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Kriminalroman und großer Gesellschaftsroman in einem: Tauchen Sie ein in die flirrende Ära von Willy Brandt Bonn, 1972: In ihrem Penthouse feiert die niederländische Journalistin Nelie Hendriks, dass Willy Brandt das Misstrauensvotum überstanden hat. Zu ihrer illustren Gästeschar gehören neben einigen Damen der Nacht vor allem Spione und Politiker. Hat einer von ihnen die Finger im Spiel, als Nelie in den Tod stürzt? Kommissarin Clara Frings darf untergeordnet ermitteln, stößt in der Männerwelt der kleinen Hauptstadt am Rhein jedoch schnell an ihre Grenzen. Clara macht Fehler und muss dafür bezahlen. Die Emanzipation der Frauen hat gerade erst begonnen, und das gesellschaftliche Leben wird bestimmt vom Paragraph 218, Studentenprotesten, RAF-Bomben und Radikalenerlass. Erst am Tag von Willy Brandts Rücktritt wird Clara endlich Antworten finden … »Das Fräulein muss sterben« ist ein kluger historischer Krimi aus der Bonner Republik Anfang der 70er-Jahre – spannend und informativ, erfrischend anders, schnell und witzig geschrieben Authentisch und unterhaltsam fangen Christine Grän und Marianne von Waldenfels das Lebensgefühl der 70er-Jahre zwischen Aufbruchsstimmung und Spionage-Affären ein. Der historische Kriminalroman der beiden Autorinnen und Journalistinnen bietet zeitgeschichtliche Unterhaltung für die Leser*innen von Marc Raabe oder Christof Weigold.
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2024
Christine Grän / Marianne von Waldenfels
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Bonn, 1972: In ihrem Penthouse feiert die Journalistin Nelie Hendriks, dass Willy Brandt das Misstrauensvotum überstanden hat. Zu ihrer illustren Gästeschar gehören neben einigen Damen der Nacht vor allem Spione und Politiker. Hat einer von ihnen die Finger im Spiel, als Nelie in den Tod stürzt? Kommissarin Clara Frings darf untergeordnet ermitteln, stößt in der Bonner Männerwelt jedoch schnell an ihre Grenzen. Clara macht Fehler und muss dafür bezahlen. Die Emanzipation der Frauen hat gerade erst begonnen, und das gesellschaftliche Leben wird bestimmt vom Paragraf 218, Studentenprotesten, RAF-Bomben und Radikalenerlass. Erst am Tag von Willy Brandts Rücktritt wird Clara endlich Antworten finden …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Wer spielt mit im Bonn der Siebzigerjahre?
Chronik der Ereignisse
Nelie, rauchend auf der Dachterrasse. Es ist nach Mitternacht, mondhell, und sie liebt den Ausblick. Zu ihren Füßen das Diplomatengetto Bad Godesberg, den Rhein aufwärts das Regierungsviertel mit dem Langen Eugen. Sie mag den Blick von oben. Die Distanz zwischen ihr und dem Raumschiff Bonn, das mit dem Misstrauensvotum gegen den Kanzler kurz ins Trudeln geriet. Jetzt ist alles gut, der Antrag wurde am Mittag abgeschmettert. Dem siegessicheren Rainer Barzel fehlten zwei Stimmen, um Brandt zu stürzen. Und schon schwirren verwegene Gerüchte über der kleinen Stadt am Rhein. Wer hat dem Oppositionsführer die Gefolgschaft verweigert? Welche Abgeordneten spielten Brutus? Warum und, vor allem, wofür?
Nelie lächelt, während sie ihre Zigarette im großen Aschenbecher tötet. Wissen ist Macht, das weiß doch jeder. Sie hätte Willy gern zu ihrer Siegesfeier zu seinen Ehren eingeladen, doch er hätte abgesagt. Tricky Egon auch. Also bleibt die zweite Garnitur, die übliche Melange aus Diplomaten, Abgeordneten, Beamten, Journalisten, Geheimdienstlern und Damen der Nacht. Letztere reisen aus Köln an, und Nelie zahlt ihnen außer der Aufwandsentschädigung extra Infohonorare. Männer, die trinken und huren, plaudern bisweilen aus dem Nähkästchen. Wissen ist Macht. Auf Nelies Partys gibt es außer Champagner, Schnaps und Bier auch Koks und Marihuana, was für Bonner Verhältnisse geradezu kriminell exotisch ist. Manchmal vermisst sie Amsterdam. Oder London. Das rheinisch-katholische Kaff ist eine Herausforderung für jeden Kosmopoliten. Was hat sich der alte Adenauer bloß gedacht, als er das Hauptstadtprovisorium Bonn wählte? Nur weil es nahe an seinem Wohnhaus lag? Wirklich?
Aus dem Wohnzimmer dringt Cool Jazz in einer Lautstärke, die Gespräche zulässt. Das Buffet ist beinahe leer geräumt, ein Großteil der Gäste bereits gegangen. An der Hausbar schenkt »Schatzi« ein und legt Platten auf. Eine Marotte von ihr, allen Leuten Kosenamen zu geben. Schatzi heißt so, weil er attraktiv und liebenswürdig ist und sie manchmal ihr Bett mit ihm teilt, wenn er zu müde zum Heimfahren ist. Er ist kein schlechter Liebhaber. Und sein leichter Wiener Slang ist amüsant, auch wenn sie den Mann für unberechenbar hält. Gerade ist er ins Gespräch vertieft mit »Beria«, sie hat ihn nach Stalins Geheimdienstchef getauft. Beria ist ein hohes Tier, ein Hort an Informationen, aber im Bett eine Niete. Seine hungrigen Blicke lösen bei ihr leichte Ekelwellen aus. Es wäre unklug, eine so gute Quelle ziehen zu lassen. Andererseits …
»Ist dir nicht kalt da draußen?«
Nelie zuckt zusammen, als »Viper« plötzlich neben ihr steht. Sie hat die Terrasse nur spärlich beleuchtet, weil es im April nicht warm genug ist, um draußen zu feiern. Und er hat so eine Art, sich anzuschleichen … Sie kennen sich seit gefühlten Ewigkeiten und teilen Geheimnisse, die besser nie ans Tageslicht kommen. »Mich wärmt meine schöne Seele. Ist der Champagner für mich?«
Er überreicht ihr das Glas mit einem angedeuteten Hofknicks. »Deine Restgäste vermissen dich nicht. Und das Koks in der Toilette ist perdu, nur noch ein paar Joints sind da. Und dein Abgeordneter, der sich an Josephine ranrobbt. Habt ihr vorhin gestritten, der – wie nennst du ihn noch? – und du? Man hat laute Stimmen aus dem Schlafzimmer gehört.«
»Ikarus. Er wird abstürzen, du wirst schon sehen.« Nelie hat ihr Glas geleert und nimmt von Viper einen Joint an. Die Wirkung des Kokains hat nachgelassen. Sie ist auf einmal müde und wünscht sich, alle würden gehen. Sie blickt durchs Fenster. Schatzi sieht müde aus, und Beria findet mal wieder kein Ende. Mit dem sagenhaften Ikarus hat sie allerdings noch eine Rechnung offen. Sie sollte zufrieden sein. Allein Barzels Gesicht zu sehen nach der Auszählung der Stimmen war ein Erlebnis der besonderen Art.
Ihr Gegenüber sieht sie fragend an. Erwartet er tatsächlich eine ehrliche Antwort? »Er hat sich Geld von mir leihen wollen. Du weißt ja, der Typ ist notorisch pleite.«
»Die Weiber und das Spielen werden ihn noch sein Mandat kosten.« Viper – schwarzhaarig und mit so weißer Haut, dass er im Mondlicht an einen Vampir erinnert – zieht genüsslich an seinem Joint. »Du solltest alle nach Hause schicken. Aber ich hätte noch Lust auf Sex. Was meinst du?«
Nelie winkt ab. Sie schlafen gelegentlich miteinander, und einmal dachte sie, dass mehr daraus werden könnte. Aber sie sind beide zu polygam für eine romantische Beziehung. Zu ehrgeizig in ihren Jobs. Sie und er und ihre Bauchläden – sie arbeiten als freie Journalisten für verschiedene Zeitungen und schenken einander beruflich nichts. Sie traut Viper nicht, und das aus gutem Grund. Umgekehrt wird es genauso sein. »Heute nicht mehr, ich bin echt fertig – nach diesem Tag. Weißt du zufällig, wer aus dem konservativen Lager ausgeschert ist?«
Sein überhebliches Lächeln nervt. Viper glaubt, dass er zu den Bestinformierten in Bonn gehört, und seine Verbindungen zu den Geheimdiensten sind tatsächlich legendär. Dafür weiß Nelie etwas über ihn, das ihn zu Fall bringen könnte. Und er weiß, dass sie es weiß. Irgendwann wird sie diesen Joker einsetzen. Aber sicher nicht jetzt.
Viper lacht zwischen zwei Zügen. »Meine Liebe, wenn ich es wüsste, wärst du die Erste, der ich es erzählen würde. Bisher gibt’s nur wilde Spekulationen. Unser Freund Ikarus wird als Verdächtiger gehandelt, weil er ständig in Geldnot ist. Und natürlich die schwulen Abgeordneten, weil erpressbar. Mir ist zu Ohren gekommen, dass der KGB die Finger im Spiel hat unter dem Motto ›Rettet Willys Ostpolitik‹.«
Ihr Glas ist leer, und der Joint hat sie in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Nelie überlegt, ob sie noch eine Nase Koks ziehen soll, in ihrer Nachttischschublade liegt ein Vorrat. Aber dann kann sie wieder nicht einschlafen, und sie hat am nächsten Vormittag einen Termin im Kanzleramt. »Lass uns reingehen und ein letztes Glas trinken – und dann werfe ich euch alle raus, ich brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf.« Ihre Stimmung kippt. Nelie kennt das, es hat mit Alkohol und Drogen zu tun – und ihrem gelegentlichen Überdruss an der Bonner Bagage. Sie folgt Viper ins Wohnzimmer.
Beria ist in ein betrunkenes Gespräch über die Ostpolitik verwickelt, die Schatzi, sehr viel nüchterner, verteidigt. Der Diplomat knutscht mit Josephine Bacher, einer Prostituierten aus Köln. Ihre Kolleginnen haben mit ihren Eroberungen bereits das Weite gesucht. Das Wohnzimmer sieht aus wie nach einer Schlacht und riecht nach kaltem Rauch, Marihuana und Alkohol. Nelie gibt Schatzi ein Zeichen, dass er die Bar schließen soll, und blinzelt Josephine zu. Ein kluges Wesen, diese Edelnutte aus Köln, sie weiß sich für Informationen ins Zeug zu legen. So herrlich bisexuell. Sie teilen ein Lächeln, dann schenkt Nelie den letzten Verbliebenen den restlichen Champagner ein. Hebt ihr Glas.
An Schatzi, Beria, Viper und Ikarus gerichtet: »Ihr seid doch immer die Letzten. Um nicht zu sagen: das Letzte. Ihr mit euren Geheimnissen, von denen ich zu viele kenne.« Ihre Stimme klingt jetzt nicht mehr weich, im Gegenteil: »Ich bin Journalistin – warum glaubt ihr eigentlich, dass ich eure Geheimnisse in meinem Herzen bewahre?« Zu Viper, lachend: »Leute wie wir würden für eine gute Story töten, ist es nicht so?«
In Nelies Blick liegt jetzt Verachtung, sogar Ekel: »Und jetzt verschwindet alle.«
Sie geht mit ihrem Glas wieder auf die Terrasse. Blasser, runder Mond in Brecht’scher Dimension, kaum Sterne. Die Luft ist kalt, aber deutlich besser als drinnen. Sie wird die ganze Nacht die Terrassentüren offen lassen.
Beria kommt ihr hinterher und flüstert, dass sie mit ihrer kleinen Ansprache zu weit gegangen sei. »Sind doch nur Worte«, sagt sie und dreht ihm den Rücken zu. Wer immer mit ihr reden will, sie ist jetzt nicht in der Stimmung. Nelie zündet sich eine Zigarette an und starrt nach unten. Alles schläft. Bis auf die Verräter und Spione und Liebenden. Nelie ist dreiunddreißig und hat noch nie geliebt, von ein paar Jugendsünden abgesehen. Sie betrachtet Männer als Mittel zum Zweck. Entweder für Sex – oder für Informationen. Weshalb es in Bonner Journalistenkreisen heißt, dass Nelie Hendriks vorzugsweise in der Waagrechten recherchiert. Na und wenn schon, das Ergebnis zählt! Wie ihre Exklusivstory über die gekauften und getürkten Spiele in der Fußballbundesliga.
Sie beobachtet von draußen, wie Josephine mit ihrem Diplomaten die Wohnung verlässt.
Nelie wendet den Lichtern den Rücken zu. Hört Schritte. Sie will keinen mehr sehen, keinen. Keine Argumente, keine Ausflüchte, keinen Streit. Sie war so high, und jetzt ist sie der einsamste Mensch in der kleinen Stadt am Rhein. Eine Hand auf dem kalten Metall, in der anderen das Champagnerglas. Sie nimmt einen Schluck, den letzten.
Den allerletzten, denn der Stoß von hinten ist so kräftig, dass sie von einer Sekunde auf die andere halb über der Brüstung hängt. Die Straße sechs Stockwerke entfernt. Was für ein idiotischer Gedanke jetzt, dass sie die Terrassenbegrenzung schon längst hat höher ziehen wollen. So sinnlos. Nelie fuchtelt mit den Armen und versucht, das Gleichgewicht zu halten und wieder Boden unter die Füße zu bekommen, als der zweite Stoß sie ins Kreuz trifft.
Sie fällt.
Schreit sie? Nein, Nelie schließt die Augen und denkt, dass dies alles nur ein Traum ist. Ein Albtraum. Bis zum Aufprall. Dann nichts mehr.
»Der Braten ist nicht richtig durch.« Hans Joachim Frings verzieht das Gesicht und senkt die Gabel. »Er muss noch mal in den Ofen. Mensch, Clara, der ist doch noch ganz rot!«
»Oh, tut mir leid«, flüstert Clara Frings, während sie sich eine Strähne ihrer dunklen Locken hinters Ohr schiebt und zu ihrer Tochter Elisabeth schaut, die von den gekochten Kartoffeln probiert. »Ich schiebe ihn noch mal rein, ja?«
Hajo sieht auf die Uhr und runzelt die Stirn. »Es ist schon halb sieben, du weißt, dass ich ungern so spät esse.«
Clara seufzt. »Es war heute so viel los auf dem Revier und …«
»Und da dachtest du, es ist nicht so schlimm, wenn deine Tochter und ich einen rohen Braten zum Abendessen bekommen?«
»Jetzt übertreib mal nicht. Es war doch keine Absicht.«
Sein vorwurfsvoller Blick macht sie wütend, doch Clara beherrscht sich. Ihrer Tochter wegen. Und auch weil sie diese Eheszenen schrecklich und würdelos findet.
Entschlossen packt sie die Auflaufform und geht in die Küche. Elisabeth folgt ihr. »Lass dich von Papa nicht ärgern«, flüstert ihre vierzehnjährige Tochter und schmiegt sich an sie.
»Mach ich nicht, er hat gerade ziemlich viel zu tun, weißt du?«
Clara greift nach dem Topflappen, schiebt den Braten zurück in die Röhre und dreht auf die höchste Temperatur. Sie ärgert sich über sich selbst. Warum hat sie die Besprechung mit Schulze nicht um sechzehn Uhr verlassen, als ihr Dienst offiziell endete? Ihr Chef ist ihr ohnehin dauernd ins Wort gefallen, als sie von der Frau erzählte, die heute aufs Revier kam. Mit blauen Flecken und einer Platzwunde. Schulze und auch ihre Kollegen waren der Meinung, dass Clara sich bloß nicht einmischen solle. Vermutlich sei die Frau ohnehin selbst schuld. Stattdessen solle sie sich bitte dringend um einen Fall von Mundraub kümmern. Eine türkische Frau hatte in einem Supermarkt in einen Apfel gebissen, um zu überprüfen, wie frisch er war. Sagte sie. Der Leiter des Marktes zeigte sie trotzdem an. Ein Fall für Clara Frings. Die Brosamen der männlichen Kollegen.
»Clara? Wie lange dauert es denn noch? Elisabeth und ich haben Hunger!«
»Esst doch schon mal die Kartoffeln, die werden sonst kalt.«
»Die sind schon kalt.«
Clara flucht lautlos. Es würde Hajo auch nicht schaden, wenn er mal nichts zu Abend isst, denkt sie, während sie ihn durch die offene Tür mustert.
Mittelgroß, mittelalt, mittelattraktiv. Das weiße Hemd spannt über dem Bauch, er trägt eine braune Strickjacke darüber, Cordhosen und braune Hausschuhe aus Leder, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hat. Seit Kurzem kämmt er sich das Haar mit Pomade nach hinten wie sein direkter Vorgesetzter im Bundesinnenministerium, Ministerialdirektor Matussek. Es steht ihm nicht, so sieht er noch spießiger aus.
Als sie sich kennenlernten, erinnerte Hajo sie an Marlon Brando in ihrem Lieblingsfilm Désirée. Diese Entschlossenheit im Blick, die vollen, weichen Lippen und die leicht gebogene Nase. Davon ist nichts mehr übrig, denkt Clara, während sie den Braten aus dem Ofen holt und auf den Tisch stellt.
»Na, dann lassen wir uns mal überraschen, Elisabeth.«
Hajo schneidet ein Stück Fleisch ab und begutachtet es von allen Seiten.
»Ja, das ist besser.« Er nimmt sich das erste Stück, legt das zweite auf Elisabeths und das dritte, ein besonders großes, auf Claras Teller.
»Ich glaube, das ist mir zu viel.«
»Clara, du bist zu dünn. Das kommt davon, dass du zu viel arbeitest.«
Nicht schon wieder diese Diskussion, denkt Clara und fängt an zu essen, obwohl sie keinen Appetit mehr hat.
»Es ist wirklich ungeheuerlich, dass das Misstrauensvotum gescheitert ist. Da stecken bestimmt die Kommunisten dahinter«, schimpft Hajo. »Die müssen irgendjemanden bestochen haben. Diese Sozis sind in meinen Augen Verbrecher, die tun echt alles, um ihre Ostverträge durchzukriegen.«
Clara schweigt. Mit Hajo über Politik zu reden hat sie sich abgewöhnt. Männer haben immer recht, und Frauen verstehen nichts von Männersachen.
»Der Barzel hat wenigstens im Krieg gekämpft. Während dieser … Herr Frahm ein Deserteur war, ein Vaterlandsverräter.«
»Elisabeth, musst du noch was für die Schule machen?«, fragt Clara. Sie mag Willy Brandt. Ihr Großvater, der in den Dreißigerjahren Hauptkommissar bei der Berliner Mordkommission gewesen war und sie ermutigt hatte, sich als eine der ersten Frauen zur Kriminalkommissarin ausbilden zu lassen, kam wegen seiner SPD-Mitgliedschaft während des Krieges ins KZ und hat dort sein Augenlicht verloren. Er war von Claras Vater an die Gestapo verraten worden, Clara hat das allerdings erst auf dem Begräbnis ihres Vaters erfahren, von einem ehemaligen Kameraden.
Elisabeth versteht den Wink. »Nur ein bisschen für Deutsch. Darf ich aufstehen?«
»Deine Mutter hat noch nicht aufgegessen.«
Clara blinzelt ihrer Tochter zu. »Ich bin fertig, danke, ich habe heute keinen großen Hunger.«
Hajo zieht die Augenbrauen hoch. »Du solltest kürzertreten. Eine Halbtagsstelle würde doch völlig reichen. Dann kommst du auch besser mit dem Haushalt hinterher.«
»Wie meinst du das?«, fragt Clara.
Hajo schaut anklagend auf die Reste des Bratens.
Sie ignoriert es und beginnt den Tisch abzuräumen. Er schiebt den Stuhl mit einem lauten Quietschen zurück, setzt sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Die Ivan-Rebroff-Show. Clara hätte große Lust, sich jetzt mit Elfi zu treffen und ein, zwei Gläser Wein zu trinken. Ihre engste Freundin arbeitet bei der Bonner Zeitung und weiß immer wunderbare Klatschgeschichten über die Liebschaften in der Bonner Regierungsriege. »Die besten Sachen kann man nicht schreiben«, sagt sie immer.
Nachdem sie abgewaschen und die Küche geputzt hat, entscheidet sich Clara gegen den gemeinsamen Fernsehabend. Sie will sich in Ruhe eine Strategie überlegen, mit der sie ihren Chef davon überzeugen kann, sich doch noch um den Fall der verletzten Frau zu kümmern. Schulze, also Polizeihauptkommissar Werner Schulze, ist eigentlich kein übler Kerl. Rheinische Frohnatur, meistens gut gelaunt und ein Füllhorn von Altherrenwitzen. Doch natürlich denkt er, dass Frauen bei der Polizei grundsätzlich nichts verloren haben. Außer als Sekretärinnen oder Putzkräfte. Die meisten im Präsidium denken so wie er. Clara gibt Elisabeth einen Gutenachtkuss.
»Hast du heute wieder einen Verbrecher gefangen?«, fragt ihre Tochter.
Clara muss lächeln. Elisabeth liebt es, wenn ihre Mutter von ihrer Arbeit erzählt. Eine ihrer Lieblingsgeschichten ist, wie Clara einen Hoteldieb überführte, der über Monate hinweg im Hotel Königshof Gäste bestohlen hatte, darunter sogar Mitglieder einer britischen Diplomatendelegation. Nachdem die Hotelleitung sie für ein paar Tage als Aushilfszimmermädchen eingeschleust hatte, erwischte sie schließlich den österreichischen Haustechniker dabei, wie er, als er einen angeblichen Wackelkontakt in der Telefonverbindung prüfte, den Inhalt der Nachttischschublade in der Manteltasche verschwinden ließ. Erst stritt er alles ab und stellte sie als Lügnerin hin. Bei einer Hausdurchsuchung in seiner Wohnung in Beuel fand sich dann aber ein großer Teil seiner Beute: von geheimen Dokumenten eines Assistenten Richard Nixons über Schmuck von Bulgari bis zu zwei maßgeschneiderten Anzügen von Anderson and Sheppard und Manschettenknöpfen von Gieves and Hawkes, die englischen Gästen abhandengekommen waren.
Werner Schulze hatte Clara anerkennend auf die Schulter geklopft und grinsend hinzugefügt, dass sie die scharfe Zimmermädchenuniform gerne auch täglich zur Arbeit tragen könne. Sie weiß, er meint es nicht böse. Aber es war ihr peinlich. Für ihn. Und für sich.
»Heute war nichts Besonderes los, mein Schatz. Schlaf schön, ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Clara löscht das Licht in Elisabeths Zimmer und hofft, dass Hajo noch eine Weile fernsieht. Dann kann sie ein wenig lesen, weil das Licht ausgeschaltet wird, wenn er schlafen will. Doch gerade als sie Lieb Vaterland magst ruhig sein von Simmel aufschlägt, hört sie Hajos Schritte. Zähneputzen: exakt drei Minuten.
Danach der nächtliche Toilettengang. Das Rauschen der Klospülung. Händewaschen: eine Minute. Dann Schritte Richtung Schlafzimmer. Sie zählt mit: neun.
»Ich verstehe wirklich nicht, wie du mit diesen Kommunisten sympathisieren kannst«, schimpft Hajo im Bett weiter. »Die kriechen den Russen in den Hintern. Brandt hätte schon lange zurücktreten müssen. Der hat einfach keinen Anstand!«
Wahrscheinlich ist in den Nachrichten noch einmal ausgiebig über das gescheiterte Misstrauensvotum berichtet worden, denkt Clara.
»Warum sagst du denn nichts? Ich weiß schon, der hat einen Schlag bei euch Frauen.«
»Ich bin müde.« Clara hat keine Lust, mit ihrem Mann zu streiten. Er hat sowieso immer das letzte Wort.
»Ich hoffe nur, du bist nicht zu müde für …«
»Für?« Clara dreht sich zu ihm um und sieht ihm in die Augen. Er senkt den Blick. »Für … du weißt doch, dass ich mir noch einen Sohn wünsche. Komm schon, Clara, das wäre auch für Elisabeth gut.«
»Vielleicht morgen?«
»Nun stell dich nicht so an.«
Hajo zieht sich aus und legt sich zu ihr aufs Bett. Mit seinen kalten Händen gleitet er unter ihr Nachthemd. »Du bist wirklich zu dünn, kein Wunder, dass du nicht schwanger wirst.«
Ich werde nicht schwanger, weil ich die Pille nehme, denkt Clara. Die hat sie sich heimlich von einem Frauenarzt aus Köln verschreiben lassen.
Er fährt kurz und unsanft über ihre Brüste. Das ist sein Vorspiel. Dann legt er sich auf sie und dringt in sie ein. Nach einer Minute ist es vorbei. Clara hat den Kopf zur Seite gedreht und starrt auf die Tapete. Sie ist dunkelblau geblümt.
Als sie am nächsten Morgen um Punkt 8.30 Uhr das Polizeipräsidium betritt, kommt ihr Kollege Max Donner schon entgegen. »Vorsicht, Mäuschen, Schulze hat schlechte Laune!«
Sie wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. Eigentlich mag sie Max, einen hochgewachsenen Kölner mit rötlichem, schütterem Haar, der ihr im Büro gegenübersitzt. Nur den Spitznamen, den er sich für sie ausgedacht hat, findet sie schrecklich.
»Ich will dich nur warnen! Sie haben ihn letzte Nacht aus seiner Karnevalssitzung geholt. Irgendeine holländische Journalistin ist in Plittersdorf aus dem Fenster gefallen. Sieht nach Selbstmord aus. Wird er dir gleich selbst erzählen.«
»Wieso mir?«
»So wie ich es verstanden habe, will er, dass du ihm assistierst.«
Claras Herz schlägt schneller. Das klingt endlich nach einem richtigen Fall. Und danach, dass Schulze sie langsam doch zu respektieren beginnt.
»Sie sollen sofort zu ihm«, wispert seine Sekretärin, Fräulein Hauck, als sie Clara in der Kaffeeküche trifft.
»Ich komme gleich, ich hole mir nur noch schnell eine Tasse.«
»Vorsicht, er ist nicht gut drauf …« Fräulein Haucks Lippen zittern leicht. Sie hat großen Respekt vor Uniformen.
»Das hat mir Kommissar Donner auch schon gesagt. So schlimm?«
Fräulein Hauck nickt stumm. Clara folgt Fräulein Hauck mit einer Tasse frischem Kaffee mit viel Milch. Ein großer, kräftiger Mann mit Glatze eilt an ihnen vorbei, direkt auf Schulzes Bürotür zu. Er zieht sein rechtes Bein leicht nach.
»Entschuldigung, haben Sie einen Termin?«, ruft Fräulein Hauck.
Doch der Mann macht nur eine abwehrende Handbewegung und geht ohne anzuklopfen in Schulzes Büro.
»Moment mal!«, ruft die Sekretärin mit schriller Stimme.
Doch ihr Chef bedeutet ihr offenbar durch die offene Tür, dass alles okay ist. Die Tür schließt sich.
»Wer war das?«, fragt Clara.
»Das weiß ich nicht, Frau Frings. Ich habe den Herrn auch noch nie gesehen. Ich rufe Sie, wenn der wieder gegangen ist.«
Zehn Minuten später sitzt Clara vor ihrem Vorgesetzten. Schulzes blaues Jackett ist zerknittert, auf seinem Hemd, das ihm deutlich zu eng ist, sind Kaffeeflecken. Er sieht müde aus, und auf der Stirn und der fleischigen Nase stehen Schweißperlen, obwohl es im Raum kühl ist. »Frings, ich habe einen Fall für Sie.«
Eine Fahne hat er auch, denkt Clara. »Worum geht es?«
»Unfall, wahrscheinlich. Haben Sie schon mal von Nelie Hendriks gehört? Dieser Journalistin? Dunkelhäutig … wobei … eher so wie Milchkaffee, würde ich sagen. Ist gestern Nacht zu Tode gestürzt. Ein Jammer, wirklich. Kein schöner Anblick. Hier ist die Adresse. Fahren Sie nach Plittersdorf, schauen Sie sich ein bisschen in der Wohnung um und messen Sie die Höhe der Balustrade. Das brauche ich für den Abschlussbericht.«
Clara ist enttäuscht, hatte sie doch auf einen richtigen Fall gehofft. Auf Ermittlungsarbeit. Das Ausmessen eines Geländers klingt nicht danach.
»Aber ich bin heute mit dem Filialleiter in der Maurerstraße verabredet, wegen des Mundraubs. Wenn es nur um das Ausmessen eines Geländers geht, könnte doch auch der Kollege …«
»Frings, Sie fahren da jetzt hin. Keine Diskussion. Dafür bin ich heute wirklich nicht in Stimmung. Die Hausmeisterin im Erdgeschoss hat einen Schlüssel.« Schulze fängt demonstrativ an, einen Brief auf seinem Schreibtisch zu lesen.
»Ach, und lassen Sie sich nicht so lange Zeit. Ich will Sie um vierzehn Uhr bei der Obduktion dabeihaben. Seien Sie pünktlich in der Gerichtsmedizin!«
Clara schluckt. Sie war noch nie bei einer Obduktion dabei. Natürlich hat sie schon Tote gesehen, im Krieg, als die Bomben in Berlin einschlugen. Aber das waren andere Zeiten.
»Klar bin ich pünktlich.«
Eine halbe Stunde später steht sie vor dem Haus, in dem Nelie Hendriks die oberste Etage bewohnt hat. Es sieht neu und nobel aus. Auf dem Asphalt sind die Umrisse der Leiche mit Kreide gezeichnet. Clara blickt nach oben. Wie zum Teufel ist sie von ihrer Terrasse gestürzt? Sie muss später unbedingt mit Elfi sprechen, die beiden haben sich bestimmt gekannt.
Sie klingelt im Erdgeschoss. Eine Frau mittleren Alters mit Küchenschürze und Filzpantoffeln öffnet. »Ja, bitte?«
»Ich bin Kommissarin Clara Frings, Sie haben den Schlüssel zu Frau Hendriks’ Wohnung?«
»Wollen Sie nicht kurz reinkommen?«
»Danke, ich muss leider …«
»Schon gut. Ich habe Ihrem Kollegen gestern Nacht ja schon alles erzählt.«
»Was haben Sie ihm denn erzählt?«
»Dass da irgendwas im Gange war.«
»Was meinen Sie damit?«
»Also, da waren bestimmt zweimal die Woche Partys. Die hat vielleicht gefeiert, diese Hendriks. Und immer laut. Und ständig fremde Männer. Und junge Damen, die nicht so aussahen, als wären sie welche. Und dann diese schwarzen Limousinen, die hier vor der Tür geparkt haben. Manchmal mit ausländischen Kennzeichen. Frau Rüttgers, die Nachbarin von gegenüber, hat sogar zweimal die Polizei gerufen, weil es ihr gereicht hat. Und nichts ist passiert. Da kam zwar ein Streifenwagen, aber der ist dann einfach weitergefahren. Und einmal«, sie senkt ihre Stimme bis zu einem vertraulichen Flüstern, »einmal war, glaub ich, auch der Strauß hier.«
»Franz Josef Strauß?«
»Oder Bahr, ich weiß nicht mehr so genau. Sie können ja Frau Rüttgers fragen.«
»Zwischen Franz Josef Strauß und Egon Bahr ist schon ein ziemlicher Unterschied. Auch in der Statur.«
Die Hausmeisterin wird giftig. »Ist das jetzt ein Verhör? Ich wollte nur behilflich sein. Aber damit tut man sich ja keinen Gefallen. Hier sind die Schlüssel. Einen schönen Tag auch.«
Clara geht die marmornen Treppen bis zum obersten Stock. Öffnet die Tür und betritt Nelie Hendriks’ Reich. Ein riesiger Raum mit großer Fensterfront, weißen Ledersofas und einem orangen Flokati, an der Decke baumelt ein goldener Leuchter mit mehreren Armen, an den Wänden hängen gerahmte Fotos halb nackter Frauen. Es riecht nach Alkohol, Zigaretten und etwas Süßlichem, das Clara nicht einordnen kann. Hier und da stehen halb leere Gläser, volle Aschenbecher und Teller mit Essensresten, in einer Ecke liegt ein Paar roter Pumps. Auf dem Barwagen sind zwischen Whisky- und Curaçao-Flaschen Spuren eines weißen Pulvers. Sieht aus wie Puderzucker.
Sie geht weiter in die Küche. Von hier aus erstreckt sich die Terrasse, die größer ist als Claras Wohnzimmer. Clara tritt an die Balustrade. Sie reicht ihr bis zum Bauchnabel. Schnell packt sie ihr Maßband aus: ein Meter, acht Zentimeter. Kann dieser Sturz ein Unfall gewesen sein? Selbstmord?
Die Fotoreihe im Flur zeigt eine sehr sinnliche, schlanke dunkelhaarige Frau mit bekannten Politikern: Strauß, Genscher, Jahn, Schiller … überwiegend bei offiziellen Anlässen aufgenommen. Das muss Nelie sein. Sie strahlt in die Kamera. Sie war schön und jung, Clara schätzt sie auf Anfang dreißig, und ganz offensichtlich nicht arm. Warum sollte sie ihr Leben so beenden wollen?
Im Schlafzimmer: An der goldenen Tapete hängen Bilder von Nelie in verschiedenen Posen, mit Freunden und Prominenten. Einige erkennt Clara sofort, wie Maximilian Schell oder Peter Frankenfeld. Andere kommen ihr aus dem Fernsehen bekannt vor. Hier riecht es weniger nach Zigaretten als nach schwerem Parfum. Neben dem Wecker auf dem Nachttisch liegt ein Buch von Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame. Als Clara es aufheben will, schlägt die Balkontür mit lautem Knall zu. Clara erschrickt – und stößt versehentlich den Wecker zu Boden.
Eine sehr kleine Kassette ist herausgefallen, Clara nimmt sie in die Hand und dreht sie. Wozu hatte Nelie Hendriks eine Minikassette in ihrem Wecker installiert? Sie steckt sie ein und geht zurück ins Wohnzimmer, als es klingelt.
Sie öffnet, ohne nachzudenken. Im Türrahmen steht ein großer, schlanker Mann, auf eigenartige Weise attraktiv, mit sehr heller Haut und dunklen Haaren. Sein Blick fixiert sie, und Clara ist nicht sicher, ob sie das angenehm oder schrecklich findet. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ein Lächeln, das gewinnend sein will. »Ich bin Johan Peters. Ich habe von Nelies grauenvollem Unfall gehört. Und wollte … ich war gestern auch kurz auf der Party und habe hier … etwas vergessen. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Clara macht keine Anstalten, ihn hereinzulassen. »Kommissarin Frings. Was haben Sie denn vergessen?«
»Meine Brieftasche.«
»Tut mir leid, im Augenblick darf die Wohnung nicht betreten werden. Wann haben Sie die Party denn verlassen?«
Er zögert einen Augenblick: »Früh. Gegen Mitternacht denke ich.«
»Das ist für Sie früh?«
»Liebe Kommissarin, ich bin Journalist, und die guten Informationen bekommt man normalerweise erst weit nach Mitternacht. Dürfte ich mich kurz umsehen, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, wo ich meine … Brieftasche gelassen habe. Können Sie mich nicht kurz reinlassen? Es dauert bestimmt nicht lange.«
Clara bleibt mit verschränkten Armen vor ihm stehen: »Sie dürfen hier nicht rein. Ich kann da keine Ausnahmen machen.«
Er sieht einen Augenblick lang aus, als wolle er sich gewaltsam Zutritt verschaffen.
Claras Hand nähert sich automatisch ihrer Waffe.
Er geht einen Schritt zurück. Wieder dieses Lächeln: »Schon verstanden. Aber es war doch ein Unfall, oder?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Wenden Sie sich an unsere Pressestelle.«
»Hören Sie, liebe Kommissarin Frings. Hier ist meine Karte. Wir sollten uns in Ruhe unterhalten, bei einem Glas Wein. Oder zwei. Rufen Sie mich an.«
Was für eine Unverschämtheit! »Lieber Herr Peters, wir können uns gerne auf dem Revier treffen.«
Er lächelt: »Ich glaube, wir haben beide mehr davon, wenn wir uns inoffiziell unterhalten. Ich habe vielleicht etwas Interessantes für Sie, über Nelie und ihre illustren Freunde. Also – rufen Sie mich an. Sie werden es nicht bereuen.«
Er gibt ihr die Hand und hält sie kurz fest. Clara verliert sich eine Sekunde lang in seinen Augen, die braun mit gelben Sprenkeln sind. Dann dreht er sich um und geht.
Kurz vor zwei sucht Schulze in der Sigmund-Freud-Straße fluchend einen Parkplatz in der Nähe des Rechtsmedizinischen Instituts. Er weiß, dass er an der Beethovenhalle bestimmt einen Platz fände, doch wenn er eines hasst, dann sind es Fußwege. Das Auto ist für ihn die Erfindung des Jahrhunderts, und auf seinen neuen 3er BMW ist er stolz wie Oskar. Hat ein kleines Vermögen gekostet, und er musste einen Kredit aufnehmen, um den Wagen zu finanzieren. Seine Frau ist seither nur am Meckern, weil dafür der Italienurlaub gestrichen wurde. Andererseits war sie immer schon eine Xanthippe vor dem Herrn. Ulla braucht keinen Anlass, um auf die Barrikaden zu gehen, und ihre Eifersucht wird ihn eines Tages noch umbringen. Oder er sie.
Nachdem Schulze das Institut dreimal umkreist hat, findet er einen Parkplatz beinahe vor dem Eingang, was ihn in beste Stimmung versetzt, aber nur kurz, denn die Aussicht auf eine Leiche schlägt ihm schon im Lift auf den Magen. Einziger Lichtblick: Clara Frings und ihre erste Begegnung mit einer nackten Toten, die aufgeschlitzt wird. Wahrscheinlich wird sie in Ohnmacht fallen, denkt er, Frauen haben in diesem Beruf einfach nichts zu suchen. Aber schmücken tun sie schon. Manchmal sind sie sogar noch schlau. Und was wäre der rheinische Karneval ohne die lecker Mädche?
Clara ist schon da, als Schulze den Sektionssaal betritt. Klar, sie ist bestimmt wieder mit dem Rad gefahren. Sie steht neben – einer jungen Frau! Da hol ihn doch der Teufel, die muss frisch von der Uni sein, denkt er, und dass die Weiber vor keiner Männerdomäne mehr zurückschrecken.
Die Rechtsmedizinerin sieht kurz von der Leiche auf, nickt nur und sagt: »Dr. Karen Breuer. Sie müssen der Kollege von Frau Frings sein.«
»Ihr Chef. Polizeihauptkommissar Schulze.«
Sie lächelt kurz und wendet sich wieder ihrer Leiche zu. Nelie Hendriks liegt auf dem Metalltisch und hat die Augen geschlossen.
Karen Breuer spricht in ihr Diktiergerät, während sie die Leiche abtastet: »Verschiedene Aufprallwunden, verursacht durch Sturz aus großer Höhe. Gebrochene Arme und Beine, Beckenfraktur, eingedrückter Brustkorb und Verletzung lebenswichtiger Organe. Schädelbruch als unmittelbare Todesursache.« Sie blickt hoch: »Nelie Hendriks war sofort tot.« Zu Clara, nicht zu Schulze: »Sie ist kopfüber gestürzt, das ist ungewöhnlich. Normalerweise fallen die Leute mit den Füßen voran in die Tiefe. Was nichts am Ergebnis ändert. Trotzdem …«
»Sie war eben eine ungewöhnliche Frau«, sagt Schulze. »Wahrscheinlich auch noch betrunken und zugekokst.«
Ein scharfer Blick: »Das kann ich erst bestätigen, wenn ich seziert habe und Magen- und Urinproben analysiert wurden.« Sie setzt sich eine Schutzbrille auf, streift Gummihandschuhe über, greift zum Skalpell, und – ohne Vorwarnung – teilt sie den Körper vom Hals bis zur Vagina in zwei Hälften. Er klafft auseinander und gibt den Blick auf die Organe frei.
Sowohl Clara wie auch Schulze sind unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten. Ein Geruch von schrecklicher Süße liegt jetzt in der Luft. Schulze hält sich ein Taschentuch vors Gesicht, während Clara offenbar versucht, ihre Nase zu blockieren. Lächelt die Rechtsmedizinerin? Der Gestank scheint ihr nichts auszumachen, sie entnimmt die Organe und übergibt sie ihrem Assistenten, einem jungen Mann, so bleich, als habe er noch nie die Sonne gesehen.
Schulze entschuldigt sich, er muss nach draußen und eine Zigarette rauchen. Die Toten waren noch nie sein Fall, und wenn er kann, delegiert er den Gang in die Gerichtsmedizin. Aber er konnte das Mädchen ja wohl nicht alleine zur Obduktion gehen lassen, und die infrage kommenden Kollegen waren verhindert. Eigentlich, denkt er, hat sich die Frings ganz gut gehalten. Ist jedenfalls nicht ohnmächtig geworden oder schluchzend rausgelaufen. Nur ein bisschen blass um die Nase ist sie geworden.
Er raucht seine zweite Zigarette, als Clara aus der Tür kommt. Etwas mitgenommen sieht sie schon aus, und aus irgendeinem Grund freut ihn das. »Na, hat die Dame schon alles rausgeschnippelt?«
Clara empfindet den flapsigen Ton als unangebracht, doch sie nickt nur. »Ja, und die Schädeldecke aufgemacht. Das war hart. Irgendwie ist Nelie Hendriks jetzt nur noch ein Stück Fleisch. Ganz leer. Mir kam es vor, als ob es ein ganz seltsames Geräusch gab, als Dr. Breuer das Herz herausnahm.«
Er bietet ihr eine Zigarette an, sie schüttelt den Kopf. »Das sind Winde, Mädchen. Denk dir nix. Hat sie noch was gesagt, das uns weiterbringt?«
Clara atmet Rauch ein, der vergleichsweise duftet. »Nur dass die Organe jenseits der Quetschungen alle intakt und gesund aussehen. Ich hab sie nach Druckspuren an den Armen oder Beinen gefragt, aber sie konnte nichts feststellen. Die Untersuchung der Organe wird ein paar Tage dauern, sagt sie. Und dass sie sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf Selbstmord, Unfall oder Mord festlegen kann.«
»Mord? Wir wollen doch nicht den Teufel an die Wand malen, Mädchen. Die Hendriks kannte einen Haufen einflussreicher Leute. In solchen Fällen muss man mit äußerster Vorsicht agieren. Morgen Vormittag gibt unser Polizeipräsident eine Pressekonferenz zur Causa Hendriks. Also braucht er das vorläufige Ergebnis der Obduktion noch heute auf dem Tisch. Legen Sie es mir zur Unterschrift vor, Frings, und das M-Wort will ich darin nicht lesen, ist das klar?«
Clara nickt nur. Ihr ist ein wenig übel, aber das wird sich an der frischen Luft schon geben.
»Haben die holländischen Kollegen die Familie ausfindig gemacht?«, fragt Schulze.
»Ja, die Mutter lebt in Maastricht. Schwierige Verhältnisse, meinte dieser Inspekteur de Vries. Sie hatten wohl seit Jahren kaum mehr miteinander zu tun. Er hat mir ihre Telefonnummer gegeben, falls wir noch Fragen haben.«
Schulze verdreht die Augen und macht eine abweisende Handbewegung. Dann steigt er in seinen BMW und fährt davon. Eigentlich hat Clara in einer Stunde Dienstschluss, doch wenn sie den Bericht noch tippen muss, wird es wieder später werden. Eine Steilvorlage für Hajo. Aber was soll’s, sie hat vorgekocht und außerdem einen netten Abend vor sich. Um acht wird sie von zu Hause losradeln und im Bundesrausch Elfi treffen. Endlich wieder ein Freundinnenabend, sie braucht ihn dringend!
Die neue Kneipe im Regierungsviertel ist am frühen Abend schon brechend voll, und Clara muss sich ihren Weg zu Elfi an den Tresen bahnen. Rauchschwaden. Gesprächsfetzen. Die alles beherrschenden Themen sind der Verrat an Barschel und der Tod von Nelie Hendriks, begleitet von »American Pie« aus der Wurlitzer. Elfi winkt, sie hat zwei Barhocker an der Theke resolut verteidigt. Die Freundinnen umarmen sich. Niemand kennt Clara besser als ihre Jugendfreundin, mit der sie im selben Mietshaus in Endenich gewohnt hat, seit Clara vierzehn war. Elfi war Claras Trauzeugin, eine kirchliche Hochzeit mit allem Trara.
»Du hast ganz rote Backen. Bist du geradelt? Oder gelaufen?« Elfi bestellt zwei Kölsch bei Wolfgang, dem Wirt, der ein bisschen aussieht wie Al Pacino.
Clara greift sich an die Wangen. »Ich liebe den Fahrtwind, wenn ich mit Hajo gestritten habe. Das bringt mich wieder runter.«
»Du musst diesen despotischen Langweiler endlich verlassen, Clara. Der wird nicht besser.«
Jetzt tut es Clara schon leid, dass sie sich beschwert hat. »Ach, es sind ja gar keine richtigen Streite. So kleine Sticheleien, weißt du. Weil ich zu viel arbeite, zu wenig esse, kein zweites Kind kriege, nicht so gut koche wie seine Mutter … und so weiter, und so fort.«
Elfi war nie verheiratet, nur zweimal verlobt, und die Anzahl ihrer sexuellen Begegnungen möchte Clara lieber gar nicht erst wissen. So was passiert halt, wenn man auf der Suche nach dem Richtigen ist.
Elfi lächelt Wolfgang hinter der Theke zu und er flüchtig zurück. Dann wendet sie sich Clara zu. »Und du hast echt den Fall Nelie Hendriks übernommen? Das finde ich prima, dann kannst du mich ja mit den Details versorgen – und ich schleime mich beim Chefredakteur ein.«
»Du weißt schon, dass ich nichts sagen kann. Außerdem bin ich nur das Laufmädchen von Schulze. Der Polizeipräsident gibt morgen eine Pressekonferenz.«
Elfi grinst. »Der scharfe Fritz von Eschweg, der immer in schönen Worten so gar nichts sagt. Ich geh sogar hin, aber nur um ihn anzuhimmeln.«
»Der ist doch schon alt!« Clara nimmt einen Schluck Kölsch, neben ihr zündet sich einer eine Marlboro an, und es riecht nach Nikotin und Abenteuer. Clara hat in der Schwangerschaft mit dem Rauchen aufgehört und zündet sich seither nur eine Zigarette an, wenn sie entweder sehr betrunken oder sehr wütend oder beides ist. Elfi hingegen qualmt eine nach der anderen. In ihren Augen sind Raucher die besseren Menschen.
»Komm schon, der ist in den besten Jahren. Und Witwer. Und ich versuche jedes Mal, mit ihm zu flirten, wenn wir beruflich miteinander zu tun haben. Bis jetzt allerdings ohne Chance. Diese Nelie-Story habe ich mir jedenfalls unter den Nagel gerissen – gegen den erbitterten Widerstand unseres Gerichtsreporters. Der Chef findet, dass es ein Gesellschaftsthema ist. Es war doch kein Mord, oder?«
»Ich darf dir nichts sagen« wäre eine blöde Wiederholung. So zieht Clara die Schultern hoch. Sie denkt an den Anruf der Rechtsmedizinerin, während sie den Bericht für den Polizeipräsidenten tippte. Dr. Breuer sagte ihr, dass Nelie ein Kind geboren hatte – vor schätzungsweise sieben Jahren. Und dass sie ein kleines Krebsgeschwür an der linken Brust gefunden habe. Noch frisch, keine Metastasen. Das Letzte, das Nelie zu sich genommen hat, waren Blinis und Kaviar. Weitere Informationen würden erst nach Untersuchung der Organ- und Gewebeproben erfolgen. Als Clara die letzten Ergebnisse in ihren Bericht einfügte, fragte sie sich, wo Nelies Kind wohl war. Und ob sie von ihrem Brustkrebs gewusst hatte. Wäre das ein Grund für Suizid gewesen?
Elfi sieht sie fragend an, und Clara sagt: »Man weiß es nicht. Im Moment gehen wir von Unfall oder Selbstmord aus. Erzähl mir von Nelie Hendriks, ihr habt euch doch bestimmt gekannt, oder?«
Elfi bestellt noch zwei Kölsch und zündet sich eine Zigarette an. Der Wirt gibt ihr Feuer, und sie beugt sich über die Theke, sodass er ihr ins Dekolleté blicken kann. »Danke, Wolfgang. Du bist der Beste.« Zu Clara: »Das wird ein Geben und Nehmen, okay? Also, ich habe sie nur sehr oberflächlich von ein paar Terminen gekannt. Ich war nicht wichtig für sie, verstehst du? Nelie hat nur mit Leuten verkehrt, die ihr nutzten – also neunundneunzig Prozent Männer. Man sagt ihr nach, dass sie was mit Botschaftern hatte, mit Ministerialbeamten, Staatssekretären, ein oder zwei Ministern … Conny Ahlers zum Beispiel. Mende. Vielleicht auch Strauß. Brandt mit Fragezeichen. Und noch ein paar Abgeordnete – aus allen Parteien. Parteipolitisch war sie nicht wählerisch.«
Clara, leicht schockiert, pfeift trotzdem anerkennend. »Da war sie aber ganz schön unterwegs.«
»O ja. Gab immer diese wilden Partys, zu denen sie auch Damen der Nacht aus Köln eingeladen hat. Wenn du mich fragst, hat sie den einen oder anderen erpresst, anders lässt sich ihr luxuriöser Lebensstil kaum erklären. Ich meine, wie viel verdient man schon als Journalistin?«
Clara denkt, dass sie unbedingt noch mal in die Wohnung muss! Und vor allem muss sie herausfinden, wer zum Todeszeitpunkt noch dort war. Sie würde Elfi gern von der Kassette erzählen. Aber das wäre falsch. Als Frau muss man besonders aufpassen, keine Fehler zu machen. Weil das, was Männern augenzwinkernd verziehen wird, bei Kolleginnen zum Fanal wird. Leise fragt sie: »Denkst du denn, sie könnte ermordet worden sein?«
Elfi sieht ihre Freundin verschwörerisch an. »Du bist doch die Polizistin! Man sagt Nelie Verbindungen zu Geheimdiensten nach – wenn das stimmt, könnte da schon was dran sein an einer Mordtheorie. Ich meine, die fackeln ja nicht lange, ob CIA oder KGB oder die Stasi oder unsere … und ich frage dich, warum sollte eine junge, schöne und erfolgreiche Frau einfach so von ihrer Terrasse fallen?«
»Auf der Party waren Alkohol und Rauschgift im Spiel«, sagt Clara. Sie spricht bewusst leise, da sie das Gefühl nicht loswird, dass der Wirt ihnen zuhört. Aber vielleicht interessiert er sich ja auch nur für Elfi, die groß, üppig und auf eine blonde Art hübsch ist. Brigitte Bardot plus zwei Kleidergrößen.
Elfi: »Soll ich mich mal umhören, wer an dem Abend noch bei Nelie Hendriks war?«
»Na klar, das würde mir sehr weiterhelfen. Kennst du übrigens einen Johan Peters? Ist ein Kollege von dir.«
Das dritte Kölsch. Elfi weiß, dass sie nicht so viel Bier trinken sollte, aber sobald es dunkel wird, beginnt der unbezwingbare Durst. »Ach der … Johan spielt in einer anderen Liga. Mit so was wie mir gibt der sich nicht ab. Er hat wohl die allerfeinsten Kontakte zu allen möglichen Institutionen. Wie kommst du auf den?«
»Er will sich mit mir treffen, um mir Informationen zu geben.«
Elfi sieht ihre Freundin scharf an. »Dem darfst du keinesfalls trauen, auch wenn er auf eine seltsame Art verdammt gut aussieht.«
Clara lacht: »Nur weil ich in einer langweiligen Ehe festhänge, werfe ich mich doch nicht gleich dem Nächstbesten an den Hals!«
Elfi summt die Melodie mit, als »Heart of Gold« aus der Wurlitzer ertönt. Ein paar Gäste skandieren den Refrain. Die große Mehrheit der Kneipenbesucher sind Männer – Journalisten, Beamte, Abgeordnete, viele Hinterbänkler, die keiner kennt. Die Diplomaten bleiben in Godesberg und unter ihresgleichen. Von den Frauen kennt Elfi nur zwei Kolleginnen, wie sie Clara erzählt, den Rest schätzt sie als unverheiratete Sekretärinnen ein.
Als Clara von ihrem Nachbarn angesprochen wird, der ihr einen Drink ausgeben will, schüttelt sie den Kopf, doch der Typ, schon reichlich betrunken, nimmt es nicht auf die leichte Schulter, und Elfi zischt: »Lass meine Freundin in Ruhe, die ist Polizistin. Das könnte höchst unangenehm für dich werden!«
Er murmelt etwas, erhebt sich leicht schwankend vom Barhocker und geht in Richtung Toiletten. Es ist so dicht gedrängt inzwischen, dass er gar nicht umfallen könnte auf seinem Weg. »Danke«, sagt Clara, »aber ich kann mich schon selber wehren.« Noch während sie es ausspricht, denkt sie das Gegenteil. Sie wehrt sich viel zu selten – gegen Hajo, Schulze, die männlichen Kollegen. So ist sie erzogen worden – dass Frauen still und brav zu sein haben und den Männern zum Wohlgefallen. Ihre Mutter war so, und Claras Vater, der Haustyrann, starb an den Folgen einer Kriegsverletzung, als sie zwölf war. Aber da war es für Mutter schon zu spät, ein neues, besseres Leben zu beginnen. Jedenfalls kam es Clara so vor, die sich nicht an ein fröhliches Zuhause erinnern kann.
Vorne am Eingang entdeckt sie plötzlich den Mann, über den sie gesprochen haben. Johan Peters. Er ist in Begleitung einer Rothaarigen, die sich an ihn schmiegt, als wolle sie ihn auf der Stelle vernaschen. Und jetzt sieht er zu ihr hin durch die Menschenmenge und Rauchschwaden. Und sie schnell weg. Clara dreht sich zu ihrer Freundin. »Ein Bier noch, dann schwinge ich mich wieder aufs Rad.«
»Es ist doch erst halb zehn. Ein Wunder, dass Hajo dir überhaupt erlaubt, allein auszugehen«, sagt Elfi bissig. Sie hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Hajo nicht leiden kann, wobei sie zugesteht, dass er damals noch ganz gut ausgesehen hat. Nur sah sie in ihm schon immer einen Beamtenspießer. Clara hätte ihn nicht geheiratet, wäre sie nicht schwanger gewesen. Ein uneheliches Kind, Gott bewahre. Katholisches Rheinland, und Clara war damals in der Ausbildung. Also schien die Ehe der einzige ordentliche Ausweg. Und es war ein gottverdammter Fehler. Elfi hat schon mehrfach gesagt, sie hätte sich mehr ins Zeug legen sollen, um Clara davon abzuhalten.
Clara bestellt die letzte Runde und bezahlt ihren Anteil. Der Lärmpegel ist inzwischen so hoch, dass man die Musik kaum noch hören kann. Sie trinkt aus und umarmt Elfi, die noch bleiben will.
»Mädchen, was machen Sie da?«
Clara schreckt unter ihrem Schreibtisch hoch und stößt sich den Kopf an einer der hölzernen Schubladen. Sie hat versucht, die Minikassette aus Nelie Hendriks’ Wecker ins Diktiergerät von Schulzes Sekretärin zu pressen. Fehlanzeige. Das Format passt nicht. Das blöde Ding flog auch noch unter den Schreibtisch, als sie es mit Gewalt versuchte.
Schulze betrachtet sie irritiert.
»Ich hab nur … », stottert Clara.
Er schüttelt den Kopf. »Schon gut, ich will’s gar nicht wissen. Hab gerade einen Anruf bekommen. Donner, schnappen Sie sich einen Kollegen und fahren zum Hofgarten. Angeblich sollen da ein paar warme Brüder demonstrieren.«
Max Donner sieht seinen Vorgesetzten irritiert an. »Wer?«
»Haben Sie am Wochenende keine Nachrichten gesehen? Diese Kasperle-Parade in Münster. Und jetzt in Bonn! Reicht ihnen wohl nicht, dass die nicht mehr ins Gefängnis kommen wegen Unzucht. Ich weiß wirklich nicht, was die jetzt noch wollen.«
»Aber … die Pressekonferenz …«
»Bei der müssen wir eben ohne Sie auskommen, Donner. Polizeikräfte sind vor Ort, doch ich will von Ihnen einen Bericht über die Demo. Und nehmen Sie Ihre Kamera mit.« Schulze sieht von einem zur anderen. »Die Sitten verrohen, Herrschaften. Liegt vermutlich an dieser Regierung. Weinbrand-Willy und Konsorten.« Ein Lächeln, dann ist er an der Tür und lässt sie zuknallen. Sein Markenzeichen, das er nur bei seinem Vorgesetzten Eschweg nicht auslebt.
Clara zuckt wie immer zusammen. Sie wird sich nie daran gewöhnen. Und den ganzen Morgen hat sie über die Untersuchungsergebnisse der Rechtsmedizinerin nachgedacht. Nelie Hendriks hat ein Kind. Ob das bei der Mutter in Maastricht lebt? In Nelies Wohnung gab es keine Spur eines Kindes, nicht einmal Fotos. Hat sie es gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben? Und dieses Trauma hat sie zusammen mit der Krebsdiagnose in den Freitod getrieben? Stopp, Clara, du bist doch nicht in einem Simmel-Roman. Bleib bei den Fakten! Sie nimmt sich vor, nach der Pressekonferenz Johan Peters anzurufen. Und sich mit ihm zu verabreden. Sie will wissen, was er weiß.
Die Pressekonferenz findet im großen Saal im Erdgeschoss des Präsidiums statt. Es ist Punkt elf Uhr, als Elfi als Letzte in den Saal eilt und die schwere Holztür laut hinter ihr zufällt. Kein Stuhl ist mehr frei, sie muss neben Clara stehen.
»Wieso kommst du so spät?«, flüstert Clara.
»Mein Fahrrad hatte einen Platten. Das war bestimmt der Gerichtsreporter!« Elfis Wangen glänzen rot, und ihre blonden Haare sind zerzaust. »Mist, ich wollte so gerne vorne sitzen, direkt vor Eschweg. Der ist doch wirklich heiß, findest du nicht?«
Heiß? Clara muss lachen. Und handelt sich einen strafenden Blick eines Mannes ein, der in der vorletzten Reihe sitzt. »Nein«, flüstert Clara. »Ich finde ihn definitiv nicht heiß.«
Der Polizeipräsident Dr. Fritz von Eschweg steht neben Claras Chef Schulze am Rednerpult. Er ist Mitte fünfzig, groß und schlank, trägt Brille, einen dunklen Anzug, schwarze Schuhe und eine dezent gemusterte Krawatte. Clara ist ihm ein paarmal in den Fluren begegnet, er wirkte immer sehr distanziert. Sie hat ihn noch nie lächeln sehen.
»Sehr verehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie und bin überrascht über Ihr zahlreiches Erscheinen«, beginnt er die Pressekonferenz. Clara mag seine Stimme. Tief und vertrauenerweckend. In wenigen kurzen Sätzen spricht er über Nelie Hendriks’ tragisches Ende, dann übergibt er für die Einzelheiten an Werner Schulze. Der erklärt mit sehr viel stärkerem rheinischem Akzent, dass es sich laut vorläufigem Obduktionsbericht um einen Unfall oder Suizid handelt. Auch die laufenden Ermittlungen hätten nichts davon Abweichendes ergeben. Mehr könne er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.
Eine Wortmeldung von einem Glatzkopf in der zweiten Reihe: »Hauptkommissar Schulze, stimmt es, dass auf der Party am Unglücksabend bei Nelie Hendriks mehrere Politiker zugegen waren?«
»Wer ist das?«, flüstert Clara zu Elfi.
»Hermann Messner von der Kölnischen Rundschau. Alter Hase.«
Schulze runzelt die Stirn. »Davon ist uns nichts bekannt, Herr Messner.«
»Stimmt es, dass Drogen gefunden wurden?«
»Dazu darf ich wegen der laufenden Ermittlungen nichts sagen.«
»Ermitteln Sie auch in Richtung Mord?«
»Aber ich bitte Sie, Mord …« Schulze sieht Hilfe suchend zu Eschweg.
Der greift zum Mikrofon. »Wie gesagt, wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass es sich um ein Unglück oder um Suizid handelt. Nelie Hendriks hatte Krebs.«
Ein Raunen geht durch den Saal.
»Sobald wir neue Erkenntnisse haben, werden wir diese selbstverständlich mit Ihnen teilen. Mehr gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen. Einen schönen Tag noch.« Eschweg beendet die Pressekonferenz trotz einiger gehobener Arme. Allgemeines Stühlerücken. Ein großer, massiger Mann mit Glatze geht an Clara vorbei. Er hinkt leicht und mustert sie abschätzig. Wo hat sie ihn bloß schon mal gesehen? Ach ja, das war der Mann, der in Schulzes Büro geplatzt ist. »Weißt du, wer das ist?«, fragt sie Elfi, die sich strategisch mitten im Gang positioniert hat, um Eschweg abzufangen.
»Bin nicht sicher, ob ich den schon mal gesehen habe, auf jeden Fall ist er nicht wichtig, sonst wüsste ich seinen Namen.«
Johan Peters kommt direkt auf Clara zu. Er sieht müde aus. Und ist noch bleicher als bei ihrem Treffen in Nelies Wohnung. »Was für eine sinnfreie Veranstaltung. Sie hätten auf der Bühne stehen sollen statt dieser beiden … Langweiler. Wann sehen wir uns, Frau Kommissar?«
»Wie wäre morgen um elf auf dem Revier?«
Johan verzieht die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. »Auf dem Revier? Wie wäre es morgen Abend in der Schumann-Klause?«
»Um elf auf dem Revier!« Clara dreht sich abrupt weg und hört, wie Johan Peters lacht. Sie ärgert sich, weil sie so albern reagiert hat. Warum soll sie sich eigentlich nicht mit ihm treffen am Abend? Es ist ja rein dienstlich.
Elfi hat in der Zwischenzeit Fritz von Eschweg abgefangen und redet wild gestikulierend auf ihn ein. Er verzieht keine Miene.
»Frings, los, zurück auf die Dienststelle, Sie werden hier nicht fürs Herumstehen bezahlt«, poltert Schulze. »Und machen Sie Druck in der Gerichtsmedizin. Wir brauchen so schnell wie möglich den endgültigen Bericht, damit dieses Affentheater ein Ende hat.«
»Ich kümmere mich sofort.« Doch vorher will Clara noch einen Weg finden, die Kassette abzuhören. Gott sei Dank hat sie zu Hans Hassenauer von der Kriminaltechnik seit einem Betrugsfall vor zwei Jahren ein gutes Verhältnis.
Als sie die schwere Eisentür zu Hans’ Büro öffnet, hat sie das Gefühl, vor lauter Rauchschwaden kaum Luft zu bekommen. Er und seine Kollegen sitzen in einem fensterlosen, verrauchten Raum in den Katakomben im Keller, und aus dem Kassettenrekorder schallt Mireille Mathieu.
»Oh, hoher Besuch!« Hans Hassenauer ist um die sechzig und hat im Krieg ein Bein verloren, wofür er im nüchternen Zustand Hitler und im betrunkenen die Franzosen verantwortlich macht. Was meistens ab dem frühen Nachmittag der Fall ist, da er die Schmerzen im Beinstumpf mit Schnaps betäubt. Dann läuft auch keine Musik von Mireille Mathieu mehr. »Schätzchen, was kann ich für dich tun?«
»Hast du irgendein Gerät, mit dem ich das anhören kann?«
Hans nimmt die Kassette in seine riesige Hand und mustert sie mit gerunzelter Stirn. »Wo hast du die denn her?«
»Bei einer Hausdurchsuchung gefunden.«
»Hm. Bei einem russischen Spion, oder was?« Er dreht sie mehrmals hin und her und begutachtet sie von allen Seiten. »Das ist ein sowjetisches Modell. Damit solltest du eigentlich ins Innenministerium gehen.«
»Bitte guck doch mal. Es wäre wichtig.«
»Okay, lass mich mal nachsehen, was sich in meiner Schatzkammer so findet.«
Aus einer seiner Schreibtischschubladen zieht er mehrere Geräte. In die ersten drei passt die Kassette nicht, doch bei der vierten hat er Glück.
Sie ist begeistert und schenkt ihm ihr schönstes Lächeln. »Tausend Dank! Ich bring es dir morgen wieder, okay?«
»Lass dir Zeit. Übermorgen reicht auch noch. Aber mich würde wirklich interessieren, wo du die herhast.«
»Ich erzähl es dir, wenn ich es abgehört habe. Versprochen!«
Clara überlegt kurz, wo sie dies ungestört tun kann. Ihr fällt die Damentoilette im Keller ein. Da in der Polizeitechnik nur Männer arbeiten, ist die Gefahr gering, dass sie gestört wird. Sie schließt sich in einer der beiden Kabinen ein und drückt den Startknopf. Nichts. Nur Rauschen. Sie spult ein Stück vor. Immer noch nichts. Und noch eins … Gerade als Clara ausschalten will, hört sie lautes Knacken. Und dann leise Jazzmusik und eine weibliche Stimme.
»Morgen um zwölf bringst du mir das Geld zurück«, sagt die Stimme, die einen leicht singenden Akzent hat. Englisch oder holländisch, das könnte Nelie sein.
»Schätzchen, beruhige dich. Oh, lass mich nur kurz deine Brüste anfassen, bitte. Du kriegst dein Geld wieder, die Hälfte kann ich dir schon morgen geben.«
»Du hältst mich jetzt seit Wochen hin, meine Geduld ist am Ende. Ich will mein Geld morgen, den ganzen Betrag. Sonst, mein Lieber, werde ich eine Story über dich schreiben, die du nicht überleben wirst.«
»Das kannst du nicht machen, Nelie. Denn das würdest du auch nicht überleben!«
Ihre Stimme klingt wütend: »Du drohst mir nicht! Das Geld ist morgen bei mir!«
Man hört, wie eine Tür zuschlägt, im Hintergrund spielt weiter Jazzmusik. Dann nichts mehr.
Clara überkommt das Gefühl, einer großen Sache auf der Spur zu sein. Wer zum Teufel ist der Mann auf dem Band? Einer jedenfalls, der ein Motiv hatte, Nelie zu ermorden. Und Nelie? Klingt sie so, als hätte sie vor, Selbstmord zu begehen? Claras Hände zittern, als sie das Band zurückspult. Sie muss mehr über die Partygäste herausfinden! Und sie muss ihrem Chef dieses Band vorspielen!
»Du sollst sofort zu Schulze! Wo bist du denn gewesen?« Ihr Kollege Max Donner wirkt genervt.
»Wie war deine Demo im Hofgarten?«
»Seltsam. So um die fünfzig Gestalten, und die wirkten eigentlich ganz normal. Ein paar Frauen waren auch dabei. Einige trugen Masken. Wollten wohl nicht erkannt werden, es waren ja auch Journalisten da. Außerdem jede Menge Polizei. Und Gaffer natürlich. Aber alles blieb friedlich und freundlich. Wenn du mich fragst – reine Zeitverschwendung.«
»Und was will Schulze von mir?«
»Als ob er mir das sagen würde. Husch, husch, Mäuschen, beeil dich.«
Clara wirft dem Kollegen einen bösen Blick zu, sagt jedoch nichts und geht in Schulzes Büro.
Er ist sichtlich nicht in bester Laune. »Gibt’s was Neues aus der Gerichtsmedizin?«
»Nein, ich ruf da gleich an. Ich habe aber etwas anderes.« Clara streckt Schulze den Kassettenrekorder hin.
»Was ist das?«
»Bei der Durchsuchung von Nelie Hendriks’ Wohnung habe ich eine kleine Kassette gefunden. Die habe ich jetzt abgehört. Und stellen Sie sich vor: Es ist ein sowjetisches Modell.«
»Warum weiß ich von alldem nichts?«, fragt Schulze scharf.
»Ich dachte, weil wir ja sowieso von Selbstmord ausgehen, dass …«
»Nicht denken, Mädchen. Das geht bei Frauen meistens schief. Halten Sie sich an die Regeln. Und an meine Ansagen. Punkt. Also, was ist da drauf?«
»Hören Sie bitte selbst.« Clara drückt auf den Startknopf.
Schulze ahnt schon nach den ersten Worten, dass das, was er da hört, die Ermittlungen in eine unschöne Richtung lenken könnte. Er ist sich sicher, die Männerstimme schon mal gehört zu haben, nur wo? Er will den Fall so schnell wie möglich abschließen, denn er spürt in seinen Eingeweiden, dass man hier nicht tiefer graben sollte. Andererseits: Das Band beweist noch lange nicht, dass die Hendriks ermordet wurde. Erst einmal die Kirche im Dorf lassen.
»Meinen Sie, dieser Mann könnte Nelie getötet haben?«, fragt Clara.
Schulze atmet zischend durch die Zähne ein. »Sie sind doch Polizistin, Mädchen. Da arbeitet man nicht mit Mutmaßungen, sondern mit knallharten Fakten und Beweisen. Das müssten Sie mittlerweile gelernt haben.«
Clara ärgert sich, dass sie gefragt hat. »Entschuldigung. Aber der hätte ein klares Motiv, oder nicht?«
Schulze wiegt sein massiges Haupt. »Kann sein, kann aber auch nicht sein. Zuerst müssen wir herausfinden, zu wem diese Stimme gehört. Und dann werden wir ein Gespräch mit ihm führen. Ganz sachlich, ist das klar, Frings? Vorher muss ich mich mit Eschweg kurzschließen. Der entscheidet, wie wir weiter vorgehen. Und Sie rufen jetzt gefälligst in der Gerichtsmedizin an und blasen dieser Tante den Marsch.«
Clara ist natürlich weit davon entfernt, der Gerichtsmedizinerin den Marsch zu blasen, sondern fragt demütig an. Karen Breuer verspricht ihr den endgültigen Untersuchungsbericht für übermorgen. Schulze wird toben, denkt Clara. Dann greift sie entschlossen erneut zum Hörer, ruft Johan Peters an und verabredet sich mit ihm in der Schumann-Klause für den nächsten Abend. Er klingt keineswegs überrascht und meint, dass er sich freue. Clara ärgert sich bereits wieder über ihre spontane Aktion und legt abrupt auf.
Als sie die Haustür öffnet, duftet es nach Essen. Für eine Sekunde ist sie irritiert, doch dann fällt ihr ein, dass Schwiegermutter Else auf der Durchreise zu ihrer Schwester für zwei Nächte zu Besuch ist. Bestimmt kocht sie gerade Hajos geliebte Kohlrouladen.
»Da bist du ja endlich, Clara.« Else hat sich eine Küchenschürze umgebunden. Sie ist groß und hager und hat ihr graues Haar zu einem strengen Dutt gebunden. »Ich dachte, du wolltest kürzertreten. Wegen Elisabeth!«
»Schön, dass du da bist. Weißt du, Elisabeth ist höchstens eine Stunde alleine, die Schule geht bis vier«, verteidigt sich Clara.