Huren küsst man nicht - Elisabeth G. Schmidt - E-Book

Huren küsst man nicht E-Book

Elisabeth G. Schmidt

4,7

Beschreibung

Mit bewegenden Worten schildert Elisabeth Schmidt das Leben an der Seite ihres brutalen Ehemannes. Nach sechzehn Jahren gelingt es ihr, dieser Hölle zu entrinnen, aber sie zahlt einen hohen Preis dafür. Sie muss ihre beiden Kinder zurücklassen. Der Spruch ihres Schwiegervaters, ‚Huren küsst man nicht’, des Mannes, der sie in ihrer Ehe mit seinem Sohn zweimal versuchte zu vergewaltigen, verfolgt sie. Obwohl sie noch weiteren versuchten Vergewaltigungen ausgesetzt ist, und auf der Suche nach der großen Liebe sogar einen katholischen Priester trifft, gibt sie die Hoffnung auf das Glück nie auf. Findet sie es vielleicht in dem amerikanischen Piloten Hank?

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Wo gibt es noch einen Wald, in den man gehen kann, um seinen Schmerz hinaus zu schreien, ohne andere Menschen zu stören? Ich habe keinen gefunden, und daher ist dieses Buch der Schrei, den ich ungehört in mir trage.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 1

Es war Sonntag, der 3. Oktober 1965. An diesem Wochenende fand das alljährliche Dorffest, genannt Kirmes, statt. Auf der großen Wiese mitten im Dorf, wo sich früher das Schwimmbad befunden hatte, war ein längliches Zelt aufgebaut. Innen standen Tische und Bänke, und etwas erhöht befanden sich am Kopfende des Zeltes der Tanzboden und daneben der Platz für die Kapelle. Diese Kapelle bestand ausschließlich aus Musikern des Dorfes.

Jeweils am Samstag-, Sonntag- sowie Dienstagabend fand eine Tanzveranstaltung im Zelt statt. Dienstags war außerdem tagsüber ein großer Markt, auf dem man alles kaufen konnte, was das Herz begehrte, sofern man das nötige Kleingeld dafür hatte. Vor dem Zelt befand sich ein Kinderkarussell, auf dem die kleinen Kinder ihre Runden drehten. Jugendliche dagegen fuhren mit der Autobahn1, oder sie schwangen sich auf die Schiffschaukel. Die Erwachsenen standen vor der Schießbude und hofften, dass ihnen das Glück hold war, indem sie versuchten, einen Preis zu erschießen. An der Losbude nebenan konnte man, wenn man Glück hatte und sich ein Los für 10 Pfennig leisten konnte, kleine, unnütze Dinge gewinnen.

Lisa und Hannah schlenderten am Sonntagabend Arm in Arm über den Kirmesplatz. Sie hatten kein Interesse an der Schiffschaukel oder der Autobahn. Sie wollten zum Zelt. Ab zwanzig Uhr wurde dort zum Tanz aufgespielt. Lisa war achtzehn und Hannah sechzehn Jahre alt. Sie freuten sich auf das Tanzen und waren sehr aufgeregt. Aber die Frage war, würde sie einer der jungen Männer zum Tanzen auffordern? Fand einer von ihnen sie hübsch genug?

Im Zelt saßen bereits einige verheiratete Paare zusammen an Tischen und unterhielten sich. An anderen Tischen hatten sich junge ledige Frauen versammelt, und die jungen ledigen Herren standen an der Theke und tranken ihr Bier. Lisa und Hannah setzten sich an einen Tisch, an dem schon andere Mädchen ihres Alters Platz genommen hatten. Neugierige Blicke gingen hin und her, von den Mädchen zu den Jungen und von den Jungen zu den Mädchen.

Noch spielte die Kapelle nicht, aber es würde nicht mehr lange dauern. Die Bedienung eilte herbei, und beide bestellten jeweils eine kleine Flasche Sprudel. Die musste den ganzen Abend reichen, denn weder Lisa noch Hannah verdienten sehr viel Geld. Beide arbeiteten als Büroangestellte in einer kleinen Möbelfabrik in Horsen. Leider wurden sie sehr schlecht bezahlt. Das meiste von dem Verdienst gab Lisa zu Hause als Kostgeld ab. Von dem übrigen Geld in Höhe von 50,00 DM musste sie sich alles, was sie benötigte, selbst kaufen, so zum Beispiel, Kleider, Schuhe und Kosmetika. Nur das Essen war noch kostenlos zu Hause. Ein bisschen dazu verdienten sich beide durch Babysitten. In der Nähe war ein amerikanischer Flugplatz, und daher wohnten sehr viele amerikanische Familien auch in ihrem Heimatort.

Die Musik begann zu spielen, und gespannt schauten alle Mädchen hinüber zu den Jungen. Würde einer von ihnen kommen und sie zum Tanzen auffordern? Nein, dieses Mal blieben Lisa und Hannah sitzen, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den anderen jungen Paaren beim Tanzen zuzusehen.

Es wurden jeweils drei Musikstücke gespielt, dann machten die Musiker eine Pause, und die jungen Männer brachten ihre Tanzpartnerinnen wieder an den Tisch zurück. Nach einer viertelstündigen Unterbrechung begann es von Neuem. Die Musik fing wieder an zu spielen, und die Herren beeilten sich, ihre ausgesuchten Damen zum Tanzen aufzufordern, bevor ein anderer sie ihnen vor der Nase wegschnappte.

Plötzlich stand ein schüchterner junger Mann vor Lisa und bat sie um die nächsten Tänze. Erfreut stand sie auf und ging mit ihm auf die Tanzfläche. Beim Tanzen bemerkte Lisa, dass ihr Tanzpartner gerade so groß war, wie sie selbst. Das störte sie ein wenig, da ihr große, starke Männer sehr viel besser gefielen. Aber sie war stolz, dass sie überhaupt aufgefordert worden war. Hannah saß immer noch am Tisch. Keiner der jungen Männer hatte sie zum Tanzen aufgefordert. Lisas Gegenüber sagte kein Wort, und als der letzte Tanz zu Ende war, brachte er sie an ihren Tisch zurück und bedankte sich artig. Er schien ein sehr wohlerzogener junger Mann zu sein.

„Wer ist das denn?“ fragte Hannah sie.

„Ich weiß nicht“ antwortete Lisa und zuckte mit den Schultern.

„Er hat sich mir nicht vorgestellt.“

„Gefällt er dir?“ Hannah sah sie fragend an.

„Ich weiß nicht“ meinte Lisa. „Er ist so klein.“

Und bevor Hannah sie weiter ausfragen konnte, fing die Musik schon wieder an zu spielen, und derselbe junge Mann von eben stand schon vor Lisa und bat sie erneut um die nächsten Tänze. Da er von sich aus keine Anstalten machte, sich ihr vorzustellen und augenscheinlich zu schüchtern war, überhaupt mit ihr zu reden, übernahm Lisa die Initiative.

„Darf ich Sie fragen, wie Sie heißen?“ Dabei schaute sie ihn an.

Er senkte verlegen den Kopf. „Ich heiße Albert. Albert Weber. Und wie heißen Sie?“

„Ich bin die Lisa, Lisa Schmidt.“

Der Rest der Tänze verlief schweigend.

Kaum am Tisch angekommen wollte Hannah sofort wissen:

„Na, weißt du jetzt, wer er ist? Ich habe doch gesehen, dass ihr beide miteinander gesprochen habt.“

„Ich weiß nur, dass er Albert Weber heißt. Mehr hat er mir nicht gesagt und das auch nur, weil ich ihn gefragt habe.“

Lisa schaute zur Theke. Dort stand Albert mit einem anderen jungen Mann. Sie schätzte ihn ein paar Jahre älter als Albert, und er war genau ihr Typ. Groß und kräftig.

Vielleicht etwas zu kräftig, vielleicht schon ein bisschen dick. Doch das machte ihr nichts aus. Er gefiel ihr, und sie wünschte, dass er sie einmal zum Tanzen auffordern würde. Aber nein. Schon beim ersten Ton der Musik stand Albert wieder vor ihr und bat sie zum Tanz.

Dieses Mal fragte sie ihn: „Woher kommen Sie?“

„Aus Bachmor“ entgegnete er „und ich bin mit meinem Freund da. Ich selbst besitze kein Auto, und ich bin mit ihm hierhin gefahren, denn er hat ein eigenes Auto.“

„Bachmor, das ist ja gar nicht so weit weg von hier. So ungefähr zwanzig Kilometer oder?“ sinnierte Lisa.

„Ja, zwanzig Kilometer, das stimmt“ antwortete Albert, und schon war die Konversation wieder beendet.

Aber als er Lisa an ihren Tisch zurückbrachte, bat sie ihn mutig:

„Setzen Sie sich doch zu uns. Es ist doch viel gemütlicher, als dort an der Theke zu stehen.“

„Das wäre schön,“ meinte Albert.

„Aber wissen Sie, mein Freund hat schon Andeutungen gemacht, dass er nach Hause fahren will. Und er bringt es fertig, mich einfach hier sitzen zu lassen.“

„Was?“ entgegnete Lisa ungläubig.

„Setzen Sie sich bitte hin. Ich werde zu ihm gehen und ihn fragen, ob er sich auch zu uns setzen will. Wie heißt er überhaupt?“

„Er heißt Hartmut. Hartmut Leskius“ entgegnete Albert.

Übermütig ging Lisa zu dem jungen Mann an der Theke.

„Herr Leskius. Darf ich Sie bitten, sich zu uns an den Tisch zu setzen?“

Der Angesprochene drehte sich zu ihr um, musterte sie von oben bis unten und meinte sarkastisch:

„Wie käme ich denn dazu? Ich kenne Sie doch überhaupt nicht. Wer sind Sie denn überhaupt?“

„Ich bin die Lisa Schmidt und ich habe Ihren Freund Albert gebeten, sich an unseren Tisch zu setzen. Aber er hat Angst, dass Sie einfach heimfahren und ihn da lassen.“

Hartmut schaute sie kalt an. „Da hat Albert recht. Das könnte passieren.“

Zurück an ihrem Tisch war Lisa fassungslos.

„Was ist das denn für einer?“

Ungläubig schaute sie Albert an.

„So etwas Unhöfliches habe ich ja mein ganzes Leben noch nicht erlebt.“

„Er ist heute nicht gut drauf, und bevor er wirklich wegfährt, gehe ich doch lieber wieder zu ihm.“

Traurig sah sie ihm nach. Schade, dachte sie, schade, dass Hartmut so unfreundlich zu ihr gewesen war.

Aber die Musik begann erneut, und Albert stand schon vor ihr. Niemand sonst hatte an diesem Abend eine Chance mit ihr zu tanzen. Immer war Albert als Erster an ihrem Tisch.

Auf einmal sah Lisa, wie Albert und Hartmut heftig diskutierten. Sie begriff, Hartmut wollte fahren, und Albert bat ihn offensichtlich, noch etwas zu bleiben. Sie konnte und wollte die Beiden nicht einfach so weglassen. Daher entschloss sie sich, selbst aufzubrechen, um nach Hause zu gehen. Hannah war schon vor einer Stunde gegangen. Da sie erst sechzehn Jahre alt war, musste sie früher als Lisa zu Hause sein. Ihre Eltern achteten darauf, dass sie immer pünktlich war, sonst gab es Stubenarrest. Das Gleiche galt auch für Lisa.

Schnell stand sie auf, verabschiedete sich von den anderen Mädchen am Tisch und ging zu Albert und Hartmut an die Theke.

„Tschüss,“ sagte sie zu Albert und reichte ihm ihre Hand.

„Vielen Dank, dass Sie mich so oft zum Tanzen aufgefordert haben. Ich muss jetzt leider nach Hause.“

Sie reichte Hartmut die Hand, um sich auch von ihm zu verabschieden, aber er ignorierte sie.

‚Wenn sie jetzt nicht hinter mir herkommen,’ dachte Lisa, während sie das Zelt verließ, ‚dann werde ich sie nie mehr wiedersehen.’

Aber ihr Plan ging auf, und schon an der Ausgangstür des Zeltes waren Hartmut und Albert auf einmal an ihrer Seite.

„Fräulein Schmidt,“ bat Albert.

„Wir fahren auch nach Hause und möchten Sie bitten, Sie mit dem Auto nach Hause bringen zu dürfen.“

Lisa überlegte nur einen kurzen Moment. Dann nickte sie und ging zusammen mit Hartmut und Albert zum Auto. Wie selbstverständlich setzte sich Albert zu ihr auf den Rücksitz.

Als sie vor ihrem Elternhaus angekommen waren, konnte sich Lisa nicht zurückhalten und fragte Hartmut:

„Sind Sie immer so mürrisch und schlecht gelaunt?“

Hartmut drehte sich zu ihr um.

„Nein, nicht immer. Vielleicht komme ich ja am Dienstag alleine wieder, und es könnte sein, dass ich dann besser gelaunt bin. Mal sehen.“

Lisa und Albert stiegen aus, und er begleitete sie bis zu ihrer Haustür.

„Ich bin die nächsten vier Wochen auf einem Lehrgang und kann nicht nach Hause kommen. Darf ich Ihnen schreiben?“

Schüchtern schaute Albert Lisa an.

„Ja, da würde ich mich freuen.“

Lisa nannte ihm ihre Adresse, und er versprach, ihr regelmäßig zu schreiben. Dann legte er seine Arme um sie und küsste sie. Dabei presste er seine Lippen auf ihren Mund, und Lisa hielt still. Als er aufhörte, fragte sie ihn:

„Sind Sie katholisch?“

„Ja, warum?“

„Nun, Sie küssen so katholisch. Gute Nacht.“ Schnell schloss sie die Haustüre auf und ging hinein. Zurück blieb ein etwas ratloser Albert. ‚Katholisch küssen. Was war das denn?‘

Einmal hatte sich eine Gruppe junger Leute auf dem Dorfplatz versammelt, und unter anderem wurde auch das Thema ‚küssen’ besprochen. Ein etwas älterer Junge hatte damals erklärt, dass die Katholiken nur die Lippen aufeinander pressen dürfen. Kein Zungenkuss war erlaubt. Und Lisa hatte es geglaubt. Sie selbst war ja katholisch. Aber dann eines Abends küsste sie ein anderer katholischer Junge, und als er mit ihrer Zunge spielen wollte, schob sie ihn entrüstet weg.

„Wir sind doch katholisch. Das dürfen wir doch nicht.“

Er lachte sie aus.

„Das hast du wirklich geglaubt? Ich fasse es nicht. Natürlich dürfen wir uns auch einen Zungenkuss geben. Das ist doch nichts Böses. Komm, ich zeige dir jetzt, wie das geht.“

Und er zeigte es ihr, und es gefiel Lisa. Sehr gut sogar.

Es war Kirmesdienstag. Die letzten zwei Tage hatte sich Lisa immer wieder gefragt, ob Hartmut wirklich kommen würde, so, wie er es am Sonntagabend im Auto angedeutet hatte. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Stundenlang sprach sie mit ihrer besten Freundin Hannah darüber. Lisa hatte sich verliebt. Aber nicht in Albert, sondern in Hartmut. Es schien, als ob die Zeit bis Dienstagabend nicht vergehen wollte. Sogar nachts im Bett konnte sie nur noch an Hartmut denken.

Als sie in der Mittagspause nach Hause kam, lag ein Brief von Albert in ihrem Zimmer: Er schrieb ihr, dass er sich in sie verliebt hatte und dass er die Tage bis zum nächsten Treffen in vier Wochen zählen würde. Lisa quälte ihr schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich nicht in ihn verliebt, aber sie hatte zugelassen, dass er sie küsste. Schnell verdrängte sie diese Gedanken und dachte nur noch an den Abend, an dem sie Hartmut hoffentlich wiedersehen würde.

Endlich war es soweit. Lisa hatte sich besonders hübsch gemacht, und nun schlenderte sie erneut mit Hannah über den Kirmesplatz. Regelmäßig schauten beide jungen Frauen auch im Zelt nach, ob Hartmut schon da wäre. Lisa hatte keine Ruhe. Sie konnte und wollte nicht im Zelt sitzen und darauf warten, dass er hereinkommen würde. Die Zeit verging, aber Hartmut war nicht zu sehen. Also beschlossen die beiden jungen Frauen, die Schiffschaukel zu benutzen. Immer höher und höher schaukelten sie das kleine Schiff, als Lisa Hartmut erblickte. Er stand genau vor der Schiffschaukel und schaute ihnen zu.

Ihr Herz schlug auf einmal ganz schnell, und sie vergaß, das Schiff weiter zu bewegen. Sie setzte sich einfach hin und schaute zu Hartmut hinunter.

„Was ist los?“ fragte Hannah.

„Ist dir schlecht?“

Lisa schüttelte den Kopf. „Nein“ antwortete sie. „Nein. Mir ist nicht schlecht. Hartmut ist da. Und sie deutete mit ihrem Kopf in die Richtung, in der Hartmut stand und sie beobachtete. Als sie aus der Schaukel ausstiegen, kam er auch schon auf sie zu.

„Guten Abend, Fräulein Schmidt. Wie Sie sehen, habe ich mein Versprechen gehalten. Ich bin alleine hier und überhaupt nicht schlecht gelaunt. Wollen Sie mit mir tanzen?“

Lisa nickte. Das konnte ja nicht wahr sein. Dieser Traummann war nur wegen ihr gekommen. Beim Tanzen hielt er sie ganz fest in seinen Armen. Er war ein wundervoller Tänzer, und Lisa hoffte, dass der Abend nie zu Ende gehen würde.

In den Tanzpausen unterhielt er sich lebhaft mit ihr und Hannah. Sie erkannte ihn kaum wieder. Er war charmant und höflich. Das genaue Gegenteil von Sonntagabend. Und Lisa hatte sich verliebt. Total verliebt in Hartmut Leskius. Für sie war er der tollste Mann auf der Welt. Er war schließlich sechs Jahre älter als sie selbst. Daher auch erfahrener, und das imponierte ihr sehr. Immer wieder sah sie ihn zaghaft von der Seite an, und wenn er es bemerkte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Ein eher amüsiertes Lächeln. Es gefiel ihm, so angehimmelt zu werden, und er genoss es. Lisa, die eher Unerfahrene, jedoch glaubte, dass er sie zärtlich anlächelte und dass es ihm genauso ginge wie ihr.

Dann wurde es Zeit nach Hause zu gehen. Da Lisa am nächsten Tag wieder arbeiten musste, verlangten ihre Eltern, dass sie spätestens um dreiundzwanzig Uhr zu Hause sein sollte, obwohl sie schon achtzehn Jahre alt war. Auch das brachte ein amüsiertes Lächeln auf Hartmuts Lippen, aber er sagte nichts. So begaben sie sich zu seinem Auto, und er fuhr sie direkt vor ihre Haustüre.

„Was machen Sie nächstes Wochenende?“ wollte Hartmut wissen.

„Ich weiß noch nicht:“ antwortete Lisa. „Bis jetzt habe ich noch nichts vor.“

„Vielleicht können wir ja zum Goldenen Anker fahren. Dort ist am Samstagabend Tanz. Hätten Sie Lust?“

Freudig nickte Lisa.

„Ja, gerne. Und wo treffen wir uns?“

„Ich hole Sie um zwanzig Uhr hier ab. Ist das in Ordnung?“

Lisa nickte. „Ja, das ist in Ordnung.“

„Ich muss jetzt aber rein. Bis Samstag. Tschüss.“

„Bis Samstag. Tschüss.“

Hartmut wartete noch, bis sie die Haustüre hinter sich geschlossen hatte, um dann nach Hause zu fahren.

Es gefiel Lisa, dass Hartmut sie überhaupt nicht bedrängt hatte, und sie schwebte wie auf Wolken. Doch abrupt wurde sie jedoch von ihrer Mutter wieder auf den Boden der Tatsachen heruntergeholt.

„Wie kannst du so lange mit einem Mann vor der Haustür im Auto sitzen? Was habt ihr gemacht, und was sollen die Nachbarn denken?“

„Nichts haben wir gemacht Mutti,“ entgegnete Lisa.

„Wir haben uns nur ein wenig unterhalten und uns für das nächste Wochenende verabredet. Wir fahren zum Goldenen Anker.“

„Woher kommt er?“ wollte die Mutter wissen.

„Er kommt aus Bachmor, Mutti. Mehr weiß ich auch noch nicht. Gute Nacht, Mutti.“

Lisa ging in ihr Zimmer, und versuchte zu schlafen. Aber Hartmut ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war total in ihn verliebt.

Als sie am nächsten Morgen im Büro war, wurde ihr schlagartig klar, dass der Auszubildende, der ihr am Schreibtisch gegenübersaß, der jüngere Bruder von Hartmut sein musste. Sein Name war Holger Leskius, und auch er kam aus Bachmor. Aber sie sagte nichts zu ihm, nahm sich aber vor, Hartmut am Samstag danach zu fragen. Holger war ein sehr angenehmer Arbeitskollege, und wenn Hartmut auch so war, hatte sie das ganz große Los gezogen. Sie war so glücklich, und scherzhaft fragten die Kollegen sie, ob sie sich vielleicht verliebt hätte. Lisa wurde rot und schwieg.

Pünktlich um zwanzig Uhr am nächsten Samstag hupte es vor Lisas Haustür.

Schnell wollte sie hinauseilen, doch ihre Mutter hielt sie fest.

„Wenn er nicht den Anstand hat, hier zu klingeln, dann gehst du nicht hinaus. Du springst doch nicht, nur weil jemand nach dir hupt.“

Sie war sehr ärgerlich.

„Bitte Mutti, bitte lass mich doch gehen. Ich werde ihm sagen, dass er das nächste Mal klingeln soll. Bitte Mutti.“ Widerwillig ließ ihre Mutter sie gehen.

„Warum hat das denn so lange gedauert?“

Hartmuts Stimme klang ärgerlich.

„Ach, wissen Sie, meine Mutter meint, dass Sie klingeln und nicht einfach nach mir hupen sollten.“

„Ach so,“ meinte Hartmut sarkastisch.

„Ihr seid wohl etwas Besseres.“

Der Abend fing mit einem Misston an, aber als er Lisa dann beim Tanzen in seinen Armen hielt, war alles vergessen. Der erfahrene Mann wusste, sie war Wachs in seinen Händen. Aber er war auch erfahren genug, sie vorsichtig zu behandeln, sie nicht zu bedrängen, um sie nicht zu erschrecken.

Was Lisa zu diesem Zeitpunkt nicht wissen und sie auch nicht ahnen konnte war, dass Hartmut in seinem Heimatort einen berüchtigten Ruf als Draufgänger, Querulant und Schläger hatte. Außerdem war er sehr jähzornig und verlor schnell die Geduld.

Seine derzeitige Freundin arbeitete als Hure, und seine Eltern lehnten es strikt ab, sie kennen zu lernen. Sie hieß Susanne, aber alle nannten sie Susie.

Hartmuts Eltern waren einfache, fleißige Menschen, die sich sehr um ihren ältesten Sohn Hartmut sorgten. Sie hatten insgesamt drei Söhne: Hartmut, Emil und, wie Lisa es bereits vermutete, Holger. Emil und Holger waren beide sehr höflich und wohl erzogen, während Hartmut das schwarze Schaf der Familie war. Niemals wäre in Bachmor ein anständiges Mädchen mit ihm ausgegangen.

Während Lisa mit Hartmut tanzte, hatte sie von all dem natürlich keine Ahnung. Sie selbst war das zweitälteste Kind von acht Kindern. Ihre Eltern, beide sehr religiös und fest in ihrem Glauben, hatten auch ihre Kinder religiös und im katholischen Glauben erzogen. So musste natürlich für Hartmut Lisa wie ein Geschenk Gottes wirken. Er, dem seine Eltern stets prophezeit hatten, dass ihn niemals ein anständiges Mädchen auch nur ansehen würde, hielt jetzt eines davon in seinen Armen. Und das würde er auch behalten, koste es, was es wolle. Gut, dass Lisa nichts von seinen Gedanken erahnte.

Mit ihr würde er in Bachmor wieder etwas darstellen. Er würde ihnen allen beweisen, dass selbst er ein anständiges Mädchen bekommen konnte. Aber natürlich wusste er auch, dass er sich zusammennehmen musste. Dass er den lieben und netten jungen Mann spielen musste, um sie zu behalten. Würde sie ihn verlassen, würden alle im Dorf recht behalten.

Da Lisa spätestens um vierundzwanzig Uhr zu Hause sein musste, fuhren sie frühzeitig los, um nicht zu spät zu kommen. Lisa hatte Hartmut erzählt, dass ihre Mutter nicht wünschte, dass sie längere Zeit mit ihm im Auto vor dem Haus verbrachte. Also fuhr Hartmut an eine Stelle in den Wald, an der viele junge, verliebte Paare ihre intimen Minuten zu zweit verbrachten.

Hartmut schaltete das Licht des Autos aus.

„Komm, rück ein bisschen näher zu mir,“ flüsterte er.

Lisa gehorchte, und er legte den Arm um sie, und ganz zärtlich spürte sie seine Lippen auf ihren Lippen.

Sie zitterte.

„Ist dir kalt?“ fragte Hartmut sofort.

„Nein, nein mir ist nicht kalt.“

Wie sollte sie ihm sagen, dass sie vor Glück zitterte. Sein Küssen wurde etwas intensiver, was sie zuerst erschreckte, aber dann gab sie sich ganz diesem zärtlichen Gefühl hin, das dieser Kuss in ihr weckte und das sie noch nie gekannt hatte. Es war wunderschön, und sie hoffte, dass es nie aufhören würde. Es blieb bei den Küssen, Hartmut wusste, dass er langsam und vorsichtig mit ihr umgehen musste, da sie sehr unerfahren war. Aber er wusste auch, um sie noch einmal sehen zu können, musste er sie pünktlich nach Hause bringen. So viel hatte er begriffen, dass er dieses Mädchen nur wiedersehen konnte, wenn er sich an die Spielregeln der Mutter hielt. Hartmut war nicht klug, aber er besaß diese gewisse Bauernschläue, die ihn immer seine Vorteile erkennen ließ.

Nachdem er Lisa zu Hause abgeliefert hatte, fuhr er nicht etwa nach Hause, nein. Lisa hatte ihn zu erregt. Er brauchte jetzt eine Frau. Eine willige Frau, eine, die ihm seine sexuellen Wünsche erfüllte. Also fuhr er zu Susie und blieb dort bis zum nächsten Morgen. Da er sich mit Lisa für den nächsten Nachmittag verabredet hatte, fuhr er nach Hause und zog sich um.

Seine Mutter hatte das Mittagessen bereitet. Wortlos setzte er sich zu seinen Eltern und Brüdern an den gedeckten Tisch. Er sprach, wie immer, kein Wort und nachdem er fertig gegessen hatte, stand er auf und verließ das Haus. Keiner hatte gewagt ihn anzusprechen, denn alle hatten Angst vor ihm. Nachdem er gegangen war, atmeten sie erleichtert auf.

Währenddessen lag Lisa auf dem Bett in ihrem Zimmer und dachte an Hartmut, ihren Traummann. Wie zärtlich und rücksichtsvoll er gewesen war. Überhaupt nicht bedrängt hatte er sie. Nur ganz liebevoll geküsst. Gleich würde er da sein. Sie konnte es kaum erwarten. Aber würde er auch kommen? Sollte er nicht schon längst da sein? Ängstlich schaute sie auf die Uhr. Nein, es war ja noch Zeit. Erst in fünfzehn Minuten wollten sie sich treffen. Da sie in ihrem Zimmer immer unruhiger wurde, ging sie zu den Eltern und Geschwistern ins Wohnzimmer. Dort war sie etwas abgelenkt, und die Zeit verging schneller.

Dann hupte es vor der Tür.

„Nein!“ Entrüstet sah ihre Mutter Lisa an.

„Du gehst nicht raus! Hast du ihm nicht gesagt, dass er klingeln soll? Was sollen denn die Nachbarn denken?“

„Doch Mutti, ich habe es ihm gesagt. Vielleicht hat er es ja vergessen.“

Lisa hatte Angst, denn ihre Mutter konnte sehr hart sein.

Sie würde sie auf keinen Fall aus dem Haus lassen. Ihr kamen die Tränen.

Was, wenn Hartmut einfach wegfahren würde?

Verzweifelt sah sie ihre ältere Schwester Tessa an.

„Ja, ist ja gut. Ich gehe mal in den Vorbau ans Fenster und spreche mit ihm.“

Es schien Lisa, als dauerte es eine halbe Ewigkeit bis Tessa zurückkam.

„Weißt du Lisa, ich kenne Hartmut. Er hat mich einmal mit seinem Auto fahren lassen, kurz, nachdem ich den Führerschein gemacht hatte. Komm Mutti, lass Lisa gehen. Er hat versprochen, das nächste Mal zu klingeln.“

Widerwillig gab ihre Mutter nach.

„Na gut, aber das ist das letzte Mal.“

Glücklich stürmte Lisa nach draußen. Als sie zu Hartmut ins Auto stieg, bekam sie jedoch etwas Angst. Die Art, wie Hartmut sie ansah, gab ihr ein mulmiges Gefühl. Außerdem sprach er kein Wort mit ihr. Schweigend fuhr er los, und erst nach etwa zehn Minuten schien er sich zu besinnen.

Er hielt an und nahm sie zärtlich in seine Arme.

„Tut mir leid“ sagte er, „aber ich lasse mich nicht gerne gängeln. Das muss auch deine Mutter begreifen. Aber gut, das nächste Mal klingele ich bei der feinen Herrschaft.“

Lisa war viel zu verliebt, um den bösen Unterton in seiner Stimme zu erkennen. Er hielt sie in seinen Armen, liebkoste und küsste sie, und das war alles, was in dem Moment wichtig für sie war. Es schien, als ob er nicht genug von ihren Küssen bekommen konnte. Er war richtig gierig danach, und wenn er bemerkte, dass er zu erregt wurde, brach er ab, um sich wieder zu beruhigen. Für Lisa war alles wunderschön, aber auch ein bisschen befremdlich.

Sie war eben sehr naiv und unerfahren. Der Rest des Nachmittags verlief in wunderbarer Harmonie.

Hartmut fuhr mit ihr durch viele Orte, die Lisa nur vom Hörensagen kannte. Abends gingen beide in ein Restaurant und aßen Hähnchen. Für Lisa ein Luxus, den sie und ihre Familie sich noch nie hatten leisten können, denn sie waren nicht sehr reich. Nachdem Hartmut wieder an derselben Stelle, wie am Abend zuvor, im Wald angehalten und sie sich ausgiebig geküsst hatten, brachte er sie anschließend zurück nach Hause. Danach fuhr er geradewegs zu Susie, um sich erneut sexuell verwöhnen zu lassen.

So vergingen ein paar Wochen. Jedes Wochenende kam Hartmut, um sie abzuholen. Samstagabends gingen sie zumeist mit Freunden tanzen und Sonntagnachmittags fuhren beide gemütlich spazieren. Einmal, als Lisa ihn bat, ein wenig mit ihr zu Fuß spazieren zu gehen, wehrte er heftig ab.

„Nein, das ist nichts für mich.“ Und so fuhren sie weiterhin mit dem Auto.

Doch eines Mittwochabends klingelte es. Es war Hartmut.

„Was ist los?“ fragte Lisa freudig erregt.

„Du kommst mitten in der Woche? Ich freue mich so. Was für eine Überraschung. Komm doch herein.“

„Nein, nein, lass nur. Ich muss mit dir sprechen. Komm, lass uns ein bisschen wegfahren.“

Hartmuts Stimme klang ernst.

„Mutti, Hartmut ist da. Wir fahren ein bisschen weg“ rief Lisa ins Wohnzimmer, und bevor ihre Mutter es ihr verbieten konnte, war sie auch schon aus dem Haus.

Hartmut fuhr mit ihr zu ‚ihrer Stelle’ im Wald. Aber er nahm sie nicht, wie von Lisa erwartet, in den Arm, sondern blieb einfach sitzen.

Noch einmal fragte Lisa: „Was ist los, Hartmut? Du wolltest doch mit mir reden. Dann bitte sag auch was.“

Es befiel sie ein sonderbares Angstgefühl. Wollte er sich etwa von ihr trennen? Warum sonst war er mitten in der Woche zu ihr gekommen?

„Bitte Hartmut, bitte sag doch, was los ist. Willst du Schluss mit mir machen. Warum?“

Er drehte sich zu ihr.

„Nein, nein, ich will nicht mit dir Schluss machen. Aber vielleicht machst du ja Schluss mit mir, nachdem ich dir erzählt habe, warum ich heute hier bin.“

Verstört schaute Lisa ihm ins Gesicht.

Da legte er den Arm um sie und fing an zu erzählen:

„Weißt du, Lisa, ich habe dich unheimlich lieb. Ich glaube ich liebe dich sogar, und deshalb will ich jetzt reinen Tisch machen. Willst du wissen, warum ich nie mitten in der Woche zu dir gekommen bin?“

Lisa nickte und schaute Hartmut fragend an.

„Nun,“ fuhr er fort, „nicht etwa, weil ich keine Zeit hatte, sondern, na ja, ich hatte noch eine andere Freundin. Sie heißt Susie. Zu ihr bin ich immer Mittwochabends gefahren. Also müsste ich heute Abend eigentlich bei ihr sein.“ Lisa hörte es und hörte es auch nicht. Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie ganz fest und erzählte ihr solche Dinge. Und jetzt drückte er sie auch noch zärtlich und küsste sie auf ihre Haare. Sie konnte nichts sagen. Die Tränen, die sie zurückzuhalten versuchte, machten es nicht möglich, auch nur einen Ton heraus zu bekommen. Sie wollte sich von ihm lösen. Wollte raus aus diesem Auto. Weg von diesem Schmerz, der in ihr wütete.

Aber sie konnte nicht. Wie gelähmt saß sie auf ihrem Sitz und schaute nur geradeaus in den Wald, der immer dunkler wurde.

Und weiter hörte sie Hartmut sagen:

„Ja, auch heute Abend war ich auf dem Weg zu Susie, und unterwegs auf einmal dachte ich, was mache ich denn da? Ich habe das liebste und beste Mädchen auf der Welt in Horsen und hier fahre ich zu einer Hure.“

Erschrocken sah Lisa ihn an.

„Ja, du hast richtig gehört. Susie ist eine Hure. Sie verdient ihr Geld damit, Männern ihre sexuellen Wünsche zu erfüllen. So habe ich sie kennengelernt, und dann habe ich mich in sie verliebt.“

Wieder wollte Lisa sich aus seinen Armen lösen, aber er hielt sie fest, ganz fest.

„Ja, und dann habe ich dich kennengelernt. Du bist so anders. So unschuldig, so rein. Zuerst habe ich mich ein bisschen über dich amüsiert, aber heute Abend habe ich festgestellt, dass ich dich liebe und dass ich dich will und nicht Susie, und deshalb bin ich heute hier, bei dir.“

Es war lange still im Auto.

„Weißt du, Lisa,“ fuhr Hartmut nach einer Weile fort, „du hast mich einmal gefragt, warum ich so verrückt nach Küssen bin. Susie hat mich zwar sexuell befriedigt, aber küssen konnte ich sie nie, denn mein Vater hat mir einmal gesagt:

‚Mit Huren hat man Sex, aber

Huren küsst man nicht.

Denke immer daran. Nur ein anständiges Mädchen darfst du küssen.’

Jetzt weißt du, warum ich dich immer und immer wieder küssen wollte. Ich wusste ja bis dahin nicht, wie schön das Küssen ist.“

Wieder schwiegen beide eine Weile. Mittlerweile war es stockfinster, und die Bäume des Waldes waren nicht mehr zu sehen.

„Ich verspreche dir, dass ich nie mehr zu ihr fahren werde.“

Die Tränen liefen Lisa über ihr Gesicht. Sie konnte und wollte sie einfach nicht mehr zurückhalten.

„Da ist noch etwas anderes,“ fuhr Hartmut fort.

„Wegen Susie habe ich mich total mit meinen Eltern zerstritten. Wir sprechen kein Wort mehr miteinander. Sie wissen, dass ich dich kennengelernt habe und dass du ein gutes Mädchen bist. Ich hätte gerne, dass es mit meinen Eltern wieder besser wird und möchte, dass meine Eltern dich kennenlernen und dass du meine Eltern kennenlernst. Lisa, wenn du willst, wird alles gut. Ich verspreche es dir.“

„Fahr mich bitte nach Hause.“ schluchzte Lisa.

„Ich kann dir jetzt gar nichts sagen. Ich muss erst nachdenken und zur Ruhe kommen. Da ist jetzt einfach zu viel Schmerz in mir. Das musst du verstehen.“

„Und wie soll es weitergehen?“

Hartmuts Stimme klang auf einmal sehr erschrocken.

„Komm am Samstagabend bitte nicht. Sonntagnachmittag kannst du kommen. Dann gehen wir spazieren, und bis dahin kann ich dir mehr sagen. Bitte, bitte fahr mich jetzt nach Hause.“

So fuhr Hartmut sie nach Hause, und Lisa ging, ohne ihren Eltern gute Nacht zu sagen, in ihr Zimmer. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter ihre Tränen sah und Fragen stellte. Das hätte sie nicht ertragen, und außerdem kannte sie ihre Mutter. Niemals mehr hätte sie ihre Tochter mit Hartmut weggehen lassen.

Lisa schlief kaum in dieser Nacht, und als sie am nächsten Morgen ins Büro kam, war sie wie gerädert. Nur Holger, Hartmuts Bruder, war schon da. Sie setzte sich ihm gegenüber an ihren Schreibtisch.

„Sag mal, Lisa.“ Gehst du etwa mit meinem Bruder?“ Fragend sah er sie an.

Bevor Lisa jedoch antworten konnte, ging die Tür auf und der Abteilungsleiter betrat mit einem freundlichen ‚Guten Morgen‘ das Büro.

Lisa war froh, keine Antwort auf Holgers Frage geben zu müssen. Ging sie mit Hartmut? Sie wusste es nicht. Ja, sie waren einige Male zusammen ausgegangen, hatten sich geküsst und liebkost. Aber gingen sie miteinander? Vor allen Dingen nach dem Gespräch vom gestrigen Abend war Lisa so durcheinander, dass sie die Frage nicht beantworten konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Kurze Zeit danach klingelte das einzige Telefon im Büro. Wie immer beantwortete der Abteilungsleiter den Anruf. Er hörte kurz zu, sah dann strafend Lisa an:

„Es ist für dich“ und hielt ihr den Hörer hin.

Lisa stand auf und nahm den Hörer entgegen. Am anderen Ende war Hartmut.

„Lisa, bitte. Ich muss mit dir sprechen, bitte. Darf ich heute Abend zu dir kommen?“

Was blieb Lisa anderes übrig als „ja“ zu sagen. Privatgespräche waren verboten, und das sagte ihr der Abteilungsleiter auch sehr bestimmt, nachdem sie aufgelegt hatte. Lisa entschuldigte sich und arbeitete still weiter. Ihr schien es, als ob alle im Büro Bescheid wüssten und sie anstarrten. Am liebsten hätte sie geweint und wäre weggelaufen, aber das ging ja nicht, und so brachte sie diesen Tag irgendwie herum.

Abends musste sie ihrer Mutter klar machen, dass Hartmut kommen würde und sie beide wieder ein paar Stunden zusammen verbringen würden. Ihre Mutter wurde misstrauisch.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte sie.

Lisa nickte. „Ja Mutti, alles in Ordnung,“ und ging schnell in ihr Zimmer. Weitere Fragen ihrer Mutter hätte sie nicht ohne Tränen beantworten können.

Erneut fuhren sie an ‚ihre Stelle‘ im Wald, und als Hartmut sie in den Arm nahm wusste sie, dass sie ihm vergeben würde. Sie hatte ihn so lieb und dass er zu ihr kam, zeigte es ihr nicht, dass es ihm umgekehrt auch so erging? Nach vielen Küssen und Streicheleinheiten fuhr Hartmut dann beruhigt nach Hause. Diese Frau gehörte ihm.

Hartmut und Lisa hatten ein schlechtes Gewissen Albert gegenüber. Schließlich hatte er sie ja quasi zusammengebracht.

Lisa hatte eine Freundin, die Marianne hieß. Sie war kurz zuvor von ihrem Freund verlassen worden und deshalb sehr niedergedrückt und traurig. Als sie und Hartmut wieder einmal an ‚ihrer Stelle‘ im Wald parkten und sich in den Armen lagen, sagte Lisa:

„Weißt du Hartmut, warum bringen wir Marianne und Albert nicht zusammen? Beide sind alleine, und ich glaube, sie würden prima zusammenpassen.“

Auch Hartmut fand die Idee gut, und sie beschlossen, dass Hartmut am nächsten Samstagabend zusammen mit Albert nach Horsen kommen würde. Lisa sollte in der Zwischenzeit Marianne davon überzeugen, mit ihnen zum Tanzen zu fahren. Gesagt, getan und wie von Lisa vorhergesagt, verstanden sich die Beiden auf Anhieb. Lisa war glücklich, denn jetzt brauchte sie Albert gegenüber überhaupt kein schlechtes Gewissen mehr zu haben und konnte ihm wieder in die Augen sehen.

Es war kalt, und es hatte viel geschneit. Dazu war es kurz vor Weihnachten. Lisa war immer noch sehr verliebt und freute sich auf das Fest. Dann würde sie endlich Hartmuts Eltern kennen lernen. Hartmuts Mutter hatte am fünfundzwanzigsten Dezember Geburtstag, und Lisa war zu der Geburtsfeier eingeladen worden. Hartmut würde am Morgen nach Horsen kommen, um sie abzuholen.

Lisas Mutter gab ihr gute Ratschläge, wie sie sich verhalten sollte. Nur nicht auffallen, immer schön im Hintergrund bleiben und nur sprechen, wenn sie gefragt wurde. Lisa nickte. Ja, ja, das wusste sie doch alles. Manchmal nervte ihre Mutter gewaltig!

Endlich war Weihnachten und am ersten Weihnachtstag stand Lisa am Fenster und wartete sehnsüchtig auf Hartmut. Sie hatten sich eine ganze Woche nicht gesehen, da das Wetter so schlecht war und sehr viel Schnee lag. Dann endlich sah sie sein Auto. Schnell lief sie an die Haustüre, um ihn alleine begrüßen zu können. Drinnen saß die ganze Familie, und sie wollte nicht, dass ihr jemand dabei zusah, wie sie ihm um den Hals fiel und ihn küsste. Sie hatte ihn so vermisst.

Es schmeichelte Hartmut, dass sie ihre Freude, ihn zu sehen, so offen zeigte. Er sollte vielleicht öfter einmal eine Woche verstreichen lassen, ohne sie zu sehen. Vielleicht würde dann ja endlich das Feuer in ihr erwachen, dass er sich so sehnlichst von ihr wünschte. Seit er nicht mehr zu Susi fuhr, hatte er immer und immer mehr das Verlangen, das von Lisa zu bekommen, was Susi ihm so freiwillig geboten hatte. Er war erfahren und wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er Lisa so weit hatte. Daher hatte er sich auch große Mühe gegeben und ihr ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk mitgebracht.

Da Lisa nicht reich war und nicht viel Geld verdiente, musste sie jeden Pfennig zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgab. Er freute sich auf ihr Gesicht, wenn sie das Geschenk auspacken würde. Aber er wollte, dass sie es vor der ganzen Familie tat. Er wollte als ganz toller Mann dastehen, und vor allen Dingen wollte er Lisas Mutter 'beeindrucken.

Also gingen sie ins Haus, wo die versammelte Familie im Wohnzimmer um den Weihnachtsbaum saß. Immerhin hatte Lisa noch sieben Geschwister. Dazu kamen die Eltern. Nachdem man sich frohe Weihnachten gewünscht hatte, zog Hartmut mit großer Geste ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche und überreichte es Lisa theatralisch. Mit vor Aufregung geröteten Wangen öffnete sie es.

„Oh mein Gott.“

Fassungslos starrte sie auf sein Geschenk.

„Ist die schön.“

Hartmut hatte ihr eine silberne Armbanduhr mit vielen kleinen Steinen, die aussahen wie Diamanten, mitgebracht.

„Vielen, vielen Dank Hartmut,“ jauchzte sie und fiel ihm um den Hals.

Lisas Mutter schaute zuerst die Uhr und dann Hartmut strafend an.

„Die ist doch viel zu teuer.“ meinte sie.

„Für das Geld hättest du auch etwas Nützliches kaufen können, Hartmut.“

Aber Hartmut sah, dass sie innerlich doch stolz auf ihn war. Er hatte erreicht, was er wollte. Die Mutter von Lisa war nun ganz auf seiner Seite.

Anschließend fuhren er und Lisa nach Bachmor zu seinen Eltern. Lisa hatte eine Schachtel Pralinen für Hartmuts Mutter gekauft, und ihre Eltern hatten eine Flasche Wein dazu getan.

Sie war nervös, aber als sie das Haus betraten, wurde sie so freundlich von den Eltern empfangen, dass ihre Nervosität bald wich.

„Also gehst du doch mit meinem Bruder?“ hörte sie eine Stimme.

Als sie sich herumdrehte, sah sie Holger, der sie ernst ansah.

„Woher kennt ihr euch denn?“ fragte Hartmut erstaunt.

„Wir arbeiten im selben Büro.“ antworteten beide gleichzeitig und mussten lachen.

„Wieso hast du mir das nicht gesagt?“ Hartmut schaute sie wütend an.

Darauf wusste Lisa keine Antwort. Sie war überrascht über die heftige Reaktion von Hartmut. Sie hatten doch in der letzten Zeit, auch wegen Susi, andere Gesprächsthemen als seinen jüngeren Bruder. Hartmut aber beruhigte sich nicht. Als sie alleine im Wohnzimmer saßen, während Hartmuts Mutter das Mittagessen zubereitete, fuhr er sie an:

„Du hast es mir verheimlicht, warum?“

„Aber Hartmut,“ verteidigte sich Lisa, „ich habe es dir doch nicht verheimlicht. Immer wenn du zu mir kamst, hatten wir andere Sachen zu besprechen. Ich habe einfach nicht daran gedacht.“

Hartmut bemerkte, dass Lisa jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. Um Gottes willen. Das musste er verhindern. Also nahm er sie beruhigend in den Arm, und sie musste ihm versprechen, ihm von nun an alles, aber auch alles, zu erzählen. Und nur, damit er wieder lieb zu ihr war, versprach sie es ihm.

Dann lernte sie seinen anderen Bruder Emil und dessen Freundin Beate kennen. Beate selbst kam auch aus Horsen, aber sie dachte, sie wäre etwas Besseres als Lisa, und das zeigte sie auch deutlich. Außerdem verkehrte sie ja schließlich schon fast zwei Jahre in der Familie und hatte daher auch die älteren Rechte. Sanftmütig, wie Lisa nun einmal war, ließ sie Beate gewähren und freute sich nur, dabei sein zu dürfen.

Alle versammelten sich um den großen Tisch in der Küche und begannen mit dem Essen. Als das Hauptgericht aufgetragen wurde, staunte Lisa über die Menge, die da auf dem Tisch stand. Das hätte ja für mindestens eine Woche für ihre große Familie zuhause gereicht. Hartmuts Vater sah ihr Erstaunen.

„Ja,“ meinte er stolz.

„So viel steht bei euch zu Hause wohl nicht auf dem Tisch?“

Lisa verneinte.

„Weißt du, Lisa,“ fuhr der Vater fort.

„Wir sind Bauern und haben extra für Weihnachten geschlachtet. Greif nur zu. Es ist genug da.“

Und das tat Lisa auch, und es schmeckte ihr hervorragend. Sie konnte nicht anders, sie musste Hartmuts Mutter ein großes Lob ob deren Kochkünste aussprechen, was die Mutter sichtlich freute. Anschließend jedoch, als Hartmut und Lisa alleine waren, fuhr er sie an:

„Sage nie mehr meiner Mutter, dass sie etwas gut macht. Es ist doch nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit, dass eine Frau gut kochen kann. Dafür ist sie schließlich da und muss nicht noch extra gelobt werden.“ Lisa war viel zu erschrocken, um darauf eine Antwort zu haben.

Da sich das Wetter verschlechterte, beschlossen sie, früher als geplant zurück nach Horsen zu fahren. Der Misston hielt die ganze Heimfahrt an. Es war Lisa unerklärlich, dass Hartmut so reagiert hatte. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, zu danken und zu loben. So war sie es von zu Hause aus gewohnt. So hatten es ihr ihre Eltern beigebracht. Sie schaute auf ihre neue Armbanduhr, deren Steine wie Diamanten funkelten, und sie konnte sich auf einmal nicht mehr so richtig daran erfreuen. Hartmut hatte Dank und Lob wie selbstverständlich dafür erwartet und auch erhalten. Warum maß er mit zweierlei Maßstäben? Warum dufte man seine Mutter nicht loben?

Lisa fand keine Antwort darauf, aber es gefiel ihr nicht. Dieser Mann an ihrer Seite schien zwei Gesichter zu haben. Verstohlen sah sie ihn an. Er fuhr sehr konzentriert, da sie mitten in einem Schneegestöber waren und kaum etwas sehen konnten. ‚Vielleicht spricht er ja auch deshalb nicht mit mir. Er muss sich konzentrieren‘ dachte sie und kauerte sich in den Sitz.

„Komm“ bat er plötzlich. „Rück ein bisschen näher.“

Etwas zögerlich rutschte Lisa näher an ihn heran.

„Mach doch nicht so ein Gesicht. Es ist doch Weihnachten.“

Dann waren sie aus dem Schneegestöber heraus. Auf einmal schien die Sonne, und der Schnee glitzerte wie tausend Edelsteine. Hartmut lächelte Lisa an und schon war alles vergessen. Nein, ein Mann, der sie so anlächelte, konnte nicht böse sein. Sie schmiegte sich an ihn und fühlte sich wohl und geborgen.

Die nachdenkliche, mahnende Stimme in ihrem Kopf verdrängte sie.

An diesem Wochenende war Silvester, und es war abgemacht, dass sie in Horsen in den ersten Januar 1966 hinein feiern wollten. Im Kino waren die Stühle ausgeräumt, damit man dort tanzen konnte. Hartmut sollte das erste Mal in Horsen übernachten und in dem Zimmer von Lisas Bruder Erwin schlafen. Der Abend begann sehr lustig, und da Lisa natürlich die ganze Dorfjugend kannte, war sie nie alleine und tanzte auch das ein oder andere Mal mit einem anderen jungen Mann.

Zu spät fiel ihr auf, dass Hartmut nur noch an der Bar stand und trank. Schnell lief sie zu ihm hin, um ihn zum Tanzen aufzufordern, aber Hartmut stieß sie weg.

„Geh doch zu deinen Freunden“ schnauzte er sie an.

„Mich brauchst du doch nicht.“ Er nahm einen großen Schluck Bier.

Lisa war erschrocken. Was war denn jetzt los? Sie verstand es nicht und ging zu ihrem Bruder Erwin.

„Kannst du mal mit Hartmut sprechen?“ bat sie ihn.

„Ich glaube, er ist böse auf mich.“

Sie sah, wie Erwin und Hartmut miteinander sprachen, und auf einmal verließ Hartmut den Saal. Erwin kann auf sie zu.

„Was ist los?“ fragte Lisa verstört.

„Er ist böse auf dich, weil du ihn den ganzen Abend ignoriert hast. Jetzt fährt er nach Hause.“

Verständnislos schaute Lisa Erwin an.

„Aber ich habe ihn doch nicht ignoriert. Ich habe nur zwischendurch mal kurz mit den Anderen gesprochen.“

Erwin zuckte die Schultern und ließ sie fassungslos zurück. Schnell lief Lisa nach draußen. Vielleicht wartete Hartmut ja dort auf sie. Aber er war nicht da. Er war einfach gegangen. Er war einfach fortgegangen.

Da sie Hartmuts Auto vor Lisas Elternhaus stehen gelassen hatten, bevor sie zum Tanzen aufbrachen, musste er jetzt erst einmal zu Fuß dorthin zurück. Schnell lief Lisa zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen. Danach machte sie sich auf den Heimweg und ging mit ihren Stöckelschuhen, so schnell wie möglich, durch den festgetretenen Schnee. Als sie an ihrer Straße angekommen war, hörte sie das Aufheulen eines Motors, und dann fuhr Hartmut mit Vollgas an ihr vorbei in Richtung Bachmor.

Sie sah ihm nach, bis sie die Rücklichter seines Autos nicht mehr erkennen konnte. Sie hatte doch nur mit ein paar Freunden gelacht. Das war doch kein Grund, sich so zu verhalten. Lisa konnte es nicht begreifen. Sie spürte die Kälte durch ihre Schuhe und beeilte sich, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Dort warteten schon ihre Eltern.

„Was ist los?“ herrschte ihre Mutter sie an.

„Ich weiß nicht.“ antwortete Lisa. Und sie erzählte ihren Eltern, was sich abgespielt hatte.

Zweifelnd sah ihre Mutter sie an.

„Das ist wirklich alles?“ hakte sie noch einmal nach.

„Ja, Mutti, ganz bestimmt. Du kannst ja später Erwin fragen.“

Dann hörten sie die Glocken läuten. Sie läuteten das neue Jahr ein. Lisa war in einem Sturm von Gefühlen, wie sie sie noch nie erlebt hatte.

„Der scheint ja furchtbar eifersüchtig zu sein.“ seufzte ihr Vater.

„Aber trotzdem, ein frohes und geruhsames neues Jahr.“

„Danke, Papa, für euch auch.“ antwortete Lisa und ging in ihr Zimmer.

So also fing das neue Jahr für Lisa an. Ein Jahr, auf das sie sich so sehr gefreut hatte. Und sie begann es mit vielen heißen Tränen, die erst versiegten, als sie endlich in einem unruhigen Schlaf fiel.

Als Lisa am nächsten Morgen erwachte, waren sofort die Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder da. Ein Angstgefühl beschlich sie.

„Was, wenn er nicht mehr kommt?“ dachte sie und fing wieder an zu weinen. Sie hatte ihn doch so lieb. Außerdem waren sie heute bei einem Arbeitskollegen von Hartmut zu einem traditionellen Silvester-Essen eingeladen. Mechanisch zog sie sich an, frühstückte mit der Familie und ging anschließend zur Kirche.

Aber sie konnte sich nicht auf die Messe konzentrieren.

Immer wieder zog der gestrige Abend an ihr vorbei. Sie war froh, als die Messe endlich aus war und sie sich auf den Heimweg begeben konnte.

Plötzlich hupte es neben ihr. Sie schaute zur Seite und sah, dass es Hartmut war. Er hielt ihr die Autotür auf und forderte sie auf, einzusteigen. Mechanisch tat sie es.

„Ein frohes neues Jahr.“ Hartmut tat so, als ob nichts passiert wäre.

„Ja, ein frohes neues Jahr auch für dich.“ antwortete Lisa gepresst.

„Wir sind zum Essen eingeladen.“ Hartmut schaute sie kurz an, während er weiterfuhr.

„Ich weiß.“ entgegnete Lisa.

„Und was machen wir?“ Wieder sah Hartmut sie fragend an.

Da drehte sich Lisa zu Hartmut, nahm ihren ganzen Mut zusammen und schrie: „Was heißt hier, was machen wir? Das weiß ich doch nicht. Wer hat sich denn gestern Abend so blöd verhalten? Du oder ich? Was war denn los? Was habe ich falsch gemacht, dass du einfach wegrennst und mich stehen lässt?“

Hartmut hielt an.

„Es tut mir leid, aber als ich dich gestern Abend mit all deinen Freunden lachen gesehen habe, da wurde ich so eifersüchtig, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Es tut mir leid, Lisa, wirklich.“

Zerknirscht saß er neben ihr und schaute zu Boden.

Wie ein kleiner Sünder, dachte Lisa und konnte nicht anders, als ihn in den Arm zu nehmen und zu küssen.

„Gott sei Dank.“ dachte Hartmut. „Das ist überstanden.“

„Komm,“ meinte er dann.

„Wir müssen los, sonst kommen wir zu spät zum Essen.“

„Aber erst muss ich zu Hause Bescheid sagen. So geht das nicht.“

antwortete Lisa und hatte schon Angst vor dem, was ihre Mutter wohl sagen würde. Aber erstaunlicherweise sagte sie nichts, sondern schaute Lisa nur nachdenklich an, was schlimmer war, als wenn sie etwas gesagt hätte.

Bei Kurt und Cindy, dem Arbeitskollegen von Hartmut und dessen Frau angekommen, wurde sofort das Mittagessen aufgetischt. Eingelegter Hering. Er war so lecker, und erst als Lisa und Cindy in der Küche alleine beim Spülen waren, traute sich Lisa Cindy zu sagen, wie gut es geschmeckt hatte, und bat sie um das Rezept. Cindy freute sich sehr über das Lob. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Es wurde viel erzählt und gelacht an diesem Nachmittag, und als es Abend wurde, verabschiedeten sich Hartmut und Lisa mit dem Versprechen, den Besuch bald zu wiederholen.

Hartmut hatte etwas Alkohol getrunken, und daher verlief die Heimfahrt sehr locker und gelöst. Doch plötzlich fuhr er von der Straße ab in einen Wald.

„Komm her.“ befahl er in einem Ton, der Lisa erschreckte.

„Komm schon.“

Aber Lisa blieb sitzen. Plötzlich hatte sie Angst. Angst vor dem Mann, den sie doch, wie sie glaubte, liebte.

Aber gerade das machte Hartmut wütend.

Er rutschte neben sie und versuchte unter ihren Mantel und Rock zu greifen. Lisa wehrte sich. Sie versuchte, die Hand festzuhalten und wegzudrücken. Aber sie hatte keine Chance. Hartmut war ein starker Mann, und unter dem Einfluss des Alkohols wurde er noch stärker. Er presste ihre Beine auseinander und drückte sein Knie dazwischen. Gleichzeitig öffnete er seine Hose.

Da Lisa unter ihrem Mantel einen Rock und Strapse trug, war es ihm ein Leichtes, ihr Höschen auf die Seite zu schieben und sein erigiertes Glied in sie hineinzustoßen.

Lisa schrie auf. Es tat so weh. Es tat so furchtbar weh, aber das war Hartmut egal. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, versuchte von ihm wegzukommen, aber er war zu stark. Ihre Schreie, ihr Flehen und Betteln, doch aufzuhören, interessierte ihn nicht. Er verging sich so lange an ihr, bis er kam und befriedigt war. Dann erst ließ er von ihr ab, setzte sich wieder hinter das Steuer und richtete seine Kleidung. Hartmut schaute sie an, sagte aber nichts. Dann startete er das Auto und fuhr los.

‚Ich bin keine Jungfrau mehr. Ich habe gesündigt, oh mein Gott, ich habe gesündigt.’

In Lisas Kopf drehte sich alles.

‚Ich habe gesündigt. Lieber Gott verzeih mir, ich habe gesündigt. Ich wollte es aber nicht, das weißt du, lieber Gott bitte, ich wollte es nicht.’

Lisa fing an zu weinen.

‚Er hat mich nicht dabei geküsst.‘ fuhr es ihr durch den Kopf.

‚Er hat mich nur genommen, benutzt. Wie eine Hure. Und was hat sein Vater ihm gesagt?

‚Huren küsste man nicht.’

Wimmernd saß Lisa neben Hartmut und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war da geschehen? War es wirklich geschehen? Wie hatte sie von ihrem ersten Mal geträumt. Wie wunderschön es werden würde. Wie zärtlich Hartmut sein würde. Und nun das. Es tat so weh.

Es tat immer noch weh, und es hörte überhaupt nicht auf, weh zu tun, und sie bemerkte, dass sie stark blutete.

Aber er fuhr und fuhr, bis sie zu Hause angekommen waren.

„Morgen brauche ich wohl nicht zu kommen oder?“

Lisa schüttelte nur den Kopf. Sie schleppte sich ins Haus und in ihr Zimmer.

Dort angekommen zog sie sich aus und legte sich in ihr Bett. Wie ein Embryo kauerte sie unter der Bettdecke und fand keine Ruhe. Das soeben Erlebte kam und ging und kam und ging, und es wollte nicht aufhören. Sie fing an zu weinen. Ihr war bitterlich kalt.

„So war das also? So war das, wenn Mann und Frau sich liebten?“

Mit Ekel dachte sie an seinen Atem. Dieses Keuchen, das immer stärker wurde, je näher sein Orgasmus rückte.

Dann dieses furchtbare Stöhnen, als er sich aufbäumte und endlich kam. Immer und immer wieder hörte sie diese Geräusche in ihren Ohren, und immer mehr krümmte sie sich zu einem Embryo zusammen.

Dann hielt sie es nicht mehr in ihrem Bett aus. Leise, um ihre Mutter nicht zu wecken, stieg sie auf den Speicher, wo ihre ältere Schwester Tessa ihr eigenes kleines Reich in einer Mansarde hatte. Lisa hob die Bettdecke und kroch zu ihr und drückte sich ganz fest an ihre ältere Schwester.

„Was ist denn?“ murmelte Tessa verschlafen.

„Ich bin keine Jungfrau mehr.“ antwortete Lisa und fing an zu weinen.

„Es war furchtbar, und es hat so weh getan, und es tut immer noch weh, und ich blute so stark.“

„Was?“ beschwerte sich Tessa, „Du hast es vor mir gemacht? Und was ist, wenn du jetzt schwanger bist?“

Daran hatte Lisa überhaupt nicht gedacht. Aber als Tessa bemerkte, in welchem Zustand sich Lisa befand, sagte sie nur:

„Du kannst die Nacht hier bleiben.“

Sie drehte sich auf die Seite und schlief weiter.

Langsam beruhigte sich Lisa. Die Nähe ihrer großen Schwester beruhigte sie. Dann verlangte die Natur nach ihrem Recht und ließ sie endlich einschlafen. Am nächsten Morgen wurde Lisa unsanft von Tessa geweckt:

„Komm, du musst aufstehen. Du musst doch zur Arbeit.

Wärst du nicht zu mir hoch gekommen, könnte ich jetzt noch schlafen. Ich hab nämlich noch Ferien."

Sofort kamen Lisa die Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder hoch. Aber nicht nur die Erinnerungen, sondern auch die Schmerzen. Sie konnte sich kaum bewegen und bemerkte auch, dass ihre Unterwäsche voller Blut war.

Schnell zog sie sich um und machte sich fertig zur Arbeit.

Frühstücken konnte sie nicht. Sie hatte keinen Hunger.