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Eine Frau will nach oben: Marie, die schöne junge Journalistin mit hässlicher Vergangenheit, benutzt Männer als Trittbrett für ihre Karriere. Wenn die erotischen Waffen nicht genügen, schreckt sie auch vor Erpressung nicht zurück. Eines Tages jedoch lernt Marie den Tagträumer Leon kennen, und ihr Leben gerät außer Kontrolle. Denn Marie verliebt sich leidenschaftlich in den notorischen Verlierer - über den sie keinerlei Macht hat, der sich nicht manipulieren lässt ...elt. Doch diesmal endet dieses Spiel tödlich. Unter der Kühle, die diese Geschichte ausstrahlt, erahnt der Leser eine gewaltige Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Und er weiß, wenn diese unterirdische Sehnsucht das Eis der Einsamkeit zu schmelzen beginnt, entsteht ein gefährlicher Strom, der alles mitreißen wird. Die Liebe endet mit dem Tod der Liebe oder der Liebenden. Denn Christine Grän ist überzeugt, dass "die Liebe eine schöne und letztendlich traurige Angelegenheit (ist), weil sie vor unseren Ansprüchen nicht bestehen kann".
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Seitenzahl: 406
Christine Grän
Hurenkind
Roman
Edel:eBooks
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2012 by Christine Grän
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-199-6
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Buch
Eine Frau will nach oben. Abkürzungen auf diesem Weg sind ihr stets willkommen. In der Wahl ihrer Mittel ist sie nicht zimperlich. Sie hat begriffen: Moralische Skrupel werden in einer skrupellosen Gesellschaft zum persönlichen Handicap. Glück dekliniert sich auf Macht und Reichtum.
Marie ist die jüngste Ressortleiterin einer großen Tageszeitung. Sie will – vorläufig – Chefredakteurin werden. Marie kommt von ganz unten, und sie hat gelernt, dass man für alles bezahlen muss, auch für das Glück. Sie lebt in einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist. Marie ist eine gelehrige Schülerin. Sie benutzt Sex als Waffe und schläft mit Männern, wenn dies ihrer Karriere als förderlich erscheint. So schläft sie mit Conrad, dem selbstherrlichen Chefredakteur, der von Maries erotischen Qualitäten jedoch nicht auf ihre journalistischen schließen möchte. Er erweist sich als Karrierehindernis. Aber Marie entdeckt das schäbige Geheimnis seines Lebens, den dunklen Punkt auf einer scheinbar makellos weißen Weste. Sie erpresst ihn, und er macht sie wider Willen zu seiner Stellvertreterin. Marie kennt auch den Wert gesellschaftlicher Beziehungen und beginnt ein Verhältnis mit Max Lenbach, dem mächtigen Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns. Der kühle Erfolgsmensch Max scheint in ihr Lebenskonzept zu passen. Doch das Verhältnis zu dessen Bruder Leon widersetzt sich ihren Spielregeln und bringt Marie aus dem Gleichgewicht. Der fliegende Tagträumer und notorische Verlierer lässt sich von ihr nicht lenken, und alles gerät außer Kontrolle. Gut und böse zählen nicht mehr. Nur die Liebe – bis zum Tod.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
PROLOG
Die Gegenwart dauert drei Sekunden. Eine universelle Konstante, ihr Zeitfenster, aus dem sie die Welt noch einmal betrachtet, ohne sie zu erkennen. In drei Sekunden registriert sie die blassen Farben des Himmels und das tiefe Rot ihres Blutes. Das Ticken der Armbanduhr, lauter als jemals wahrgenommen. Sie fühlt keinen Schmerz, nur großes Erstaunen. Man verliert nicht gern. Nicht das Leben.
Die Gegenwart ist ein Felsen von abgetragenem Grau. Er schmeckt salzig, als sie ihn ableckt. Sie fühlt ihre Zunge noch. So ähnlich haben Austern geschmeckt, sie mochte sie nie. Auch nicht Insekten, und sie hasst die Fliege, die sich an ihrem frischen Blut berauscht. Das Zeitfenster sammelt das Triviale, bis der Blick auf alles Große verstellt ist.
Ihre Augen sehen einen Knochen, der aus einem Unterarm ragt. Er sieht obszön aus. Dinge, die nicht an ihrem Platz waren, hatten sie immer gestört.
Man könnte schreien, sie versucht es und hört nichts, nur das Lachen der Möwen. Aus ihrer Perspektive erinnern sie an weißbemalte Clowns, die traurigen. Etwas Furchtbares ist geschehen, doch die Fenster der Erinnerung sind uneinsichtig. Die Vergangenheit ist das Nichts, aus dem sie kam und in das sie gehen wird. Sie fühlt ihre Zunge nicht mehr, nur das Blut in ihrem Mund. Salz und bittere Süße sind die letzten bewusst wahrgenommenen Empfindungen.
MARIE
Sind dumme Frauen besser im Bett? Die Frage steht im Raum, und die klugen Frauen winden sich in frigidem Schweigen. Die Männer lächeln, denn wer oben liegt, der weiß Bescheid. Sex ist ein Thema, das berührt. Sex steigert die Auflage. Sex ist die Aktie, die sich jeder kaufen kann, das Allgemeingut unserer Erfahrungen, Ängste und Begierden. Also sprechen wir darüber, als ob es auf überflüssige Fragen flüssige Antworten gäbe, und wir sind geübt darin, über alles zu reden, was wir nicht denken, woran wir nicht glauben, was wir nicht tun. Eine Allianz von Affen in intellektueller Rüstung, sexuell leicht erregbar. Wer nichts zu sagen hat, gilt als impotent. Also öffne ich meinen Mund. »Ficken kluge Männer aufregender?«
Conrad bestraft mich mit einem sehr irritierten Blick. An seinem Oberlippenbart kleben Spuren von Eigelb. Jeden Morgen isst Conrad Bartsch vier Scheiben Toast mit Diätmargarine und zwei gekochte Eier im Glas, außen fest und innen weich, exakt vier Minuten gekocht. Dazu trinkt er vier Tassen fair gehandelten Kaffees, der gute Mensch der globalen Gesten. Ich kenne seine Frühstücksgewohnheiten, denn ich habe drei Nächte mit ihm verbracht. Ich lag unter ihm, die Schwere des Chefredakteurs ertragend, um aufzusteigen. Eine Frau mit meiner Vergangenheit sucht Abkürzungen auf dem Weg nach oben. Jetzt bin ich Ressortleiterin, die jüngste der Zeitung. Ich möchte geliebt werden und weiß, dass all die Übergangenen, Erfolglosen, nicht mehr Jungen und niemals Schönen mich hassen und auf einen Fehler warten, der mich vernichten könnte.
Erfolgreiche Männer sind hastige Liebhaber, denn sie haben wenig Zeit zu vergeben. Ich spreche es nicht aus, denn ich will niemanden verletzen, der mir schaden könnte. Wir alle wollen geliebt werden.
Conrad hat eine Frau mit einem Bein geheiratet, und wir wissen, dass er etwas Besonderes ist. Einer, der Behinderungen als Herausforderung betrachtet. Unsere äußerliche Unversehrtheit reizt ihn zu moralischer Verstümmelung. Die Redaktionskonferenz ist sein Spielplatz zur Dressur von Labormäusen. Wir können uns ihm widersetzen, ihm widersprechen – oder den Weg des geringsten Widerstands gehen, den wir als angenehmer empfinden. Die Story schlachten, wenn er sie kritisch hinterfragt. Die Ideen anderer loben, bis er argwöhnisch blinzelt. Wir sind biegsam bis zum Umfallen, aber darin sind wir gut.
Keiner liebt uns, wenn wir zu den Verlierern zählen, und wer wüsste das besser als ich, die achtzehn lange Jahre im Hinterhof der Gesellschaft lebte, im Außentoilettenmilieu der lästigen Kinder und überforderten Mütter. Meine war schon tot, als ich auf die Welt kam, irgendwann im Lauf ihres Hurenlebens zur Hülle verkommen, die wie ein Mensch funktionierte, um zu trinken, zu essen, zu atmen und eine gute Mutter zu sein. Denn das war sie, wenn sie nicht betrunken war oder ihre Freier bediente, zuerst auf dem Straßenstrich und dann als Frau mit der Peitsche in einem zweitklassigen Bordell. Mein kleines Geheimnis, das ich hüte wie einen Schatz, der sich nicht begraben lässt.
Ich schätze meine Selbstdisziplin, die sich von den Schwächen der anderen wohltuend abhebt. Isolde kaut an ihren Fingernägeln. Sie neigt dazu, in Tränen auszubrechen, wenn Conrad sie verbal angreift, und er ist in einer seiner gefährlichen Stimmungen, in denen er ein Opfer braucht, um sich besser zu fühlen. Isolde präsentiert sich der Welt als Opfer, das Schonung verdient. Zwei Selbstmordversuche, von denen alle wissen, sind keine schlechte Rüstung gegen Conrads Attacken auf die Kulturredaktion, obwohl sie als bekennende Lesbierin bereits Artenschutz genießt. Wir alle, die wir unsere unsichtbaren Behinderungen vor den anderen zu bewahren suchen, verachten sie für den tauglichen Versuch, Schwächen in Stärken zu verwandeln. Conrad fürchtet ihre Tränen und belässt es bei einem milden Tadel. Er beauftragt mich, das Thema Sex und IQ zu recherchieren, und ich könnte es als Affront betrachten oder auch als Auszeichnung für geschlechtsneutrale Professionalität. Es gibt nicht genug Kriege und Katastrophen, um alle Seiten zu füllen. Wir leben in einer Welt, die sich durch Grausamkeit und Dummheit auszeichnet. Wir leben gut darin und sind, wie gesagt, sehr anpassungsfähig.
Eckhardt träumt von einem Glas Whisky. Unser Redaktionsalkoholiker, der sich von den Gewohnheitstrinkern abgesetzt hat. Eckhardt war ein guter Journalist, der seine Karriere allmählich in Flaschen abfüllte. Ich mag ihn, weil er unwiderruflich aus dem Rennen ist und dies mit gewisser Würde trägt. Eines Abends versprach er mir, mit dem Trinken aufzuhören, wenn ich ihm meine Gunst schenkte. Ein fünfzigjähriger Mann, der Conrad verachtet und in Egon Erwin Kisch den letzten großen deutschen Journalisten sieht. Nichts ist erregender als die Wahrheit. Ich hätte ihm von den drei Entziehungskuren meiner Mutter und ihren unausweichlichen Rückfällen erzählen können. Was ich nicht tat, weil ich die Frau aus meiner offiziellen Biografie gestrichen habe. Statt dessen brachte ich die Anonymen Alkoholiker ins Spiel, und Eckhardt antwortete, dass er den Anblick von Säufern nicht ertragen könne. Er betrachtete sich in der spiegelnden Scheibe des Fensters, lächelte melancholisch und griff zur Flasche, die er in seinem Computerschreibtisch aufbewahrt. Eckhardt trinkt aus einem angelaufenen Silberbecher, stilvoll und mit unerbittlicher Konsequenz. Er trinkt, während meine Mutter aus der Flasche soff. Sie war eine gute, lallende Mutter, die ich später, als ich älter war, vor Kneipen aufsammelte, wo sie manchmal in ihrem Urin lag. Der Geruch macht mich krank, heute noch, und ich habe meine Blase dahingehend trainiert, öffendiche Toiletten zu meiden.
Eckhardt hat alles im Griff und nichts unter Kontrolle. Ihm unterlaufen Fehler, manchmal, und wir fragen uns, warum Conrad ihn nicht längst gefeuert hat. Weil ich es liebe, das Schlechteste von anderen zu denken, stelle ich mir eine Leiche in Conrads Keller vor, von der Eckhardt weiß. Er ist der dienstälteste Redakteur und mit Conrad befreundet. Seine Verehrung meiner Person ist sexuell schmeichelhaft und, wie ich hoffe, taktisch verwertbar. Uns trennen zwanzig Jahre, die ich ungleich besser nutzen werde als er.
Eines Tages werde ich auf Conrads Stuhl sitzen, denn ich beobachte ihn und lerne von ihm. Die Zeit der jungen Frauen ist angebrochen, er weiß es nur noch nicht. Fette, despotische, mit ihrer umfassenden Bildung prahlende Chefredakteure sind im Aussterben begriffen. Er kann mit Computern nicht umgehen und benutzt für seine Leitartikel immer noch die Schreibmaschine. Er ist tot. Ich habe seiner Urne einen Platz auf meinem Schreibtisch zugewiesen, im großen Acrylaschenbecher.
Conrad raucht nicht mehr. Es wird nicht mehr gequalmt in den Redaktionskonferenzen. Die Luft wäre gut, wenn sie nicht verbraucht wäre von unserem konkurrierenden Atem und dem Kohlenmonoxyd des Neids. Die Fenster sind verriegelt, weil wir in klimatisierten Räumen arbeiten, in einem Glashaus mit Betonpfeilern, in dem die Architekten ihre Vorstellung von Macht und Transparenz verwirklichten.
Im innersten Kern sitzt ein ansehnlicher Haufen von Jasagern, die gelegentlich Bedenken äußern und noch seltener zu ihren Meinungen stehen. Haben wir eine? Brauchen wir eine? Wir sind doch nur Chronisten einer Zeit, die von Tagesaktualitäten lebt. Gestern interessiert keinen. Der Krieg und die Katastrophe finden morgen woanders statt, und Politikerworte sind ohnehin eine Endloskette von Lügen oder Halbwahrheiten. So ist es, und wer bin ich, die Welt neu erschaffen zu wollen? Die Maxime des Handelns erfordert eine gewisse Reduzierung des Denkens. Und Konzentration auf das Wesentliche: Karriere, Lebensqualität, die Besinnung auf alle Äußerlichkeiten, deren Wirkung auf andere unser einsames Streben durchaus erwärmen kann. Ich meine Sex.
Wir sind unter den ersten fünf der deutschen Zeitungswelt, und Conrad wird nicht ruhen, bis wir ganz oben sind. Auflagen und Anzeigen sind das Gebet und die Peitsche, mit der er uns treibt. Redaktionskonferenzen sind Messen mit satanischem Einschlag. Das Ritual besteht darin, dass stets einer geschlachtet und einer gepriesen wird. An diesem Vormittag ist Ulrike der Star, während Oswald zu guter Letzt für einen Wirtschaftskommentar gezüchtigt wird. Er trägt es mit einem Lächeln, denn sein Gesicht kennt nur zwei Grundeinstellungen: die andere ist ernste, teilnahmsvolle Aufmerksamkeit. Gottes Hand ist ebenso wenig erkennbar wie die des Teufels. Der junge Smarte ist ein Neffe der Verlegerin, und einige sagen, dass wir ein perfektes Paar abgeben könnten. Was soll ich mit einer schlechten Kopie meiner selbst? Ich flirte mit ihm und warte auf den Tag, an dem er mich fürchten lernt. Weil ich der Typ bin, der Gegnern ins Gesicht lächelt und in den Rücken schießt. Ich glaube, dass auch er dazu neigt, weshalb ich vorsorglich das Gerücht streute, dass er ein Schwuler mit sehr bedenklichen sexuellen Präferenzen sei.
Ulrike glaubte es nicht so recht, obwohl wir gewissermaßen befreundet sind. Sie ist geschieden und allein erziehende Mutter von zwei Söhnen, die in Rauchwolken aufwachsen. Sie hasst ihre Sucht, und ich hasse meine Kindheit. Wir haben einiges gemeinsam, und an Ulrikes Ressort, der Sportredaktion, bin ich nicht interessiert. Künftige Chefredakteure kommen nicht aus dem Sport, sie weiß es und reduziert ihren Ehrgeiz auf die Bewahrung des Status quo. Er ist kein sanftes Ruhekissen, denn ihr Stellvertreter wartet auf den Fehler der Quotenfrau, auf Gerechtigkeit und das Ableben der Verlegerwitwe, die sich für Ulrike eingesetzt hat. Die Witwe ist die Schwester der Einbeinigen, womit der Kreis sich schließt.
Ich war nie ein Soldat der Wahrheit. Ich lüge, wenn es die Gelegenheit erfordert, manchmal sogar, um andere nicht zu verletzen. Ich bin nicht schlecht, wer würde das von sich denken? Ich bin nur ein Kind meiner Mutter, meiner Herkunft, meiner Zeit. Ich weiß, dass ich allein bin. Vater unbekannt, Mutter Hure: So, meine Damen und Herren, beginnen tragische Schicksale mit glücklichem Ausgang. Gott liebt all seine Kinder, sagen die, die zu wissen glauben. Sie hat es mir vorgebetet, weil sie am Ende, als niemand mehr von ihr gezüchtigt werden wollte, religiös wurde. Sie hat Gott mit der Flasche verwechselt.
»Ich liebe euch, Kinder«, so pflegt Conrad die Redaktionskonferenzen zu beenden. Wir nehmen seinen Hohn und seine Güte schweigend entgegen und verlassen gemessenen Schrittes das Redaktionszimmer. Es darf nicht wie eine Flucht aussehen. Ulrike zündet sich hinter der Tür eine Zigarette an. Eckhardt eilt zu seinem Schrank und füllt den silbernen Becher. Isolde tröstet Oswald und lädt ihn zu einem Konzert ein. Auch Wirtschaftsredakteure haben Anspruch auf Kultur, und sie setzt voraus, dass gleichgeschlechtlich Liebende (sic!) einen besonderen Zugang zu den schönen Künsten haben. Wenn sie mich als Gegenbeispiel nähme, man würde ihr Recht geben. Als Entschuldigung darf ich anführen, dass es keine Bibliothek in unserer Zweizimmerwohnung gab, und keine Kunstwerke, die das Muster der Blumentapete unterbrochen hätten. Mozart wurde als Naschwerk gehandelt.
Die Bibel und ein Standardwerk über Geschlechtskrankheiten waren die einzigen Bücher meiner frühen Kindheit, doch es gab natürlich einen Fernsehapparat, der die Welt zu mir brachte, und ich ließ ihn jeden Abend in voller Lautstärke laufen, um die Geräusche von unten zu ersticken. Es war ein Haus mit sehr dünnen Wänden und Decken, und direkt unter unserem Wohnzimmer befand sich der so genannte Folterkeller, ein schwarzbemalter Raum mit abgedunkeltem Fenster sowie Einrichtung und Accessoires für den sadomasochistischen Geschmack. Was der Mensch so braucht für den Orgasmus, der aus Gründen, über die ich nicht nachdenken möchte, ein höchst schwieriger Akt für viele, viele Männer ist. Sex, so wie ich ihn früh genug kennen lernte, war schamvoll und schamlos zugleich. So laut und so lieblos, dass ich ihn bis heute nicht mit zarten Gefühlen in Einklang bringe.
Als ich den Folterkeller zum ersten Mal betrat mit elf Jahren, ordnete ich die Geräusche zu, die ich kannte, die Schreie, das Stöhnen, das Wimmern und Grunzen. Ich bevorzugte jene Kunden, die sich knebeln ließen und mich somit nicht von den Hausaufgaben ablenkten oder von Serien mit schönen Menschen, die in schönen Häusern lebten und schöne Dinge taten. Die Stille war das größte Geschenk, das man mir machen konnte in jener Zeit, und wenn es Sommer war, verbrachte ich meine Nachmittage im Park, nicht in unserem Stadtviertel, sondern dort, wo die Bauten standen, in denen ich leise Menschen von großer Güte vermutete. Allerdings musste ich vor Sonnenuntergang zu Hause sein, das Bordell war von elf Uhr vormittags bis vier Uhr morgens für Publikumsverkehr geöffnet. Mutter hatte Angst, dass ich draußen in schlechte Gesellschaft geraten könnte. Das war komisch, obwohl ich es damals nicht so sah.
Man verdrängt alles und vergisst nichts. Bis heute kann ich es nicht ertragen, wenn Männer beim Sex auch nur einen Laut von sich geben. Obwohl ich schlecht höre, gibt es Geräusche, die in mich eindringen wie Messer. Weshalb ich um Lautlosigkeit bitte, bevor ich mit einem ins Bett gehe, um absolute Stille und musikalische Umrahmung. Egal, was gespielt wird, jedoch am liebsten Sinatra oder Presley oder Dean Martin. Die Muttermilch war nicht von guter Musik verseucht. Ich habe einen Schnulzengeschmack, den ich bei Bedarf verleugne. Im Grunde kann ich alles von mir leugnen und so sein, wie man mich haben will – wenn es von Nutzen ist.
»Alle Männer sind Schweine«, sagte meine Mutter. Sie war nie sehr originell in ihren Äußerungen, aber sie war eine gute Frau, die ihre Tochter mit Kuchen, rosa Kleidern, Lackschuhen und Silberschmuck verwöhnte. Jeden Sonntag, wenn geschlossen war, gingen wir gutbürgerlich essen und anschließend ins Kino. Was nicht in Alkohol umgesetzt wurde, ging im Konsumrausch unter. Alle Huren waren so, sie kauften wahllos, was sie für ihr Geld bekommen konnten: Dessous, Kleider, Schuhe, Schmuck, Nippes fur die Wohnung mit der Blümchentapete – und kleine Pillen, die der Arbeitswelt ihren Schrecken nahmen. Sie waren nicht anders als die Frauen, die ich heute kenne, nur eben unverblümter, unvermögender ... und noch trauriger.
Meiner Mutter reichte der Alkohol, den sie nicht als Droge betrachtete, sondern als angenehmen Begleiter einer recht monotonen Arbeitswelt. Sie begann den Tag mit Bier, wechselte mittags zu billigem Rotwein und öffnete bei Sonnenuntergang die Wodkaflasche, die manchmal zur Neige ging, bevor sie ihre Schlaftabletten nahm.
Wie konnte sie glauben, dass wir dies unbeschadet überstehen könnten? Vielleicht, wenn wir in einer Wohnung jenseits des Hauses in der Gerberstraße gelebt hätten. Als ich sieben war, träumte ich von einem weißen Haus, umgeben von Fliedersträuchern und Apfelbäumen. Ein Haus ohne Flaschen und unangemeldete Besucher.
Große, weite Räume, in die Licht fiel, das blenden konnte.
Mutter verdiente gut, doch sie hatte nie Geld. Was sie nicht vertrank oder in Kaufräuschen verschwendete, verlieh sie an die Mädchen, die Geld für ihre Drogen brauchten. Sie behandelte sie anständig und bezahlte alle Rechnungen, wofür sie dreißig Prozent der Gage kassierte. Das Wort Anstand war in diesem Haus von Bedeutung, weil diese Familie Krücken besonders nötig hatte. Anständige Huren beklauten oder betrogen ihre Freier nicht. Sie ließen sich nicht küssen. Sie gingen regelmäßig zum Arzt. Sie wuschen sich zwischen den Behandlungen. Sie spendeten für den Verein zur Unterstützung arbeitsunfähiger Prostituierter. Sie zogen sich Morgenmäntel über die Arbeitskleidung, wenn Lieferanten kamen. Auf dem Küchentisch, an dem sie saßen und auf Kundschaft warteten, stand stets ein Blumenstrauß, und nachmittags gab es Kaffee und Kuchen. Niemals Nelken oder Pflaumentorten: Sie bringen Unglück, sagte meine Mutter, denn sie war abergläubisch wie fast alle aus dem Gewerbe.
Wir lebten in einer relativ kleinen Stadt, in der wenig verborgen blieb. Sie nannten mich die Puffmarie, mein Brandzeichen war der große Schulspaß, auch wenn die Guten, zu denen einige Lehrer zählten, mich wie einen Menschen behandelten. Unser Rektor war ein Stammkunde der Krankenschwester. Sie hieß Heidi, trug eine Uniform und behandelte ihre Kunden im so genannten klinischen Zimmer, in dessen Mitte ein gynäkologischer Stuhl stand. Ich begegnete dem Rektor eines Abends auf der Treppe, und ich war wie gelähmt vor Scham. Er beachtete das dürre Mädchen mit den braunen Zöpfen nicht, erkannte mich nicht, schämte sich nicht. Meine Welt war nicht die seine, er besuchte sie nur im Vorübergehen, er zahlte, kam in die Windeln und ging. Das erzählte mir Heidi, die tatsächlich Krankenschwester gelernt und ihren Beruf aus Ekel aufgegeben hatte. »Für Ekel muss man fürstlich bezahlt werden«, sagte sie, deren Mund nie stillstand in der Art von Krankenschwestern, die ihre Patienten zu Tode reden.
Heidi war es, die mir die Behandlungsräume zeigte, heimlich, denn meine Mutter hätte es nie erlaubt. Die Krankenschwester glaubte, dass man nie zu jung wäre, den Tatsachen des Lebens ins Auge zu sehen. Sie irrte natürlich. Man kann nicht alt genug werden, um sich nicht Blindheit zu wünschen für alles, was man nicht sehen will. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und lebe mit meinen Gespenstern. Wenn ich beim Sex die Augen schließe, sehe ich eine Reihe von Robotern mit erigierten Penissen. Ich öffne sie und sehe einen Mann, der Lust empfindet. Sie ist losgelöst von ihm und mir. Sie ist grenzenlos und sehr begrenzt. Ein virtuelles Spiel mit der Illusion von Zweisamkeit. Ich darf nur die Augen nicht schließen. Nichts hören außer Musik. Nichts fühlen außer dem, was die Gegenwart bietet. Es ist nicht viel. Es war nie der grandiose Paukenschlag, eher der dünne Klang der Blechtrommel. Doch immer wieder muss ich mir beweisen, dass Sex nichts Besonderes ist. Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr wäre das angebrachte Wort, und ich denke, dass auch Leute mit besserer Vergangenheit der Unlust nicht entkommen, die die wahllose Befriedigung der Lust verschafft. Wir alle wollen geliebt werden. Aber verlange keiner, dass ich dafür etwas gebe, das mich Zeit, Geld oder tiefe Gefühle kostet.
Heidi liebte einen Fernfahrer, der zweimal im Monat unsere kleine Stadt ansteuerte. Er hielt sie für eine Krankenschwester, was in gewisser Weise auch stimmte, und sie liebte ihn, weil er so stark und gewöhnlich in seinen sexuellen Bedürfnissen war. Sie konnte ihre Lüge und Liebe drei Jahre lang aufrechterhalten, bis er ihr Foto einem Kumpel zeigte, der sie im Bordell gesehen hatte. Ein Kunde von Nelly, die sich auf Oralverkehr spezialisiert hatte. Sie hatte einen sehr großen Mund und konnte problemlos durch die Nase atmen. Hinterher gurgelte sie ewig im Badezimmer, auch dies ein Geräusch, das ich nie vergessen werde.
Sie waren alle auf ihre Art Spezialistinnen, doch die Domina, die Krankenschwester und die Masochistin verdienten weit mehr als die Allerweltshuren. Heidi, die alles sehr klinisch betrachtete, sah es als Vorteil an, höchst selten penetriert zu werden. Meine Mutter, die zu mir niemals über ihre Arbeit sprach, versteckte ihr Gesicht stets hinter einer Gummimaske. Auch das erfuhr ich von Heidi, der Mitteilsamen. Sie hätte ihrem Fernfahrer etwas mehr erzählen sollen, dann hätte er sie nicht so schrecklich verprügelt. Bis Mutters türkischer Haussklave eingreifen konnte, war ihr Gesicht bereits ein blutiger Klumpen.
Da, wo ich herkomme, wurden Konflikte nicht mit Worten ausgetragen. Lust, Gier, Wut und Hass flössen ohne Umweg über das Gehirn in die Fäuste. Doch meine Mutter glaubte, dass Schweigen alles zudecken könne, all den Dreck verbergen wie frisch gefallener Schnee.
Wenn man mich fragte, was das Schlimmste war in achtzehn Jahren, so waren es die Geräusche – und Mutters Schweigen. Es muss sie übermenschliche Anstrengung gekostet haben, meine pubertäre Wut auszusitzen und über Filme zu sprechen, das Wetter, die Schule, die Qualität des Nachmittagskuchens. Sie aßen Kuchen. Über dem Holztisch lag eine Spitzendecke. Die Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald tickte. Irgendwo stöhnte einer. Irina zog sich weißes Pulver in die Nase, Heidi lackierte sich die Nägel. Nelly studierte Das goldene Blatt, und Mutter fragte: »Noch ein Tässchen Kaffee jemand?« Dann schellte es an der Tür, und ein Mann kam und nannte sein Verlangen, und Mutter legte den Preis fest und stellte die Spezialistin vor. Gezahlt wurde vorher, und das Geld verstaute Mutter in einem handgeschnitzten Holzkästchen. Oben, in unserer Wohnung, konnte ich sogar hören, wie der Deckel zuklappte. Die Decken waren wirklich sehr dünn.
Draußen fällt der erste Schnee dieses Jahres. Wie ich ihn liebe, diesen weißen Vorhang über allem, was grau und trist ist. Die Flocken tanzen gegen die großen Fenster und zeigen uns die Kälte an, die wir in unseren Glashäusern nicht spüren. Eisblumen wachsen nicht auf temperierten Scheiben. Weiß ist meine Farbe und weiß mein Herz. An weißen Stränden möchte ich liegen oder in weißen Landschaften gehen. Die Farbe ist grau. Als wollten wir uns anpassen, tragen Männer wie Frauen gedeckte Farben, schwarz oder grau. Die Farben des Himmels sind zu grell. Wir müssen es wissen, denn wir sondieren die Aktualität. Nimm, was du kriegen kannst, suggeriert sie uns: Macht, Ruhm, Erfolg, den Mann deiner Träume, die Frau, die sich dir verweigert, das Geld anderer Leute, ihren Atem, wenn er dir nichts bedeutet. Nimm und werde glücklich, und womit willst du bezahlen, wenn nicht mit deinem Leben?
Ich bin glücklich. Ich sage diese Worte, wenn ich vor dem Spiegel stehe. Und ich stehe oft davor, weil mir gefällt, was ich sehe. Die Gespenster der Vergangenheit sind unsichtbar, und Schönheit ist die Kunst, über die Natur zu triumphieren. Nur das Muttermal unterhalb des linken Auges, das ich entfernen ließ, es wächst wieder nach. Es stört mich, obwohl es noch ganz klein ist. So ist das mit dem Glück. Es gefällt sich in begrenzter Wirkung.
Die Redaktionsräume sind durch Glasscheiben getrennt: Wir sitzen auf ergonomischen Stühlen vor Computern, Telefonen, Faxgeräten. Wir sind alle gläsern, nur Conrad residiert in einem uneinsehbaren Büro. Das System der gegenseitigen Beobachtung wird durch Hydrokulturen unterwandert, hinter denen sich manche zu verstecken suchen. Isoldes Büro gleicht einem Dschungel, in dem sie auf den weiblichen Tarzan wartet. Die Pflanzen absorbieren so viel Sauerstoff, dass ich nicht ausschließe, dass sie eines Tages in ihrem Stuhl zusammensinkt und den Tod durch Ersticken erleidet. Vielleicht ist das ihr System, denn Tod herbeizuwünschen, denn so viele gescheiterte Selbstmordversuche müssen mutlos machen. Sensibel ist das Wort, das sie in Anspruch nimmt, um sich vor harten Gegenwinden zu schützen. Isolde hasst mich, seit ich ihr mit sensiblen Sätzen zu erklären versuchte, dass sie nicht mein Typ sei.
Sie nennt mich hinter meinem Rücken das Redaktionsflittchen. O wie grausam können Frauen sein, und ich tue alles, um sie in einen dritten und erfolgreichen Selbstmordversuch zu treiben. Lasst Männer um mich sein und Computer, denn die Vernetzung hat den Vorteil, dass ich mir Isoldes unbedeutenden Artikel auf den Bildschirm hole und lösche, was sie vergessen hat abzuspeichern. Dankbar sollte sie mir sein, denn das meiste, das sie schreibt, ist schlecht und verdient das Papier nicht, auf dem es gedruckt wird. Isoldes kleine Nervenzusammenbrüche, ihr Schrei nach dem Computerexperten – sie sind Musik in meinen Ohren. La mort dans un cri. Wer mich nicht liebt, ist mein Feind. Und meine Wange halte ich nur dem hin, der sie küsst und anbetet.
Eckhardt und sein Silberbecher beobachten mich. Die glasige Schärfe betrunkener Augen. Er ist der Klügste von uns allen, vielleicht erträgt er es deshalb nicht, die Welt nüchtern zu durchleben. Ich glaube, dass er mein Schneeherz erkennt, meine ehrgeizigen Pläne erahnt, und dass es ihn amüsiert, weil er längst ertrunken ist und Ethik für einen unbrauchbaren Rettungsring hält. Die Politik, über die er schreibt, ist sein Spielplatz des Ekels, eine Gemeinschaft moralischer Leichen, der er sich zugehörig fühlt.
Ich sehe ihn an und lächle. »Du bist nicht schön«, hat Eckhardt einmal zu mir gesagt, »du siehst nur so aus.« Als ob er mich ohne Schminke gesehen hätte. Ich habe ihm verziehen, weil er mein Vater sein könnte. Jeder von ihnen, denn es war ein Kunde, ein Betriebsunfall, als Mutter noch auf den Straßenstrich ging, bevor sie ihre Karriere als Domina begann. Ein geplatztes Kondom. So etwas passiert, nur war sie zu dumm, rechtzeitig zur Engelmacherin zu gehen, und als sie endlich den Mut fand, war es zu spät. Ein Engel kam zur Welt, blauäugig und schreiend. Am Heiligen Abend, um das Maß voll zu machen. Wenn es ihn gibt, hat er Sinn für Humor. Wer hat Huren schon einmal lachen hören? Meine Mutter fand nichts komisch, aber sie liebte mich und beschützte mich, so lange es ging. Bis ich anfing zu hören, zu sehen, zu verstehen. Die Macht der Mütter ist begrenzt, und etwas in ihnen stirbt, wenn wir uns entziehen.
Ich klage nicht an. Sie hatte nichts gelernt, was hätte sie tun sollen? Nennen wir es Schicksal, was er in seiner unendlichen Güte für sie bereithielt. Er gab ihr eine Peitsche in die Hand, und sie fand den Weg von der Straße in das hässliche Haus in der Gerberstrasse, in der das Gewerbe blühte, bis sie zu alt wurde und zu viel trank, um die Masochisten unter Kontrolle und bei Laune zu halten. Wenn es ihn gibt, ist er ein lausiger Programmierer von Schicksalen.
Durch die Glastür sehe ich Ulrikes Lächeln. Heute ist sie glücklich, weil Conrad sie lobte. Morgen fährt sie nach Osterreich zu einem Weltcuprennen, und vielleicht fällt ein Slalomfahrer für sie ab für eine Nacht, weil es immer Verlierer zu trösten gibt und weil sie immer unterwegs zu sich ist und nirgendwo ankommt. Sie bevorzugt Fußballspieler, mag den Schweißgeruch in den Kabinen nach dem Spiel, den Anblick nackter Männerkörper und vor allem die Traurigkeit der erfolglosen Torjäger. Sie ist eine Trösterin. Die Mutter aller Knaben, die nicht erwachsen werden. Zu groß, zu breit, und die Muskeln verwandeln sich in Fett, wenn sie nicht regelmäßig trainiert.
Ich gehe dreimal pro Woche ins Fitnessstudio. In diesen Zeiten kommt es darauf an, den Körper zu trainieren, nicht den Geist. Wer interessiert sich dafür? Die Männer starren auf meinen Busen, meinen Po, mein Gesicht und meine Beine. Wer interessierte sich für meine schöne Seele, wenn ich eine hätte?
Ich liebte einen, der hieß Ernst. Und einen Christian. Einen Paul. Sie waren alle anders und ganz gleich. Ich liebte ihren Geruch, ihre Worte, ihre Küsse, ihren Samen, in Präservativen gefangen. Keine Kinder, sie waren in meiner Lebensplanung nie vorgesehen. Nur Männer: meist älter, verheiratet, Lehrmeister der Heimlichkeiten, der wahrhaftigen Lügen, meine Geliebten, Väter und Wohltäter. Gleich wie sie waren, liebte ich sie, aber Anfang und Ende kannten keine Unterschiede, nur Abweichungen von Glück oder Zorn. Conrad war gewiss keine Liebe, nur eine Affäre aus Berechnung, und als er seinen Spaß gehabt hatte, entließ ich ihn ohne Bedauern. Er würde es nie zugeben, aber er hat Angst vor der Einbeinigen, vor seiner Frau, die schöne, betuchte, kultivierte Stütze seiner großspurigen Existenz. Sie stützt sich auf einen silbernen Stock, wenn sie in ihrem Haus empfängt, und wir alle bemühen uns um waagrechte Blicke. Ich verabscheue sie schon deshalb, weil sie glaubt, eine wie mich verachten zu können.
Es ist viel leichter, Menschen nicht zu mögen. Ich pflege dieses Gefühl, seit ich ein Kind war, weil es Flügel der Stärke verleiht. Es erfordert ein gewisses Maß an Heuchelei, doch sie lehren uns schon in frühen Jahren, dass auch ein falsches Lächeln belohnt werden kann. Ein einziges Handikap ist hinderlich auf diesem meinem Weg, mich durchs Leben zu schlagen: Ich denke manchmal ein Wort oder einen Satz – und spreche es aus, ohne zu wollen. Als ob mein Hirn für Sekunden aussetzte oder eigenständige, von meinem Willen losgelöste Befehle gäbe. Das Gespenst der Wahrheit erscheint vor allem in Stresssituationen, wenn ich Angst habe oder wütend bin. Ein Tick, mehr ist es nicht, und ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen.
Denn Wahrheit kann teuer sein. Das letzte Mal, als es mir passierte, war ich zu schnell gefahren und wurde von einem Streifenwagen angehalten. Ein massiger Polizist verlangte meine Papiere, und ich lächelte ihn an und fürchtete mich vor der Staatsgewalt und sagte: »Nimm deinen fetten Arsch von meinem Auto.«
Er tat es, das war das Erstaunliche. Dann bezahlte ich fünfhundert Mark für überhöhte Geschwindigkeit im Stadtbereich und etwas später fünftausend Mark für Beamtenbeleidigung. Obwohl ich mich sofort entschuldigt hatte, war die durch meine Worte entstandene Verletzung so gravierend, dass dieses Vergehen nur durch Geld aufzuheben war. Wie fast alles in diesem Land.
Ich habe fast alles unter Kontrolle. Meine Zeit gehört mir, und wenn ich um zwanzig Uhr aus der Redaktion gehe, entscheide ich über meine Abende und Nächte: der Fitnessclub, Restaurant oder Kino, Fernsehen oder Sex.
Überwiegend suche ich mir die Männer nach dem Raster der Unverbindlichkeit aus. Dem Prinzip der gegenseitigen Vorteilnahme. Ein Teil der Wahrheit ist, dass ich mich immer wieder von dem gleichen Typ angezogen fühle: älter, mächtiger, reicher als ich. Wir haben Sex, wir haben Spaß, wir bleiben ganz und gar unverbindlich. Conrad sagte mir nach dem ersten Geschlechtsakt, dass ich zu den karrieregeilen Frauen gehöre, die zur Liebe nicht fähig seien. Ein zweibeiniges Kompliment von einem bösartigen, machtbesessenen Ehebrecher. Und was, wenn ich ihn geliebt hätte? Er wäre darauf herumgetrampelt mit seinen kleinen, weißen Füßen mit den manikürten Zehennägeln. Hässliche Männer neigen zu übertriebener Körperpflege. Bisexuelle Männer sind besser im Bett. Reiche Männer sind besser im Restaurant. Mächtige Männer sind besser zum Reden. Männer, Männer, Männer. Männer als Fluchtpunkte vor dem Ich. Unser Spiegel, an dem wir erblinden. Die vergebliche Hoffnung eines geglückten Lebens. Die Huren sprachen über nichts anderes als ihre Freier und Liebhaber und wie sie es anstellen könnten, von ihnen begehrt und respektiert zu werden.
Ich kann das Gerede über Männer nicht mehr hören, das Flüstern, Wispern, Stöhnen, Schreien gequälter Frauenherzen. Nehmt sie, liebt sie, zerstört sie, werft sie weg, heiratet sie, macht doch, was ihr wollt, aber hört auf, über sie zu reden, als wären sie des Lebens Sinn. Dann wird alles leichter, dann können wir unsere Talente bündeln und uns wichtigeren Dingen zuwenden: der Entfernung der Männer aus den Etagen der Macht. Nicht weil ich etwas gegen ihr Geschlecht hätte, nur gegen ihre Dominanz, ihren Schulterschluss, ihre gnadenlose Überheblichkeit.
»Ich mag deine Möpse am liebsten«, hat Conrad zu mir gesagt, und mich damit in die Gerberstraße zurückversetzt, in das ferne Land meiner Kindheit, das ich so gerne mit Feuer überzogen hätte. Ein Land, in dem jede Lust einen Geldwert hatte und jedes Gefühl als Schwäche galt. Wer in diesem Land aufwächst, bleibt in gewisser Weise immer klein. Und erkennt, dass sich mit Ortswechseln nur die äußeren Bedingungen verändern. Ich ziehe die kultivierte Barbarei vor.
ANNE
Die Frau wird vergewaltigt, und wir geben vor, nichts zu sehen oder zu hören. »Nein!«, schreit sie, und ich blicke an dem roten Ohrensessel vorbei auf ein antikes Schaukelpferd, das hübsch bemalt ist. Mein Begleiter spricht über den Verfall des Euro, während er sie beobachtet wie ein seltenes Insekt, das sich im Todeskampf windet. Ein Kellner schenkt Champagner nach. Jemand lacht, wir sind in dieser Gesellschaft, um uns zu amüsieren. Was hier geschieht, ist nur ein ungewöhnliches, erotisches Spiel, dessen Regeln wir noch begreifen müssen. Die Frau mit den gespreizten Beinen, die sehr weiß sind auf dem roten Sessel, ist eine Fremde, so wie wir alle fremd sind an diesem Ort, und wir überspielen unser Unbehagen mit stummer Gleichgültigkeit.
Die Fremde ist mit dem Mann gekommen, der sie festhält, ihr das Kleid hochschiebt, während sie dieses eine Wort wiederholt wie eine untaugliche Beschwörungsformel. Jemand stellt die Musik lauter, um der verbalen Belästigung zu entgehen. Man könnte Tango tanzen, wenn es nicht zu anstrengend wäre, und der rote Sessel steht im Weg. Das Möbelstück bewegt sich im Rhythmus eines Vorgangs, den wir absurd finden, geschmacklos oder erregend. Unsere Gesichter sind unter Kontrolle; sie verraten nichts von dem, was wir empfinden könnten. Wir reden oder schweigen und schauen hindurch, vorbei, darüber, darunter und erheben die Szene auf die Ebene eines unwirklichen Geschehens. Man hat uns beigebracht, Fremde nicht anzustarren, nicht mit dem Finger auf Menschen zu zeigen. Das Prinzip der Nichteinmischung als heiliges Gebot höflicher Umgangsformen.
Die Frau in dem roten Sessel schreit auf, und der Mann grunzt. Dann ist es still. »Ich mag Sushi nicht besonders«, sagt eine Frau im schwarzen Hosenanzug.
»Lauter. Dieser Satz muss wie ein Manifest klingen«, schreit der Mann im Zuschauerraum. Aus seiner Perspektive sieht man nur die Rückenansicht des Sessels und die nackten Beine der Frau, die über den Lehnen hängen. Sie bewegen sich nicht mehr.
Das Stück heißt »Party«, und wir proben die Vergewaltigungsszene zum vierten Mal. Sie wird nicht besser, und ich werde nie wieder Tango hören können, ohne an diesen Akt zu denken. Liebe als Kunstform der Gewalt. Sex als optischer Anreiz, und Sprachlosigkeit als Ausdruck der verkrüppelten Gefühle. Es ist ein idiotisches Stück und wird bei der Kritik durchfallen. Oder auch nicht, vielleicht sehen sie die Kunst hinter all dem nackten Fleisch, das sich auf der Bühne zur Schau stellt. Auch Scheiße hat einen höheren Sinn, wenn man es so sehen möchte. Ich habe aufgegeben, über den Geschmack von Publikum und Kritik zu spekulieren. Ich nehme jede Rolle, die sie mir anbieten.
Mein Nacken schmerzt, und ich massiere ihn und beobachte die anderen, die nie müde scheinen, auch wenn wir lange proben so wie heute. Sie stehen auf der Bühne und rauchen und diskutieren. Es gibt Feuerschutzbestimmungen, an die sich niemand hält. Das Theater ist alt und renovierungsbedürftig, und der Besitzer vermietet es zu einem Spottpreis, bis er die Abbruchgenehmigung in Händen hat.
Die Schauspieler sind an den Einnahmen beteiligt, und die Gagen sind lächerlich. Doch sie sind jung, und sie glauben an ihr Talent und daran, dass es entdeckt wird. Sie erinnern mich an das, was ich einmal war: Julia, Gretchen, Ophelia, Penthesilea, Minna von Barnhelm, Recha, Diana, Dido, Rosalind...
Sie hat eine beachtliche Karriere hinter sich. Der Satz, der mich begleitet They will never come back. Für meine Agentin bin ich mittlerweile nur noch ein Name in ihrem Computer. Ich arbeite für eine lächerliche Gage in einem obszönen Stück, das sie avantgardistisch nennen. Und ich bin glücklich, dass sie mir die Rolle angeboten haben. Mein Nacken schmerzt, und ich weiß nicht, wie ich die Heizkostenrechnung bezahlen soll.
Leon hat das Konto geplündert, um das alte Flugzeug zu reparieren. Leon ist mein Mann, und ich liebe ihn. Seit langer Zeit, und sie hat die Liebe verändert. Sie ist weicher geworden, nachgiebiger, fast durchsichtig. Manchmal fühlt sie sich an wie Watte – und dann wieder wie Glas. Diese Liebe schützt mich vor allen anderen Gefühlen. Manchmal könnte ich ihn umbringen.
Sie haben beschlossen, die Szene noch einmal durchzuspielen. Ich muss David vom Kindergarten abholen, und die Zeit wird knapp. Berufstätige Mütter sind gehetzte Wesen, die um Verständnis winseln. Der Regisseur seufzt und entlässt mich mit einer Handbewegung. Meine ist keine tragende Rolle. Ich werde nicht vergewaltigt, ich muss nur zusehen. Wenn das Stück aufgeführt wird, brauche ich viermal pro Woche abends einen Babysitter. An vier Abenden werde ich Leas Schreie zu Tangoklängen hören und Bennos Geschlechtsorgan sehen, das manchmal tatsächlich erigiert ist. Der Akt wird vorgetäuscht, weil das Publikum nur den breiten Sesselrücken sieht. Doch er holt ihn raus, damit es realistischer wirkt, und ich denke, dass ihn die Vorstellung einer realen Vergewaltigung erregt.
Mein Leben bedarf der Disziplin und Organisation, weil Mutterschaft ein zeitraubendes Phänomen ist und die Schauspielerei der Balanceakt über der Schlangengrube. Die Schlangen sind neurotisch, aggressiv, giftig. Für eine gute Rolle würden sie dich verleumden, verraten, von der Bühne stoßen. Ich weiß es, denn ich war nicht anders, als ich jünger war.
Leon ist in Brüssel. Er fliegt für Max’ Firma, und er verdient viel Geld, das er überwiegend in seine Maschine investiert. Sie ist wie ein Monster, das Geld frisst und sich in höhnischer Unbeugsamkeit weigert, jemals perfekt zu sein. Wer Leon liebt, muss die P 51 in die Alpträume einbeziehen. Wir sind bankrott und sollten seinen Bruder um ein Darlehen bitten. Mein Mann stürzt mit der brennenden Maschine ab und hinterlässt mir den Schmerz und die Asche.
Als ich ihn in der Kirche zum ersten Mal sah und er mein Herz berührte, wusste ich nichts. Alle Ängste sind unerheblich, wenn man in diesem Augenblick lebt. Leon war Max’ Trauzeuge, und er hatte den Ring vergessen. So unterschiedlich, die Brüder, und Max war im Begriff, meine Schwester Beate zu heiraten. Warum beneidet man Frauen, die vor den Traualtar treten? Damals dachte ich, dass sie etwas vollendet hatte, was mir nicht einmal in Anfängen gelang. Ich war das junge, erfolgreiche Talent und schlief mit zu vielen Männern, deren Unvollkommenheit meine nicht zudeckte.
Die Kirche war voller Licht, das sich in den Mosaikfliesen spiegelte, und Leon erschien mir wie der strahlende Held in einem zweitklassigen Kostümfilm. Beates Hochzeitskleid war grauenhaft, und Max erregte sich lautstark über das fehlende Requisit. Leon lächelte unberührt. Er hat nie Schuldgefühle, das Wort fehlt in seinem Charaktertext, aber das wusste ich damals natürlich nicht.
Sie hupen, weil ich zu langsam fahre. Das Theater liegt in einem der schäbigen Viertel der Stadt, weit entfernt von unserer Wohnung und dem Kindergarten. Ich bin eine miserable Autofahrerin. Sagt Leon. Es ist eine so stupide Tätigkeit, und ich schaffe es nie, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Wenn ich es täte, wäre ich so gut wie jeder andere. Man tritt auf drei Pedale und umfasst das Lenkrad. Achtet auf Ampeln und Verkehrsregeln. Worin liegt die Kunst? Als ich eine erfolgreiche Schauspielerin war, wurde ich von Fahrern abgeholt oder benutzte Taxen. Ich fuhr kein Schlachtschiff von Auto, das in keine Parklücke passt und in Tiefgaragen wiederholt Feindberührung mit Betonpfeilern hatte. Ich zeige einem hupenden Überholer den Vogel, und er droht mir mit geballter Faust. Ist das Leben nicht schön? Ein wundervoller Film von Frank Capra über einen Mann, den seine Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft beinahe umbringen. Eine aussterbende Spezies, dieser George Bailey aus Bedford Falls. Leon findet das Happy End kitschig.
In den ersten Monaten unserer Liebe sind wir fast jeden Abend ins Programmkino gegangen. Leon legte den Arm um mich und stahl mein Popcorn. Wir küssten uns, und nach der Vorstellung gingen wir zum Griechen, um fettes Lamm zu essen. Das Leben war schön. Und ich wurde schwanger, und im Anschluss an »Scheidung auf Italienisch« fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle. Habe ich mich jemals gefragt, ob wir unsere Beziehung auch ohne Kind legalisiert hätten?
David quengelt auf dem Rücksitz. Ich deklamiere Lady Macbeth: Groß möchtest du sein, Bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, Die ihn begleiten muss. Was recht du möchtest, Das möchtest du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen, Und unrecht doch gewinnen...
Er mag Shakespeare und schläft stets ein, während ich ihn mit wuchtigen Worten zudecke. Wenn ein Parkplatz gefunden ist, werde ich ihn aufwecken und nach oben tragen müssen. Die Wohnung liegt im dritten Stock; Max hat sie uns besorgt, der große Bruder, der uns verführt mit seiner Gabe, Wünsche zu erfüllen. Die Miete ist niedrig, und die Wohnung ist schön und geräumig mit einem Balkon, den David ohne Aufsicht nicht betreten darf. Mein Sohn entdeckt die Welt, und ich habe Angst davor. Ich sei hysterisch, sagt Leon. Wenn etwas Schreckliches geschehen würde, er wäre ohne Schuld. Ich hingegen ziehe sie an mich, Kassandra wirft ihre Schatten, und ich zweifle nie daran, dass die Tragödie jederzeit eintreten könnte. Behandelt jeden Menschen nach seinem Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?
Shakespeare ist out, sagt mein Regisseur. Man müsse das Alphabet von Mord und Schönheit zeitgemäß buchstabieren. Ich bin anderer Meinung, doch sie zählt nicht. Einmal flog ich mit Leon und Max und dessen Direktoren nach London, und in diesen zwei Tagen erlebte ich die höfische Etikette der Macht. Wie sie in Worten und Gesten dienerten, dem Vorstandsvorsitzenden niemals widersprachen, um sein Gehör buhlten und sein Lächeln als Gnade empfanden. Seine Meinung war Gottes Wort. Max merkt gar nicht, wie einsam er ist in diesem Vakuum der Unberührbarkeit. Leon sagt, dass sein Bruder immer schon glaubte, unfehlbar zu sein. Sein stets mit einem Lächeln vorgetragener Spott gegenüber allem, was mit Max zu tun hat, ist mit einem Tropfen Gift getränkt. Ich glaube nicht, dass es Neid ist, vielmehr das demütigende Gefühl, Max für vieles dankbar sein zu müssen. Der Job, die Wohnung, das Auto... wie ich seine Größe hasse, die nicht zu mir und meinen Fahrkünsten passt.
David sieht aus wie ein rothaariger Engel, wenn er schläft, und ich versuche, ihn aus dem Sitz zu heben, ohne ihn aufzuwecken. Mein Sohn, und er ist alles wert, was ich getan und unterlassen habe. Leon versteht als Einziger, dass ich der Karriere nicht nachweine. Sie war ein Abschnitt meines Lebens, und dies ist ein anderer. Ich habe David und Leon, und das ist viel mehr Glück, als man erwarten darf. Nein, falsch: Ich habe sie nicht, vielmehr schenken sie mir ihre Zuneigung, ihre Gegenwart, ihr Vertrauen. Wenn ich anfinge, in Besitztümern zu denken, brächte mich die Angst um, sie zu verlieren. Ich möchte so gerne ohne Furcht sein. Über ein wenig von Leons Leichtigkeit verfügen, diese verdammte Sorglosigkeit gegenüber der Schwerkraft des Lebens.
»Scheiße.« Davids Sprachschatz hat sich im Kindergarten stark erweitert. Er hat die Augen aufgeschlagen, Leons blaue Augen über Davids Sommersprossennase. Mein Sohn ist schwer geworden, und meine Arme schmerzen, während ich ihn die Treppe hochtrage. Er zappelt und wiederholt das Lieblingswort dieses Winters, und wenn ich es ihm verbiete, wird er es umso öfter aussprechen.
Auf der letzten Treppe vor unserer Wohnung sitzt Beate. Meine Schwester in ihren stets teuren Kostümen mit passendem Hut und entsprechenden Schuhen sieht vorwurfsvoll aus. Wir waren nicht verabredet, doch sie erwartet, dass man da ist, wenn sie Gesellschaft braucht. Die zweite in der Familie, die mit der Geburt des Kindes alles Streben nach Karriere aufgegeben hat. Meine Nichte Sophie ist fünfzehn, und Beate bezeichnet sich als eine Vergangenheitsjuristin mit mutterschaftsgelähmtem Intellekt. Man könnte auch sagen, dass sie zur Drohne verkommen ist, wozu Max und sein Kapital sicherlich beigetragen haben.
»Wo warst du so lange?«
»Im Theater. Dann habe ich David vom Kindergarten abgeholt. Und einen Parkplatz gesucht.«
»Dies ist ein grauenhaftes Viertel.«
Alles, was außerhalb Bogenhausens liegt, gilt für Beate als Slum. Ich stelle David auf die Beine und sperre auf. »Möchtest du etwa reinkommen?«
Sie ist immun gegen jegliche Form von Ironie. Ich kenne niemanden, der so wenig Humor hat wie Beate. Sie schreitet durch die Tür, behält ihren Hut auf und überreicht David ein Spielzeugauto. Er schätzt seine Tante, die nie ohne Geschenke kommt, und lässt sich von ihr auf den Mund küssen, obwohl er intime Berührungen verabscheut. Wir lernen früh, uns zu verstellen, um beschenkt zu werden.
Beate hilft David beim Entfernen der Verpackung, und ich hole Bier aus dem Kühlschrank. Die Gefühle gegenüber älteren Schwestern sind nicht ohne Komplikationen. Sie war immer klüger und robuster als ich, und wenn man Erfolg monetär bewertet, ist sie aus dem unausgesprochenen Konkurrenzkampf als Siegerin hervorgegangen.
»Ich habe einen schrecklichen Tag hinter mir.«
Es ist die übliche Einleitung. »Man sieht es nicht. Du erscheinst wie immer makellos.«
»Alles Tand, meine liebe Anne. Sophie hat mir heute Mittag eröffnet, dass sie schwanger ist. Was sagst du dazu?«
David wirft das Auto gegen den Schrank, weil er mit der Fernbedienung nicht zurechtkommt. Ich helfe ihm und überlege, was ich sagen soll. Ein Glückwunsch wäre kaum angebracht. »Und wer ist der Vater?«
Sie trinkt das Bier aus der Flasche. Sie muss sehr verstört sein. »Irgendein Jüngling aus ihrem Reitverein. Johann sowieso. Sie nennt ihn Johnny, was die Sache nicht besser macht. Und natürlich gibt sie mir die Schuld. Ich hätte nicht genug Vertrauen zwischen uns aufgebaut, und ergo brachte sie es nicht über sich, mich zu fragen, ob ich ihr die Pille besorgen könne. Müssen die mit fünfzehn schon vögeln? Und wenn, warum benutzen sie keine Kondome?«
Wir haben nie welche benutzt. Und wir lebten in ständiger Angst, schwanger zu werden. »Weil Kondome unromantisch sind? Der Spontaneität abträglich? Will Sophie das Kind behalten?«
Meine Schwester rülpst und errötet. »Das weiß sie natürlich nicht. Sophie ist ein kleines Mädchen, das nie gelernt hat, die Konsequenzen seiner Handlungen zu tragen.«
»So habt ihr sie erzogen. Was sagt Max?«
David sagt, dass er Scheißhunger und Scheißdurst habe. Beate unterdrückt einen Gegenschlag in Angelegenheiten guter Erziehung und folgt mir in die Küche. »Er weiß es noch nicht. Und ich werde tun, was ich kann, damit er es nie erfährt. Ich habe mich schon erkundigt. Es gibt da eine sehr hübsche Klinik in London.«
Die stilvolle Abtreibung à la Beate. »Will sie das Kind nicht?«
»Hat man mit fünfzehn eine Wahl? Ich werde mit ihr am Wochenende nach London fliegen und vollendete Tatsachen schaffen. Das Ganze ist wirklich absurd.«
Beate spielt Golf und Bridge, arbeitet im Förderverein eines Museums und dekoriert sich und ihr Haus ständig neu. Sie wäre eine absurde Großmutter. Ohnehin eine aussterbende Spezies in ihren Kreisen: Die Großmütter verbringen ihre Zeit mit Schönheitsoperationen, Kultur und Reisen, nicht mit Enkeln. Wie werde ich sein, wenn ich alt bin? Ich wünsche mir noch ein Kind, doch Leon ist dagegen. Wir müssten in eine größere Wohnung ziehen, und er mag es nicht, mit Trivialitäten wie einem Umzug belästigt zu werden.
Seit einem Jahr ertappe ich mich dabei, Leon zu kritisieren. Nicht ihm oder anderen gegenüber, sondern in kleinen, bösen Gedanken. Ich sollte mich schämen, denn ich wusste, wen ich für mein Leben wählte. Einen Flieger, einen Mann ohne Bodenhaftung, einen unbegabten Ehemann und Vater, der ein wunderbarer Mensch und Liebhaber ist. All das wusste ich, und ich habe kein Recht, ihm etwas vorzuwerfen.
»Ich hätte gern noch ein Kind.«
Beate sieht mich an, als hätte ich etwas Obszönes gesagt. »Wie schön für dich. Was sagt Leon dazu? Wo ist er überhaupt?«
»In Brüssel, mit deinem Mann. Sie kommen morgen zurück.«
Meine Schwester lächelt schief. Zum Teil liegt es an ihrer letzten Lippenkorrektur, bei der zwei Mundfalten aus ihrem Leben verschwanden. Andererseits haben die Jahre mit Max ihr Lächeln nicht bereichert. Sie sieht stets ein wenig bitter aus, auch wenn sie diese Interpretation weit von sich weisen würde.
»Ach ja. Ich habe längst die Übersicht über Max’ Abwesenheiten verloren. Seine Sekretärin lässt mir wöchentlich einen Terminplan zukommen, das ist sehr freundlich von ihr. Dein Sohn isst übrigens wie ein Schwein. Du könntest langsam anfangen, ihm Manieren beizubringen.«
David grinst sie an und schmiert sich Marmelade auf die Wange. Ein Clown mit einem Lächeln, das mich wehrlos macht. Was bleibt von mir, wenn all meine Gefühle auf zwei Männer konzentriert sind, einen kleinen und einen großen?
»Du solltest es Max sagen, wenn er zurückkommt. Ich würde diese Entscheidung nicht alleine tragen wollen. Eine Abtreibung ist kein Einkaufswochenende in London. Eher das tragische Gegenteil.«