Hungern, um zu überleben - Willkür oder Kalkül? - Eine Hartz-IV-Überlebende erzählt - Elisabeth G. Schmidt - E-Book

Hungern, um zu überleben - Willkür oder Kalkül? - Eine Hartz-IV-Überlebende erzählt E-Book

Elisabeth G. Schmidt

4,8

Beschreibung

Einfühlsarm und bewegend erzählt Elisabeth G. Schmidt in diesem autobiografischen Buch, wie sie nach fast 40-jähriger Berufstätigkeit in Hartz-IV abrutscht. Verzweifelt versucht sie, trotz ihres hohen Alters doch noch eine Anstellung zu finden, doch vergebens. Als Hartz-IV-Bezieherin erlebt sie die demütigende Art und Weise, in der eine ARGE-Mitarbeiterin sie behandelt und beschreibt ihren weiteren Weg in die absolut unterste Schicht unserer Gesellschaft, in der Hunger, Hygieneprobleme durch Geldmangel und Hoffnungslosigkeit an der Tagesordnung sind. Eine bemerkenswerte Geschichte, die zudem noch wahr ist. Ihren Abstieg von der Chefsekretärin bis hin zu Hartz-IV beschreibt sie sehr eindrucksvoll und es ist erschreckend mitzuerleben, wie schnell man in diese Maschinerie hinein geraten kann und keinen Ausweg mehr findet. Nun hatte Frau Schmidt noch das Glück, das andere nicht haben, denn sie konnte sich in die vorgezogene und daher verminderte Altersrente retten. Mit dieser niedrigen Rente muss sie nun bis zu ihrem Lebensende auskommen. Es ist wahrlich eine Schande, wie man in Deutschland mit älteren Menschen umgeht, die ihr Leben lang gearbeitet haben.

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Artikel 1 des Grundgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland:

Schutz der Menschenwürde

Wo bleibt dieser Schutz für Hartz-IV-Bezieher?

Sind sie Menschen ohne Würde?

Werden sie deshalb nicht beschützt?

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Nachwort

Vorwort

Dieses Buch habe ich nicht geschrieben, um mich selbst zu bemitleiden oder um bemitleidet zu werden. Ich habe es geschrieben, um die Wahrheit über Hartz-IV aufzuzeigen und das unangemessene und perfide Verhalten einer Mitarbeiterin der ARGE öffentlich zu machen. Ich will und muss auf die Missstände im sogenannten Hartz-IV-Gesetz aufmerksam machen und auf unfähige Mitarbeiter der ARGE hinweisen. Es geht einfach nicht, was sich da vielerorts abspielt. Es schreit zum Himmel, und keiner unserer Politiker sieht sich imstande oder ist gar gewillt, einzugreifen

Außerdem baten mich viele Leser von ‚Huren küsst man nicht‘ um eine Fortsetzung, da sie mein weiteres Leben brennend interessierte. Durch meine Erzählungen hatten sie großen Anteil an meinem Leben genommen und wollten unbedingt wissen, wie es mit mir weiterging.

In ‚Hungern, um zu überleben‘ erzähle ich über die Zeit nach meiner Rückkehr aus Amerika, wo ich Hank, meine große Liebe, besucht hatte und berichte außerdem über meinen langsamen, aber unaufhaltsamen Abstieg von der Chefsekretärin eines Flughafens in die Armut, nämlich in Hartz-IV. Es ist die Geschichte meines persönlichen Abstiegs.

Außerdem beschreibe ich, mittlerweile Hartz-IV-Bezieherin, meinen aussichtslosen Kampf gegen die Schikanen einer ARGE Mitarbeiterin. In meiner Geschichte nenne ich sie Frau Armmut. Arm im Geiste aber mutig genug, um auf die, die schon ganz unten sind, noch einmal richtig zuzutreten. Zudem verdeutliche ich die erbärmliche Ohnmacht unserer Politiker, uns, den Ärmsten der Armen, gerecht zu werden sowie die erbarmungslose Ausbeuterei dieser Ärmsten durch unsere Regierung.

Viele Menschen in Deutschland wissen nicht, wie sie ihre Kinder und sich selbst satt bekommen, denn sie müssen von Hartz-IV leben. Gleichzeitig setzt sich aber die Bundeskanzlerin in ein Flugzeug, das von den Steuergeldern der Bundesbürger bezahlt wird, um nicht nur am 3. Juli 2010 zu einem Privatvergnügen, nämlich zu einem Spiel der deutschen Fußball Nationalmannschaft, nach Südafrika zu jetten. Natürlich wird das Kerosin, welches das Flugzeug benötigt, um die Kanzlerin dort hinzubringen, auch von den Steuern der Bundesbürger bezahlt. Angeblich verbindet sie das Fußballspiel mit einem Staatsbesuch. Angeblich!

Sehr zum Vergnügen der Bundeskanzlerin gewinnt Deutschland im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika mit 4:0 gegen Argentinien. Jubelnd springt sie auf, wenn Deutschland ein Tor schießt. Sehr zum Missfallen des Regierungschefs, den sie ja angeblich offiziell besucht. Missmutig sitzt er neben unserer Kanzlerin und weiß anscheinend überhaupt nicht, was er dort in dem Fußballstadion soll. Kurz schaut die Kanzlerin etwas irritiert auf ihn herab, nicht verstehend, warum nicht auch er aufspringt und vor Freude die Arme in die Luft wirft, weil unsere deutsche Mannschaft gerade ein Tor geschossen hat.

Man zeigt im Fernsehen, wie die Kanzlerin aufsteht und jubelt. Schön, dass wenigstens unsere Kanzlerin noch Grund zur Freude hat. Vor allen Dingen, wo sie gerade beschlossen hat, denn Deutschland muss ja sparen, dass man nicht etwa die Reichen der Republik antastet, um ihren Teil des Sparens zu leisten, nein, um Gottes Willen, doch nicht die Reichen!

Im Gegenteil, sie nimmt es von den Ärmsten der Armen, sie nimmt es von den Hartz-IV-Empfängern, von den Menschen, die täglich ums Überleben kämpfen. Menschen wie ich. Nun geht es mir noch verhältnismäßig gut, denn ich muss nur für mich sorgen, aber ich denke mit tiefem Entsetzen und Mitleid an all die Familien mit ihren kleinen Kindern, die nun noch weniger zum Überleben haben werden.

Nicht alle Hartz-IV-Bezieher sind faul und arbeitsunwillig. Ich behaupte sogar, der größte Teil ist unschuldig in diese Situation hinein geschlittert und kommt nicht mehr heraus, da unsere Bundeskanzlerin viel zu sehr damit beschäftigt ist, ihrem Privatvergnügen hinterher zu jetten und den Reichen in den Hof zu machen, als dafür zu sorgen, dass die Konjunktur wieder angekurbelt wird und so die Menschen in Deutschland wieder genug Arbeit haben und von ihrem selbstverdienten Geld leben können.

Eine gerechte Umverteilung von Hartz-IV wäre angesagt. Zum Beispiel: Es gibt unzählige junge Menschen, im Alter von ca. 13 bis 18 Jahren, die es als höchstes Ziel wähnen, einmal Hartz-IV beziehen zu dürfen. Für sie ist es ein Traum, nicht arbeiten zu müssen und dafür auch noch Geld vom Staat zu bekommen. Wozu die Schule beenden, wenn man doch Hartz-IV bekommt, ob man nun einen Schulabschluss hat oder nicht?

Dort müsste man ansetzen!

Allen jungen Menschen, die die Schule geschmissen und daher keinen Abschluss haben, müssten die Hartz-IV-Bezüge komplett verweigert werden. Deutschland würde sich wundern, wie viele junge Menschen plötzlich wieder ihre Schule beenden. Und in den Jahren, in denen sie die Schulbank drücken, ihre Einstellung zu Hartz-IV bestimmt komplett revidieren. Aber wer in unserer Regierung denkt denn schon logisch? Würden sie es tun, wären wir jetzt nicht in dem Dilemma, in dem wir stecken.

Und wie kommt unsere Regierung dazu, uns ältere Menschen, die fast ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben und nur durch widrige Umstände arbeitslos wurden, über einen Kamm zu scheren mit den Menschen, die zu faul zum Arbeiten sind? Macht unsere Regierung es deshalb, weil es einfacher ist für sie, alle über einen Kamm zu scheren? Haben sie so doch weniger Arbeit mit uns. Es ist traurig und doch so wahr!

Während ich dieses Buch schreibe, hoffe ich immer noch, dass ich träume. Dass sich all das, was ich jeden Tag erlebe, in Wohlgefallen auflöst. Aber ich wache nicht auf. Entweder träume ich einen nicht enden wollenden bösen Alptraum oder es ist die traurige, unfassbare Wahrheit, die überall in Deutschland tagtäglich passiert. In unserem Deutschland im einundzwanzigsten Jahrhundert!

Es gibt zwar Länder, die nicht so arm sind wie wir und deren Menschen nicht so leiden, wie die Hartz-IV-Empfänger bei uns in Deutschland, die aber durch Korruption und Missmanagement ihrer Regierung tief in der Schuldenfalle sitzen.

Es ist doch selbstverständlich für unsere Regierung, dass sie schnell ein paar Milliarden Euro locker macht, um diesen armen Regierungen zu helfen.

Was für ein Hohn!

Ihr Kinder hier in Deutschland, die ihr sehnsüchtig euren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden hinterher schaut, wenn die in den Sportverein, Musikverein oder andere Vereine gehen, und ihr zu Hause bleiben müsst, weil eure Eltern arm sind, ihr tut mir leid. Denn für euch, die ihr doch unsere Zukunft sein sollt, hat unsere Regierung kein Geld übrig, im Gegenteil, sie geben euch immer weniger.

Deutschland tut mir leid, aber wir können es ändern, denn wir sind das Volk, und die nächste Wahl kommt bestimmt.

Hoffentlich ist es bis dahin nicht zu spät.

Kapitel 1

Eigentlich war ich nach Amerika geflogen, um zu prüfen, ob ich in Hanks Nähe sein konnte, ohne ihn zu kontaktieren. Es ergab alles keinen Sinn, denn obwohl er die Liebe meines Lebens war, wollte ich heraus bekommen, ob ich ohne ihn leben konnte. Ich wusste, dass er mich nicht liebte, hoffte aber immer noch, dass er es eines Tages tun würde. Auch mit weit über fünfzig kann man noch so verliebt sein, wie ein junger Teenager. Doch zwei Tage bevor ich abflog, rief er mich zuhause an und ich verplapperte mich und erzählte ihm, dass ich ganz in seiner Nähe für eine Woche ein Hotelzimmer gemietet hatte. Er bestand darauf, mich vom Flughafen in New York, abzuholen und mich in das Hotel zu fahren. Die Hoffnung, dass er mich zu sich nach Hause einladen würde, erfüllte sich nicht.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, mir New York anzusehen und spazieren zu gehen. Ab und zu kam Hank vorbei und begleitete mich. An dem letzten Abend vor meinem geplanten Rückflug nach Deutschland schliefen wir miteinander und dabei fügte er mir große Schmerzen zu, da es so lieblos geschah und mein Körper nicht bereit war. Er bemerkte es aber nicht, und ich sagte ihm nichts davon, denn ich hatte Angst, dass er aufstehen und mich verlassen würde. Was er aber ohnehin tat.

„Ich hole dich morgen gegen Mittag ab und bringe dich zum Airport.“

Als er mich in dieser Nacht verließ, brach ich weinend vor dem Fenster, vor das ich mich geschleppt hatte, zusammen und versuchte, ihn bei seiner Abfahrt zu noch einmal zu sehen. Doch es war zu dunkel und ich sah nur die Lichter der Autos auf der Straße unterhalb des Hotels.

Hank hatte mich verabredungsgemäß gegen Mittag von meinem Hotel abgeholt und zum Flughafen in New York gebracht. Die Fahrt dorthin verlief fast schweigend. Keiner von uns beiden wusste, was er sagen sollte. Zudem verspürte ich starke Schmerzen und ich wollte nicht, dass er es merkte.

Wie sollte ich sie ihm erklären? Wenn, dann hätte ich es ihm sagen müssen, während er mir die Schmerzen zufügte und nicht jetzt, einen Tag später. Nur mit größter Mühe hielt ich meine Tränen zurück. Am Flughafen angekommen, holte Hank meinen Koffer aus seinem Auto und stellte ihn neben mich. Dann umarmte er mich kurz zum Abschied und fuhr in seinem Oldtimer, einem dunkelroten Oldsmobil davon. Ich sah ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war und ging mit schleppenden Schritten ins Terminal, um meine Heimreise anzutreten.

Gott sei Dank hatte ich im Flugzeug einen Fensterplatz und konnte so wenigstens ab und zu meine Gedanken durch den wundervollen Blick nach unten etwas von meinen Schmerzen ablenken. Was ich aber nicht verhindern konnte war, dass mir die Tränen die Wangen hinunterliefen. Was ich auch nicht verhindern konnte war, dass sich mein Körper unruhig auf dem Sitz hin und her bewegte. Die Schmerzen, die ich beim Sitzen empfand waren groß, und der Flug schien kein Ende zu nehmen. Die sieben Stunden kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Mein Sitznachbar war ein jüngerer Mann, der fast den ganzen Flug nach Deutschland verschlief und so nichts von meinem körperlichen und seelischen Schmerz mitbekam. Nur die Stewardessen schauten mich ab und zu fragend an, sagten aber nichts. Vielleicht dachten sie ja, dass ich an einem Trennungsschmerz litt, was selbstverständlich auch der Fall war.

Immer wieder musste ich an die Minuten in der Nacht zuvor denken, als Hank mir diese Schmerzen zufügte. Wenn ich meine Augen schloss war es, als ob ich ihn noch spüren konnte. Und immer wieder die Szene, als er sich in diesem Hotelzimmer von mir verabschiedete und ich ihn bat, ihn noch kurz umarmen zu dürfen.

„Oh ihr Frauen,“ hatte er genervt geantwortet.

„Ihr Frauen“

hatte er gesagt und mich gleichgestellt mit Millionen anderer Frauen in einem Moment, in dem er und ich uns noch vor Minuten geliebt hatten. Leidenschaftlich war er gewesen und schmerzlich, sehr schmerzlich hatte es sich für mich angefühlt, da ich körperlich noch nicht bereit gewesen war. Wieder hatte er sich nicht überwinden können, mich dabei zu küssen. Ich musste in diesem Augenblick erkennen, dass das Zusammensein mit mir ihm nichts, aber auch überhaupt nichts bedeutet hatte außer seine Lust zu befriedigen. Die tiefe Liebe, die ich für ihn empfand erwiderte er nicht und so wollte er, nachdem er seine Befriedigung erlangt hatte, so schnell wie möglich nach Hause, fort von mir.

Er konnte oder wollte nicht verstehen, dass ich noch ein wenig seine Nähe spüren, noch ein wenig länger in seinen Armen liegen wollte, da ich ahnte, dass es vielleicht das letzte Mal sein würde, dass ich die Gelegenheit dazu hatte.

So ließ er mich in diesem Hotelzimmer zurück und fuhr nach Hause, wo auch er die restliche Nacht alleine verbrachte.

Hank bekam so natürlich auch nicht mit, wie ich vor dem Fenster zusammenbrach und glaubte die unbarmherzig grausame und harte Stimme meines Ex-Mannes zu hören, der mir höhnisch zurief:

„Huren küsst man nicht.“

Nun war ich wieder zurück in Deutschland. In New York war es schon richtig heiß gewesen und die Sonne schien den ganzen Tag von einem wolkenlosen Himmel, aber Frankfurt begrüßte mich mit einem grauen Schmuddel Wetter.

‚Genau wie ich mich fühle,’

dachte ich traurig. Ich schwankte ein wenig und stellte erschrocken fest, dass ich mich sehr schlecht fühlte und schnellstmöglich einen Stuhl benötigte, auf den ich mich setzen konnte. Vorsichtig, ganz vorsichtig, denn ich hatte immer noch große Schmerzen. Außerdem war ich in einem Schock Zustand, der nicht enden wollte.

‚Nur heim, schnell heim’

dachte ich. Aber ich musste noch über eine Stunde warten, bis endlich der Bus kam, der mich nach Hause bringen würde. Nicht ganz bis nach Hause, aber bis auf den Flughafen Hinkel, und das bedeutete schon, zu Hause zu sein. Dort würde ich meinen Nachbarn anrufen, der mich vereinbarungsgemäß abholen sollte, und dann wollte ich nur noch schlafen. Schlafen und alles vergessen.

Die Sitze im Bus waren zwar gut gefedert, aber trotzdem wimmerte ich bei jeder harten Bewegung leise auf. Gut, dass die anderen Insassen des Busses sich laut unterhielten und sie es daher nicht mitbekamen. Auf dem Flughafen Hinkel angekommen, bat ich einen der jungen Mitfahrer, mir meinen Koffer aus dem Bus zu holen. Mürrisch erfüllte er meinen Wunsch, ging aber derart ruppig mit dem Koffer um, dass er plötzlich nicht mehr meinen Koffer in der Hand hielt, sondern nur noch den Griff des Koffers. Erschrocken sah er mich an, aber ich war viel zu müde und viel zu fertig, als dass dieses Geschehnis mich noch aufregen konnte.

Ich dankte ihm trotzdem mit einem Lächeln und stand nun da, mit einem schweren Koffer, der keinen Griff mehr besaß. Also schob ich ihn über den Asphalt bis zur Telefonzelle, um meinen Nachbarn anzurufen. Er kam schon nach kaum zehn Minuten. Verwundert schaute er auf meinen lädierten Koffer, aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um ihm die Situation zu erklären. „Fahr mich bitte schnell nach Hause, ich bin so müde“.

Und das tat er. Vor meiner Wohnung angekommen, holte er den Koffer und trug ihn für mich hinein. Dann war ich endlich allein und konnte meinen Tränen freien Lauf lassen. Ich brach zusammen und lag stundenlang weinend auf dem Teppichboden meines Wohnzimmers, bevor ich mich langsam ein wenig beruhigte.

Wie in Trance griff ich nach dem Telefon, wählte die Nummer meiner Tante Annemarie, um ihr mitzuteilen, dass ich wieder da wäre. Tante Annemarie freute sich, meine Stimme zu hören.

„Und, wie war es? Hat es dir gefallen? Hattest du eine schöne Zeit mit Hank?“

„Ja, Tante Annemarie. Es war sehr schön, aber jetzt bin ich so etwas von müde und werde mich ein wenig hinlegen.“

„Mach das, und komm morgen vorbei, dann trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen und du erzählst mir alles, ja?“

„Ja, Tante Annemarie, das werde ich machen, tschüss.“

Anschließend ging ich unter die Dusche. Das Wasser schien auf meiner Haut zu brennen, obwohl ich es nur lauwarm eingestellt hatte.

‚Den Koffer räume ich morgen aus’, dachte ich müde und ließ die Rollladen vor dem Fenster meines Schlafzimmers hinunter. Schon nach kurzer Zeit fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, befand ich mich wieder in dem Hotelzimmer, wo Hank mir gerade die größten Schmerzen und die schlimmste Demütigung zugefügt hatte. Ich glaubte zu träumen, und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich begriff, dass ich nicht in einem Hotelzimmer in New York war, sondern in meinem Schlafzimmer daheim und dass ich mich in meinem eigenen Bett befand. Erschrocken lag ich ganz still und begriff erst langsam, was gerade geschehen war. Was ich in diesem Moment noch nicht wusste war, dass es genau 18 Monate dauern würde, bis ich endlich in der Lage war, mich davon zu befreien. Achtzehn lange Monate wachte ich jeden Morgen mit dem Gefühl auf, mich in diesem Hotelzimmer in New York zu befinden und alles wieder zu erleben. Achtzehn Monate konnte ich mit niemanden darüber reden, noch nicht einmal mit Hannah, meiner besten Freundin. Und erst recht nicht mit Hank, der während dieser Zeit sporadisch anrief, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.

„Wie geht es dir, Lisa?“

„Danke, Hank, es geht mir gut“

war meine stets gleichlautende Antwort. Aber er sprach nicht mehr vom Kommen. Anscheinend hatte er kein Verlangen mehr danach, mich zu besuchen, mich zu sehen.

Dann, ohne genau zu wissen warum, setzte ich mich eines Abends, genau achtzehn Monate nach dem Ereignis in New York, an meinen Computer und schrieb eine lange E-Mail an Hank und erzählte ihm, wie sehr er mich damals verletzt, gedemütigt und erniedrigt hatte.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und der Bann war gebrochen. Endlich war das tägliche Déjà-vu-Erlebnis überstanden, und ich fühlte mich wie befreit. Hank rief schon am Abend desselben Tages an, und jetzt war er es, der total erschrocken war und nun selbst unter Schock stand.

„Lisa, ich würde dir doch niemals wissentlich weh tun. Warum hast du nichts in dem Moment gesagt? Warum hast du so lange damit gewartet? Niemals würde ich dir weh tun, dafür bedeutest du mir zu viel. Das weißt du doch, oder?“

Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

„Ich konnte nichts sagen, Hank, ich konnte nicht. Ich weiß nicht, warum ich nichts sagen konnte, Hank. 18 Monate bin ich jeden Morgen aufgewacht und befand mich in dem Hotelzimmer in New York und erlebte alles wieder neu. Achtzehn lange Monate, Hank, und ich konnte mit keinem Menschen darüber reden. Ich war unter Schock, die ganze Zeit, Hank.“

Ich fing an zu weinen, endlich ein befreiendes Weinen.

„Ich komme, Lisa. Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen zu dir zu kommen, und dann sprechen wir über alles. Gibst du mir diese Chance, Lisa, bitte?“

Natürlich gab ich Hank die Chance, mit ihm über alles zu reden. Dafür liebte ich ihn einfach immer noch viel zu sehr, und ich spürte, wie erschrocken er über das Geschehene war. Er selbst hatte nicht bemerkt, dass er mich in diesem Hotelzimmer so verletzt hatte. Endlich konnte ich wieder lächeln. Hank würde kommen und alles würde gut werden.

Jetzt hatte ich etwas, auf das ich mich freuen konnte.

Als Hank ein paar Tage später kam, sprachen wir lange über das, was in diesem Hotelzimmer in New York passiert war. Hank, der die ganzen letzten achtzehn Monate in dem Glauben war, dass die Geschehnisse in jener Nacht für mich etwas wunderschönes gewesen wären, musste nun erkennen, wie verletzt und gedemütigt ich mich gefühlt hatte.

Es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass er mich verletzt sogar gedemütigt hatte und es traf ihn tief.

„Warum hast du mir nichts gesagt, Lisa? Warum?“

Immer und immer wieder stellte er diese Frage.

„Du weißt doch, ich würde dir niemals wissentlich weh tun, oder glaubst du das etwa?“

Nein, natürlich glaubte ich es nicht. Ich wollte es einfach nicht glauben und so machte ich es mir leicht, ihm zu verzeihen.

In dieser Nacht war er sorgsam darauf bedacht, mir nicht weh zu tun. Im Gegenteil, Hank war der zärtlichste Liebhaber, den eine Frau sich nur wünschen kann. Er küsste sogar meine Lippen. Zwar nur ganz kurz und ganz zart, aber er hatte mich endlich einmal geküsst. Alle erlittenen Schmerzen und Demütigungen waren vergessen.

Ich war glücklich.

Kapitel 2

Nachdem mir meine kleine Schwester, die ich selbst als Hilfskraft eingestellt und angelernt hatte, mir meine Anstellung als Chefsekretärin eines Flughafens streitig gemacht hatte, wurde ich einer der Abteilungen des Flughafens als Sekretärin zugeteilt. Gerne hätte mich der damalige Geschäftsführer entlassen, da er bemerkt hatte, dass ich sein Unvermögen erkannt hatte. Doch da er mir nichts nachsagen konnte und keinen Grund für eine Entlassung meinerseits fand, musste er mich wohl oder übel weiter beschäftigen. Vor allen Dingen konnte er auch nicht auf meine Mitarbeit in seiner Firma verzichten, da seine neue Chefsekretärin zwar wesentlich jünger und hübscher war als ich, aber leider über keine Qualifikation verfügte, um eine derartige Stellung fachgerecht ausüben zu können.

So kam es, dass man mir Geld von meinem Gehalt abzog, da selbstverständlich eine Sekretärin eines Abteilungsleiters kein Anrecht auf das Gehalt einer Chefsekretärin hatte. Dieses Gehalt bekam von nun an meine jüngere Schwester. Da aber meine kleine Schwester nicht in der Lage war, die Position einer Chefsekretärin auszuüben, musste ich im Hintergrund alle wichtigen Dinge erledigen. Da sie außerdem nur über mangelhafte bis hin zu ungenügenden Englischkenntnissen verfügte, bürdete man mir auch diesbezügliche Schriftverkehre auf, da sie nicht in der Lage war, diese Tätigkeiten zu verrichten.

Aber das war dem damaligen Geschäftsführer auch nicht wichtig, wusste er doch mich im Hintergrund. Wichtig für ihn war nur, dass eine jüngere und besser aussehende Sekretärin in seinem Vorzimmer residierte. Dass sie noch nicht einmal in der Lage war eine Ablage für die Korrespondenz zu erstellen, spielte absolut keine Rolle. Doch sie blieb nicht lange, denn sie fühlte sich zu Höherem berufen und auch da scheute der damalige Geschäftsführer keine Mühen und Kosten, um ihr auch diesen Aufstieg zu ermöglichen.

Erst Jahre und viele Sekretärinnen später musste ein neuer Geschäftsführer erkennen, wie erbärmlich das Vorzimmer bisher von den einzelnen Chefsekretärinnen vernachlässigt worden war. Wieder war ich es, die endlich Ordnung in das gesamte Chaos bringen musste. Natürlich ohne dafür bezahlt zu werden. Das Geld für meine Arbeit erhielten andere Sekretärinnen, nämlich diejenigen, die nicht in der Lage waren, diese Arbeit auszuüben.

Der Abteilungsleiter, dem ich zugeteilt worden war, war nur etwas älter als ich und ein sehr erfahrener Mann. Er behandelte mich überaus zuvorkommend.

„Ich habe die beste Sekretärin des Unternehmens und endlich jemand, der auch mitdenkt“,

pflegte er immer zu sagen. Natürlich war ich froh, dass er mich lobte und meine Arbeit schätzte, aber der Stachel über die Art, wie man mir meine Stellung als Chefsekretärin genommen hatte und wie man mich immer wieder demütigte, saß tief und wurmte täglich. Langsam machten mich diese Umstände krank. So krank, dass hauptsächlich meine Handinnen- sowie die Handaußenflächen an beiden Händen von einer stark juckenden und schmerzenden Neurodermitis befallen wurden. Aber auch die Achselhöhlen und andere Körperpartien waren betroffen.

Nach einigen Jahren, in denen der Flughafen immer weiter ausgebaut wurde, war ich immer noch die Sekretärin eines Abteilungsleiters. Endlich bekamen wir einen neuen Leiter des Unternehmens, da man das Unvermögen des ersten Geschäftsführers endlich auch an höherer Stelle erkannt hatte. Er wurde über Nacht gefeuert. Dass ich eventuell daran beteiligt gewesen war, dass dieser Herr Nietinger seines Amtes enthoben wurde, erzählte ich natürlich keinem.

Herr Nietinger, der erste Geschäftsführer des Flughafens auf dem ich arbeitete, hatte ein sehr großes Fachwissen. Leider war dieser Mann aber absolut nicht in der Lage, dieses Wissen einzubringen. Eher beschränkte er seine Tätigkeit darin, sich stunden- oder gar tagelang auf ein eher unwichtiges Presseinterview vorzubereiten oder aber tagelang an einem Brief zu feilen, um einem unliebsamen Beamten im Ministerium die Meinung zu sagen. Auf höfliche Art natürlich, gespickt mit kleinen Gemeinheiten. Die tägliche Eingangspost blieb oft über Wochen auf seinem Schreibtisch liegen und wichtige Termine konnten nicht eingehalten werden. Ebenso war es mit dringenden Briefen, die er einfach auf seinem Schreibtisch liegen ließ, ohne sie zu unterschreiben. Eines Tages, alle Abteilungsleiter hatten mal wieder bei meinem Vorgesetzten über die missliche Lage diskutiert, wurde mir klar: Es musste etwas passieren. So konnte es nicht weitergehen oder der Flughafen würde untergehen. Aber was tun?

Keiner der Abteilungsleiter hatte den Mut, sich an den Aufsichtsrat zu wenden. Aber die Zeit drängte, es musste Abhilfe geschafft werden.

Am selben Abend gingen mir die Gedanken um den Flughafen nicht aus dem Kopf. Ich hatte erkannt, wie kritisch die Lage war. Hatte aber auch erkannt, dass keiner der höheren Angestellten den Mut hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Also musste ich es tun. Es war nicht nur fünf vor zwölf nein, der Zeiger der Uhr berührte schon fast die 12.

Viele Jahre hatte ich auf diesem Flughafen gearbeitet, bevor er zu einem Zivilflughafen konvertiert werden sollte. Damals war es ein amerikanischer Militärflugplatz gewesen. Jeder der dort arbeitete liebte diesen Flugplatz, denn die Gemeinschaft zwischen den deutschen und den amerikanischen Arbeitnehmern war wie eine große Familie. Zudem schätzten die Amerikaner die deutsche Gründlichkeit und gaben auch Frauen die Chance, in ihrem Beruf aufzusteigen. Nachdem ich viele Jahre glücklich und zufrieden dort gearbeitet hatte, war ich zur Leiterin der Flugbetriebsdatenkontrolle aufgestiegen und hatte 16 Untergebene, die mit Eifer und Freude für mich arbeiteten. Die Verantwortung, die aufgrund dieser Tätigkeit auf mir lastete, empfand ich nicht als Bürde, sondern als Herausforderung, die ich gerne annahm.

In dieser Teamgemeinschaft gelang es uns sogar, von der höchsten Inspektoren Gruppe der amerikanischen Luftwaffe als Beste ausgezeichnet zu werden. Was wiederum zur Folge hatte, dass man mich noch im selben Jahr als Frau des Jahres wählte.

Und dann geschah das Unfassbare: Der Flugplatz Hinkel wurde geschlossen und die Amerikaner zogen ab. Natürlich verloren alle deutschen Arbeitnehmer ihren Job und ich war froh, dass ich aufgrund meiner flugbetrieblichen Kenntnisse, als Chefsekretärin des neu zu konvertierenden Zivilflughafens eingestellt wurde. Und da begannen die Probleme für mich. Schon bald musste ich erkennen, dass Herr Nietinger, der neue Geschäftsführer, nicht in der Lage war, seine ihm zugeteilte Arbeit ordnungsgemäß zu erledigen. Aber ich schwieg. Ich schwieg auch, als er meiner jüngeren Schwester meinen Job als Chefsekretärin gab. Aber ich konnte nicht mehr schweigen, als ich erkannte, dass die Konversion des Flughafens am Scheitern war. Die Geschäftsführung des Flughafens bestand mittlerweile aus zwei Geschäftsführern und alle Dokumente mussten von beiden unterschrieben werden. Herr Kranz, der andere Geschäftsführer, unterschrieb auch jedes Mal sofort, nur Herr Nietinger ließ alles liegen und so rief ich eines Abends mit schlotternden Knien und am ganzen Körper zitternd eine Person an, die in der Lage war, diese Situation zu bereinigen.

Ich berichtete dieser Person von den katastrophalen Zuständen, die im Büro des Geschäftsführers herrschten und dass, wenn nicht sofort etwas passieren würde, der Flughafen verloren wäre. Ich erzählte ihm noch von weiteren Missständen, die ich hier aber nicht aufführen will, da sie zu viele Firmeninterna beinhalten.

Übermut und Wichtigtuerei oder gar Rache waren überhaupt nicht der Grund, warum ich diesen Schritt unternahm, und ich tat es ganz bestimmt nicht leichten Herzens, sondern um den mittlerweile fast 100 Angestellten des Flughafens ihre Arbeit zu sichern und zu erhalten. Ich glaube, von den Menschen, die inzwischen wieder auf ihm Arbeit und Lohn gefunden hatten, war ich diejenige, der das Schicksal des Flughafens am meisten am Herzen lag und die sich mit ihm auch am meisten verbunden fühlte.

Ich möchte mich hier nicht als die Superfrau hinstellen. Auch ich bin ein Mensch mit Schwächen und Fehlern. Nur in dieser Zeit sprachen die Vorkommnisse einfach für sich und es musste etwas passieren. Und ich schien als Einzige den Mut zu haben, diese unerträglichen und unfassbaren Zustände, die unweigerlich zum Ende der Konversion des Flughafens Hinkel geführt hätten, zu beenden.

Ein paar Tage später betrat mein Abteilungsleiter das Büro und sah mich mit einem undefinierbaren Lächeln an.

„Frau Schmidt, Sie werden bald sehr glücklich sein. Sehr glücklich, Frau Schmidt.“

Ich fragte ihn, wieso er das zu mir sagte, aber er verschwand immer noch lächelnd in seinem Büro. Ein Mitarbeiter unserer Abteilung, der seine Worte gehört hatte kam nun in mein Büro.

„Was ist los, Frau Schmidt? Was ist geschehen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Wenn ich das wüsste.“

Nach einigen Telefonaten meines Chefs hörte ich ihn rufen:

„Frau Schmidt, bitte kommen Sie doch einmal in mein Büro.“

Schnell ging ich zu ihm. Er war ein wunderbarer Chef, aber er hasste es, wenn man ihn warten ließ.