Geschichte, Peary, Cook und Minik, nie wieder kommen. Peary sah aus wie James Finlayson, der von Laurel und Hardy immer eine auf den Deckel kriegt, Cook können wir uns als kleinen Bruder von Lino Ventura vorstellen, und Minik … für Minik gibt es kein Äquivalent in der Filmgeschichte.
Der Junge war wenig beeindruckt. Er griff nach der Hand seines Vaters, zog den mit zwei Daumen versehenen Handschuh aus und steckte sich einen väterlichen Finger in den Mund.
Als sich seine Mutter vor einem halben Jahr in ein Schneehaus zurückgezogen hatte, um Miniks Schwester zu gebären, hatte ihm Qissuk abends immer einen Finger in den Mund gesteckt — aufgeritzt, damit der an das Stillen gewöhnte Junge Blut saugen konnte. Nun betrachtete er Peary abschätzig und streckte die Zunge heraus.
Der Amerikaner nahm es zur Kenntnis — ungerührt, obwohl ihn die Intensität des Blicks verunsicherte. Er hatte den Jungen schon einmal gesehen, aber nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Auf irgendeine mystische Art erlebte er gerade ein Déjà-vu mit künftigen Ereignissen. Peary kam es vor, als würden sie sich bereits ewig kennen.
Man erwartete von den Einheimischen Hilfe beim Ausladen, und die Seeleute hatten allerhand zu tun, sie zu bändigen.
— Nicht, dass sie alles davonschleppen, warnte Kapitän Bartlett. Die sind wie Ameisen an einem Kadaver. Einmal nicht aufgepasst, schon sind Kalfatereisen, Taue und der Großmast weg. Eskimos kennen keinen Privatbesitz, haben eine andere Auffassung von Eigentum. Diesmal ging es zivilisierter zu, die Kisten mit Vorräten und Baumaterial wurden an Land gebracht. Balken, Bretter, Dachziegel, Teerpappe, Fenster, eine Tür, Ofenrohre …
Kaum war alles an der Küste, begannen die Seeleute, mit den Eingeborenen zu handeln. Tabakblätter gegen Schnitzereien, Holzstücke gegen Walrosszähne, Messer für Bärenfelle. Der zweite Maschinist stritt mit dem Bootsmann über ein Eisbärenfell, und der Maat winkte einer Eskimofrau, die verlegen kicherte.
Sollte Eifersucht ein Grund für Josephines Reise gewesen sein, dann war sie nun beruhigt. Diese nach verdorbenem Fisch stinkenden Zwerginnen boten keinerlei Grund dazu.
Mrs. Peary stand an Deck, rieb sich fröstelnd die Oberarme und beobachtete den Hüttenbau. Noch wurde an der Verschalung für das Fundament gezimmert. Sie wunderte sich über die Einheimischen, die ihr Erdhaus nie betraten. Dieses mit Grassonden bedeckte Bauwerk sieht aus wie der Eingang in ein Zwergenbergwerk, aber warum errichten sie es, wenn sie dann in Zelten schlafen? Stundenlang saßen sie am Strand, starrten ins Wasser oder umrundeten einen Steinhaufen. Josephine war aufgefallen, dass alle ein mit Gras verstopftes Nasenloch hatten.
Henson erklärte, dass es sich bei dem Steintürmchen um ein Grab handle, eine Art Dolmen oder Hünengrab. Vor kurzem war im Erdhaus ein Mann gestorben, weshalb sie es nicht mehr betraten. Mit dem Tod in Berührung zu kommen, war für diese Leute absolut tabu. Um die Geister zu besänftigen, gingen sie fünf Tage lang nicht auf die Jagd, benutzten keine Messer.
— Der Verstorbene war Vater von zwei kleinen Kindern, die man erwürgt und zu ihm gelegt hat.
Erwürgt? Josephine stockte der Atem. Sie beobachtete, wie diese Kindsmörder das Steingrab umrundeten — gleich Kirchgängern bei einer Prozession. Irgendwann, Jo traute ihren Augen nicht, wurden winselnde Hunde gebracht, mit einem Lederband erdrosselt und mitsamt einem Schlitten und mehreren Harpunen neben den Steinhaufen gelegt.
— Sie glauben, der Verstorbene braucht im Himmel Werkzeuge. Henson verschränkte die Arme. Das Grab besitzt eine kleine Öffnung, wodurch die Seele abhau- …, entweichen kann. Deshalb verstopfen sie ihre Rüssel, weil sie denken, da dringt der Geist des Toten ein. Bei den Männern ist es das rechte, bei den Frauen das linke Nasenloch. Krass, oder?
— Von mir aus können die sich alle Körperöffnungen zustöpseln, aber kleine Kinder umbringen ist ein Verbrechen. Erwürgen? Worauf hatte sie sich eingelassen? Sie, die schier verrückt wurde, wenn eine Tischdecke schief lag, war in einem Land von niedlich aussehenden Zwergen gelandet, die brutal mordeten.
Eine Woche später war das Haus aufgebaut, dessen Teile in Amerika angefertigt worden waren. Die Dachsparren wurden mit einer Persenning zugedeckt, und der Ofen verqualmte bei der Premiere den ganzen Raum, so dass es roch wie in einer Selchkammer.
Peary hatte seine Galauniform angelegt — blauer Rock mit vergoldeten Knöpfen — und ließ vor der versammelten Mannschaft das Banner der Vereinigten Staaten aufziehen. Henson blies eine Fanfare, und der Expeditionsleiter wünschte allen ein erfolgreiches Jahr, Glück, Gesundheit. Ein großer Redner war er nicht. Die Eingeborenen kicherten, Cook machte einen Witz, und Verhoeff zischte, er hoffe, das Jahr wäre schon vorbei, es werde bestimmt das schrecklichste seines Lebens.
Die Bucht wurde von Landzungen geschützt, hatte eine große schneefreie Fläche, aber in ihre Senke presste sich ein bedrohlich wirkender Gletscher. Der Fjord sah aus wie der Spalt zwischen zwei Zehen. Peary nannte ihn MacCormick nach einem britischen Schiffsarzt, der einst mit Charles Darwin auf der HMS Beagle unterwegs gewesen war.
Wie wird es hier im Winter werden? Noch war es rund um die Uhr hell, und außer der Andeutung einer Dämmerung kreiste die Sonne Tag und Nacht am Horizont. Mittags war es gleißend hell, und die Quecksilbersäule stieg auf zwanzig Grad, um dann rasch wieder zu fallen. Abends gab es rötliche Schlieren in den Wolken, und nachts war das Licht verwaschen. Dafür nervten keine Mücken wie auf Neufundland.
Was Josephine zuerst als wohltuende Stille erschienen war, erwies sich nun als vielfältige Geräuschkulisse. Sie hörte das Gegrummel der Kiesel im Gletscherfluss, von fern erklang das Rumoren kalbender Gletscher, und dann war da noch das Heulen der Schlittenhunde.
Silbern glitzernde Bäche und gleißende Schneefelder zählten zu den Höhepunkten eines Grönlandsommers. Scharen von Schneeammern und kleine Alke zogen ihre Kreise. Manchmal zeigten sich auch dunkle Schatten in der Bucht: Robben, Walrosse oder Narwale.
— Ringelrobben, Sattelrobben. Die großen mechten Bartrobben sein, und Klappmützen haben Knubbel iber der Schnauze, präzisierte Cook.
— Maulwürfe der See. Verhoeff machte eine wegwerfende Geste.
Peary deutete Jo, zu den zwei Schaluppen zu kommen. Der Entdecker humpelte herum und erteilte Befehle. Das eine Boot sollte Josephine heißen, das andere nach seiner Mutter — Mary Peary.
— Bist du damit einverrrstanden? Bevor sie antworten konnte, war es schon beschlossen.
Pearys Selbstsicherheit vermittelte allen das Gefühl, Domestiken zu sein. Da die Kite noch in der Bucht lag, aß und schlief man nach wie vor an Bord. Dann zogen die Expeditionsteilnehmer in das nach Geselchtem riechende Holzhaus.
— Na, was hältst du von unserrrem Palast?
— Palast? Diese Mischung aus Geräteschuppen und Gehöft? Jo sah Kisten und Bottiche, Kohlesäcke, ein Salzfass, Knoblauchzöpfe. Was tat sie hier? Sie dachte an ihre Freundinnen in Washington, D. C., die vermutlich gerade in einem See plantschten oder sich unter schattigen Lauben räkelten, sich warmen Wind um die Nasen streichen ließen und kühle Limonaden schlürften, während ihr die Kälte in die Knochen kroch. Eine beißende Kälte, die einem die Moleküle zusammenzog. Wasser lief aus der Nase, die Oberlippe brannte. Und das im Sommer!
Die halbnackt umherlaufenden Grönländer waren an diese Temperaturen gewöhnt, Jo aber trug einen dicken Pullover unter der Jacke. Sie bemühte sich, die Hütte, etwas anderes war ihr Palast nicht, wohnlich zu gestalten. Da man vergessen hatte, Vorhänge mitzunehmen, verwendete sie Fahnen — das Banner der Geografischen Gesellschaft Washingtons und jenes der naturwissenschaftlichen Fakultät Philadelphias. Eine von Jo genähte Fahne gab es nicht. Wird es auch nie geben! Ich bin doch kein Dornröschen. Teppiche wurden ausgerollt, Bücherregale bestückt — kistenweise Romane und Bücher von Entdeckern. Dafür fehlte ein Besen. Jo band Vogelfedern um einen Stock und kehrte damit jedem hinterher.
— Hören Sie auf damit, das macht mich nervös, sagte Verhoeff gereizt.
— Niemals! Josephine wurde bereits unruhig, wenn jemand ihrem Kleiderschrank zu nahe kam. Sie hatte einen leichten Waschzwang, und aufmerksame Menschen hätten ihr eine neurotische Störung attestiert. Dabei wollte sie nur Ordnung. Ihre Großmutter war erblindet, weil sie die Unordnung in der Welt nicht mehr ertragen hatte können, und auch alle anderen Diebitsche waren auf Sauberkeit bedacht. Rührte das von ihrer deutschen Abstammung? Jedenfalls war es das Mindeste, in dieser wilden, von Moränen zerfurchten Landschaft einen Hort der Zivilisation zu haben, einen Ort der Sauberkeit. Jo verbrachte Tage damit, das Rote-Klippen-Haus, Redcliff-Haus, wie sie es nannte, fertig einzurichten. Endlich stand das Teeservice aus Meissener Porzellan in der Kommode, machte ein Tischtuch den Raum behaglich, lagen überall Deckchen und Pölster, Fußabstreifer, Teppiche. Als aber Peary mit vier Eskimofrauen ankam, fürchtete sie um ihr Werk.
Peary versuchte, ihnen zu erklären, dass sie hier Schneeanzüge nähen sollten. Die Grönländerinnen begannen, alles zu inspizieren, hoben Tassen, rückten am Tisch, klopften gegen Balken, drückten sich Pölster an die Wange, kicherten.
— Schluss damit! Jo kreischte. Peary wies ihnen Plätze zu und verteilte Nadeln aus Edelstahl, die besser waren als zugespitzte Vogelknochen.
— Warum nähen sie mit Tiersehnen anstatt mit Zwirn?
— Weil Garrrn bei Feuchtigkeit nicht aufquillt und somit schlechter dichtet.
Als Manik ihre kleine Tochter aus der Kapuze nahm und an die entblößte Brust andockte, war Mrs. Peary fasziniert. Sie wollte den danebenstehenden Minik herzig finden, aber der Kleine blickte sie mit ernstem Ausdruck an … irgendwie unheimlich, diese blauen Ringe um die Iris …, und seine Mutter stank nach Fischmarkt. Kein Wunder, wenn sich diese Leute nicht waschen.
Nachdem die Eskimofrauen zwei Stunden lang genäht hatten, geschah Ungeheuerliches. Manik erhob sich, stöberte im Regal herum, fand einen Bierkrug, ließ ihre Robbenfellhose herunter, hockte sich hin und … Jo konnte nicht glauben, was sie sah … urinierte in das Gefäß. Als wäre es das Selbstverständlichste, schoss die Flüssigkeit aus ihr. Erleichtert stellte sie den Krug auf den Esstisch und lächelte wie eine Bierzeltkellnerin. Josephine blieb die Luft weg. Was …? War das eine Kriegserklärung?
— Die hat Pipi gemacht! In einen Bierkrug! Mrs. Peary brüllte Henson an, der sich wie zum Schutz ein Buch vor das Gesicht hielt.
Miniks Schwester begann zu quengeln, während der Junge mit geschnitzten Figürchen spielte. Matt lächelte und sagte, das sei normal.
— Was soll daran normal sein? Erleichtern Sie sich auch in Bierkrüge fremder Leute? Ist das normal?
— Sie verwenden den Harn, um Felle zu enthaaren, weil sie keine Gerbsäure kennen. Manchmal waschen sie sich damit die Haare.
— Sehen Sie hier irgendwo ein Fell? Und wer sich mit Lulu die Haare wäscht … Josephines Stimme kippte. Ich bin schließlich eine Dame! Ich … So einen Affront habe ich noch nie erlebt! Das ist unschicklich! Ein Skandal! Manik schien zu spüren, dass sie für die Aufregung verantwortlich war. Sie packte Minik … Warum starrt mich der so an? … und wollte davon, kam aber nicht bei der Tür hinaus. Sie drückte gegen das Holz, warf ihren schmächtigen Körper dagegen, doch die Tür blieb verschlossen.
— Was macht sie? Jo war irritiert, und auch Henson wusste die Situation nicht zu deuten. Dann ging er zur Tür, ergriff Maniks Hand, legte sie auf die Türschnalle, drückte sie hinunter und zeigte, wie sie sich öffnen ließ. Die Inughuitfrau lachte und wiederholte das Türöffnen mehrere Male. Immer wieder drückte sie die Schnalle, schob kichernd die Tür nach vor und wieder zurück.
— Sie soll aufhören. Da kommt Kälte rein.
Nun waren auch die anderen Näherinnen aufgesprungen und bestaunten den Mechanismus. Eine Tür! Was für ein Wunder!
Inughuit besaßen Messer aus Knochen, Harpunenspitzen aus Walrosszähnen und Schlitten, aber von Türen wussten sie nichts. Mehr als achtzig Jahre zuvor hatten sie erstmals Kontakt mit Qatlunaken, wie sie die Weißen nannten — übersetzt: große Augenbrauen. Bis dahin waren sie überzeugt, die Welt sei auf Nordgrönland beschränkt. Zu den Südgrönländern hatten sie keinen Kontakt, und das Inlandeis war Geister-Land. Die ersten Weißen waren 1818 erschienen — die Männer der John-Ross-Expedition. Man hielt sie für Mondbewohner, vor denen man Frauen, Kinder und Vorräte besser versteckte.
Ross beschrieb sie als kleine Männer mit dünnen Bärten, die außer Krüppelbirken und Zwergweiden kein Holz kannten, in Zelten hausten, an keinen Gott glaubten und stumpfsinnig dahinvegetierten.
Siebzig Jahre später mussten sie damit rechnen, im Frühjahr von notgeilen Weißen überfallen zu werden, die sich auf Frauen stürzten, Elfenbein und Felle davontrugen, Krankheiten brachten — schottische Walfänger. Doyolaken wurden die genannt, weil sie jeden ihrer Sätze mit Doyo begannen. Davon abgesehen, war die Kultur der Inughuit unberührt. Man glaubte an den Mann im Mond, an die Eingeweidefresserin und an Sedna, die Meeresgöttin, in deren Haar sich Fische und Krebse verfingen. Es gab Fenster aus Eisplatten oder Robbendärmen, aber keine Türen, nur enge Eingangstunnel, die den Wind abhielten.
Die Weißen waren eine Quelle für Holz und Eisen. Einige der Inughuit hielten es trotzdem für das Beste, diese Fremdlinge umzubringen. Auch Atangana, die Schamanin, meinte, die Götter hätten sie gewarnt. Dieses Haus mit seinen rechten Winkeln, die seltsame Kleidung, das große Schiff … Die Weißen hatten das Haus des Toten berührt und innerhalb weniger Tage so viele Tabus gebrochen, dass dabei nur eines herauskommen könne, ein großes Unglück.
Josephine hatte Hoffnungen auf das Röhren des Hirsches. Nachts umklammerte sie ihren Mann und forderte ihn auf, sie anzugreifen. Peary wusste nicht, was sie wollte, und sie konnte spüren, wie er darauf wartete, dass sie sich wegdrehte und ihn in Ruhe ließ.
Peary schlief rasch ein und schnarchte wie ein Sägewerk. Das störte Josephine nicht, weil sie es verstand, sich dazu Geschichten auszudenken. Meist sah sie Karawanen durch die Wüste ziehen oder Dampfschiffe.
Heute hatte sie warme Schamottsteine in die Koje gelegt und war, ohne auf Peary zu warten, in tiefen Schlaf gesunken. Von Gepolter wurde sie geweckt. Erst dachte sie, die Männer würden etwas zimmern, oder Peary zertrümmerte sein Unterschenkelkistchen. Da sich das Geräusch wiederholte, stand sie auf, griff nach einem Schamottstein und tastete sich zögernd Richtung Lärmquelle. Von Männern war nichts zu sehen, aber im Gemeinschaftsraum saß dieses Kind, der Sohn der Pissnelke … Minik.
Der Junge zertrümmerte mit einem Hammer den Robbenschädel, den Jo von ihrem ersten Ausflug mitgebracht hatte. Als Minik sie sah, schob er mit seltsam verlangsamten Bewegungen die Knochen beiseite, erhob sich und deutete ihr mitzukommen.
— Wo sind deine Eltern? Wo ist Peary? Piuli?! Sie verließen das Haus, der kleine Knabe voran und Jo hinterher. Draußen war es hell, eine unheimliche Stille lag über allem — Geräuschpegel im Minusbereich. Das ist ein Traum, das muss ein Traum sein, sagte sich Jo. Ich laufe doch keinem Dreijährigen hinterher.
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