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Im Untod vereint ... Katrina Smythe ist 18 Jahre alt, untot – und schwer verliebt. Das würde sie allerdings nie zugeben. Fest davon überzeugt, dass sie und Tate viel zu verschieden für eine Beziehung sind, geht sie ihren Gefühlen aus dem Weg. Gar nicht so leicht, da Tate ihr seit einem missglückten Seelenfluch auf Schritt und Tritt folgen muss ... Doch eigentlich haben die beiden ganz andere Sorgen: Eine Serie von Vermisstenfällen durchzieht seit Wochen New Arcadia. Irgendjemand scheint ganz gezielt Untote zu erschaffen. Und das ist nicht nur Tates sicherheitsbedachter Jägerfamilie ein Dorn im Auge – sondern auch dem Tod höchstpersönlich. Er schlägt Katrina einen Deal vor: Sie muss es schaffen, die Untoten aufzuhalten, sonst stirbt zum Ende des Jahres jemand, den sie liebt. Dafür braucht Katrina alle Hilfe, die sie kriegen kann. Aber können Jäger und Übernatürliche Seite an Seite kämpfen oder muss Katrina sogar mehr als einen ihrer Liebsten opfern?
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Seitenzahl: 458
Tina Köpke
Hunting Souls
Unsere verfluchten Herzen
Von Tina Köpke bereits erschienen:
Hunting Souls (1) – Unsere verräterischen Seelen
5 4 3 2 1
eISBN 978-3-649-65109-3
© 2025 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung des Werkes für das Text- und Data-Mining nach § 44b UrhG ist durch den Verlag ausdrücklich vorbehalten und daher verboten.
Text: Tina Köpke
Umschlaggestaltung und Illustration der
Innenseiten: Frauke Schneider
Lektorat: Michelle Landau
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64708-9.
Für meinen Mann,der immer an mich glaubt,und für alle, die jemanden brauchen,der dasselbe für sie tut.
TATES PLAYLIST
Gabriel Saban – Lust of Power
Concrete Blonde – Bloodletting
Billie Eilish – bury a friend
Jamie Bower – I Am
Flower Face – Maybe
Ellie Goulding – Love I’m Given
AJR – Bang!
Hidden Citizen, Ryan Innes – Monster
Gin Wigmore – Kill Of The Night
Talking Heads – Psycho Killer
LOLO – Hit and Run
Florence + The Machine – Dream Girl Evil
Hey Violet – Like Lovers Do
Billie Eilish – bad guy
Hidden Citizen – I Ran (So Far Way)
Fleurie – Love and War
Duncan Laurence, FLETCHER – Arcade
Keyrenity – When the Party’s Over
PROLOG
KATRINA
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
TATE
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KATRINA
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
TATE
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KATRINA
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
TATE
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KATRINA
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
TATE
KAPITEL 39
KATRINA
KAPITEL 40
TATE
KAPITEL 41
KATRINA
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
TATE
KAPITEL 49
KAPITEL 50
EPILOG
DANKSAGUNG
Es sollte mich nicht überraschen, dass der erste Typ, der mein totes Herz wieder zum Schlagen bringt, auch derjenige sein wird, der es bricht.
Genau deswegen wollte ich mich nie auf Sterbliche einlassen. Weder vor und schon gar nicht nach meiner Wiederauferstehung als Untote.
Und doch … habe ich mein Herz irgendwie an einen von ihnen verloren. Nicht, weil ein misslungener Zauber unsere Seelen untrennbar miteinander verbunden hat, sondern weil Tate Walker der ist, der er eben ist.
Ein Sohn. Ein Bruder. Ein Jäger und noch dazu ein Mensch.
Jeden Tag, seitdem der SUV in unseren Wagen gekracht ist, wünsche ich mir, es wäre anders. Dass es wieder so ist, wie es vor ihm war, denn genau so misst sich mein Leben seit dem Unfall. Es ist unterteilt in die Zeit, bevor Tate mit seinem Lächeln an unserer Türschwelle aufgetaucht ist, und die Zeit danach, in der er alles auf den Kopf gestellt hat, an was ich bis dahin fest geglaubt hatte. Seitdem ist nichts mehr so, wie es mal war, und ein bisschen hasse ich ihn dafür.
Ich will wieder die alte Katrina sein.
Die, die kaum etwas anderes als Wut und zu viel Liebe für ihre Familie empfunden hat. Das war leicht. Es war übersichtlich. Als hätte jedes meiner wenigen Gefühle seinen festen Platz im Schrank.
Nun ist da nur noch Chaos. Angst. Und Trauer. Liebe und Glück. Freude. Alles zieht sich gegenseitig an und gleichzeitig stößt es sich voneinander ab. An Tates Seite im Krankenhaus warten zu müssen, macht es nur noch schlimmer. Mit jeder Stunde, die ich hier absitze, intensiviert sich diese breite Palette an Emotionen und wenn dieser Mistkerl nicht bald die Augen öffnet, dann … dann …
Ich weiß nicht, was ich dann tun werde. Womöglich gehe ich dann mit ihm ein. Ganz langsam. Womöglich bringe ich jemanden um, damit ich die anhaltende Spannung in mir loswerde. Vielleicht schreie ich auch alles aus mir heraus oder reiße mir das verdammte Herz aus der Brust. Hoffentlich hört es dann endlich auf, wehzutun.
Irgendetwas wird passieren. Irgendetwas muss passieren. Andernfalls werde ich noch verrückt, und das ist nicht so lustig und romantisch, wie es in Mums Gute-Nacht-Geschichten früher geklungen hat.
»Wie geht es ihm?«
Mum legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich sitze in einem Sessel unweit von Tates Krankenhausbett. Zahlreiche Schläuche und Kabel führen aus seinem Körper zu Maschinen, die seine Werte überwachen. Das Piepen, das sie dabei von sich geben, hat sich mir bereits ins Hirn gebrannt. Es verfolgt mich, egal wohin ich gehe, aber weit komme ich sowieso nicht. Obwohl Tate in ein künstliches Koma versetzt wurde, verbindet uns weiterhin dieses unsichtbare, magische Band, das der Kardia-Zauber zwischen uns geknüpft hat. Nach wie vor lässt es kaum mehr als ein paar mickrige Meter Abstand zu.
»Sie geben ihr Bestes.« Ich lehne den Kopf an Mums Schulter und atme den Duft nach Veilchen und Blut ein, der sie umgibt, seit ich denken kann. Ich entspanne mich etwas, auch wenn ihre Nähe nicht so tröstlich ist wie sonst.
»Das wird schon«, redet sie mir gut zu. »Sobald er aufwacht, können wir ihm helfen, und dann geht alles ganz schnell, du wirst sehen.«
Ich dachte immer, Magie könnte jedes Problem lösen.
Man kann sich vermutlich vorstellen, wie bitterlich enttäuscht ich war, als Mum und meine Tante Apollonia mir mitteilten, dass sie in Tates schlimmster Stunde nichts für ihn tun können, weil er dem Tod näher ist als dem Leben. Egal wie sehr ich sie angefleht habe, ihm zu helfen – solange Tate nicht aufwacht, sind ihnen die Hände gebunden.
Als ich vor anderthalb Jahren unter die Räder eines LKWs gekommen bin, konnte meine Familie nichts davon abhalten, mich mittels eines verbotenen Nekromantiezaubers zurückzuholen – als Untote. Das brachte vor allem meiner Tante, einer äußerst mächtigen Hexe, nachträglich eine ganze Menge Ärger ein, den sie für mich jedoch gerne in Kauf nahm.
Aber für Tate?
Meine Eltern mögen ihn. Wirklich. Mehr sogar als andere Menschen. Ohne dass ich es je erwähnt hätte, wissen sie, was er mir inzwischen bedeutet. Noch dazu ist meine Existenz momentan an seine gekoppelt – stirbt er, sterbe auch ich. Trotzdem dürfen sie nicht eingreifen, solange er um sein Leben ringt, denn Magie, die das Gleichgewicht von Leben und Tod ins Wanken bringt, ist strengstens untersagt. Daher würde meine Familie vermutlich nur im allerschlimmsten Notfall erneut eingreifen, um uns – besonders aber eher mich – zu retten.
Diese gegenseitige Abhängigkeit ist übrigens nur eine der lästigen Nebenwirkungen des Kardia-Zaubers. Seitdem die unheimlichen Freunde meiner Schwester Lyn Tate diesen Streich gespielt und damit unbeabsichtigt auch mich erwischt haben, kann ich keine Minute ohne ihn unterwegs sein.
Es ist erst ein paar Tage her, dass uns der andere Wagen in die Seite gekracht ist. Die Walkers haben es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, wer am Steuer saß – denn vom Fahrer fehlte bei der Ankunft der Ersthelfer jede Spur. Meine Eltern hingegen lenken sich damit ab, dieses Einzelzimmer im New Arcadia Hospital in eine Art zweiten Wohnsitz für Tate und mich zu verwandeln.
Bereits am ersten Tag ließen sie mir einen bequemen Ohrensessel und einen Fußhocker bringen, dazu einen schwarzen Minikühlschrank, in dem ich meine Mahlzeiten lagere. Das sorgte für reichlich Widerstand beim Krankenhauspersonal, die nicht ganz verstehen, wieso ich Tag und Nacht in Tates Nähe bleiben muss. Was Magie jedoch nicht regelt, übernimmt Geld, gerade in der Welt der Sterblichen. Dad ließ eine mehr als großzügige Spende springen, dank der die Verwaltung ziemlich schnell Ruhe gab. Sie sind jetzt damit beschäftigt, den neuen Smythe-Krankenhausflügel zu planen.
Inzwischen haben sich in dem Zimmer reichlich frische Blumensträuße sowie Bücher angesammelt, mit denen ich mir die Zeit vertreiben kann, und wir haben blickdichte Vorhänge angebracht, damit meine Vampir-Eltern uns auch tagsüber problemlos besuchen können. Lyn bringt mir nachmittags die Hausaufgaben vorbei, die ich halbherzig erledige, während sie mir den neuesten Klatsch und Tratsch erzählt, dem ich genauso leidenschaftslos lausche.
Und dazwischen das immergleiche Piepen der Maschinen. Ich werde bald wahnsinnig, wenn das nicht aufhört.
»Was meinst du, wie lange es noch dauert, bis sie ihn aufwecken?«, fragt Lyn mich am späten Abend. Sie steht an Tates Bett, den Blick besorgt auf ihn gerichtet. Auch meine sechzehnjährige Schwester hat ihr Herz an ihn verloren, wenngleich auf andere Weise. Er ist der erste Sterbliche, der annähernd so was wie ein echter Freund für sie ist.
Ich zucke die Schultern und ziehe die kuschelige Decke über meine nackten Beine. Nicht, dass mir kalt wäre. Ich friere nicht, ich schwitze nicht. Was ich aber definitiv seit dem Unfall genieße, ist jede Form von umhüllendem Komfort. Auch so eine Sache, die mir vor Tate egal war und jetzt … jetzt habe ich den Salat.
»Schwer zu sagen. Es könnte morgen passieren und genauso gut erst in ein paar Tagen.«
»Ob er mitbekommt, worüber wir reden?«
Ich erinnere mich daran, wie es damals für mich war, im Sterben zu liegen. Als meine Seele meinen Körper verließ, um dem Tod die Hand zu reichen, damit er mich rüber auf die andere Seite ins Jenseits bringt. Damals fühlte es sich an, als wären nur Sekunden vergangen, und ich bekam nichts davon mit, was in der Welt geschah. Für meine Familie waren diese Sekunden jedoch Stunden.
»Ich denke, nicht.« Ich mustere Tate von der Seite. Eine Atemmaske verdeckt die untere Hälfte seines Gesichts und seine Haut ist fahl und von zahlreichen kleinen Schnitten übersät. »Falls doch, dann ignoriert er meine Drohungen sehr entschlossen.«
Lyn wirft mir ein schmales Lächeln zu. »Mit was drohst du ihm denn?«
Wieder hebe ich die Schultern. »Was mir so einfällt. Dass ich ihm eine Glatze rasiere, wenn er nicht aufwacht. Oder dass ich ihm ein furchtbar peinliches Tattoo mitten ins Gesicht steche. Dass ich das blöde Krankenhaus mit allen, die darin sind, anzünde, wenn er nicht endlich zurückkommt.« Zurück zu mir, aber das behalte ich für mich, solange Lyn da ist. Tate habe ich das schon oft gesagt, weil er auf so gefühlsduseliges Zeug steht und weil ich es manchmal einfach laut aussprechen muss.
»Dann hört er dich wohl wirklich nicht«, schlussfolgert Lyn und streicht sich ein paar kinnlange blonde Locken aus dem Gesicht. »Sein Heldenkomplex würde sofort anschlagen, wenn du damit drohst, andere Menschen in Gefahr zu bringen.« Sie sieht von ihm zu mir. »Wie geht es dir eigentlich, Schwesterherz?«
»Wie dir bestimmt schon aufgefallen ist, sehe ich immer noch aus, als wäre ich durch den Mixer gejagt worden.«
Das ist eine weitere dieser verzwickten Komplikationen, wie Mum sie nennt. Weil Tate und ich durch den schiefgelaufenen Seelenzauber aneinandergebunden sind, ist nicht nur dieses ziemlich unflexible, unsichtbare Band zwischen unseren Herzen, sondern auch eine ungesunde Co-Abhängigkeit entstanden. Die Verletzungen, die der eine sich zuzieht, bekommt der andere ebenfalls ab, weswegen mein Körper mit kleinen Kratzern und blauen Flecken übersät ist, die Tates Wunden spiegeln.
Ich überdramatisiere also nicht, wenn ich behaupte, dass ich sterbe, wenn Tate den Löffel abgibt. Das geschieht wirklich. Wäre ich keine Untote, müsste ich genauso im Koma liegen wie er, aber weil ich sowieso schon formal betrachtet tot bin, hat mich der Unfall nur äußerlich in Mitleidenschaft gezogen.
Nun könnte meine Hexentante ja wenigstens dafür sorgen, dass ich wieder aussehe, als wäre mir nichts passiert, aber weil Tate und ich aneinandergekoppelt sind, befürchten sie und Mum, dass sie damit gegen unsere Geheimhaltungsgesetze verstoßen würden. Heilen sie meine Wunden, heilen sie auch seine, was bei den behandelnden Ärzten Fragen aufwerfen dürfte.
»Ich meine nicht körperlich«, holt mich Lyn zurück in unser Gespräch. »Wie geht es dir emotional?«
»Blendend«, erwidere ich trocken. Sie bohrt ihren Blick so lange in meinen, bis ich nachgebe. »Okay, ich fühle mich beschissen. Bist du jetzt glücklich?«
Lyn lächelt, als hätte sie ihr kleines Spiel gewonnen. Doch dann verschwindet der fröhliche Ausdruck von ihrem Gesicht, als ihr offenbar wieder einfällt, worum es hier eigentlich geht.
»Er erholt sich bestimmt schnell. Sobald er aufwacht …«
»… könnt ihr ihm helfen«, beende ich das Versprechen, mit dem meine Familie mich seit Tagen aufzumuntern versucht. Je öfter sie es sagen, desto weniger glaube ich daran, dass es bald passieren wird.
»Was läuft da eigentlich zwischen euch?«
Ich zucke leicht zusammen. »Nichts. Wir haben uns angefreundet.«
»Du bist eine schreckliche Lügnerin.«
Das ist mir auch schon aufgefallen. Wenn ich mir schon selbst nicht glaube, wie sollen es dann die, die mich am besten kennen?
»Es spielt keine Rolle.« Ich sehe wieder zu Tate. Sonst ist er so stark, aber jetzt wirkt er schrecklich zerbrechlich. Wie eine dieser alten Vasen, die bei uns im Haus rumstehen und schon mehrere Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Ein Schubs und sie fallen zu Boden und zerbrechen in Hunderte Einzelteile. »Momentan habe ich einfach nicht die Ruhe, mir Gedanken darüber zu machen, wie ein Mensch und eine Untote so was jemals hinkriegen sollen. Du siehst ja, was mit seiner Art passieren kann.«
»Ach, Kat.« Lyn seufzt so tief, als hätten wir diese Unterhaltung schon unzählige Male geführt. Vielleicht haben wir das die letzten Tage auch, ich weiß es nicht mehr so genau. Die Zeit verschwimmt zunehmend, je länger ich hier sitze und warte. »Wenn du ihn magst …«
»Er ist ein Mensch«, wiederhole ich mit Nachdruck. Ich presse die Zähne fest aufeinander und atme aus einer alten Gewohnheit heraus tief durch die Nase ein und wieder aus. »Vielleicht sind es nur die Umstände, aber gerade finde ich es ziemlich sinnlos, sich auf einen von ihnen einzulassen. Sie sterben. Früher oder später sterben sie alle, Lyn. Es bringt nichts.«
»Wenn es danach geht, wirst du niemals jemand anderen als uns in dein Leben lassen«, hält sie dagegen, die Wangen leicht gerötet. »Wir können und werden definitiv ebenfalls irgendwann sterben. Mum und Dad sind nicht unsterblich, ich bin es auch nicht und Anthony noch weniger – nicht einmal du bist es.«
»Aber ihr seid meine Familie. Das ist etwas anderes. Euch muss ich ja lieben.«
Sie nickt in Tates Richtung. »Er könnte genauso gut ein Teil deiner Familie sein.«
»Da ziehe ich es vor, bis ans Ende meiner Tage allein zu bleiben«, flüstere ich.
»Das wirst du auch, wenn du weiter so starrsinnig bist.«
Lyn, die sonst immer heiter ist, klingt so ernst, dass ich sie kaum ansehen kann. Etwas in mir will ihr recht geben, aber etwas anderes, viel Dunkleres, fürchtet sich nach diesen letzten Tagen davor, noch mehr Leute an sich heranzulassen, die irgendwann weg sein werden. Und die Lebenszeit der Menschen ist so schrecklich begrenzt. Selbst Werwölfe wie mein Bruder Anthony altern langsamer als sie, und die sind im Vergleich zu Hexen, Vampiren und Untoten nun wirklich nicht mit einer Chance auf die Ewigkeit gesegnet.
Kurz darauf geht Lyn nach Hause, und nachdem eine Ärztin das letzte Mal nach Tate gesehen hat, kehrt allmählich Ruhe im Krankenhaus ein. Das New Arcadia Hospital ist nicht sonderlich groß, aber dank reichlich privater Zuwendungen ziemlich modern ausgestattet. Es liegen nur wenige Patienten auf dieser Station, und so höre ich, selbst wenn ich es darauf anlege, nur das leise Flüstern der Krankenschwestern sowie Geräusche von Beatmungs- und Überwachungsgeräten.
Eine Sinfonie über das Leben und Sterben.
Irgendwann packe ich mein Buch weg, werfe die Decke von mir und trete an Tates Bett. Zu gerne würde ich mich zu ihm legen und seine Wärme, seinen Geruch, seinen gleichmäßigen Herzschlag aufsaugen. Er lebt. Am Ende ist das alles, was gerade zählt. Er ist noch nicht in den Wagen von Tod gestiegen. Er fährt noch nicht ins Jenseits.
Ich nehme seine Hand in meine. Seine Haut fühlt sich rau an, aber warm. »Wach endlich auf, Walker«, murmle ich. »Lass mich nicht betteln.«
Doch er hört mich nicht. Seine Augen bleiben geschlossen und wieder einmal fällt mein Herz in sich zusammen. Er lebt.
Ich sage es mir mehrmals am Tag, um nicht durchzudrehen. Er lebt und alles ist gut. Es gibt keinen Grund, mir Sorgen zu machen, denn solange er noch nicht weg ist, können wir hoffentlich bald etwas für ihn tun.
Ich warte noch ein paar Sekunden, ehe ich seine Hand loslasse und zurück in meinen Sessel falle. Ein letztes Mal schaue ich auf seine Finger, deren Berührung ich selbst jetzt noch auf meinem Körper fühlen kann. Doch sie bewegen sich nicht, liegen nur da. Leblos.
Natürlich bewegen sie sich nicht, das ist hier schließlich keiner dieser dämlichen Liebesfilme, ermahne ich mich selbst und spüre die vertraute Wut in mir hochkochen. Ich empfange sie mit offenen Armen, denn Wut ist besser als all das andere, was in mir Wellen schlägt.
Vor Ewigkeiten habe ich mal einen Film mit dem Titel Der Tod kommt auf leisen Sohlen gesehen. Ich finde den Titel reichlich irreführend, denn Tod trägt schwere Stiefel, die auf dem Linoleumboden des New Arcadia Hospitals sehr gut zu hören sind. In der Ruhe der Nacht klingen sie besonders laut und als ich mein Handy zur Seite lege, steht er im Türrahmen zu Tates Zimmer. Ob er Orte wie diesen so gut kennt wie die Taschen seines langen Staubmantels? Jemand wie er muss doch jede Klinik der Welt mehrfach von innen gesehen haben.
»Katrina«, begrüßt Tod mich mit weicher, ruhiger Stimme.
Ich richte mich etwas auf. »Wenn du kommst, um ihn zu holen, dann …«
»Dann könntest du auch nichts dagegen tun.« Geduldig, wie nur der Tod es sein kann, lehnt er sich an den Türrahmen und schaut von mir zu Tate. »Aber seine Zeit ist noch nicht gekommen, falls du das wissen möchtest.«
Etwas entspannter sinke ich zurück in den Sessel. Tod hat recht. Wenn er Tate holen kommen wollte, wäre ich machtlos, doch ein bisschen bluffen hat noch niemandem geschadet.
»Dann ist das hier einer deiner Standardbesuche, bei denen du mich daran erinnerst, dass die Uhr tickt?«
Er hebt lässig die Schultern und die Bewegung lässt die Kette mit den religiösen Symbolen um seinen Hals aufblitzen. »Heute nicht. Heute wollte ich einfach nur ein guter Freund sein und schauen, wie es dir geht.«
Bullshit. Aber das sage ich nicht. Man kann den Tod nur bis zu einem gewissen Maß reizen, und ich habe nicht vor herauszufinden, wo seine Grenzen liegen … oder was passiert, wenn ich sie überschreite. Dennoch bin ich mir sehr sicher, dass er nicht einfach nur gekommen ist, weil er mich als eine Art Freundin betrachtet.
Das zwischen Tod und mir ist eine ganz besondere Verbindung. Seitdem meine Hexentante mich zurückgeholt hat, ist der Tod dazu in der Lage, mich in seiner Welt zwischen Leben und Jenseits zu besuchen. Meistens erkundigt er sich, wie es mir geht, darauf hoffend, bald meinen Namen von seiner Liste der Toten streichen zu können, aber aktuell habe ich nicht vor, mit ihm zu gehen – sehr zu seinem Leidwesen, auch wenn er es mir nicht wirklich nachträgt.
Bis vor ein paar Wochen hatten wir also tatsächlich ein recht freundschaftliches Verhältnis, doch seitdem er mir aufgetragen hat, Untote zu finden, die seine Arbeit erschweren, ist unsere Beziehung etwas … schwierig geworden. Deswegen soll man wohl nie Privates und Berufliches miteinander verbinden.
»Wie geht es Tate?«
»Er lebt. Sonst sähe unser Treffen jetzt wohl anders aus.«
Tod lächelt schmal. »Ich sehe, du hast nichts von deinem Biss verloren.«
Ich verdrehe die Augen. Heute habe ich keine Lust, mit ihm zu flirten. »Was willst du?«, frage ich erneut, dieses Mal hörbar genervt.
Er mustert mich aus seinen dunklen Augen und streicht sich mit einer Hand über diesen furchtbaren Oberlippenbart, den er sich neuerdings stehen lässt.
»Der Auftrag«, beginnt er und ich stoße einen triumphierenden Laut aus.
»Ich wusste es!«
»Du weißt gar nichts, Katrina Smythe.«
»Komm mir jetzt nicht so.« Ich springe auf und vergesse für einen Moment, dass ich mit einer Institution rede, die vermutlich viele Wege kennt, mir mein Nachleben schwer zu machen. Aber Tate liegt hier und kämpft um sein Leben, und Tod hat nichts anderes im Kopf, als mich an seine Mission mit dem möglicherweise fatalen Ende zu erinnern.
Die Göttinnen des Schicksals haben entschieden, dass du noch vor Jahresende jemanden verlieren wirst, den du liebst. Der Name steht unwiderruflich in blutiger Tinte auf meiner Liste, aber wenn du mir hilfst, werde ich mich erkenntlich zeigen.
Ich stehe nun direkt vor ihm und pikse mit meinem Zeigefinger gegen seine feste Brust. So, wie ich es bei Tate auch schon getan habe, und die Erinnerung daran, wie er mich aufgehalten und dabei angesehen hat, frisst sich einmal mehr in mein armseliges Herz. »Diese ganze Nummer ist zu groß für mich, hörst du? Ich kann das nicht für dich lösen. Nicht allein. Ich habe nirgends einen Ansatz. Bei Lilith, ich bin nicht Nancy Drew, verdammt.«
»Was ist mit deiner Familie?«
»Die weiß nichts davon.«
»Warum?«
»Ich will sie nicht beunruhigen«, schiebe ich vor, denn die Wahrheit ist deutlich komplizierter und geht ihn nichts an.
Tod betrachtet mich einen Moment schweigend, wobei sein Blick bis auf den Grund meiner Seele vorzudringen scheint. »Du hast deine Motivation aus den Augen verloren. Du setzt falsche Prioritäten.«
»Ist das toter Humor oder so?« Ich drehe mich zur Seite und deute auf Tate. »Ich habe gerade erst erfahren, wie es sich anfühlt, wenn …« Ich halte inne. Ich werde ihm ganz bestimmt nicht sagen, dass der Unfall mir vor Augen geführt hat, wie es ist, jemanden zu verlieren, der einem wichtig ist.
»Wenn die Untoten nicht aufgehalten werden, dann ist Tate nicht der Letzte, den du betrauern wirst.« Tod sieht mich eindringlich an. »Dir läuft die Zeit davon.«
»Das tut sie zufälligerweise gerade an allen Ecken und Enden, danke.« Ich schnaube frustriert und wende mich ab, um mir mit den Händen übers Gesicht zu fahren.
Er hat recht, das ist mir schon klar. In letzter Zeit stand sein Auftrag nicht gerade auf Platz eins meiner To-do-Liste, aber wie soll ich das alles händeln? Wenn ich nicht wenigstens zeitweise verdränge, dass das Schicksal einer geliebten Person in meinen Händen liegt – ausgerechnet in meinen –, dann drehe ich durch, denn ich habe nichts. Absolut gar nichts. Egal wie viele Bücher ich wälze, egal wie viel Zeitungsartikel ich mir vornehme … selbst in Olympia, quasi im Epizentrum der Geschehnisse, sind wir nicht schlauer geworden.
Wie soll ich etwas aufhalten, wofür mir jeder Anhaltspunkt fehlt? Zumal ich mich aktuell kaum wegbewegen kann. Ich hänge hier fest.
»Ich bin müde«, gebe ich Tod gegenüber widerwillig zu, ehe ein Lachen aus mir herausbricht. »Was schon witzig ist, weil ich gar nicht müde sein kann. Und trotzdem bin ich es, denn ich komme an keiner Stelle weiter. Das Einzige, was ich wegen des blöden Seelenzaubers tun kann, ist, hier am Bett zu sitzen, Nachrichten zu lesen und zu hoffen, dass Tate bald aufwacht.«
Insgeheim habe ich Lyns Freunde, die uns das alles eingebrockt haben, sicher schon ein paar Hundert Mal verflucht – vor allem diese kleine Hexe Samara und den Anführer der Clique, Warner.
Aber immerhin habe ich dank des Fluchs wenigstens nicht das Gefühl, allein in diesem verdammten Boot zu sitzen.
»Sag mir eines – ist er es? Ist er derjenige, der sterben wird?«, frage ich Tod frei heraus.
»Alle sterben irgendwann.« Mit ungerührtem Blick folgt er meinen Schritten, als ich im Zimmer auf und ab laufe. »Auch du wirst sterben, Katrina. Niemand kann sich mir für immer entziehen.«
Das Thema hatte ich mit Lyn auch schon. »Wozu dann der ganze Stress? Wozu die Untoten von etwas abhalten, was zwangsläufig alle von uns eines Tages erwischt?«
»Weil das Gleichgewicht es so verlangt. So war es immer und so wird es immer sein.«
»Und wenn es kippt? Das Gleichgewicht, meine ich.«
»Dann endet diese Phase der Welt und eine neue bricht an.«
»Lass mich raten – du bist dann der Letzte, der das Licht ausmacht?«
Er seufzt und es klingt beinahe sehnsüchtig. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass er sich nach all der Zeit womöglich danach sehnt, endlich Feierabend zu machen.
»So in etwa. Ohne Leben braucht es keinen Tod.«
»Und du willst keine frühe Rente?«
Zorn fliegt wie ein flüchtiger Schatten über sein Gesicht und ich muss schlucken. Seine Berufsehre anzugreifen, ist wohl die Grenze, die ich nicht überschreiten sollte.
»Tut mir leid«, schiebe ich nach, bevor er über mich herfallen und an den Haaren ins Jenseits schleifen kann. »Ich verstehe nur nicht, wieso das Leid und die Mühe sein müssen, wenn wir eines Tages sowieso alle … weg sind.«
»Weil es um die Zeit geht, die euch zur Verfügung steht. Nicht um den Anfang und nicht um das Ende, sondern das Dazwischen. Willst du nicht so lange wie möglich mit denen, die du liebst, zusammen sein?«
»Das will ich. Jede Sekunde.«
»Und genau deswegen ist es so wichtig, dass wir das, was gerade passiert, aufhalten. Denn dort draußen werden Leben beendet, die noch nicht an der Reihe waren, nur um sie dann in Wesen zu verwandeln, die alles in eine kosmische Katastrophe stürzen. Nicht nur du hast ein Anrecht darauf, deine Zeit auf der Erde zu genießen. Auch sie haben das und man beraubt sie dessen.«
Ich nicke. Natürlich war mir das auch vorher schon irgendwie bewusst, aber bisher ging es mir nur darum, meine Familie vor einem furchtbaren Verlust zu bewahren.
Neuerdings … neuerdings sind mir andere jedoch nicht ganz so unwichtig, wie es mir lieb wäre. Ich kann es nicht mehr ewig leugnen. Tate hat etwas mit mir gemacht. Etwas in mir verändert. Und sollte er wieder aufwachen, werde ich ihm dafür gehörig in den Hintern treten.
Tate. Ich sehe zu ihm. Er rührt sich immer noch nicht, aber er lebt.
»Wird er bald aufwachen?«
Tod brummt leise. »Wirst du dich dann wieder um meinen Auftrag kümmern?«
»Ja. Sobald er fit ist und ich mich freier bewegen kann.«
»Gut.« Er nickt mir mit ernster Miene zu. »Er wird demnächst zu dir zurückkehren. Bis wir uns das nächste Mal sehen, hat das alles hoffentlich ein gutes Ende genommen.«
»Bei Lilith.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Tate wacht bald auf. Das ist toll. Das sind richtig tolle Neuigkeiten. Dennoch lässt Tod, als er sich umdreht und in einem dichten Nebel verschwindet, ein ungutes Gefühl in mir zurück. Auch wenn er mich einmal mehr daran erinnert hat, was auf dem Spiel steht, bin ich nach wie vor kein Stück weiter.
Was, wenn er auf das falsche untote Pferdchen gesetzt hat, um den Untergang der Menschheit zu verhindern?
Zwei Tage später habe ich Geburtstag, und das beste Geschenk ist Tate, der tatsächlich aufwacht. Nur kurz und er scheint noch nicht wirklich hier angekommen zu sein, aber dass er es geschafft hat, versetzt alle in Aufruhr. Seine behandelnde Ärztin schmeißt mich, nachdem ich sie mitten in der Nacht habe rausklingeln lassen, aus dem Zimmer und lässt mich durch die Fensterscheiben zusehen, wie sie und das Krankenhauspersonal sich um ihn kümmern.
Fünf Minuten.
Nur fünf Minuten kommt er zu sich, ehe er die Gegenwart wieder verlässt. Aber diese fünf Minuten trösten mich mehr als genug darüber hinweg, dass mein Geburtstag dieses Jahr komplett ins Wasser fällt.
Tate hat eine Lungenentzündung, hervorgerufen durch die künstliche Beatmung während des Komas, was dazu führt, dass sich die Aufwachphase ein bisschen in die Länge zieht.
Glücklicherweise ist das aber etwas, bei dem unsereins helfen kann. Oder besser gesagt, meine Tante und Lyn. Denn auch wenn Tate nur für kurze Zeit zu sich kommt, ist sich meine Familie einig darüber, dass er keine Gefahr mehr für unser heißgeliebtes und viel zu oft erwähntes Gleichgewicht darstellt. Endlich können sie ihr Versprechen halten und ihm die Genesungsphase erleichtern.
»Wir müssen es langsam angehen«, erklärt Tante Apollonia und lässt dabei ein Bündel aus Pflanzen über seinem Bett abbrennen, sodass der Geruch nach Salbei, Thymian und anderen Kräutern das ganze Zimmer erfüllt. Wir mussten vorher extra die Sicherheitsanlagen des Raumes abstellen, damit nicht plötzlich wegen der Rauchentwicklung die Sprinkleranlage anspringt. Mit Magie war das jedoch nicht aufwendiger als ein Fingerschnippen. »Erst reinigen wir die Luft um ihn herum, damit die Entzündung in seiner Lunge abheilt, und danach kümmern wir uns Schritt für Schritt um seine inneren und äußeren Verletzungen.«
Das ganze Prozedere stellt meine Geduld auf eine harte Probe. Ja, wir müssen aufpassen, dass es nicht zu sehr nach spontaner Wunderheilung aussieht. Das verstehe ich. Echt.
Aber trotzdem. Ich will Tate nicht mehr in diesem Bett liegen sehen und mich dabei an die letzten Tage erinnern. Wenn es nach mir ginge, könnte er sofort völlig genesen aufspringen und noch heute mit mir dieses Gebäude verlassen.
Immerhin befreit Apollonia Tate ziemlich zügig von seiner Lungenentzündung und ab da geht es jeden Tag ein bisschen weiter bergauf. Er schläft viel und wenn er aufwacht, sind seine Adoptiveltern Chris und Eve Walker bei ihm. Oder meine Eltern. Oder Lyn. Sogar Anthony lässt sich vom College aus ab und zu per Videocall dazuschalten. Tate hat praktisch andauernd Besuch, nur ich halte mich meist außerhalb des Zimmers auf, bis er wieder eingeschlafen ist. Nachts sitze ich dann an seiner Seite und verstehe mich selbst nicht mehr.
»Ich dachte mir schon, dass ich nur lang genug warten muss, bis ich dich endlich erwische«, höre ich ihn mit kratziger Stimme sagen. Ich schrecke aus meiner nächtlichen Meditation. Jetzt, da Tate endlich wieder unter den Lebenden weilt, fällt es mir auch etwas leichter, ein bisschen runterzufahren.
»Tate.« Ich klinge so alarmiert, wie ich mich fühle. »Alles in Ordnung?«
Er ringt sich sein typisches Tate-Walker-Grübchenlächeln ab. »Wieso? Sehe ich nicht aus wie das blühende Leben?«
»Du kannst wieder Witze reißen. Gut für dich.« Ich rutsche an die Kante des Sessels. »Hast du Durst?«
»Katrina.« Er streckt seine Hand aus. Ich zögere kurz, stehe dann aber auf und setze mich auf den Plastikstuhl, der neben seinem Bett steht. Ohne darüber nachzudenken, lege ich meine Hand in seine und auch wenn er nicht fest zudrücken kann, umschließt er meine Finger mit seinen. »Wie geht es dir denn?«
»Chronisch genervt, weil mich das andauernd alle fragen.« Ich halte kurz inne. »Du kennst das.«
»Ja, aber es ist okay. Sie machen sich nur Sorgen.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und überlege, ob ich das, was ich als Nächstes sagen will, wirklich aussprechen sollte. Was, wenn er es überbewertet? »Ich habe mir auch Sorgen gemacht. Um dich.«
Tate schüttelt leicht den Kopf. Allmählich bekommt er wieder etwas Farbe im Gesicht, und Apollonia und Lyn haben heute dafür gesorgt, dass auch der letzte Rest seines Schädel-Hirn-Traumas der Geschichte angehört.
»Unmöglich. Katrina Smythe macht sich um nichts und niemanden Sorgen. Na ja, außer um ihre Familie natürlich.«
Er könnte genauso gut ein Teil deiner Familie sein.
»Tja«, erwidere ich leichthin und verdränge Lyns Worte von vor ein paar Tagen, »es gibt wohl immer ein erstes Mal.«
Aus seinen grün-blauen Augen mustert er mich auf eine Weise, die mich daran erinnert, wo wir vor dem Unfall emotional standen. Vollgepumpt mit Glück, und das nicht, weil wir auf die schlimmste und zugleich schönste Art Carpool-Karaoke gespielt haben. Oder weil die Sonne schien. Oder weil wir endlich zurück in unserer vertrauten Umgebung waren.
Wir waren einfach nur miteinander glücklich, und für einen Moment dachte ich wirklich, es könnte die Sache wert sein. Dass das mit uns – rein hypothetisch – eine Chance verdient haben könnte.
Doch dann hat das Schicksal dazwischengefunkt und mich daran erinnert, dass wir an zwei völlig unterschiedlichen Punkten auf zwei völlig unterschiedlich langen Lebenslinien unterwegs sind. Meine kennt zwar auch ein Ende, aber wenns gut läuft, liegt das irgendwo in einer fernen, fernen Zukunft. Tates dagegen ist von Haus aus sehr kurz, das Ende absehbar, und wenn ich zulasse, dass ich mich in ihn verliebe, wird es mich Stück für Stück umbringen, ihm beim Altern und später beim Sterben zuzusehen.
Ich kann das nicht. Nicht jetzt. Nicht so.
Egal wie wertvoll die Zeit zwischen Anfang und Ende ist, das hier wäre irgendwann die reinste Qual mit Ankündigung.
»Ich kenne diesen Ausdruck.« Tate streicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Du grübelst.«
»Ich hatte eine Menge Zeit dafür.«
»Die wolltest du doch haben, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja.« Ich senke den Blick auf seine Hand, die meine hält, und bin mir nicht sicher, ob es nicht besser wäre, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen. Das würde es vermutlich leichter machen.
»Und bist du zu einem Ergebnis gekommen?«
»Wir sollten jetzt nicht …«
»Ich bin nicht schwach, Katrina, und ich bin hier. Rede mit mir. Offen und ehrlich.«
Offen und ehrlich. »Das mit uns«, setze ich an, »dafür habe ich aktuell keine Kapazitäten. Ich kann mich damit gerade nicht auseinandersetzen und eine so wichtige Entscheidung treffen.«
Tate mustert mich mit ernster Miene. »Brauchst du mehr Zeit? Oder ist es wegen des Unfalls?«
»Es ist, weil du ein Mensch bist. Das macht alles viel komplizierter.«
»Das ist doch Schwachsinn.«
»Schwachsinn?«, wiederhole ich. »Tate, du wärst fast gestorben.«
»Und du auch.«
»Unter normalen Umständen wäre ich das nicht.«
»Nichts ist normal, wenn es um dich und mich geht.« Er hustet leicht und holt dann tief Luft. »Ich jage Übernatürliche und du bist eine Untote. Was erwartest du denn an Normalität bei uns?«
»Vielleicht möchte ich nicht mit jemandem zusammen sein, der höchstens achtzig oder neunzig wird, während ich für immer im Körper einer Siebzehnjährigen stecke und mit viel Glück noch die nächsten zweihundert, dreihundert Jahre lebe.« Ich will dich nicht verlieren. Ich will nicht dabei zusehen, wie du krank und gebrechlich wirst. Wie alles, was dich ausmacht, dich verlässt. »Jetzt gerade will ich keinen Sterblichen. Vielleicht auch nie. Ich mag dich, aber am Ende des Tages bist du nur ein Mensch und momentan habe ich genug andere Dinge um die Ohren und kann mich nicht auch noch darum kümmern.«
Sollte Tate wütend oder verletzt sein, sieht man es ihm nicht an. Als er jedoch meine Hand loslässt, weiß ich, dass meine Worte ihn getroffen haben.
»Ich kann dich zu nichts zwingen«, sagt er schließlich, die Stimme kraftlos und monoton. »Auch wenn ich das anders sehe und nicht aufgeben werde.« Er wird nicht aufgeben? »Wenn ich eins aus dieser Sache gelernt habe«, fährt er mit neuer Entschlossenheit fort, »dann, dass man für das, was man will, kämpfen muss. Und solange ich dir nicht scheißegal und nur momentan zu viel bin, ist da immer noch ein Teil von dir, der meine Gefühle erwidert.«
Seine Offenheit erdrückt mich fast. Uns ist schon lange bewusst, dass wir einander über eine bloße Freundschaft hinaus mögen. Es dauerte etwas, bis ich mir das eingestehen konnte, aber es weiter zu leugnen, wäre albern. Dennoch war mir bis zu diesem Punkt nicht klar, wie stark Tate für mich empfindet … und wie stark mein Herz und mein Verstand darauf anspringen.
»Spar dir die Mühe.« Ich klinge genauso kühl wie beabsichtigt. »Sobald der Zauber verflogen ist, gehen wir wieder getrennte Wege.«
Er lacht, aber es ist mehr ein klägliches Röcheln. »Ich kann sehr hartnäckig sein.«
Das befürchte ich auch, weswegen mir nur eine Möglichkeit bleibt, ihn daran zu erinnern, womit er es zu tun hat.
Ich schließe die Augen, locke die Untote in mir aus ihrer verschlossenen Kiste und spüre, wie sie von mir Besitz ergreift. Wie sie meine Venen mit ihrer schwarzen Wut und dem unstillbaren Hunger füllt. Wie sie meine Sinne alles doppelt und dreifach so intensiv wahrnehmen lässt.
Wie ich unter ihrer Oberfläche abtauche.
»Vergiss nicht«, drohe ich ruhig, aber mit fremd klingender Stimme. Tate erstarrt bei meinem Anblick. »Ich bin nicht die süße Cheerleaderin, mit der du nach dem College eine Familie gründen wirst. Ich bin das Monster, das beim kleinsten Hunger davon träumt, über dich herzufallen.«
Ich schließe erneut die Augen und schicke meine andere Seite wieder dorthin zurück, wo sie niemandem schaden kann. Danach begegne ich Tates Blick.
»Ich kenne deine innere Untote«, versichert er mir ernst. »Damit machst du mir keine Angst mehr.«
»Dann wirst du noch schneller sterben, als ich dachte.«
Ich drehe mich um und verlasse das Krankenzimmer. Weit komme ich nicht, denn nach wie vor hängen Tate und ich an der kurzen Leine. Aber ich muss weg von ihm, so weit es eben geht. Und wenn das nur bedeutet, aus seiner Sichtweite zu verschwinden und mich auf einen der Wartestühle zu setzen, die zwischen den Zimmern an einer Wand aufgestellt sind. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich Tate sogar atmen hören, so nah sind wir einander immer noch, aber der Wechsel in den Korridor reicht, um mich zu sammeln.
Er wird nicht aufgeben. Was auch immer während des Komas mit ihm passiert ist – er wird nicht lockerlassen, solange ich ihn nicht davon überzeuge, dass ich genau das möchte. Und ich sollte es wollen, sollte mich zwingen, es zu wollen. Trotzdem bin ich erleichtert. Erleichtert, dass er mich gut genug kennt, um zu wissen, dass mein Verstand uns zwar im Weg steht, aber nicht mein dämliches Herz, das gerade mehr lebendig als tot ist. Ich bin froh, dass er nicht aufgibt. Mich nicht aufgibt.
Verfluchtes Herz.
Ich ziehe mein Handy aus der Gesäßtasche und suche Lyns Nummer heraus. Es ist erst halb zehn abends, und so, wie ich meine Schwester kenne, hängt sie in ihrem Zimmer herum und lernt irgendwelche Zaubersprüche.
»Was gibt’s?«, begrüßt sie mich heiter. »Lebt Tate noch?«
Ich massiere mir die Stirn. »Ja, putzmunter.« Ich überlege kurz, wie ich meine Bitte an sie am besten formuliere. »Lyn, ich brauche in der nächsten Zeit deine Hilfe.«
Im Hintergrund raschelt es leise. »Ich bin ganz Ohr.«
»Ich benötige einen Puffer. Zwischen Tate und mir. Du darfst uns nicht allein in einem Zimmer lassen.«
»Warum das denn?«
»Tu es einfach, okay?«
»Kat. Das ist albern. Ihr habt schon so viel Zeit miteinander verbracht.«
»Genau das ist ja das Problem. Es war zu viel und Tate interpretiert gewisse Dinge falsch.«
»Oder du verdrängst die Wahrheit?«
Ich übergehe ihre Bemerkung. Mein Entschluss steht fest. Aktuell kann ich das nicht gebrauchen. Vielleicht später, so viel lasse ich mir offen. Eine winzig kleine Hintertür. Das macht es hoffentlich leichter. »Hilfst du mir nun oder nicht?«
»Natürlich helfe ich dir.« In ihrer Stimme schwingt etwas mit, das mich womöglich beunruhigen sollte. »Ich helfe dir doch immer, Schwesterherz.«
Weil Lyn natürlich nicht andauernd in Tates Krankenzimmer sein kann, bin ich nur in Anwesenheit der anderen dort drin und verziehe mich während der Abend- und Nachtstunden raus in den Gang. Dabei dehne ich unser Band nur so weit wie nötig, um Tate nicht wehzutun. Immerhin fragt er nicht, warum ich auf Abstand gehe. Er ist schließlich nicht blöd, aber auch nicht sonderlich gut drauf.
Als die Ärztin seine Genesungsfortschritte endlich bemerkt, entlässt sie ihn auf Wunsch seiner Eltern nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt schließlich nach Hause. Dort übernimmt es hauptsächlich meine Familie, ihn weiter aufzupäppeln. Die Walkers sind nicht begeistert, aber der Autounfall und seine Folgen haben dafür gesorgt, dass sie die Vorteile der Magie wenigstens widerstrebend anerkennen.
»Du wirst dich noch ein paar Tage etwas schwach fühlen«, attestiert Mum ihm bei seiner Rückkehr und reicht mir ein kleines Fläschchen mit einer silbern schimmernden Flüssigkeit. »Morgens und abends bekommt er davon ein Schnapsglas voll. Nächsten Montag sollte er wieder zur Schule gehen können.«
»Werden die Leute nicht misstrauisch, wenn ich nach so einem Unfall so bald wieder quicklebendig antanze?«, fragt Tate, der auf seiner Bettkante sitzt, einen großen weißen Verband um die Brust gewickelt trägt und noch etwas blass um die Nasenspitze ist.
»Wir lassen dir und Katrina ein paar der leichteren Blessuren und du solltest den Sportunterricht für zwei weitere Wochen ausfallen lassen. Nur des Schauspiels wegen«, erklärt sie ihm in ihrem warmen, mütterlichen Ton. »Und Katrina wird die nächsten Tage hier schlafen, dann kannst du dich in deiner vertrauten Umgebung ausruhen.«
Tate will sofort wieder die Versorgung seiner Schwester übernehmen, daher helfe ich ihm dabei, Isabelle ihr Essen zu bringen und sie zu pflegen. Meiner Meinung nach sollten seine Eltern sich besonders jetzt mehr daran beteiligen, aber sie schaffen es einfach nicht, über ihren Schatten zu springen. Während Tate und ich im Krankenhaus waren, mussten meine Eltern und Lyn aushelfen. Für die Walkers ist Isabelle immer noch ein Monster, und der einzige Grund, wieso sie es nicht – wie sonst auch – töten, ist der Fakt, dass es sich dabei um ihre Adoptivtochter handelt.
Immerhin eine gute Entwicklung gab es in den letzten Tagen: Langsam sind Isabelles Augen nicht mehr so milchig-trüb und die dunklen Adern, die ihre Haut seit der Verwandlung überziehen, verblassen zunehmend. Hin und wieder gibt sie unverständliche Laute von sich, als versuche sie, mit uns zu reden. Es geht also auch an dieser Front voran, und endlich keimt in mir ein Funken Hoffnung, dass ich in ihr doch noch einen Lösungsansatz für Tods Auftrag finde.
An unserem ersten Abend zurück im Haus der Walkers bin ich – trotz meiner Bitte an Lyn – mit Tate allein. Nachdem ich ihn dazu gezwungen habe, sich hinzulegen, drehe ich die Heizung auf, die sofort eine angenehme Wärme verströmt. Inzwischen ist der Herbst in vollem Gange und überall zieht es kalt und feucht ins Haus. Dass Tate sich in seinem Zustand eine Erkältung einfängt, würde mir gerade noch fehlen. Menschen sind so zerbrechlich.
Als ich jedoch meinen eigenen Schlafplatz auf dem unbequem anmutenden Feldbett einrichte, auf dem Tate zu Beginn unseres Fluchs geschlafen hat, setzt er sich mühselig auf.
»Was machst du da?«
»Mein Bett«, sage ich knapp und schlage ein Kissen auf.
»Das sehe ich.« Seine Kiefermuskeln spannen sich an. »Aber warum?«
»Weil wir nicht mehr in einem Bett schlafen sollten.«
»Das ist lächerlich.«
»Das hat uns erst in diese Lage gebracht.«
Dagegen kann er nichts sagen. Hätten wir uns gar nicht erst aufeinander eingelassen – sogar so weit, dass wir nachts nebeneinanderliegen und Arm in Arm aufwachen –, dann hätte er sich vielleicht nicht in den Kopf gesetzt, dass diese Sache eine Zukunft haben könnte. Dass aus uns mehr werden könnte als ehemalige Feinde, die sich mittlerweile als Freunde sehen.
Die nächsten zwei Tage schläft er schlecht und ich komme nachts ebenfalls kaum zur Ruhe. Wie von Mum vorhergesagt, sind wir ab Montag wieder in der Schule und dank des Unterrichts und meiner Schwester nie wirklich allein. Mein Plan geht endlich mal auf. Vor allem Tate scheint langsam zu akzeptieren, dass es sinnlos ist, gegen Logik und gesunden Menschenverstand anzukämpfen.
Worauf ich jedoch nicht vorbereitet bin, ist das Stechen in meiner Brust, das mich andauernd überkommt, wenn er auf Abstand geht. Dabei tut er das nicht im wörtlichen Sinn, sondern ich merke, wie eine gewisse Distanz zwischen uns entsteht. Er ist nett und charmant und witzig, aber wie ich es von ihm verlangt habe, passiert nicht mehr als das. Und darüber sollte ich froh sein. Er macht es mir leichter und gleichzeitig fühlt es sich so falsch an.
So was Paradoxes gehört verboten.
An seinem vierten Abend daheim bitten mich seine Eltern, das Zimmer zu verlassen, um mit ihm etwas unter vier – na ja, eher sechs – Augen zu besprechen. Ich folge ihrem Wunsch und warte so weit weg, wie das Band es zulässt, draußen im Flur, der dunkel ist und genauso muffig riecht wie immer. Die Walkers haben das alte Warrington House bis heute nicht renoviert – als planten sie sowieso nicht, länger als nötig zu bleiben.
Ich setze mich gegenüber Tates Zimmertür auf den Boden und gebe mir Mühe, nicht zu lauschen. Bei den dünnen Wänden und dem schmalen Schlitz unter der Tür müsste ich allerdings ziemlich taub sein, um nichts zu hören.
»Ich bin alt genug«, gibt Tate genervt von sich.
»Man ist nie alt genug, um sein Leben zu ruinieren«, tadelt Eve Walker ihren Sohn, der eigentlich der Neffe ihres Mannes Christopher ist. Tates biologische Eltern wurden von Vampiren ermordet, als er noch ein kleiner Junge war. Eine echte Batman-Story, aber die Walkers haben sich seiner angenommen, als wäre er ihr eigen Fleisch und Blut. Ich schätze, solange er sich nicht in einen Untoten verwandelt, kann er sich ihrer Loyalität und Liebe sicher sein.
»Leben ruinieren?« Tate lacht bitter. So habe ich ihn gegenüber seinen Eltern noch nie erlebt, aber dem Tod von der Schippe zu springen, macht was mit einem. Niemand weiß das so gut wie ich. »Ich bin Jäger. Wir haben doch sowieso kein normales Leben.«
»Gerade deswegen solltest du dich nicht auf sie einlassen.«
Ich verstehe. Sie haben eins und eins zusammengezählt. Natürlich. Die meisten um uns herum haben vermutlich mitbekommen, dass zwischen Tate und mir mehr als nur temporäre Freundschaft existiert.
Es sollte mir gelegen kommen, dass sie ihm ebenfalls noch einmal mit Nachdruck klarmachen, dass er und ich nicht zusammengehören. Dennoch ärgert es mich ein bisschen zu sehr für meinen Geschmack.
Hört dieser Zwiespalt jemals wieder auf?
Sie reden alle noch eine Weile aufeinander ein, ehe erst Tates Dad Chris das Zimmer verlässt und kurz nach ihm Eve. Letztere bleibt vor mir stehen, sodass ich den Kopf an die Wand hinter mir lehnen muss, um ihr ins Gesicht schauen zu können.
»Tate hat mir erzählt, was du zu ihm gesagt hast.« Jetzt bin ich wohl mit dem ernsten Gespräch dran. »Du und ich standen bisher nicht wirklich auf derselben Seite, Katrina, aber ich bin froh, dass wenigstens einer von euch im Hinterkopf hat, wer ihr seid und woher ihr kommt.«
»Wie könnte ich das jemals vergessen?«, erwidere ich und verkneife mir das Augenverdrehen.
Eve greift sich an das silberne Kreuz, das immer gut sichtbar um ihren Hals hängt. Ihr kurzes dunkelblondes Haar und ihre eisigen blauen Augen verleihen ihr eine etwas gefährliche Ausstrahlung, aber in diesem Moment, wie sie Halt an ihrem Schmuckstück sucht, wirkt sie müde und erschöpft. Tates Krankenhausaufenthalt war für sie sicherlich auch kein Zuckerschlecken.
»Seit dem Tod seiner Eltern ist er auf der Suche nach einem Fixpunkt in seinem Leben. Einer Konstante. Einem Zuhause.« Sie hält inne. »Wir haben oft versucht, all das für ihn zu sein, aber es war nie genug.«
»Das Jägerleben ist auch nicht gerade dafür bekannt, sonderlich stabil zu sein.«
»Für die einen so, für die anderen so. Aber Tate sucht etwas anderes.«
Etwas anderes. Eine echte Familie, dämmert es mir. Zwar hat er mit Eve und Chris und auch Isabelle eine Familie, nur wenn das, was seine Adoptivmutter da sagt, stimmt, dann reicht ihm das nicht.
Ich denke daran, wie er sich bei uns daheim verhält. Wenn Matilda ihm morgens Pancakes macht oder er sich mit Dad über die Neuigkeiten der Lokalpresse unterhält. Wie er und Lyn Insiderwitze haben und er bei Anthonys Besuchen stundenlang mit ihm über Sport reden kann. Und natürlich behandelt Mum ihn, als wäre er schon seit Jahren Teil der Smythes.
»Ich glaube«, fährt Eve fort, »dass die viele Zeit, die er mit dir verbringt, falsche Vorstellungen in ihm geweckt hat. Dass er etwas darin sieht, was nicht der Wirklichkeit entspricht.«
Ein Fixpunkt. Eine Konstante. Ein Zuhause.
Ich bin immer da, weil es gar nicht anders geht.
Weil wir aneinandergebunden sind.
»Jedenfalls«, sie lässt ihre Kette los und scheint wieder ganz sie selbst zu sein. »Ich zähle darauf, dass wir in dieser Sache am gleichen Strang ziehen. Dass du Tate weiterhin auf Abstand halten wirst, wenn dir etwas an ihm liegt.«
Ich sollte ihr wohl ebenfalls klarmachen, dass er alt genug ist, um das selbst entscheiden zu können, aber mir bleiben die Worte im Hals stecken. Eve Walker tut das hier nicht, um mir eins reinzuwürgen. Sie beschützt ihren Sohn, und vor so was habe ich immer Respekt, egal wie wenig ich Menschen wie sie verstehe oder leiden kann.
Als ich zurück ins Zimmer komme, sitzt Tate mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf seinem Bett, den Blick starr nach vorn gerichtet, die Hände um seine Bettdecke zu Fäusten geballt.
»Du siehst aus, als wolltest du jemanden kurz und klein schlagen«, bemerke ich und gehe rüber zur Heizung, um zu prüfen, ob sie noch warm genug ist.
»Ich habe euch reden gehört.«
»Ich euch auch.« Gegen meine kalte Haut fühlt sich der Heizkörper an wie ein loderndes Feuer. Was für mich zu heiß ist, ist für Tate genau richtig. »Ihr solltet wirklich mal das Haus renovieren. Hier gibt es keinerlei Privatsphäre.«
»Ich würde am liebsten verschwinden.« Er sieht mich mit einer solchen Entschlossenheit an, dass ich automatisch die Arme vor der Brust verschränke. »Und du könntest mitkommen.«
»Aktuell müsste ich wohl eher mitkommen.«
»Würdest du es denn nicht wollen?«
»Nein.« Ich schüttle entschieden den Kopf. Darüber muss ich nicht einmal nachdenken. »Und du willst das auch nicht. Du liebst sie.« Und ich liebe meine Familie. Für nichts und niemanden würde ich sie einfach so verlassen.
Niemals. Auch nicht für Tate.
Zu meiner Überraschung heben sich Tates Mundwinkel zu einem ertappten Lächeln und er fährt sich mit der Hand durch das braune, wuschelige Haar. »Stimmt schon.«
Wenn es etwas gibt, das Tate und mich von Anfang an miteinander verbunden hat, dann ist es unsere Liebe und Treue gegenüber unseren Familien. Vielleicht war es sogar das, was eine Basis zwischen uns geschaffen hat, auf der sich nun alles aufbaut.
»Schlaf jetzt.« Ich schalte die rustikale Stehlampe mit dem vergilbten Lampenschirm aus, ehe ich zu meinem Bett rübergehe. Tate hatte damals recht – es ist unbequem, aber weil mir Rückenschmerzen weniger zusetzen als ihm, nehme ich das in Kauf.
»Katrina?«, höre ich ihn in der Dunkelheit meinen Namen flüstern.
»Ja?«
»Egal, was meine Eltern davon halten … Egal, was du für das Richtige für mich oder uns beide hältst … ich glaube, ihr irrt euch alle.«
»Ich weiß. Das ist ja das Problem.«
Ich weiß, dass er das glaubt.
Ich weiß, dass er nicht aufgeben wird, egal wie viele Argumente dagegen sprechen. Denn eine Sache habe ich nach dem Gespräch mit Eve nun verstanden.
Seit dem Tod seiner Eltern ist er auf der Suche nach einem Fixpunkt in seinem Leben. Einer Konstante. Einem Zuhause.
Was, wenn er ernsthaft denkt, ich könnte all das für ihn sein?
Und noch schlimmer: Was ist, wenn ich das gerne für ihn wäre, weil er nicht weniger als das verdient hat?
Ich hätte mir denken können, dass Lyn keine große Hilfe sein wird.
Klar, sie ist, sooft es eben geht, bei uns, damit Tate und ich so wenig Zeit wie möglich allein miteinander verbringen, allerdings haben wir nie darüber gesprochen, wie sie sich dabei verhalten soll. Solange Tate im selben Raum ist, hält sie sich bedeckt und macht Hausaufgaben oder übt ein paar ihrer Zaubersprüche. Aber sobald er auch nur ansatzweise außer Hörweite ist, plappert sie unaufhörlich über Dinge, die sie lieber für sich behalten sollte.
»Ich finde KaTe wäre ein toller Pärchenname für euch«, sinniert sie und beißt die Spitze ihrer veganen Pizza ab, während ich meinen Shake trinke. »Oder TRina?«
»Solche Namen sind out«, urteile ich trocken und sehe zu Tate rüber, der in der Schlange an der Cafeteria-Theke steht, um sich sein Mittagessen zu holen. Wir sitzen zwar nicht weit weg, aber weil es hier drin so laut ist und er von irgendwelchen Typen abgelenkt wird, mache ich mir keine Sorgen, dass er uns hört.
Lyn grinst. »Und das interessiert uns seit wann?«
»Seitdem es mir dazu dient, dir diese Gedanken auszutreiben.«
Sie verzieht nachdenklich das Gesicht. »Hm, nein. Funktioniert nicht.« Nach einem weiteren Bissen legt sie die Pizza auf dem Pappteller vor sich ab und verschränkt die Arme auf dem Tisch. »Also?«
Ich hebe eine Augenbraue und wittere eine Falle. »Also was?«
»Du stehst auf Tate. Und Tate steht auf dich.«
Ich zucke die Schultern. Nicht leugnen, nicht zustimmen. Einfach dem blonden Duracellhäschen aka meiner liebreizenden Schwester keine weitere Munition für ihre Tagträume liefern.
»Was ist da passiert? Also bei der Tagung? Und im Krankenhaus? Du kannst es nicht ewig für dich behalten.«
Mit der Frage nach Details habe ich schon viel früher gerechnet. Dass Lyn ihre Neugierde so lange zurückhalten konnte, grenzt fast an ein Wunder.
»Nichts.« Ich sehe dabei zu, wie ihr fröhliches Lächeln kurz verrutscht. »Absolut gar nichts.«
»Wirklich nicht?«, wiederholt sie ungläubig. »Dafür klangst du aber ziemlich hilfsbedürftig, als du mich angerufen und darum gebeten hast …«
»Ja ja«, winke ich ab, darum bemüht, gelassen zu bleiben. »Und ich bin dir auch wirklich sehr dankbar für deine Hilfe und ewig währende Diskretion.«
»Dankbar genug, um mir wenigstens eine Kurzfassung zu liefern?«
Ich betrachte sie eingehend. Lyn noch eine Weile auf die Folter zu spannen, ist so unterhaltsam wie reizvoll, doch wir haben seit dem Seelenzauber nicht oft die Gelegenheiten, im Vertrauen zu reden. Mit Sicherheit werde ich es bereuen, so schnell einzuknicken, aber sie ist meine verdammte Schwester und blöderweise auch so was wie meine beste Freundin. Außerdem schadet es vielleicht nicht, jemanden einzuweihen.
»Erzähl es niemandem«, zwinge ich ihr das Versprechen ab. »Nicht Mum, nicht Dad und auch nicht Anthony. Nicht einmal Frankie. Am Ende interpretieren sie mehr hinein, als da eigentlich ist, und gehen mir damit auf die Nerven.«
Lyn nickt eifrig und hebt die Hand zum Pfadfindergruß. »Ich schwöre es bei meiner Hexenehre.«
Da Lyn keine übereifrige Klatschtante ist – zumindest nicht, wenn es um unsere Familie geht –, erzähle ich ihr kurz und knapp, was bei der jährlichen Tagung der Nachwuchsjäger vorgefallen ist. Von Jess, mit der Tate mal eine einzige Nacht verbracht hat und die Lyn vermutlich gefallen würde. Von Jess’ Vater Peter, der den Verdacht hegt, dass etwas mit mir nicht stimmt, und von Tates feuriger Rede zugunsten einer besseren Koexistenz zwischen Jägern und Übernatürlichen.
»Außerdem haben uns ein paar Jäger aufgelauert, aber denen gings danach schlechter als uns«, schließe ich den Teil der Geschichte, hoffend, dass es genug ist, um Lyn davon abzulenken, weitere Fragen zu stellen. Denn wenn ich ihr jetzt noch von Peters speichelleckendem Handlanger Wally erzähle, dem wir den Überfall hinter der Bar zu verdanken haben, befürchte ich, dass sie ihn aus Rache verfluchen und sich damit eine Menge Ärger einhandeln würde.
»Uff«, stößt sie aus und sinkt gegen die Stuhllehne. »Da lässt man dich einmal aus dem Haus.«
Ich lache und trinke einen weiteren Schluck meines Shakes.
»Und du und Tate … seid ihr … ich meine …« Lyn läuft knallrot an.
»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß. Oder wenigstens teilweise. Sie muss ja nicht wissen, wie weit Tates Hände sich an jenem Samstagmorgen vorgewagt haben.
»Ginge das denn überhaupt?«
»Keine Ahnung.«
»Ihr findet das schon raus«, hakt sie dieses Thema vorerst ab und lächelt auf einmal süffisant.
»Was finden wir raus?« Tate zieht plötzlich den Stuhl neben mir raus und setzt sich. Auf dem Tablett vor sich hat er einen großen Salatteller mit Hähnchenstreifen, dazu einen Becher mit Wackelpudding und eine Flasche Wasser.
Ich sehe in stiller Aufforderung zu Lyn, die nur noch breiter grinst.
»Oh, nichts.« Sie winkt ab. »Kat wollte mir nur gerade erzählen, was im Krankenhaus zwischen euch vorgefallen ist.«
Tate sieht von seinem Teller auf, ein Stück gebratenes Hähnchen schwebt, auf der Gabel aufgespießt, vor seinem Mund.
»Du meinst, als deine zauberhafte Schwester mir mitten auf dem Sterbebett das Herz gebrochen hat?« Das schiefe Grinsen passt nicht recht zu seinen Worten.
»Von wegen Sterbebett.« Ich schnaube leise und verdrehe die Augen.
»Ja, das klingt nach ihr.« Lyn greift wieder nach ihrer Pizza und beißt mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht davon ab. »Aber ich brenne darauf, alles darüber zu erfahren.«