Es war in jener Zeit, als
ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen
Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist
...
Ich lag wach in meiner Dachstube
und hörte eine Uhr unter mir sechsmal schlagen; es war schon
ziemlich hell, und die Menschen fingen an, die Treppen auf und
nieder zu steigen. Unten bei der Türe, wo mein Zimmer mit alten
Nummern des »Morgenblattes« tapeziert war, konnte ich ganz deutlich
eine Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors sehen, und ein wenig
links davon eine fette, geschwollene Anzeige von frischgebackenem
Brot des Bäckers Fabian Olsen.
Sowie ich die Augen aufschlug,
begann ich aus alter Gewohnheit nachzudenken, ob ich heute etwas
hätte worauf ich mich freuen könnte. In der letzten Zeit war es mir
ziemlich schlecht ergangen; eins nach dem anderen meiner
Besitztümer hatte ich zum »Onkel« bringen müssen, ich war nervös
und unduldsam geworden; ein paarmal mußte ich auch wegen Schwindels
einen Tag lang im Bett bleiben. Hie und da, wenn das Glück mir
günstig war, hatte ich fünf Kronen für ein Feuilleton von
irgendeinem Blatt ergattern können.
Es tagte mehr und mehr, und ich
begann, die Anzeigen unten bei der Türe zu lesen; ich konnte sogar
die mageren grinsenden Buchstaben »Leichenwäsche bei Jungfer
Andersen, rechts im Torweg« unterscheiden. Dies beschäftigte mich
eine lange Weile, ich hörte die Uhr unter mir acht schlagen, bevor
ich aufstand und mich anzog.
Ich öffnete das Fenster und sah
hinaus. Von meinem Platz aus sah ich eine Wäscheleine und ein
freies Feld; weit draußen lag noch der Schutt einer abgebrannten
Schmiede, den einige Arbeiter forträumten. Ich legte mich mit den
Ellbogen ins Fenster und starrte in die Luft hinaus. Es wurde ganz
gewiß ein heller Tag. Der Herbst war gekommen, die feine, kühle
Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Der Lärm
in den Straßen hatte schon begonnen und lockte mich ins Freie:
dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt, den ich
darüber hinging, auf und nieder schwankte, war wie ein feuchter,
unheimlicher Sarg; kein ordentliches Schloß an der Türe und kein
Ofen im Raum. Ich pflegte in der Nacht auf meinen Strümpfen zu
liegen, um sie bis zum Morgen ein wenig trocken zu bekommen. Das
einzige Erfreuliche, was ich hier hatte, war ein kleiner roter
Schaukelstuhl, in dem ich an den Abenden saß und döste und an
allerhand Dinge dachte. Wenn der Wind stark blies, und die Türen
unten offenstanden, tönte vielfältiges seltsames Pfeifen durch den
Boden herauf und durch die Wände herein, und das »Morgenblatt«
unten bei der Türe bekam Risse so lang wie eine Hand.
Ich erhob mich und suchte in
einem Bündel in der Ecke beim Bett, ob noch etwas zum Frühstück
darin wäre, fand aber nichts und kehrte wieder zum Fenster
zurück.
Gott weiß, dachte ich, ob es mir
jemals etwas nützen wird, nach einer Beschäftigung zu suchen! Diese
vielen Absagen, diese halben Versprechungen, glatte Nein, genährte
und getäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedesmal in nichts
verliefen, hatten meinen Mut erdrosselt. Zuletzt hatte ich einen
Platz als Kassenbote gesucht, war aber zu spät gekommen; und
außerdem konnte ich nicht die fünfzig Kronen Sicherheit schaffen.
Es gab immer das eine oder andere Hindernis. Ich hatte mich auch
bei der Feuerwehr gemeldet. Wir standen ein halbes Hundert Mann in
der Vorhalle und streckten die Brust heraus, um den Eindruck von
Kraft und großer Kühnheit zu erwecken. Ein Bevollmächtigter ging
umher und besah diese Bewerber, befühlte ihre Arme und stellte
ihnen diese oder jene Frage, und an mir ging er vorbei, schüttelte
nur den Kopf und sagte, daß ich wegen meiner Brille untauglich sei.
Ich kam wieder, ohne Brille, ich stand mit gerunzelten Brauen da
und machte meine Augen so scharf wie Messer, und der Mann ging
wiederum an mir vorbei, und er lächelte – er hatte mich wohl
wiedererkannt. Das Schlimmste von allem war, daß meine Kleider
anfingen, schlecht zu werden, und ich mich nirgends mehr als
anständiger Mensch vorstellen konnte.
Wie gleichförmig und regelmäßig
war es die ganze Zeit mit mir abwärts gegangen! Ich stand zuletzt
so sonderbar entblößt von allem möglichen da, ich hatte nicht
einmal mehr einen Kamm – hatte kein Buch mehr, um darin zu lesen,
wenn mir traurig zumute wurde. Den ganzen Sommer über war ich auf
die Kirchhöfe hinausgegangen oder hinauf in den Schloßpark, wo ich
mich dann hinsetzte und Artikel für die Zeitungen verfaßte, Spalte
auf Spalte, über die verschiedensten Dinge, seltsame Erfindungen,
Launen, Einfälle meines unruhigen Gehirns; in der Verzweiflung
hatte ich oft die entferntesten Themen gewählt, die mich die
Anstrengung langer Stunden kosteten, und die dann niemals
angenommen wurden. Wenn ein Stück fertig war, nahm ich ein neues in
Angriff, und ich ließ mich selten von dem Nein des Redakteurs
niederschlagen; ich sagte ständig zu mir selbst, daß es doch einmal
glücken müsse. Und wirklich, zuweilen, wenn ich das Glück auf
meiner Seite hatte und das Ganze mir gut geriet, konnte ich fünf
Kronen für die Arbeit eines Nachmittags bekommen.
Ich trat wieder vom Fenster weg,
ging zu dem Stuhl, auf dem das Waschwasser stand, und sprengte ein
bißchen Wasser auf meine blanken Hosenkniee, um sie zu schwärzen
und sie ein wenig neuer aussehen zu machen. Als ich das getan
hatte, steckte ich wie gewöhnlich Papier und Bleistift in die
Tasche und ging aus. Um nicht die Aufmerksamkeit meiner Wirtin zu
erwecken, glitt ich sehr leise die Treppe hinunter. Es waren schon
ein paar Tage vergangen, seit meine Miete fällig gewesen, und ich
besaß nun nichts mehr, sie zu zahlen.
Es war neun Uhr. Wagengerassel
und Stimmen erfüllten die Luft, ein ungeheurer Morgenchor,
vermischt mit den Schritten der Fußgänger und dem Knallen der
Kutscherpeitschen. Dieses lärmende Treiben überall belebte mich
sofort, und ich begann mich mehr und mehr zufrieden zu fühlen.
Nichts lag meinen Gedanken ferner als nur ein Morgengang in
frischer Luft. Was ging die Luft meine Lungen an? Ich war stark wie
ein Riese und konnte einen Wagen mit meiner Schulter aufhalten.
Eine feine, seltsame Stimmung, das Gefühl der hellen
Gleichgültigkeit, hatte sich meiner bemächtigt. Ich beobachtete die
Menschen, die mir begegneten und an denen ich vorbeiging, las die
Plakate an den Wänden, empfing den Eindruck eines Blickes, der aus
einer vorbeifahrenden Trambahn auf mich fiel, ließ jede Bagatelle
in mich eindringen, alle die kleinen Zufälligkeiten, die meinen Weg
kreuzten und wieder verschwanden ...
Wenn man nur ein wenig zu essen
bei sich hätte, an einem so hellen Tag! Der Eindruck des frohen
Morgens überwältigte mich, ich wurde unbändig zufrieden und fing
an, ohne einen bestimmten Grund vor Freude zu summen ... Bei einem
Metzgerladen stand eine Frau mit einem Korb am Arm und spekulierte
auf Würste zu Mittag; als ich an ihr vorüberging, sah sie mich an.
Sie hatte nur einen Zahn, und der saß ganz vorne. Nervös und leicht
empfänglich, wie ich in den letzten Tagen geworden war, machte das
Gesicht der Frau sofort einen widerlichen Eindruck auf mich; der
lange, gelbe Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem
Kiefer ragte, und ihr Blick war noch voll von Wurst, als sie sich
zu mir drehte. Ich verlor mit einemmal den Appetit und fühlte
Würgen. Als ich zu den Basaren kam, ging ich zum Brunnen hin und
trank ein wenig Wasser; ich sah empor – auf der Turmuhr der
Erlöserkirche war es zehn Uhr.
Ich ging weiter durch die
Straßen, trieb mich umher, ohne mich um irgend etwas zu bekümmern,
blieb grundlos an einer Ecke stehen, bog ab und ging in eine
Seitenstraße, ohne dort etwas zu tun zu haben. Ich ließ es darauf
ankommen, ließ mich durch den frohen Morgen treiben, wiegte mich
sorgenfrei vor und zurück unter anderen glücklichen Menschen; die
Luft war leer und hell, und mein Gemüt war ohne einen
Schatten.
Zehn Minuten lang hatte ich nun
beständig einen alten hinkenden Mann vor mir gehabt. Er trug ein
Bündel in der Hand und ging mit seinem ganzen Körper, arbeitete mit
aller Macht, um schnell vorwärts zu kommen. Ich hörte, wie er vor
Anstrengung schnaufte, und es fiel mir ein, daß ich ihm sein Bündel
tragen könnte. Oben in der Graensenstraße begegnete ich Hans Pauli,
der grüßte und vorbeihastete. Weshalb hatte er solche Eile? Ich
hatte durchaus nicht im Sinn, ihn um eine Krone zu bitten, ich
wollte ihm auch in der allernächsten Zeit die Decke zurücksenden,
die ich vor einigen Wochen von ihm geliehen hatte. Sobald ich ein
wenig obenauf gekommen wäre, wollte ich keinem Menschen mehr eine
Decke schuldig sein; vielleicht begann ich schon heute einen
Artikel über die Verbrechen der Zukunft oder über die Freiheit des
Willens, irgend etwas, etwas Lesenswertes, wofür ich mindestens
zehn Kronen bekommen würde ... Und bei dem Gedanken an diesen
Artikel fühlte ich mich mit einemmal von dem Drang durchströmt,
sofort anzufangen und aus meinem vollen Gehirn zu schöpfen; ich
wollte mir einen passenden Platz im Schloßpark suchen und nicht
ruhen, bevor ich den Artikel fertig hätte.
Aber der alte Krüppel vor mir auf
der Straße machte immer noch die gleichen zappelnden Bewegungen. Es
begann zuletzt mich zu ärgern, die ganze Zeit diesen gebrechlichen
Menschen vor mir zu haben. Es schien, als würde seine Reise nie ein
Ende nehmen; vielleicht hatte er sich zu eben dem gleichen Ort
entschlossen wie ich, und ich sollte ihn den ganzen Weg vor meinen
Augen haben. In meiner Erregung schien es mir, als zögere er bei
jeder Querstraße einen Augenblick und warte gleichsam darauf,
welche Richtung ich nehmen würde, worauf er das Bündel wieder hoch
in die Luft schwang und mit äußerster Macht weiterging, um einen
Vorsprung zu bekommen. Ich gehe und sehe auf dieses verquälte Wesen
und werde immer mehr mit Erbitterung erfüllt; ich fühlte, wie es
nach und nach meine helle Stimmung zerstörte und den reinen,
schönen Morgen mit einemmal mit sich in Häßlichkeit hinunterzog. Er
sah wie ein großes humpelndes Insekt aus, das sich mit Gewalt und
Macht zu einem Platz in der Welt durchschlagen und den Gehsteig für
sich allein behalten wollte. Auf der Höhe angekommen, wollte ich
mich nicht mehr länger dareinfinden. Ich wandte mich einem
Schaufenster zu und blieb stehen, um ihm Gelegenheit zu geben,
fortzukommen. Als ich nach Verlauf einiger Minuten wieder zu gehen
anfing, war der Mann wieder vor mir, auch er war wie angenagelt
stillgestanden. Ich machte, ohne mich zu bedenken, drei, vier
rasende Schritte vorwärts, holte ihn ein und schlug ihn auf die
Schulter.
Er hielt mit einemmal an. Wir
starrten beide einander ins Gesicht.
Einen kleinen Schilling für
Milch! sagte er endlich und legte den Kopf auf die Seite.
So, nun war ich schön
hereingefallen! Ich suchte in den Taschen und sagte:
Für Milch, ja. Hm. Es sieht
schlecht aus mit Geld in diesen Zeiten, und ich weiß nicht, wie
bedürftig Sie sind.
Ich habe seit gestern in Drammen
nichts gegessen, sagte der Mann; ich besitze nicht einen Ör und
habe noch keine Arbeit bekommen.
Sind Sie Handwerker?
Ja, ich bin Nadler.
Was?
Nadler. übrigens kann ich auch
Schuhe machen.
Das ändert die Sache, sagte ich.
Warten Sie hier ein paar Minuten, so werde ich etwas Geld für Sie
holen, einige Öre.
In größter Eile ging ich den
Pilestraede hinunter, wo ich einen Pfandleiher im ersten Stock
wußte; ich war im übrigen nie vorher bei ihm gewesen. Als ich ins
Tor hineingekommen war, zog ich eiligst meine Weste aus, rollte sie
zusammen und steckte sie unter den Arm, darauf ging ich die Treppe
hinauf und klopfte an die Bude. Ich verbeugte mich und warf die
Weste auf den Tisch.
Anderthalb Kronen, sagte der
Mann.
Ja ja, danke, antwortete ich.
Verhielte es sich nicht so, daß sie mir zu knapp wird, würde ich
mich nicht von ihr trennen.
Ich bekam das Geld und den Schein
und begab mich zurück. Es war das im Grund ein ausgezeichneter
Einfall, das mit der Weste; ich würde sogar Geld zu einem
reichlichen Frühstück übrig behalten und bis zum Abend könnte dann
meine Abhandlung über die Verbrechen der Zukunft fertig sein. Ich
begann auf der Stelle das Dasein freundlicher zu finden, und eilte
zu dem Mann zurück, um ihn loszuwerden.
Hier bitte! sagte ich zu ihm. Es
freut mich, daß Sie sich zuerst an mich gewandt haben.
Der Mann nahm das Geld und begann
mich mit den Augen zu mustern. Was stand er da und starrte? Ich
hatte den Eindruck, daß er besonders meine Hosenkniee untersuchte,
und ich wurde dieser Unverschämtheit müde. Glaubte der Schlingel,
ich sei wirklich so arm, wie ich aussah? Hatte ich nicht schon
sozusagen damit begonnen, an einem Artikel für zehn Kronen zu
schreiben? Überhaupt fürchtete ich nicht für die Zukunft, ich hatte
viele Eisen im Feuer. Was ging es da einen wildfremden Menschen an,
ob ich an einem so hellen Tag ein Trinkgeld fortgab? Der Blick des
Mannes ärgerte mich, und ich beschloß, ihm eine Zurechtweisung zu
geben, bevor ich ihn verließ. Ich zuckte mit den Schultern und
sagte:
Mein guter Mann, Sie haben die
häßliche Gewohnheit, einem auf die Kniee zu glotzen, wenn man Ihnen
eine Krone gibt.
Er legte den Kopf ganz gegen die
Mauer zurück und sperrte den Mund auf. Hinter seiner Bettlerstirne
arbeitete es, er dachte ganz gewiß, daß ich ihn auf die eine oder
andere Weise narren wolle, und er reichte mir das Geld
zurück.
Ich stampfte auf das Pflaster und
fluchte, er müsse es behalten. Bildete er sich ein, daß ich alle
die Beschwerlichkeiten für nichts gehabt haben wollte? Alles in
allem genommen schuldete ich ihm vielleicht diese Krone, ich wäre
so beschaffen, daß ich mich einer alten Schuld erinnerte, er stünde
vor einem rechtschaffenen Menschen, ehrlich bis in die
Fingerspitzen. Kurz gesagt, das Geld wäre sein ... Oh, nichts dafür
zu danken, es war mir eine Freude. Lebwohl.
Ich ging. Endlich hatte ich
diesen gichtbrüchigen Plagegeist aus dem Weg geschafft und konnte
ungestört sein. Ich ging wieder durch den Pilestraede hinunter und
hielt vor einem Lebensmittelladen an. Das Fenster war voll von
Eßwaren, und ich beschloß hineinzugehen und mir etwas mit auf den
Weg zu nehmen.
Ein Stück Käse und ein Franzbrot!
sagte ich und schmiß meine halbe Krone auf den Ladentisch.
Käse und Brot für alles zusammen?
fragte die Frau ironisch, ohne mich anzusehen.
Für die ganzen fünfzig Öre, ja,
antwortete ich unbeirrt.
Ich erhielt meine Sachen, sagte
äußerst höflich guten Morgen zu der alten, fetten Frau und begab
mich spornstreichs über den Schloßberg hinauf in den Park. Ich fand
eine Bank für mich allein und begann gierig von meinem Vorrat
abzubeißen. Das tat mir gut; es war lange her, seit ich eine so
reichliche Mahlzeit genossen hatte, und ich fühlte nach und nach
die gleiche satte Ruhe in mir, wie man sie nach langem Weinen
empfindet. Mein Mut wuchs stark; es war mir nicht mehr genug, einen
Artikel über etwas so Einfaches und Selbstverständliches wie die
Verbrechen der Zukunft zu schreiben, die außerdem jeder beliebige
selbst erraten, ja sich aus der Geschichte herauslesen konnte. Ich
fühlte mich zu größeren Anstrengungen imstande, ich war in der
Stimmung, Schwierigkeiten zu überwinden, und ich entschloß mich zu
einer Abhandlung in drei Abschnitten über die philosophische
Erkenntnis. Natürlich würde ich Gelegenheit finden, einige von
Kants Sophismen jämmerlich zu zerknicken ... Als ich meine
Schreibsachen herauszog und die Arbeit beginnen wollte, entdeckte
ich, daß ich meinen Bleistift nicht mehr bei mir hatte, ich hatte
ihn in der Pfandleiherbude vergessen, der Bleistift steckte in der
Westentasche.
Herrgott, wie doch alles verkehrt
ging! Ich fluchte ein paarmal, erhob mich von der Bank und trieb in
den Wegen auf und ab. Es war überall sehr still; weit weg, beim
Lusthaus der Königin, rollten ein paar Kindermädchen ihre Wagen
umher, sonst war nirgends ein Mensch zu sehen. Ich war in meinem
Innern sehr verbittert und ging wie ein Rasender vor meiner Bank
auf und ab. Wie merkwürdig verkehrt ging es doch in jeder
Beziehung! Ein Artikel in drei Abschnitten sollte an dem simplen
Umstand scheitern, daß ich nicht ein Stück eines Zehnörebleistiftes
in der Tasche hatte! Wenn ich nun wieder in den Pilestraede ginge
und mir meinen Bleistift ausliefern ließe? Es würde trotzdem noch
Zeit bleiben, ein gutes Teil fertig zu bekommen, bis die
Spaziergänger anfingen den Park zu füllen. Es gab auch so vieles,
was von dieser Abhandlung über die philosophische Erkenntnis
abhing, vielleicht das Glück vieler Menschen, niemand konnte das
wissen. Ich sagte zu mir selbst, sie könne vielleicht eine große
Hilfe für manchen jungen Menschen werden. Wenn ich es recht
bedachte, wollte ich mich nicht an Kant vergreifen; ich konnte das
ja umgehen, ich brauchte nur eine unmerkliche Schwenkung zu machen,
wenn ich an die Frage von Zeit und Raum käme; aber für Renan wollte
ich nicht einstehen, für den alten Landpfarrer Renan ... Unter
allen Umständen galt es, einen Artikel von so und so vielen Spalten
herzustellen; die unbezahlte Miete, der lange Blick der Wirtin am
Morgen, wenn ich sie auf der Treppe traf, peinigten mich den ganzen
Tag und tauchten sogar in meinen frohen Stunden auf, wenn ich sonst
keinen dunklen Gedanken hatte. Diesem mußte ich ein Ende machen.
Ich ging schnell aus dem Park, um meinen Bleistift beim Pfandleiher
zu holen.
Als ich den Schloßhügel
hinunterkam, holte ich zwei Damen ein, an denen ich vorbeiging.
Indem ich sie überholte, streifte ich den Ärmel der einen, ich sah
auf, sie hatte ein volles, ein wenig bleiches Gesicht. Mit einemmal
erglüht sie und wird merkwürdig schön, ich weiß nicht weshalb,
vielleicht wegen eines Wortes, das sie von einem Vorübergehenden
hört, vielleicht nur wegen eines stillen Gedankens bei sich selbst.
Oder sollte es sein, weil ich ihren Arm berührt hatte? Ihre hohe
Brust wogt einige Male heftig, und sie preßt die Hand hart um den
Schirmstock. Was war ihr?
Ich blieb stehen und ließ sie
wieder vorausgehen, ich konnte im Augenblick nicht weitergehen, das
Ganze kam mir so sonderbar vor. Ich war in einer reizbaren Laune,
ärgerlich auf mich selbst wegen des Vorfalls mit dem Bleistift und
in hohem Maß erregt von all dem Essen, das ich mit leerem Magen
genossen hatte. Auf einmal nehmen meine Gedanken durch eine
launenhafte Vorstellung eine merkwürdige Richtung, ich fühle mich
von einer seltsamen Lust ergriffen, dieser Dame Angst zu machen,
ihr zu folgen und sie auf irgendeine Weise zu ärgern. Ich hole sie
wieder ein und gehe an ihr vorbei, wende mich plötzlich um und
begegne ihr, Antlitz in Antlitz, um sie zu beobachten. Ich stehe
und sehe ihr in die Augen und erfinde auf der Stelle einen Namen,
den ich niemals gehört hatte, einen Namen mit einem gleitenden,
nervösen Laut: Ylajali. Als sie mir nah genug gekommen war, richte
ich mich auf und sage eindringlich:
Sie verlieren Ihr Buch,
Fräulein.
Ich konnte vernehmen, wie mein
Herz hörbar schlug, als ich das sagte.
Mein Buch? fragt sie ihre
Begleiterin. Und sie geht weiter.
Meine Bosheit nahm zu und ich
folgte ihnen. Ich war mir in diesem Augenblick voll bewußt, daß ich
verrückte Streiche beging, ohne daß ich dagegen etwas hätte tun
können; mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und gab mir die
wahnsinnigsten Einflüsterungen, denen ich der Reihe nach gehorchte.
Wie sehr ich mir auch vorsagte, daß ich mich idiotisch benehme,
machte ich doch die dümmsten Grimassen hinter dem Rücken der Dame
und hustete einige Male rasend, während ich an ihr vorbeiging. Auf
diese Weise ganz langsam vorwärtsgehend, immer um einige Schritte
im Vorsprung, fühlte ich ihre Augen in meinem Rücken, und ich
duckte mich unwillkürlich nieder vor Scham darüber, sie belästigt
zu haben. Nach und nach hatte ich die seltsame Wahrnehmung, weit
fort zu sein, an anderen Orten, ich hatte halb unbestimmt das
Gefühl, daß gar nicht ich es sei, der hier auf den Steinfliesen
ging und sich niederduckte.
Einige Minuten später ist die
Dame zu Paschas Buchladen gekommen. Ich war bereits beim ersten
Fenster stehen geblieben, und als sie vorbeigeht, trete ich vor und
wiederhole:
Sie verlieren Ihr Buch,
Fräulein.
Nein, welches Buch? sagt sie
ängstlich. Begreifst du, von welchem Buch er spricht?
Und sie bleibt stehen. Ich
ergötze mich grausam an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in
ihren Augen berückt mich. Ihr Denken kann meine kleine desperate
Anrede nicht fassen; sie hat durchaus kein Buch dabei, nicht ein
einziges Blatt eines Buches, und trotzdem sucht sie in ihren
Taschen, sieht sich wiederholt in die Hände, wendet den Kopf und
untersucht die Straße hinter sich, strengt ihr kleines,
empfindliches Gehirn auf das äußerste an, um herauszufinden, von
welchem Buch ich spreche. Ihr Gesicht wechselt die Farbe, hat bald
den einen, bald den andern Ausdruck, und sie atmet hörbar; selbst
die Knöpfe an ihrem Kleid scheinen mich wie eine Reihe erschreckter
Augen anzustarren.
Ach laß' ihn doch, sagt ihre
Begleiterin und zieht sie am Arm; er ist ja betrunken; siehst du
denn nicht, daß der Mann betrunken ist!
So fremd ich mir in diesem
Augenblick auch selbst war, so vollständig eine Beute unsichtbarer
Einflüsse, ging doch um mich herum nichts vor sich, ohne daß ich es
bemerkte. Ein großer brauner Hund sprang quer über die Straße,
gegen die Anlagen zu und hinunter nach Tivoli; er hatte ein
schmales Halsband aus Neusilber um. Weiter oben in der Straße wurde
im ersten Stock ein Fenster geöffnet, und ein Mädchen mit
aufgestülpten Ärmeln lehnte sich heraus und begann die Scheiben auf
der Außenseite zu putzen. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit, ich
war klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömten mit einer
leuchtenden Deutlichkeit auf mich ein, als verbreitete sich
plötzlich ein starkes Licht um mich her. Die Damen vor mir hatten
beide blaue Vogelflügel auf dem Hut und schottische Seidenbänder um
den Hals. Es schien mir, daß es Schwestern seien.
Sie bogen ab und hielten bei
Eislers Musikalienhandlung an und sprachen zusammen. Auch ich blieb
stehen. Darauf kamen sie zurück, nahmen den gleichen Weg, den sie
gekommen waren, gingen wieder an mir vorbei, schwenkten um die Ecke
bei der Universitätsstraße und gingen direkt hinauf zum Sankt
Olafsplatz. Ich war ihnen die ganze Zeit so dicht auf den Fersen,
wie ich nur wagte. Einmal wandten sie sich um und sandten mir einen
halb erschreckten, halb neugierigen Blick zu, und ich sah in ihren
Mienen keinen Unwillen und keine gerunzelten Brauen. Diese Geduld
mit meinen Belästigungen machte mich sehr beschämt, und ich schlug
die Augen nieder. Ich wollte ihnen nicht länger zum Verdruß sein,
ich wollte aus reiner Dankbarkeit ihnen nur mit den Augen folgen,
sie nicht aus dem Gesicht verlieren, ganz, bis sie irgendwo
hineingehen und verschwinden würden.
Vor Nummer zwei, einem großen
dreistöckigen Haus, wandten sie sich noch einmal um, dann traten
sie ein. Ich lehnte mich an einen Laternenpfahl beim Springbrunnen
und lauschte ihren Schritten auf der Treppe nach; sie erstarben im
ersten Stock. Ich trete vom Licht weg und sehe am Haus hinauf. Da
geschieht etwas Sonderbares, die Vorhänge bewegen sich hoch oben,
einen Augenblick später wird ein Fenster geöffnet, ein Kopf schaut
heraus, und zwei seltsam blickende Augen ruhen auf mir. Ylajali!
sagte ich halblaut und fühlte, daß ich rot wurde. Warum rief sie
nicht um Hilfe? Warum stieß sie nicht an einen der Blumentöpfe, so
daß er mir auf den Kopf fiel, oder schickte jemand herunter, um
mich wegzujagen? Wir stehen da und sehen einander in die Augen,
ohne uns zu rühren; das dauert eine Minute. Gedanken schießen
zwischen dem Fenster und der Straße hin und her, und kein Wort wird
gesagt. Sie wendet sich um, es gibt mir einen Ruck, einen zarten
Stoß durch den Sinn; ich sehe eine Schulter, die sich dreht, einen
Rücken, der ins Zimmer verschwindet. Dieses langsame Weggehen vom
Fenster, die Betonung in dieser Bewegung mit der Schulter, war wie
ein Nicken zu mir; mein Blut vernahm diesen feinen Gruß, und ich
fühlte mich im selben Augenblick wunderbar froh. Dann kehrte ich um
und ging die Straße hinunter.
Ich wagte nicht zurückzusehen und
wußte nicht, ob sie abermals ans Fenster gekommen war; ich wurde
immer unruhiger und nervöser, je mehr ich diese Frage überlegte.
Vermutlich stand sie in diesem Augenblick am Fenster und verfolgte
genau meine Bewegungen, und sich so von hinten beobachtet zu
wissen, war in keiner Weise auszuhalten. Ich straffte mich auf, so
gut ich konnte und ging weiter; es begann in meinen Beinen zu
zucken, mein Gang wurde unsicher, weil ich ihn mit Absicht schön
machen wollte. Um ruhig und gleichgültig zu scheinen, schlenkerte
ich sinnlos mit den Armen, spuckte auf die Straße und streckte die
Nase in die Luft; aber nichts half. Ich fühlte ständig die
verfolgenden Augen in meinem Nacken, es lief mir kalt durch den
Körper. Endlich rettete ich mich in eine Seitenstraße, von wo ich
den Weg zum Pilestraede hinunter nahm, um meinen Bleistift zu
holen.
Es machte mir keine Mühe, ihn
zurückzuerhalten. Der Mann brachte mir die Weste selbst und bat
mich, gleich alle Taschen zu untersuchen; ich fand auch ein paar
Pfandscheine, die ich zu mir steckte, und dankte dem freundlichen
Mann für sein Entgegenkommen. Er nahm mich mehr und mehr für sich
ein, es war mir im selben Augenblick sehr darum zu tun, diesem
Menschen einen besonders guten Eindruck von mir zu geben. Ich
wandte mich zur Türe und kehrte wieder zum Ladentisch zurück, als
hätte ich etwas vergessen; ich glaubte ihm eine Erklärung schuldig
zu sein, eine Auskunft, und ich begann zu summen, um ihn aufmerksam
zu machen. Dann nahm ich den Bleistift in die Hand und hielt ihn in
die Luft.
Es könne mir nicht einfallen,
sagte ich, weite Wege wegen irgendeines beliebigen Bleistiftes zu
gehen; mit diesem hier aber sei es eine andere Sache, eine eigene
Sache. So gering er auch aussah, hatte dieser Bleistiftstumpf mich
schlechthin zu dem gemacht, was ich in der Welt war, hatte mich
sozusagen auf meinem Platz im Leben gestellt ...
Mehr sagte ich nicht. Der Mann
kam ganz nahe zum Ladentisch her.
Soso? meinte er und sah mich
neugierig an.
Mit diesem Bleistift, fuhr ich
kaltblütig fort, habe ich meine Abhandlung in drei Bänden über die
philosophische Erkenntnis geschrieben. Ob er nicht davon reden
gehört habe?
Und dem Mann schien es wirklich,
daß er den Namen, den Titel gehört habe.
Ja, sagte ich, das sei von mir,
das! Da dürfe es ihn schließlich nicht wundern, wenn ich dieses
kleine Ende von einem Bleistift zurückhaben wolle. Es habe allzu
großen Wert für mich, es sei mir beinahe wie ein kleiner Mensch,
übrigens sei ich ihm für sein Wohlwollen aufrichtig dankbar, und
ich wolle mich seiner dafür erinnern – doch, doch, ich wolle mich
wirklich dafür seiner erinnern; ein Mann ein Wort, so sei ich, und
er verdiene es. Lebwohl.
Ich ging mit einer Haltung zur
Türe, als könnte ich ihn in einer hohen Stellung unterbringen. Der
freundliche Pfandleiher verbeugte sich zweimal vor mir, als ich
mich entfernte, und ich wandte mich noch einmal um und sagte
Lebwohl.
Auf der Treppe begegnete ich
einer Frau, die eine Reisetasche in der Hand trug. Sie drückte sich
ängstlich zur Seite, um mir Platz zu machen, weil ich mich so
aufblies, und ich griff unwillkürlich in die Tasche, wollte ihr
etwas geben, als ich nichts fand, wurde ich herabgestimmt, und ich
ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Kurz darauf hörte ich, daß
auch sie an die Bude klopfte; es war ein Drahtgitter an der Tür,
ich erkannte sogleich den klirrenden Laut wieder, den es von sich
gab, wenn eines Menschen Knöchel es berührte.
Die Sonne stand im Süden, es war
ungefähr zwölf Uhr. Die Stadt fing an auf die Beine zu kommen, die
Promenadezeit näherte sich, und grüßendes und lachendes Volk wogte
in der Karl-Johan-Straße auf und nieder. Ich drückte die Ellbogen
an die Seite, machte mich klein und schlüpfte unbemerkt an einigen
Bekannten vorbei, die eine Ecke bei der Universität in Beschlag
genommen hatten, um die Vorübergehenden zu betrachten. Ich wanderte
den Schloßberg hinauf und fiel in Gedanken.
Diese Menschen – leicht und
lustig wiegten sie ihre hellen Köpfe und schwangen sich durch das
Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem einzigen Auge war Sorge,
keine Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger
trüber Gedanke, nicht eine einzige kleine heimliche Pein in einem
dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging hier dicht neben diesen
Menschen, jung und vor kurzem erschlossen, und ich hatte schon
vergessen, wie das Glück aussah. Ich liebkoste diesen Gedanken bei
mir selbst und fand, daß mir ein grausames Unrecht geschehen war.
Warum waren die letzten Monate so merkwürdig hart gegen mich
gewesen? Ich kannte meinen hellen Sinn nicht wieder. An allen Ecken
und Enden litt ich an den sonderbarsten Plagen. Ich konnte mich
nicht einmal allein auf irgendeine Bank setzen oder meinen Fuß
irgendwohin bewegen, ohne von kleinen, bedeutungslosen
Zufälligkeiten überfallen zu werden, von jämmerlichen Bagatellen,
die sich in meine Vorstellungen eindrängten und meine Kräfte in
alle Winde zerstreuten. Ein Hund, der an mir vorbeistrich, eine
gelbe Rose im Knopfloch eines Herrn, konnten meine Gedanken in
Schwingungen versetzen und mich für längere Zeit beschäftigen. Was
fehlte mir? Hatte der Finger des Herrn auf mich gedeutet? Aber
warum gerade auf mich? Warum nicht ebensogut auf einen Mann in
Südamerika, wenn es schon so sein mußte? Überlegte ich die Sache
recht, wurde es mir immer unbegreiflicher, daß gerade ich zum
Probierstein für die Laune der Gnade Gottes ausersehen sein sollte.
Es war dies eine höchst eigentümliche Art vorzugehen, eine ganze
Welt zu überspringen, um mich zu erreichen; der Antiquarbuchhändler
Pascha und der Dampfschiffexpediteur Hennechen waren doch auch noch
da.
Ich ging weiter und prüfte diese
Sache und wurde nicht fertig mit ihr; ich fand die gewichtigsten
Einwände gegen diese Willkür des Herrn, mich die Schuld aller
entgelten zu lassen. Sogar nachdem ich eine Bank gefunden und mich
niedergesetzt hatte, fuhr diese Frage fort, mich zu beschäftigen
und mich zu hindern, an andere Dinge zu denken. Seit dem Tag im
Mai, da meine Widerwärtigkeiten begonnen hatten, konnte ich ganz
deutlich eine allmählich zunehmende Schwäche bemerken, ich war
gleichsam zu matt geworden, um mich dahin zu steuern und zu leiten,
wohin ich wollte. Ein Schwarm von kleinen schädlichen Tieren hatte
sich in mein Inneres gedrängt und mich ausgehöhlt. Wie, wenn nun
Gott geradezu im Sinn hätte, mich ganz zu zerstören? Ich stand auf
und trieb vor meiner Bank hin und her.
Mein ganzes Wesen befand sich in
diesem Augenblick im höchsten Grad der Pein; ich hatte sogar in den
Armen Schmerzen und konnte es kaum ertragen, sie auf gewöhnliche
Art zu halten. Auch von meiner letzten schweren Mahlzeit her fühlte
ich ein starkes Unbehagen, ich war übersättigt und erregt und
spazierte auf und ab, ohne aufzusehen; die Menschen, die um mich
her waren, kamen und glitten an mir vorbei wie Schatten.
Schließlich wurde meine Bank von ein paar Herren besetzt, die ihre
Zigarren anzündeten und laut schwätzten. Ich geriet in Zorn und
wollte sie anreden, kehrte aber um und ging ganz hinüber zur
anderen Seite des Parkes, wo ich eine andere Bank fand. Ich setzte
mich.
Der Gedanke an Gott begann mich
wieder in Anspruch zu nehmen. Ich fand es höchst unverantwortlich
von ihm, mir jedesmal in den Weg zu treten, wenn ich einen Posten
suchte, und alles zu zerstören, obwohl es doch nur die Nahrung des
Tages war, um die ich bat. Ich hatte es ganz deutlich bemerkt,
immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne
mein Gehirn langsam aus dem Kopf, und als würde er leer. Das Haupt
wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf
meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, daß meine Augen
allzuweit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.
Ich saß da auf der Bank und
dachte über all dieses nach und wurde immer bitterer gegen Gott
wegen seiner andauernden Quälereien. Wenn er glaubte, mich näher an
sich zu ziehen und mich besser zu machen, indem er mich peinigte
und mir Widerstand auf Widerstand in den Weg legte, griff er ein
wenig fehl, das konnte ich ihm versichern. Und ich sah zum Himmel
auf, weinend fast vor Trotz, und sagte ihm das im stillen ein für
allemal.
Bruchstücke meines Kinderglaubens
kamen mir ins Gedächtnis, der Tonfall der Bibel sang in meinen
Ohren, ich sprach leise mit mir selbst und legte den Kopf spöttisch
auf die Seite. Weshalb bekümmerte ich mich darum, was ich fressen
sollte, was ich saufen sollte, und in was ich diesen elenden
Madensack, meinen irdischen Leib genannt, kleiden sollte? Hatte
nicht mein himmlischer Vater für mich gesorgt wie für die Sperlinge
unter dem Himmel und mir die Gnade erwiesen, auf seinen geringen
Diener zu deuten? Gott hatte seinen Finger in mein Nervennetz
gesteckt und behutsam, ganz obenhin, ein wenig Unordnung in die
Drähte gebracht. Und Gott hatte seinen Finger zurückgezogen und
siehe, es waren Fäden, feine Wurzelfäden von den Fasern meiner
Nerven an dem Finger. Und es blieb ein offenes Loch von seinem
Finger zurück, der Gottes Finger war, und Wunden blieben in meinem
Gehirn von den Wegen seines Fingers. Aber als Gott mich mit dem
Finger seiner Hand berührt hatte, entließ er mich und berührte mich
nicht mehr und ließ mir nichts Böses widerfahren. Vielmehr durfte
ich in Frieden gehen und durfte mit dem offenen Loch gehen. Und
nichts Böses widerfährt mir von Gott, der der Herr ist, in alle
Ewigkeit ...
Stöße von Musik wurden vom Wind
aus dem Studentenhain zu mir heraufgetragen, es war also zwei Uhr
vorbei. Ich zog meine Papiere hervor und versuchte etwas zu
schreiben, gleichzeitig fiel mein Barbierabonnement aus der Tasche.
Ich öffnete es und zählte die Blätter, es waren noch sechs Karten
übrig. Gott sei Dank! sagte ich unwillkürlich; ich konnte mich noch
einige Wochen rasieren lassen und anständig aussehen! Und gleich
kam ich in eine bessere Gemütsstimmung durch dieses kleine
Eigentum, das ich noch besaß; ich glättete die Karten sorgfältig
und verwahrte das Buch in der Tasche.
Aber schreiben konnte ich nicht.
Nach ein paar Linien wollte mir nichts mehr einfallen; meine
Gedanken waren anderswo, ich konnte mich zu keiner bestimmten
Anstrengung aufraffen. Alle Dinge wirkten auf mich ein und
zerstreuten mich, alles, was ich sah, gab mir neue Eindrücke.
Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und
störten mich; ich blies sie an, um sie wegzubringen, blies fester
und fester, aber ohne Erfolg. Die kleinen Biester legen sich nach
hinten, machen sich schwer und kämpfen dagegen an, so daß ihre
dünnen Beine sich ausbauchen. Sie sind durchaus nicht vom Fleck zu
bringen. Sie finden immer etwas, um sich daran festzuhaken, stemmen
die Fersen gegen ein Komma oder eine Unebenheit im Papier und
stehen unverrückbar still, bis sie selbst es für gut finden, ihren
Weg zu gehen.