Hüter des alten Wissens - Marielu Lörler - E-Book

Hüter des alten Wissens E-Book

Marielu Lörler

3,9

Beschreibung

Am Beginn eines neuen Zeitalters ist das traditionelle Wissen der Schamanen und Medizinmänner für uns wertvoller denn je: Verbindet es uns doch mit jener uns ursprünglich innewohnenden Weisheit und Selbstheilungskraft, wodurch wir wieder in der Lage sind, die ursprüngliche Balance zwischen Seele und Körper herzustellen. Zahlreiche Anregungen, Impulse und Übungen ermutigen den Leser, seine Mitte zu finden und ganzheitliche Harmonie und Heilung zu erfahren.

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MARIELU LÖRLER

HÜTER DES ALTEN WISSENS

SCHAMANISCHES HEILEN IM MEDIZINRAD

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

© 2000 Schirner Verlag, Darmstadt

ISBN 978-3-8434-6114-6

Alle Rechte vorbehalten

1. E-Book-Auflage 2015

Umschlag: Murat Karaçay, Schirner Illustrationen: Andreas Kloker

INHALT

Vorwort zur 3. Neuauflage

Vorwort

Wesen und Geschichte des Schamanismus

Was ist ein Schamane?

Berufungsweisen zum Schamanentum

Das Erlangen der schamanischen Fähigkeiten

Schamanismus und kosmisches Weltbild

Die Aufgaben eines Schamanen

Schamanische Heilsitzung

Der Schamane als Künstler

Schamanismus bei unseren Vorfahren

Schamanisches Wirken bei den Kelten

Schamanisches Wirken bei den Germanen

Magier, Zauberer, Heiler, Medizinmänner, Hexer

Die Botschaft der Schamanen für die Wassermannzeit

Diener der Erde

Die Hopis und ihre Prophezeiung

Das Rad der Offenbarung

Die Schöpfungsgeschichte der Ur-Religion

Das Medizinrad

Die Heiligen 20 Zahlen

Die Kraft der Sonne

Die Kraft der Erde

Das Reich der Pflanzen

Das Reich der Tiere

Das Reich der Menschen

Das Reich der Ahnen

Das Reich der Träume

Die Kraft der Großen Gesetze

Die Kraft der Bewegung

Die Kraft des Höheren Selbst

Die Reiche der Höheren kosmischen Wesen

Die Farben des Medizinrades

Das magische Arbeiten im Kraftplatz

Das Medizinrad in einem Raum

Das Reinigen und Weihen des Ortes

Das Auflegen der Heiligen Richtungen

Der Kraftplatz im Medizinrad

Meditationsübungen

Das fest gebaute Medizinrad in der Natur

Das Auffinden des persönlichen Kraftplatzes in der Natur

Das Anrufen der Kräfte

Die Kreismitte – das Kindesfeuer

Die vier Schilde des Menschen

Der Südschild

Der Ostschild

Der Nordschild

Der Westschild

Das praktische Arbeiten mit den vier Schilden

Die vier Schilde im Alltag

Das Arbeiten mit den vier Schilden im Medizinrad

Das Arbeiten mit den vier Schilden in der Natur

Die Wahrnehmung der vier Schilde durch vier Personen

Die Vier-Schilde-Übung am Baum

Die zehn Energiezentren oder Chakras des Menschen

Das 1. Chakra – das Sonnenrad

Das 2. Chakra – das Erdrad

Das 3. Chakra – das Pflanzenrad

Das 4. Chakra – das Tierrad

Das 5. Chakra – das Menschenrad

Das 6. Chakra – das Ahnenrad

Das 7. Chakra – das Traumrad

Das 8. Chakra – das Karmarad

Das 9. Chakra – die Aura

Das 10. Chakra – unser Höheres Selbst

Praktisches Arbeiten mit den Chakras

Das Aufwecken der Chakras

Atemübungen für die ersten sieben Chakras

Die Töne oder das Wachsingen der Chakras

Farbmeditation

Krankheit und Heilung

Magisches Heilen im Medizinrad

Die Ergänzung der einzelnen Chakras zur Heiligen 20

Die Heilkraft der Kristalle

Die drei Verbündeten des Menschen

Der Steinverbündete – der erste und älteste Verwandte des Menschen

Steinmeditation

Kristalle als Verbündete

Der Pflanzenverbündete – der zweite Verwandte des Menschen

Der Tierverbündete – der dritte Verwandte des Menschen

Die Reise in die Welt der Tiere

Das Kraftlied

Gemeinsame Arbeit mit dem Tierverbündeten: die Kraftübertragung

Der Medizinschild

Trommel und Rassel – zwei weitere Verbündete des Menschen

Das Herbeitrommeln der Heiligen Kräfte im Medizinrad

Der Gesetzeskreis

Die Verteilung und Bedeutung der acht Plätze

Heilweg Ritual

Reinigungs- und Balancierungsrituale

Die Spirale

Das Ritual der Spirale

Die Schwitzhütte – das Ritual von Tod und Wiedergeburt

Rituale der vier Elemente

Das Feuerritual

Das Erdritual

Das Wasserritual

Das Luftritual

Das Morgen- und das Abendritual

Das Morgenritual

Das Abendritual

Das Vollmondritual

Das Geburtstagsritual – Visionssuche zu Beginn eines neuen Lebensjahres

Das tägliche Leben, ein Ritual

Die acht Jahresfeste oder Sonnenfeste der Erde

21. Dezember – Das Fest des Südens

4. Februar – Das Fest des Südostens

21. März – Das Fest des Ostens

6. Mai – Das Fest des Nordostens

21. Juni – Das Fest des Nordens

8. August – Das Fest des Nordwestens

23. September – Das Fest des Westens

8. November – Das Fest des Südwestens

An den Geist des Buches

Nachwort – 30 Jahre später

Literaturverzeichnis

Für alle meine Ahnen und Verwandten

Danke an alle Menschen, die mir helfend und inspirierend bei der Geburt dieses Buches zur Seite standen.

VORWORTzur 3. Neuauflage

Heute, am Tag der Wiedergeburt des Lichtes, kurz vor dem Beginn eines neuen Jahrtausends, inspiriert mich diese Kraft zu einem neuen Vorwort meines ersten Buches, das ich 1984 auf einer kleinen Insel geschrieben habe. Die Geschichte dieses Buches, das nun neu gedruckt in Ihren Händen liegt, ist so wunderbar, dass ich sie hier mitteilen möchte: Von Kindheit an war in mir ein tiefes Sehnen nach echter Lehre, etwas, das mir half, mein Leben und meinen Zusammenhang mit der ganzen Schöpfung tiefer zu verstehen. Weder Schule, Philosophie- und Psychologiestudium noch die traditionellen Religionen konnten meinen Drang nach Weisheit stillen. Jedoch der Einbruch einer angeblich unheilbaren Krankheit schloss mir Tor für Tor auf. Dabei kam ich in Berührung mit meiner eigenen Kraft, die sich mir offenbarte als ein Kreis. Kurz danach erkannte ich das »Medizinrad«, das sich mir im Außen wie im Innern mit immer tiefer eindringender Macht öffnete. Dieses Lernen war einzigartig und oft wie ein Sich-Erinnern. Damals, 1984, kam die Einladung, ein Buch über das Medizinrad zu schreiben, für mich völlig unerwartet. Ich war gerade dabei, Deutschland wieder einmal zu verlassen, um fernab von jeglicher Zivilisation einen Steinkreis zu bauen, in dem ich ein Jahr lang leben und lernen wollte. Kurz vor meiner Abreise willigte ich ein, da ich erkannte, dass es die Kraft, die sich hinter dem Wort »Medizinrad« verbirgt, selbst war, die mich schlicht als Diener suchte, um sich mitzuteilen. Bislang war das Medizinrad Geheimwissen der Indianer Nordamerikas. Sie hatten seit Jahrtausenden den Auftrag, dieses Wissen zu bewahren und zu leben. Nachdem nun die Indianer begannen, von kollektiven Visionen inspiriert, die Lehre des Rades zu verbreiten, entstand bei vielen Menschen der Eindruck, es sei eine indianische Lehre. Sehr oft gestaltete sich daraus eine etwas unrühmliche Indianerromantik anstatt persönliches Erwachen und kreatives Mitarbeiten am Heilungsprozess des unnatürlich gewordenen Lebens. Ich selbst stand zu derr Zeit, als ich das Buch schrieb, auch unter dem Einfluss dieser indianischen Befangenheit, konnte aber trotzdem schon den universellen Charakter des Medizinrades hervorheben. Von daher möchte ich dieses Buch nicht neu überarbeiten, es ist in sich rund und für viele Menschen sicher ein gutes Fundament, sich der Natur – der eigenen als auch der äußeren – anzunähern.

Im Laufe der 16 vergangenen Jahre lehrte ich immer mehr diese allumfassende Gültigkeit des Rades, eine Kraft, die alle Menschen, alle Kulturen, verstehen, da sie zurückgeht auf eine Zeit, die universell war. Schließlich ging es mir auch nicht mehr so sehr um das Wissen, sondern um die Weisheit des Medizinrades. Sapientia, das lateinische Wort für Weisheit, kommt von sapere, d. h. schmecken. Weisheit hat also so etwas direktes wie das Ein-ver-leiben einer Kraft, das Zusammenschmelzen von Zwei zu Einem: Ich, die ich wissen oder verstehen möchte, werde ergriffen von der Kraft, bin nicht mehr getrennt von ihr, sondern eins. Als das Rad mir diese Medizin offenbarte, verwandelte sich meine Arbeit in meiner Naturheilpraxis und in meinen Seminaren von Grund auf:

Alles sammelte sich mehr um das Öffnen des Inneren Rades, um das direkte Wahr-Nehmen der Schöpfung, die gleich dem Kreis, ohne Anfang und Ende, zentriert, ins Zentrum, ins Wesentliche führt. Und darin er-löst sich alles Fragen und Suchen, der Mensch kehrt heim, seine Natur hat ihn wieder zu sich geholt … und er ist befähigt, sich selbst immer wieder in dieser Einheit auszubalancieren. In dieser direkten Betroffenheit offenbart sich die Medizin der Meditation! Meditation ist nie Wissen, ist immer Weisheit, die undefinierbar und unbenennbar ist. Daher ist es auch fast nicht möglich, über Weisheit zu schreiben! Sie kann nur wahrgenommen werden, jeden Augen-Blick neu! Und deshalb schweigt der Weise!

Im Laufe dieser Jahre bekam ich immer wieder einmal die Rechte an dem Buch zurück; oft war ich fast froh darüber, weil auch ich mich geistig weiterentwickelte. Doch immer wieder hat jemand das Buch wiederentdeckt und neu herausgebracht. So wurde es in Holland und in Amerika veröffentlicht, hier in Deutschland von einer Freundin privat neu aufgelegt und Ihnen heute schließlich vom Schirner Verlag präsentiert. So lehne ich mich zurück und gestatte dieser Eigendynamik des Medizinrad-Buches sich weiterzubewegen!

Wer sich von den Lesern ernsthaft interessiert, die Medizin des Rades jenseits von Worten zu »schmecken«, den möchte ich gerne einladen nach »Monte do Silencio«, einem Kraftort im südlichen Portugal, der ganz dafür da ist. Informationsbroschüre und aktuelles Programm können jederzeit angefordert werden – Adresse siehe letzte Seite des Buches.

Oft nenne ich das Medizinrad »die Universelle Harmonielehre«. Übersetzt bedeutet dies: die Verbindung des Menschen mit dem Universum. Harmonie heißt Verbindung, und Religion kommt von religio (lat. Rück-Bindung). Die natürliche Religion ist also unsere Verbindung zum All, das All-Ein(s)-Sein, eben die Liebe! Somit erinnert uns die Praxis des Rades an die natürliche Liebesfähigkeit, die in jedem Lebewesen »Mensch« vorhanden ist und hilft, uns allen selbst »Medizin« zu sein für alles, was Liebe braucht.

Ich danke den bewegenden Kräften, die dazu beigetragen haben, dieses Buch mithilfe des Schirner Verlages neu zu veröffentlichen und bin gerne bereit, für jedes Echo dazusein!

Planet Erde, Wintersonnwende 1999

VORWORT

Mit diesem Buch will ich keine wissenschaftliche oder anthropologische Arbeit über das Thema Schamanismus vorlegen, darüber ist viel geschrieben worden. Ich gehe vielmehr davon aus, dass seit den letzten Jahren verstärkt eine Bewegung begonnen hat, in der sich die Hüter des Alten Wissens, weithin als Schamanen und Medizinmänner bekannt, von Visionen inspiriert, aufmachten, ihr Land zu verlassen, um zu uns, ihren Weißen Brüdern, zu kommen. Ihr Kommen ist nicht zufällig, der Zeitpunkt ist innerhalb des allem zugrunde liegenden Schöpfungsplans sinnvoll gewählt. Es ist der Beginn des Wassermannzeitalters, nachdem die Sonne mehr als 2000 Jahre unter dem Sternzeichen der Fische gewirkt hat. Mit dem Auftauchen des Wassermanns und dem Versinken der Fische stehen wir heute an einer Zeitenwende. Noch ist offen, wie der Kampf endet: Siegt die von vielen prophezeite Katastrophe oder entwickelt sich eine neue Dimension des Bewusstseins? Die Entscheidung liegt im Willen und Wollen der Menschheit selbst und in einer uralten, für uns aber erst jüngst wiedergeborenen Sichtweise: Dem holistischen Weltbild vom Menschen und seiner Stellung im Ganzen. Wir stehen heute inmitten der Geburtswehen eines neuen Zeitalters. Die Geburt des wassermännischen Geistkindes kann nur dann heil und glücklich erfolgen, wenn sich das Alte Wissen mit dem unsrigen intellektuellen vermählt. Wenn Ideologien, Dogmen, Sekten … ihre Schleier fallen lassen und der Mensch in direkter, lebendiger Erfahrung zu seiner Ur-Religion zurückfindet. Die Schamanen und der Weiße Bruder sind heute gemeinsame Brückenbauer eines neuen – kosmischen – Menschenbildes, das kraft seines Geistes Anteil hat am Großen Geist, dem Göttlichen, und damit zum schöpferischen Mitarbeiter des Universums wird. Die Schamanen, die jetzt zu uns gekommen sind, wussten, dass nun die Zeit des Austausches und des Verstehens verschiedenster Kulturen angebrochen ist. Alle Menschen, die hören wollen, können das Sinnbild erfassen, nicht mehr mit dem rationalistisch ausgerichteten Denken, sondern mit dem Denken vom Herzen, welches die einzig wahre Kommunikation aller Völker ist. Vieles können wir von den Schamanen lernen: Den Blick fürs Ganze, das Erwecken unserer Instinkte und unserer intuitiven Kräfte, die wahre Kraft des Denkens, den Zugang zum Urquell, von dem wir unsere Visionen empfangen. Sie können uns lehren, unseren persönlichen Platz innerhalb des Ganzen zu finden und die damit verbundene Aufgabe, der Heilung der Erde, zu erkennen. Von uns, ihren Weißen Brüdern, können die Schamanen lernen, wie man durch Einbeziehung des Intellekts intuitiv Erkanntes begrifflich auf das Ursprüngliche hin ordnen und dem Bewusstsein Struktur geben kann. Die Botschaft der Schamanen ist keine Aufforderung an uns, zurückzugehen in vergangene Epochen der Weltgeschichte auf der Suche nach den Lebensweisen der damaligen Menschen. Vielmehr lautet sie, den Blick ganz (!) dem Gegenwärtigen zuzuwenden und den Ort unseres persönlichen Zentrums, unserer Wesensmitte, zu entdecken. Es gilt, nicht mehr auf den Erlöser zu warten, sondern die Erlösung selbst in die Hand zu nehmen. Die Neue Zeit verlangt Arbeit, besser Mitarbeit, von jedem Einzelnen; es ist die Arbeit für das Ganze, die Arbeit für das Gleichgewicht allen Lebens, die Arbeit für den Frieden und für die Heilung unseres Planeten. Jeder von uns wird in dieser Zeit ermuntert, sein Talent dafür sinnvoll einzusetzen, wobei der Sinn sich immer da zeigen wird, wo der Einzelne seine Verknüpfung mit dem Ganzen erkennt. Das für unsere westliche Kultur so charakteristische Nehmen und Ausschöpfen der Erde müssen wir selbst wieder in Balance bringen. Dies können wir nur, wenn wir uns das Getrenntsein von unserem wahren Ursprung bewusst machen und uns mit dieser schöpferischen Urquelle wieder verbinden, denn wer sich an ihrem Wasser labt, erfährt die Kraft der Inspiration. Hier geschieht durch persönliche Verbindung zum göttlichen Geist die individuelle Taufe zum wahren Wassermann. Und dort schließt jeder auf schamanische Weise seinen Bund mit den Kräften des Kosmos, indem jeder für sich lernt, sein eigenes Schicksal zu lesen und seiner Gesetzmäßigkeit zu folgen. Aus dieser Quelle kann jeder das schöpfen, was er als Einzelner der Erde zu ihrer Heilung und Verschönerung zurückgeben will. Das Geben eines jeden von uns ist das übergeordnete Thema, das die Menschen zusammenführt und an dem sie erfinderisch und freudig ihre persönliche Aufgabe entdecken werden oder, wie es bei den Schamanen heißt, »ihren Traum wachtanzen, ihn vom Himmel auf die Erde bringen«. Das Karrierestreben und den Missbrauch von Macht für Eigennutz oder Unterdrückung, beides Gesellen von Einsamkeit und Unmenschlichkeit, können wir verwandeln zu wahrer Meisterschaft und Freundschaft, wenn sich jeder bewusst im Sinnzusammenhang mit dem Ganzen weiß. – Nur von dort aus wird jeder zum Förderer des eigenen Talents und dem der anderen.

Und hier begegnen wir der Absicht dieses Buches: Im wassermännischen Sinn gesprochen will es ein freundschaftlicher Begleiter sein, der, natürlich immer nur in der Begrenztheit eines Buches, das mehr als 45 000 Jahre alte Wissen des Heiligen Kreises teilen möchte, das uns erst heute durch seine Hüter und Bewahrer, die nordamerikanischen Indianer, wieder offenbart wurde: das Medizinrad.

Mein persönlicher Wunsch ist, die vier Wege des Rades mit Ihnen gemeinsam für die Zeitspanne dieses Buches zu begehen, sie Ihnen offenzulegen, soweit dies möglich ist. Ich will Ihnen Anregungen, Impulse, praktische Übungen vermitteln, die Sie ermutigen sollen, Ihre eigene Fantasie aufzuwecken, um Ihre eigene Medizin zu finden, die Sie dem Ganzen geben können. Dieses Buch will den Kreis öffnen, das Wissen hinaustragen, es öffentlich machen, denn es ist nicht für speziell Auserwählte bestimmt. Deshalb habe ich auch versucht, es so zu schreiben, dass zu seinem Verständnis esoterische Kenntnisse nicht notwendig sind. Damit der Begriff »Schamanismus« etwas anschaulicher und lebendiger wird, habe ich in Kapitel I seine Geschichte und seine Inhalte kurz zusammengefasst, um dann mit Kapitel II, der eigentlichen Botschaft der Schamanen für die Gegenwart, an der geschichtlichen Kette anzuknüpfen. Das Zentrum des Buches ist Kapitel III. Hier baue ich das Medizinrad auf, erkläre seine Struktur, die vier Heiligen Richtungen, die vier Zwischenrichtungen, die Offenbarung der Ganzheit in den Heiligen 20 Zahlen. Alle praktischen Übungen, die immer wieder das Theoretische mit dem konkreten Lernen im Tun verknüpfen wollen, basieren auf der Grundstruktur des Medizinrades, das ich schlicht als wassermännisches Handwerkszeug bezeichnen möchte.

Wir alle sind Lehrlinge, die in sich den Born des wahren Meisters tragen auf dem Weg der Visionssuche, der jeden Einzelnen in Medizinmann oder Medizinfrau verwandelt.

In der Hoffnung, durch mein Teilen alle Leser teilhaben lassen zu können an einer starken Medizin, in Liebe zu den Menschen

Marielu Lörler

WESEN UND GESCHICHTE DES SCHAMANISMUS

WAS IST EIN SCHAMANE?

Schamane, Medizinmann, Heiler, Zauberer, Magier, Hexer – es gibt viele Bezeichnungen, und in wissenschaftlichen Arbeiten über diese Themen finden wir klare und weniger klare Definitionen. Wie schon erwähnt, will dieses Buch aber nicht streng wissenschaftlich vorgehen. Doch um den Kern ihrer Lebensphilosophie verstehen zu können, müssen wir uns einigen, wer diese Menschen sind, um an ihrem Gedankengut teilhaben zu können. Deshalb soll an dieser Stelle das wesentliche Merkmal ihrer Unterscheidung, insbesondere hinsichtlich ihrer Aufgabe, dargestellt werden und kein anthropologischer Exkurs über die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen.

Am meisten interessiert uns der Begriff des »Schamanen«, da er der ursprünglichste und umfassendste ist. Das Wort »Schamane« kommt aus dem ostsibirischen Raum, einem Gebiet, wo der Schamanismus am stärksten ausgeprägt war, und wo vielleicht sogar sein Ursprung liegt. Übersetzt in unsere Sprache heißt Schamane »sich anheizen, verbrennen, mit Hitze oder Feuer arbeiten«. In diesen Ausdrücken finden wir auch gleich das wesentliche Merkmal eines Schamanen. Er ist Meister der Energie, des Feuers als Medium der Verwandlung. Er erkennt, dass alles Leben der Erde hinter dem materiellen Gewand ein energetisches trägt, mit dem es im wechselseitigen Austausch mit der Anderen Welt, der unsichtbaren, der geistigen Welt, in Verbindung steht. In den Begriffen »Energie, Hitze, Feuer, Brennen« spiegelt sich die Erfahrung eines Schamanen wider, die er tatsächlich erlebt, wenn er in der Anderen Welt weilt und dort den Geistern, Göttern oder dem Höchsten Wesen begegnet. Die charakteristische Fähigkeit eines Schamanen ist sein wirklicher Zugang und Kontakt mit den Wesen der Anderen Welt, mit den Wesen des Himmels. Die Berührung mit dieser Welt erlebt er als magischen Flug, als Ekstase, mit der Einsicht in die ursprüngliche Einheit von Himmel und Erde, von Gott und Mensch. Er wird somit zum Mitwisser der Schöpfung und zum wichtigsten Vermittler der beiden Welten innerhalb seiner Lebensgemeinschaft, für deren harmonisches Fortbestehen er den Willen der Götter als allein maßgebenden bekunden konnte. Auf seinen magisch-ekstatischen Reisen in außerirdische Gefilde wird er eingeweiht in das allen Kulturen der Frühgeschichte bekannte Leitmotiv des Mysteriums von Tod und Wiedergeburt, das er konkret am eigenen Leibe nachvollzieht. Er erlebt dieses Geheimnis in der Transformation vom Physischen ins Seelische. Der Schamane kann willentlich seinen Körper vorübergehend verlassen und ins Reich der Seelen gelangen, da er selbst ganz zur Seele wird. Mircea Eliade, ein Mann, der sich fast sein ganzes Leben mit Schamanismus beschäftigte, beschreibt die Ekstasefähigkeit des Schamanen als Urphänomen, da es, unabhängig vom geschichtlichen Wandel und von Zivilisationsformen, ein Bestandteil der menschlichen Verfassung sei; es war der gesamten archaischen oder primitiven Menschheit bekannt. Aus der ekstatischen Erfahrung, die der Schamane im tatsächlichen (wenn auch nur vorübergehenden) Sterben erfährt, entspringt sein Wissen über die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz der Anderen Welt mit all ihren Wesen. Zu dieser Fähigkeit war der Schamane privilegiert. Als Auserwählter, der Zutritt ins Reich der Götter hatte, wurde er von seiner Gemeinschaft verehrt, und seine Weisungen wurden als Stimme der Götter befolgt.

BERUFUNGSWEISEN ZUM SCHAMANENTUM

unzählige Beispiele von Naturvölkern zeigen, dass der Schamane auf spezielle Weise zu seinem Beruf gefunden hat. Man darf daher auch treffender von »Berufung« sprechen, von einer göttlichen Auserwählung. Wie aber äußert sich diese für den künftigen Schamanen? Oft geschieht der Wink durch eine schwere Krankheit, die dem Erkrankten schließlich als Heilungsweg die Botschaft übermittelt, alles hinzulegen und den Weg des Schamanen zu gehen. Eine andere Berufungsweise ist die einer plötzlichen Vision, in der dem Berufenen ein Geistwesen erscheint (meist ein Geist seiner Ahnen oder eines verstorbenen Schamanen) und ihm den Auftrag zum Schamanisieren gibt. Auch im Traum, in dem die Kandidaten bisweilen ihren ganzen Lehrlingsweg bis hin zum Einweihungsritual tranceartig miterleben, erfahren sie ihren Ruf. Wieder andere werden von einem Blitz getroffen, der sie nicht tötet, nur ihre bisherige persönliche Geschichte auslöscht, und sie schlagartig ihre eigentliche Aufgabe erkennen lässt. Es gibt auch Beispiele für die erbliche Weitergabe des Schamanenguts, das über Jahrhunderte hinweg innerhalb einer Familie bleiben kann.

DAS ERLANGEN DER SCHAMANISCHEN FÄHIGKEITEN

In der Tradition des Schamanismus zeigen sich zwei Lehrwege, die dem Schamanen beim Erwerb seiner Kräfte begegnen können: Zum einen wird der Kandidat im Erlebnis der Ekstase zu Geistwesen hingeführt, die ihn meist sein Leben lang als Lehrer und besondere Schutz- oder Hilfsgeister begleiten. Es sind seine Verbündeten, die ihm schrittweise die Andere Welt eröffnen. Der andere Weg führt über eine Lehrzeit bei einem erfahrenen Schamanen. Bei allen Naturvölkern der Erde kristallisieren sich auf dem Weg zum Erwerb schamanischer Fähigkeiten gemeinsame Grundmuster heraus, die entscheidende Stufen der schamanischen Lehrzeit darstellen und vom Schüler gemeistert werden müssen, um schließlich selbst der ekstatische Meister zu werden.

Eine der wesentlichsten Etappen ist die Erfahrung des eigenen Todes und die daraus erfolgende Wiedergeburt, in der der Novize die Erneuerung seiner Person erlebt, die nie mehr zur alten werden kann. Der eigentliche Eintritt in seine wahre Berufung beginnt damit. In diesem Erlebnis überschreitet er zum ersten Mal die Grenzen seiner irdischen Existenz und gelangt zu seinem göttlichen Ursprung. Aus den Erlebnisberichten künftiger Schamanen wissen wir, dass sie den Durchbruch in die Andere Welt als tatsächlich gemachte Reise erleben, die sie als Seele ohne ihren Körper antreten. Sie sind schwerelos und haben die Fähigkeit zu fliegen, verstehen die Sprache der Tiere, Pflanzen und Steine, begegnen anderen Seelen …

Hören wir hier den Bericht eines avam-samojedischen Schamanen aus Sibirien über die Erlebnisse seiner Einweihungsreise*:

Dieser (der Schamanenanwärter) bekam die Pocken und war drei Tage bewusstlos, fast tot, sodass man ihn beinahe am dritten Tag begraben hätte. Während dieser Zeit fand seine Initiation statt. Er erinnerte sich, dass er mitten auf einen See getragen wurde. Dort hörte er Stimmen der Krankheit (also der Pocken) zu ihm sprechen: »Du erhältst von den Herren des Wassers die Gabe zu schamanisieren. Dein Schamanenname ist huottarie (Taucher).« Darauf wühlte die Krankheit das Wasser des Sees auf. Er stieg aus dem Wasser und kletterte einen Berg hinan. Dort begegnete er einer nackten Frau und begann, an ihrer Brust zu saugen. Die Frau, wahrscheinlich die Herrin des Wassers, sagte zu ihm: »Du bist mein Kind, darum lasse ich dich meine Brust saugen. Du wirst vielen Schwierigkeiten begegnen und es sehr schwer haben.« Der Gatte der Herrin des Wassers, der Herr der Unterwelt, gab ihm nun zwei Führer, ein Hermelin und eine Maus, die ihn in die Unterwelt führten. Als sie auf einem hochgelegenen Ort angekommen waren, zeigten seine Führer ihm sieben Zelte mit zerrissenen Dächern. Er trat in das erste ein und traf dort die Bewohner der Unterwelt und die Männer der großen Krankheit (der Pocken). Diese rissen ihm das Herz heraus und warfen es in einen Kochtopf. In den anderen Zelten lernte er den Herrn des Wahnsinns kennen und die Herren aller Nervenkrankheiten, auch derjenigen der bösen Schamanen. Auf diese Weise lernte er die verschiedenen Krankheiten kennen, welche die Menschen quälen. Darauf kam der Kandidat, immer hinter seinen Führern, in das Land der Schamaninnen, welche ihm Kehle und Stimme kräftigten. Von dort wurde er zu den Ufern der Neun Seen getragen. In der Mitte eines dieser Seen fand er eine Insel, und in der Mitte der Insel erhob sich eine junge Birke bis zum Himmel. Das war der Baum des Herrn der Erde. In seiner Nähe wuchsen neun Kräuter, die Ahnen von allen Pflanzen der Erde. Der Baum war von Seen umgeben, und in jedem See schwamm eine Vogelart mit den zugehörigen Jungen; da gab es verschiedene Arten von Enten, einen Schwan, einen Sperber. Der Kandidat besuchte alle diese Seen; einige davon waren salzig, andere wieder so heiß, dass er sich ihrem Ufer nicht nähern konnte. Als er damit fertig war, hob der Kandidat den Kopf und gewahrte im Wipfel des Baumes Menschen aus mehreren Nationen: Tavgy-Samojeden, Russen, Dolganen, Jakuten und Tungusen. Er hörte Stimmen: »Es ist beschlossen worden, dass du ein Tamburin (das heißt einen Trommelstock) aus den Ästen dieses Baumes bekommen sollst«, worauf der Kandidat mit den Seevögeln fortflog. Als er sich vom Ufer entfernte, rief ihm der Herr des Baumes zu: »Mein Ast ist eben heruntergefallen, nimm ihn und mach dir daraus eine Trommel, sie soll dir dein Leben lang dienen.« Der Zweig hatte drei Gabelungen, und der Herr des Baumes befahl ihm, sich drei Trommeln zu machen, die von drei Frauen bewacht werden mussten, jede Trommel für eine spezielle Zeremonie; eine zum Schamanisieren bei den Wöchnerinnen, die zweite für die Heilung der Kranken und die letzte zur Auffindung der im Schnee Verirrten. Ebenso gab der Herr des Baumes auch allen anderen Männern im Baumwipfel einen Ast. Dann aber stieg er in Menschengestalt bis zur Brust aus dem Baum hervor und rief: »Einen einzigen Ast gebe ich den Schamanen nicht, sondern behalte ihn für die übrigen Menschen. Sie dürfen sich aus diesem Ast Wohnungen machen und ihn auch sonst verwenden. Ich bin der Baum, der allen Menschen das Leben gibt.« Der Kandidat drückte den Ast an sich und wollte eben seinen Flug wieder aufnehmen, als er von Neuem eine menschliche Stimme hörte, die ihm die medizinischen Kräfte der sieben Pflanzen kundtat und Anweisungen für die Kunst des Schamanisierens gab. Doch müsse er drei Frauen heiraten (was er übrigens auch tat; er heiratete drei Waisen, die er von den Pocken geheilt hatte).

Darauf kam er an einen unendlich großen See und fand dort Bäume und sieben Steine. Diese Steine sprachen der Reihe nach mit ihm. Der erste hatte Zähne wie ein Bär und eine Höhlung in der Form eines Korbes und eröffnete ihm, dass er der Stein der Erdpressung sei; er beschwere mit seinem Gewicht die Felder, damit sie nicht vom Wind davongetragen würden. Der zweite diente zum Schmelzen des Eisens. Er blieb sieben Tage bei den Steinen und lernte so, wozu sie den Menschen dienen konnten.

Die beiden Führer, die Maus und das Hermelin, führten ihn nun auf ein hohes, rundes Gebirge. Er sah eine Öffnung vor sich und drang in eine leuchtende Höhle ein; sie war mit Spiegelglas ausgekleidet und in der Mitte war etwas, das wie ein Feuer aussah. Er bemerkte zwei nackte, aber mit Haaren bedeckte Frauen wie Rentiere, und er sah, dass keines von den Feuern brannte, sondern dass das Licht von oben durch eine Öffnung hereinkam. Eine von den beiden Frauen teilte ihm mit, dass sie schwanger sei und zwei Rentiere zur Welt bringen werde; das eine werde das Opfertier der Dolganen und Evenken, das andere der Tavgy sein. Sie gab ihm noch ein Haar, das ihm von Wert sein werde, wenn er für die Rentiere zu schamanisieren habe. Die andere Frau brachte ebenfalls zwei Rentiere zur Welt, Symbole der Tiere, die dem Menschen bei der Arbeit helfen und ihm auch zur Nahrung dienen sollten. Die Höhle hatte zwei Öffnungen, eine nach Norden, eine nach Süden; zu jeder schickten die Frauen ein junges Rentier hinaus, das den Waldleuten (den Dolganen und Evenken) helfen sollte. Auch die zweite Frau gab ihm ein Haar; wenn er schamanisiere, wende er sich im Geist nach dieser Höhle. Nun kam der Kandidat in eine Wüste und sah in weiter Ferne ein Gebirge. Nach dreitägigem Marsch war er dort angelangt, drang durch eine Öffnung ein und begegnete einem nackten Mann, der mit einem Blasebalg arbeitete. Über dem Feuer befand sich ein Kessel »so groß wie die halbe Erde«. Der Nackte erblickte den Novizen und ergriff ihn mit einer riesigen Zange; der konnte gerade noch denken: »Ich bin tot!« Der Mann schnitt ihm den Kopf ab, teilte seinen Körper in kleine Stücke, warf alles in den Kessel und kochte den Körper darin drei Jahre lang. Dort waren auch drei Ambosse, und der Nackte schmiedete seinen Kopf auf dem dritten, auf dem die besten Schamanen geschmiedet wurden. Dann warf er den Kopf in einen von den drei Töpfen, die dort standen, in dem das Wasser am kältesten war. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er Folgendes: Wenn er zu jemandem gerufen wurde, um ihn zu heilen, und das Wasser sei sehr heiß, dann sei es nutzlos zu schamanisieren, denn der Mensch sei schon verloren; bei lauwarmem Wasser sei er krank, werde aber gesunden, und das kalte Wasser sei das Kennzeichen für einen gesunden Menschen.

Der Schmied fischte nun seine Gebeine auf, die in einem Fluss schwammen, setzte sie zusammen und bedeckte sie mit Fleisch. Er zählte sie und teilte ihm mit, er habe drei Stück zuviel, er müsse sich also drei Schamanenkostüme verschaffen. Er schmiedete seinen Kopf und zeigte ihm, wie man die Buchstaben darin lesen kann. Er wechselte ihm die Augen aus, deshalb sieht er, wenn er schamanisiert, nicht mit seinen fleischlichen Augen, sondern mit diesen mystischen. Er durchstach ihm die Ohren und setzte ihn damit in den Stand, die Sprache der Pflanzen zu verstehen. Darauf fand sich der Kandidat auf dem Gipfel eines Berges und erwachte endlich in seiner Jurte bei den Seinen. Jetzt kann er singen und schamanisieren ohne Ende, ohne jemals müde zu werden.

Hier endet der Bericht. Aus allen Schilderungen der Einweihungen geht hervor, auf welch spezielle Weise dem Schamanennovizen sein persönlicher Heilbereich zugewiesen wird; die mythischen und religiösen Symbole ähneln sich jedoch auf verblüffende Weise. So findet jeder seine eigenen Verbündeten, seine Hilfs- oder Schutzgeister, die ihm die Einheit allen Lebens zeigen und ihm immer zur Seite stehen. Dadurch, dass dem Schamanenanwärter im obigen Bericht sein altes Leben genommen wurde, seine gewohnte Wahrnehmungsweise starb und er neu zusammengesetzt wurde – wiedergeboren mit mystischen Sinnesorganen –, wurde er eins mit allen Wesen, vor allem den Naturkräften, deren Sprache er nun verstand. Bezeichnend ist auch immer der neue Name, den der Novize erhält, der ihn an die Erneuerung seiner selbst und seine neue Aufgabe erinnern soll, und die Zaubergegenstände, die er von den Helfern überreicht bekommt, die für sein Leben lang wichtige Antennen zur unsichtbaren Welt bleiben, wenn er sie gerecht, das heißt für Heilzwecke anwendet. Diese Gegenstände nennt man Kraftgegenstände. Als Symbol der Kraft setzt sie der Schamane bei seinen rituellen Zeremonien ein, wobei er damit in die verschiedenen Bereiche, die diese Symbole darstellen, eindringen kann und von ihren Geistern Hilfe und Rat bekommt, ohne die er niemals heilen könnte. Erstaunlich ist, dass in den verschiedensten Kulturen das Schamanenzubehör oder Medizinbündel fast immer die gleichen Dinge enthält: Trommel, Rassel, Feder, Kräuter, die Heilige Pfeife, Tabak, Kristalle, Steine, Tiermasken, Felle, Häute, Knochen, Muscheln, Spiegel, Münzen und ein Zeremoniengewand. Alles sind rituelle Instrumente mit verschiedenen Funktionen für Heilsitzungen.

Eine andere Lernweise, die den Novizen Zugang zu den magischen Kräften gewährt, ist die Erfahrung in der Einsamkeit, draußen in der Natur, die meist von Fasten und anderen persönlichen Opfern begleitet ist. Bei den nordamerikanischen Indianerstämmen nennt man diese Übung »Visionssuche«. Man fleht um eine Vision, um seine »Medizin«, man bittet die Naturkräfte um Zeichen. Ein alter Huichol-Indianer aus den Hochebenen Mexikos erzählte auf dem Schamanentreffen von seiner Visionssuche, die ich hier in meinen Worten wiedergeben will: Er verbrachte drei Monate auf einem hohen Berg. Während dieser Zeit fastete er, sah keinen Menschen, sprach mit niemandem außer dem Feuer, das er die ganzen Tage und Nächte über in Brand hielt. Er betete zum Geist dieses Elements, erzählte ihm seine Träume und wandte sich mit allen Fragen im Vertrauen an ihn. Nach und nach verstand er, was das Feuer ihn lehrte. All seine inneren Zweifel und Ängste spiegelten sich in Wesen wider, die ihm nachts erschienen, ihn versuchten, quälten und hart prüften. Doch er hielt stand, und am Ende des dritten Monats offenbarte ihm der Geist des Feuers seine Medizin. Ein Funke wuchs aus den Flammen hervor und traf ihn auf der Stirn zwischen den Augen, ohne ihn dabei zu verletzen. Vielmehr spürte er, wie er davon mit Kraft und Liebe erfüllt wurde. Das Feuer taufte ihn zum Schamanen, teilte ihm seine Aufgabe zu und schenkte ihm seine Medizin, die Kraft zur Heilung. Glücklich und gestärkt kehrte er in sein Dorf zurück, wo er heute noch als mächtiger Schamane wirkt.

Das Lernen in der Natur durch geduldiges, erwartungsfreies Beobachten, durch Übung im instinkthaften Wahrnehmen gleich einem Tier, diese Hingabefähigkeit ist ein notwendiges Muss für viele Schamanenlehrlinge. Ihre Sinnesorgane müssen sensibilisiert werden, um die verschiedenen Strömungen und Schwingungen der Erde erkennen und schließlich die unsichtbare Welt und ihre Wesen sehen zu können. Bei manchen Völkern wird das Lernen in der Natur durch rituelles Rauchen halluzinogener Kräuter unterstützt oder durch die Einnahme bestimmter Getränke oder Pilze, die eine rauschartige Wirkung erzeugen. Auf diesen Reisen erscheint dem Schüler dann der Geist des magischen Krautes und unterrichtet ihn in der Pflanzenheilkunst – vorausgesetzt, dies ist jener Bereich der Heilkunst, der ihm zugewiesen wird.

Wichtig ist letztlich die innere Einstellung des Lernenden. Jeder Tag bedeutet erneutes Lernen, solange er auf Erden lebt.

SCHAMANISMUS UND KOSMISCHES WELTBILD

Wie wir bereits gehört haben, besteht die Besonderheit des Schamanen darin, dass er bereits auf Erden Zugang in die Andere Welt hat. Kraft seines Willens kann er ganz in die für den Normalsterblichen unsichtbare Welt übergehen, ohne dabei Schaden zu erleiden – wie es bei den »Wahnsinnigen« und »Verrückten« unserer Gesellschaft der Fall ist, die zwar die Gabe besitzen, die Andere Welt zu erreichen, diesen Ausflug jedoch nicht mehr mit dem Irdischen zu koppeln vermögen. Ein Schamane kommt nicht »verrückt« von seinen Reisen zurück auf die Erde, denn er besitzt den Code, seine überirdischen Erfahrungen zu dechiffrieren, ihren Symbolcharakter aufzuschlüsseln und sie wirklich werden zu lassen, wie es seine Aufgabe, für das Wohl und Heil seiner Gesellschaft zu sorgen, verlangt. Er ist innerhalb seines Stammes der Auserwählte, aus dessen Stimme die Stimme des Höchsten Wesens spricht. Im archaischen Schamanismus, also da, wo er uns in seiner Ursprünglichkeit begegnet, offenbart sich die Andere Welt als Ober- und Unterwelt, wobei die Oberwelt den Himmel und das Reich der Götter, und die Unterwelt das Reich der Toten, der Seelen, versinnbildlicht. Woher kam die Vorstellung, die Welt auf diese Weise einzuteilen?

In der mythischen oder vorgeschichtlichen Zeit, als der Mensch noch keinen Kalender ersonnen hatte, erhob man den Blick zum Himmel mit seinen Gestirnen. Hier standen die Großen Gesetze der universellen Bewegung geschrieben, hier demonstrierte der Lauf von Sonne und Mond dem Aufblickenden die Kreisläufe des Lebens und Sterbens, aus dem wieder Leben geboren wird, das wieder sterben muss und sich unendlich auf diese Weise fortbewegt, getragen von einer Gesetzmäßigkeit, der alles, was ist, unterliegt. Und die Menschen, die die Zeichen, die Sprache der Gestirne verstanden, erkannten, dass sich Oberes im Unteren spiegelt und umgekehrt. So fand man die Verbindung von der Erde zum Himmel und von der Erde in die Tiefe, und als Sinnbild diente der Weltenbaum, die Mittelachse der Erde, die Sonnenwendachse mit ihren beiden Polen, der Sommersonnenwende und Wintersonnenwende, dem höchsten und tiefsten Stand der Sonne, ihrem Sterben und Wiedergeborenwerden. Die Öffnung zum Himmel war der Polarstern, um den herum die anderen Sterne stehen. In der Alten Zeit wurde jeder Ort, der den Zugang oder Eintritt überirdischer Wesen gewährte, als Zentrum der Erde bezeichnet. Daraus ergab sich auch die Gleichsetzung des Weltenbaumes mit dem Mittelpunkt der Welt und die Heiligung des Baumes. In jedem Baum sahen die Menschen die Verbindung des Irdischen mit dem Göttlichen, da er dies auf anschaulichste Weise ausdrückt durch seine Wurzeln, die in die Tiefe des Dunkels dringen, ihm festen Halt in der Erde verleihen, und durch seine Krone, die im sich ausbreitenden Geäst dem Licht zustrebt! Der Alte Mensch konnte sich diesem Wissen des Baumes noch vertrauensvoll öffnen; für den Schamanen war er der wichtigste Ort, da er ihm zum Durchbruch ins Reich der Götter und ins Reich der Seelen verhalf. Ähnliches Gedankengut finden wir im Mythos vom Lebensbaum des Paradiesgartens, der zum Todesbaum wird, als der Mensch aus der unmittelbaren Einheit mit dem Göttlichen herausfällt und die Erkenntnis der Getrenntheit, der Gegensätzlichkeit gewinnt. Für den Schamanen besteht noch der ursprüngliche paradiesische Zustand: Der Weltenbaum ist der Lebensbaum, der nie versiegende Quell, aus dem die Idee der Schöpfung sich ihm in ihrer Helligkeit (Ganzheit, Vollendung) kundtut, ihn teilhaben lässt durch die Gabe der Inspiration. Deshalb sitzen bei vielen Naturvölkern die Schamanen heute noch in den Wipfeln von Bäumen, wo sie tranceartig im Reich der Götter und Seelen weilen, wo sie Unterweisung bekommen und ihnen oft Einblick in die Zukunft gestattet wird.

Die schamanische Reise in die Unterwelt, ins Reich der Verstorbenen, erfolgte über die Öffnung des Weltenbaumes nach unten, ins Dunkel des Erdreichs. Dazu diente meist ein großes Astloch oder ein Brunnen oder eine Quelle, die fast immer zu einem Heiligen Baum gehörten. Die Erlebnisse der Schamanen berichten ausführlich über ihre Durchquerungen eines großen Wassers, die von allerlei Ungetier behindert werden. Die Reise ins Reich der Toten hat immer etwas Gefährliches an sich, dem nur ein wissender Schamane widerstehen kann. Im ursprünglichen Schamanismus waren die Abstiege in die Unterwelt fast ausschließlich für die Heilung einer kranken Seele vonnöten – heute werden sie von vielen Schamanen noch praktiziert, wenn es um die Suche nach der Wurzel einer Krankheit geht.

DIE AUFGABEN EINES SCHAMANEN

Warum wurde und wird dem Schamanen so große Bedeutung zugemessen? Vergötterte man ihn nur, weil er zu magischen Kunststücken fähig war, weil er in den Augen der anderen wahre Wunder vollbrachte? Nein, dies können nur äußerliche Betrachtungen sein, die am Wesentlichen vorbeigehen. Ein Schamane genießt allein deshalb derart viel Achtung und Ansehen vonseiten seiner Stammesmitglieder, weil er absolut notwendig ist für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Er war nicht nur der Zauberer, der aus allen herausragte; seine Funktion war eingebettet in ein Geflecht von Anforderungen, die das Leben einer Gemeinschaft an jemanden stellt, der im Besitz magischer Kräfte ist. Dadurch war der Schamane zugleich geschützt: Durch seine überirdischen Kräfte nimmt er eine Machtposition ein, die ihn an die Spitze seines Stammes stellt und die er auch missbrauchen könnte. Dieser Gefahr des Machtmissbrauchs muss sich jeder Schamane sein Leben lang stellen, er ist dagegen nie völlig gefeit und muss sich hinsichtlich der Verantwortung seines Tuns immer wieder aufs Neue prüfen. Deshalb muss er auch bei seiner Einweihung zum Schamanen einen öffentlichen Vertrag schließen, worin er beeidet, sich nur dann zum Schamanisieren zu begeben, wenn es der Gemeinschaft oder dem einzelnen Anliegen förderlich ist.

Betrachten wir nun die Aufgaben eines Schamanen, seine »Dienstleistungen« für den Stamm. In ihm sind eine ganze Reihe von Berufen integriert, die vom Priester, Arzt, Psychologen, Zeremonienmeister, Wettermacher, Wahrsager, Astronomen und Astrologen bis hin zum Künstler reichen. Alle diese Berufe lassen sich unter dem Begriff »Heiler« zusammenfassen, wenn wir im Wort »heilen« den Sinnzusammenhang von heilen – heilig – ganz machen erkennen (siehe dazu: whole – holy – heal im Englischen). In all seinen Funktionen geht es nur um das Heilen, um den Überblick, um das Wissen der Zusammenschau, das heißt die Relation des Einzelnen zum Ganzen. Der Ausgangspunkt jeder schamanischen Handlung ist somit, ein Problem bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen und die Heilung oder Lösung desselben dann in der Wiederverbindung zum Ganzen, zum kosmischen Gesetz, zum Schicksal zu finden.

Bei den Naturvölkern versteht man Krankheit oder sonst ein hereinbrechendes Unheil, das dem Menschen widerfährt, immer als ein Zeichen, dass mit seiner Seele etwas nicht mehr stimmig ist. Wichtig ist auch der Gedanke der Eigenverantwortung und des Schuldigseins an der Entstehung einer Krankheit. Dem Schamanen oblag nun die Aufgabe, das bestehende Ungleichgewicht aufzuschlüsseln, sodass die Seele des Kranken wieder in Harmonie mit seinem Körper und seinem Geist leben kann, ein Zustand, den wir mit dem Wort »Gesundheit« bezeichnen. Er erklärt dem Hilfesuchenden, dass die Krankheit, an der er leidet, eine große Chance für ihn sein kann, wenn er sich bemüht, ihre Botschaft zu entziffern, da sie ihm nur zeigt, dass er sich auf einem Irrweg befindet, der in Wahrheit mit seiner Schicksalsbestimmung nichts zu tun hat. Die Krankheit führt ihm nur vor, was mit ihm geschehen ist, stellt sie doch, physisch gesehen, immer einen Vorgang dar, der, losgelöst vom Gesamtgefüge des Organismus, seinen Eigenwillen durchsetzt zum Schaden des Ganzen. Der Schamane als Heiler hilft dem Kranken, seine Beziehung zum Ganzen wiederzugewinnen, was in erster Linie auf religiöser oder spiritueller Ebene geschieht, auf der aber Körper und Seele miteinbezogen sind. Er hilft dem Kranken so weit, als er Hindernisse freilegt, die die Sichtweise zum Ganzen versperren. Die eigentliche Heilarbeit beginnt dann beim Kranken selbst, denn durch diese »Vorarbeit« ist nun sein eigener »innerer Heiler« aufgeweckt, mit dessen Hilfe er die Botschaft seiner Krankheit erfahren und sie schließlich in Gesundheit verwandeln kann, wenn er den Inhalt dieser Botschaft ernst nimmt und damit seinen Weg wiederfindet.

Aus den vielen Berichten über schamanische Heilsitzungen können wir erkennen, dass nie der Körper für sich genommen im Mittelpunkt der Heilung steht, sondern immer in Verwobenheit mit dem Seelischen und Geistigen beziehungsweise Religiösen gesehen wird und daher für jeden Kranken eine nur ihm persönlich angemessene Medizin gefunden werden muss. Es gibt hier kein Magengeschwür, das allgemein durch dies oder jenes Mittel geheilt werden kann. Psycho-Somatik (Seele und Körper), eine Sichtweise, die auf dem Gebiet unserer heutigen Medizin langsam lebendig wird und von der rein körperlichen Klassifizierung der Krankheiten und der damit verbundenen bloßen Symptombehandlung abkommt und sich dem ineinandergreifenden Zusammenhang von körperlichen und seelischen Kräften öffnet, muss für einen Schamanen immer noch als Rückschritt gelten, denn es fehlt die dritte Komponente des Menschen, sein Geist, seine Spiritualität, die Anknüpfungsstelle seines Geistes an den Großen Geist des Universums.

SCHAMANISCHE HEILSITZUNG

Wenden wir uns nun dem äußeren Ablauf einer schamanischen Heilsitzung zu: Auch hier ist augenfällig, wie sich bei den unterschiedlichsten Schamanen aller Erdteile doch immer wieder gleiche Strukturen aufzeigen lassen, deren wesentlichste ich hier aufführen möchte:

Als Erstes wird der Ort, an dem die Heilung geschieht, geweiht und dadurch zu einem Heiligen Raum bestimmt. Dies geschieht durch Räuchern mit Kräutern oder durch Ziehen eines Kreises mit Mehl oder Tabak unter Anrufung der Heiligen Kräfte des Universums, wobei der Schamane sich, dem Lauf der Sonne folgend, zu den vier Himmelsrichtungen, zur Erde und zum Himmel wendet und um das Senden ihrer Kräfte an den Ort der Heilung bittet. Dadurch ist der Platz zu einem Kreis verwandelt, der in sich die Ganzheit des Universums trägt, die für schamanisches Heilen unbedingt notwendig ist. Als zweites Merkmal fällt die Anwesenheit der Angehörigen des Kranken auf. Die Angehörigen, die das soziale Umfeld des Kranken darstellen, müssen notwendigerweise in den Heilungsprozess einbezogen werden, da hier oft ein großer Teil der Krankheitsursache gefunden wird. Als Nächstes schreitet der Schamane zur Anrufung seiner Hilfs- und Schutzgeister. Dazu dienen ihm Trommel und monotone Lieder, die ihm verhelfen, in die geistige Welt einzudringen und in direkten Kontakt mit den unsichtbaren Kräften zu kommen. Diese zeigen ihm dann die Wurzel des »Übels« und die heilbringende Medizin. Dabei kann der Schamane die Anweisung bekommen, mit bestimmten Gegenständen seines Medizinbündels, zum Beispiel der Feder oder einem Kristall, die symbolisch die Verwandlung des Kranken in Gesundes ausdrücken, an den Körper des Kranken zu gehen. Oft wird der Kranke gefragt, ob er wirklich bereit ist, sich von seiner Krankheit zu lösen, sie abzugeben, das heißt, sein Leben zu ändern.

Abschließend, wenn der Schamane den Überblick über alles gewonnen hat, entlässt er seine Hilfsgeister, bedankt sich für ihre Unterstützung und wendet sich dem Kranken und seinen Angehörigen zu. Nun erfolgen die Erklärungen und Verordnungen, die der Kranke (und oft die mitbeteiligten Angehörigen) für die nächste Zeit einhalten müssen. Als abschließendes Ritual wird von allen Beteiligten ein Dankesritus vollzogen.

Um das Thema der schamanischen Heilweise in seinem Kern zu verstehen, muss Folgendes beachtet werden: Der Schamane weiß, dass er alleine niemals die Heilung vollbringen kann. Nur dadurch, dass er – bildlich gesprochen – zu einem reinen Kanal für das Einströmen kosmischer Kräfte und damit zu ihrem Werkzeug wird, gelingt die Heilung.

Betrachten wir nun die weiteren Aufgaben des Schamanen. Seine Funktion als Wettermacher und Wahrsager spricht für sich, und wir wollen sie hier überspringen, um mehr auf die einzugehen, die für uns heute noch Relevanz haben, zum Beispiel sein Amt als Zeremonienmeister, dem die Leitung der Rituale und religiösen Feste innerhalb seiner Gemeinschaft obliegt. Wie wir schon erwähnt haben, ist im Leben eines Naturvolks der Wille der Götter entscheidend. Den zu kennen und zu übermitteln ist auch eine Aufgabe des Schamanen. Um sich diesem Willen immer mehr anzunähern, ist es notwendig, ihn immer stärker wahrzunehmen. Dazu gibt es die Rituale und die Heiligen Feste, die nach genauen Anweisungen des Schamanen begangen werden. Im Ritual erfährt der Mensch Heilung, denn sie sind heilig (im Sinne von »ganz« ) und somit heilbringend für den Einzelnen wie auch für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Die Kraft eines Rituals liegt darin, dass es die Menschen zusammenbringt, sie unterschiedslos unter ein gemeinsames Thema führt, in dem der Einzelne aufgehoben wird und sich alle dem Quell des Lebens öffnen. Im Ritual erfährt jeder der Teilnehmer die Kommunikation mit dem Göttlichen, und daraus sprießt die Kraft der Erneuerung und des Zusammenhalts.

Auch als Kenner und Deuter der Gestirne wird der Schamane gebraucht. Alle alten Völker wussten, wie wichtig der Blick zum Himmel war, um im Einklang mit den himmlischen Gesetzen, dem göttlichen Plan, leben zu können. Für sie war es notwendig, mit ihrem Gestirn, mit ihrem Zeitgeist, in Verbindung zu stehen und seine ideellen Inhalte auf der Erde lebendig werden zu lassen. Deshalb brauchten sie Männer und Frauen, die kundig waren, diese Zeichen zu verstehen und zu interpretieren. Um den Begriff des Zeitgeistes besser zu beleuchten, sei hier ein kleiner Exkurs erlaubt zu kosmischen Vorgängen, die für lange Zeit nicht mehr beachtet wurden, aber in unserer Epoche wieder ans Licht getreten sind:

Dass die alten Völker nicht nur das kleine, zwölfmonatige Sonnenjahr kannten mit seinen vier Extremen oder Kardinalpunkten (Sommer- und Wintersonnenwende, Frühlings- und Herbsttagundnachtgleiche), sondern auch das große Sonnenjahr, das 25 920 Jahre dauert, bezeugen heute noch vorhandene Überlieferungen, wie zum Beispiel der Aztekenkalender oder das Sonnentor von Tiwanaku der Inkas. Diese weisen Astronomen errechneten, dass die Sonne in 25 920 Jahren einmal den ganzen Tierkreis durchläuft, wobei sie in jedem der zwölf Zeichen 2 160 Jahre verweilt, einen Weltenmonat lang. Sie wussten auch, dass jedem Zeichen, wenn es für mehr als 2 000 Jahre zum Haus der Sonne wird, entsprechend seinem Sinngehalt ein irdischer Niederschlag entspricht, den wir heute mit dem Begriff »Zeitgeist« beschreiben.

Im Weltenjahr mit seinen zwölf Weltenmonaten zeigt sich dem Menschen der göttliche Schöpfungsplan, in dem das universelle Wissen als Idee enthalten ist. Die Alten wussten, dass der Mensch Teil davon ist und es immer seine Aufgabe war, als dienendes Werkzeug auf Erden dem geistigen Plan Gestalt zu verleihen. Dieses Wissen wurde über Jahrtausende hinweg in den Heiligen Mysterien bewahrt und weitergetragen von Eingeweihtem zu Eingeweihtem, zu denen auch die Schamanen zählten. Der Lauf der Sonne durch die einzelnen Zeichen des Tierkreises offenbarte ihnen ein Wissen, das jede Kulturepoche gemäß ihrem Weltenmonat entwickelte und irdisch machte. Die Zeitenwende, das heißt der Übertritt der Sonne vom vorherigen Tierkreiszeichen ins nachfolgende, war immer eine Zeit der Krise, da es galt, Abschied vom Alten zu nehmen und mutig dem Neuen, dem Unbekannten, entgegenzutreten. Und wie die Sonne in die Mitte des Zeichens wieder vorrückt, so strebt auch die neue Kultur ihrem Höhepunkt zu, von dem sie, der Sonne folgend, wieder absinken muss, um dem von der Sonne neu bestrahlten Zeichen Platz zu machen. Die Schamanen der Alten Zeit konnten noch in die himmlische Sphäre ihres Gestirns eindringen. Sie waren vorbereitet auf die irdischen Geschehnisse, und ihr Wissen kam dem Leben ihres Volkes zugute, das sie als geistige Lenker immer wieder mit dem Gesetz ihres »besonnenen« Gestirns in Einklang bringen konnten.

DER SCHAMANE ALS KÜNSTLER

Aus den bisherigen Betrachtungen der verschiedenen Aufgaben eines Schamanen gelangen wir im Grunde zu dem, was das Wesen eines künstlerischen Menschen definiert. Denn der Künstler empfängt seine Inspiration aus dem Urquell des Göttlichen Geistes, in seinem Tun »erschafft« er, erfährt er sich selbst als Schöpfer. Sein Werk strahlt die Kraft des Ursprungs aus, die dann auch dem Betrachter den Zugang zu seinem eigenen künstlerischen Wesen öffnen kann, wenn er sich von dieser Kraft berühren lässt.

Der Schamane, ein Mensch mit all diesen künstlerischen Fähigkeiten, war und ist für seine Mitmenschen lebendiger Zeuge für die geistige Freiheit des Menschen, die sich nur entfalten und die Materie überflügeln kann, wenn sie den Zugang zum Ganzen ermöglicht. Der Schamane erinnert an die Unsterblichkeit der Seele, an das ewig kreisende Rad vom Werden und Vergehen, an das Gesetz der Großen Kreisläufe. Seine Fähigkeiten künden dem Menschen gleichsam seinen geistigen Zerfall, sein Verkümmertsein. Der Schamane belebt für uns Entwurzelte das urparadiesische Bild der Menschheit, wo alle einst in der All-Einheit lebten und nicht der Hilfe eines Schamanen bedurften. Aus ihm spricht die Weisheit, dass Tod und Leben das Gleiche sind.

SCHAMANISMUS BEI UNSEREN VORFAHREN

Vielleicht mag aus den bisherigen Ausführungen der Eindruck entstanden sein, das Phänomen des Schamanismus sei eine exotische Erscheinung, die es innerhalb unserer Breiten nicht gab. Dieser Irrtum rührt daher, dass das Wissen unserer Vorväter ins Dunkel geraten ist und mit Beginn des Christentums verboten wurde. Als intellektuelle Spezies der Menschheitsgeschichte, die sich aus den natürlichen Kreisläufen verrückt hat, spürt heute so mancher die Notwendigkeit, wieder ins Gleichgewicht mit den natürlichen Formen des Lebens zu kommen. Dazu ist es aber unerlässlich, an das Erbe unserer Vorväter weiter anzuknüpfen.

Versuchen wir nun, das Leben der Kelten und Germanen aus dem Wenigen, das uns überliefert ist, zu verfolgen, und richten wir unsere Aufmerksamkeit insbesondere auf die Lebensäußerungen, die, wie wir sehen werden, belegen, dass Schamanismus auch hier lebendig war.

Alleine schon die Bezeichnung »Kelten« und »Germanen« gibt einen Hinweis, der uns weiterhilft und unserem Forschen gleich eine eindeutige Richtung zeigt. Denn es handelt sich bei beiden Namen nicht nur um die Bezeichnung eines Volkes, sondern sie drücken einen geistigen Inhalt aus, unter dem sich mehrere Volksstämme zusammenfassten, die im Zuge der großen indoeuropäischen Einwanderung um das 4. Jahrhundert v. u. Z. nach Europa kamen.

Sprachuntersuchungen haben ergeben, dass sowohl im Wort »Kel« als auch im Wort »Ger« das Wort »Stab« enthalten ist. Kelten und Germanen waren also Stabträger! Was aber bedeutet das? Wir kennen den Stab als Attribut von Königen und Würdenträgern. Der Stab war im Altertum immer Zeichen der geistigen Vollreife. Durch den Stab spricht die Weisheit eines Menschen, der durch die Kraft seines Geistes an den Ewigen Geist angeschlossen ist und dementsprechend handelt und denkt. Der Stab versinnbildlicht auch die Sonnenwendachse, die bei den Kelten und Germanen eine wichtige Rolle spielte.

Der Kreislauf der Sonne war das große Vorbild für das irdische Leben. Dabei spielten die beiden Extreme, die Sommersonnenwende im Juni und die Wintersonnenwende im Dezember, eine besondere Rolle. Ihre Verbindungslinie ist die Sonnenwendachse. Den höchsten Stand der Sonne während ihres Jahresumlaufes feierten die Alten mit einem besonderen Ritual: dem »Hieros Gamos«, der Heiligen Hochzeit.