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In Huturm am See kreuzen sich in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts die Wege des Fürsten Feldenwerth-Tragans und des Wandergesellen Friedrich Guggemot. Die Nachwirkungen der Napoleonischen Kriege haben sie in diesen verlassenen Winkel gespült. Der eine will sein Schloss - ein säkularisiertes Kloster - in Besitz nehmen, der andere ist auf der Suche nach Arbeit; sie beide und ihre Nachkommen werden die Geschicke von Huturm über mehr als ein Jahrhundert prägen.
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Seitenzahl: 212
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Herbert Rosendorfer
Huturm
Huturm
Nachrichten aus der Tiefe der Provinz
Roman
TransferBibliothek CXV
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung für deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung über den Südtiroler Künstlerbund.
Umschlagmotiv: bpk (Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte) / Max Löhrich (1936)
© Folio Verlag Wien • Bozen 2012
Alle Rechte vorbehalten
Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Printed in Austria
ISBN 978-3-85256-598-9
eISBN 978-3-99037-032-2
www.folioverlag.com
Für Walter Obermaier
herzlich und in Freundschaft
Sie aßen halt dafür mehr von den Karpfen und Forellen, es gab ja genug damals, mehr als genug. Heute nicht mehr.
P. Sigisbert – er war damals schon der älteste Mönch im Stift. Traurig: nichts zu machen.
„Nichts zu machen?“
„Nichts zu machen.“
P. Sigisbert ging den langen, langen Flur hinunter, den grellweiß getünchten Flur. Schwarze Türrahmen, schwarze Türen, nur ein ganz großes schwarzes Kruzifix ungefähr in der Mitte des Flures, auf der anderen Seite, den Türen gegenüber, die lange Reihe von Fenstern, gingen auf den See hinaus, der heute grau war.
„Nichts zu machen“: das Wort rollte wie Staub durch den Flur.
Ein Commissarius war gekommen aus Wien. „Nichts zu machen. Das Kloster ist aufgehoben.“
„Mein Jesus Barmherzigkeit …“
„Ihr seid nicht die einzigen. Nicht das einzige Kloster.“
„Nichts zu machen?“
„Es gibt halt zu viele Klöster. Meint man.“
„Meint man?“
„Meint man.“
„Und der hochwürdigste Herr Bischof?“
„Muß selber froh sein, daß es ihn noch gibt.“
„Wie bitte?“
„Nichts, nichts. Der Bischof ist einverstanden. Der Papst auch. Nichts zu machen.“
Lange kein Wort.
Dann: „Wo sollen wir hin?“
„Werdet schon irgendwo unterschlupfen. Gibt’s genug, wo man einen Koprater oder Pfarrprovisor oder was braucht.“
„So. Ja. So.“
„Ist halt eine neue Zeit.“
P. Sigisbert war vierundachtzig Jahre alt, oder fünfundachtzig. Man wußte es nicht so genau, die Eintragung ins Taufregister damals: ungenau, verwischt, schwer zu lesen. Spielt ja auch keine Rolle ein Jahr hin oder her.
Er ging in den See. Er nahm heimlich die Monstranz nach der letzten Vesper und ging mit ihr in den See. Eine wertvolle Goldschmiedearbeit, mit Perlen und Edelsteinen besetzt, gestiftet von der Kaiserin Eleonore –
– ging damit in den See, wurde nie gefunden, tauchte nie auf, weder er noch die Monstranz.
Danach hat er sich wieder geduckt, na ja, hatte Weib und Kind und so fort. Aber in der Hauptstadt nicht mehr, in die Provinz hinausgeschlenzt, in die hinterste solche, nach Huturm am See, wo früher das Kloster war, dort soll er schreien, wieviel er will, die Bauernschädel verstehen es eh nicht, und der Fürst wird ja nicht grad dem Ratschlag des Lehrers Hahn folgend seine Jagdgenossen an die Laternen knüpfen, die es in Huturm auch gar nicht gibt, und auch nicht eventuell an die Bäume im Wald, von denen es genug gibt (und die alle, fast alle, neunzig Perzent, dem Fürsten gehören).
Also das Kloster war nicht, ist noch, aber nur das Gebäude, „die Gebäulichkeiten“, zum Teil frühromanisch, noch Fundamente vorhanden, auch gotische Teile und so fort. Vom Barock des verdienstvollen, kunstsinnigen Abtes Protasius II. Graspichler (1711–24) wurde schon gesprochen. Fresken von der Hand Damian Scherers d. J. oder zumindest Schule bzw. Umkreis D. Scherer d. J., war alles noch da, nur „ging nicht mehr“, wie eine Uhr, die stehengeblieben ist. Oder besser gesagt, eine Uhr, die man nicht mehr gebraucht hat, die vielleicht ständig nachgegangen ist und die man achtlos in eine Schublade geworfen hat. Wenn nicht gar: Hammer draufgeschlagen.
Die Kirche war jetzt Pfarrkirche, das Kloster Schloß, im ehemaligen Wirtschaftstrakt das Schulhaus, und dort unterrichtete der Lehrer Hahn und schrie zwar nicht mehr, aber solche Reden gab er schon von sich, von wegen: „Blutsauger, Bauernschinder, Geschwüre am Körper des Volkes.“
Aber der Fürst, sozusagen sein Nachbar, grüßte ihn doch freundlich. „Na, Hahn? Immer noch Revolutionär? Und sonst? Hat Ihr Sohn immer noch den Keuchhusten? Wissen Sie was, ich laß’ Ihnen ein Glas Honig hinüberschicken.“
„Dank’ schön und bestens, Herr Fürst.“ (Zu Durchlaucht konnte sich der Lehrer nicht bewegen. Das hätte ihm den Gaumen gespalten.) Er mußte, zum Beispiel seiner Frau gegenüber, zugeben, daß der Fürst ein recht umgänglicher Mensch war, mit einem redete wie – ja, wie ein Gewöhnlicher.
Aber:
„Blutsauger, Bauernschinder!“, haute nicht mit der Faust auf den Tisch, das nicht mehr, aber tupfte mit dem Zeigefinger neben das Bierglas.
„Aber Herr Lehrer, welchen Bauern schindet die Durchlaucht“, der Herr Pfarrer lachte, nahm einen Schluck. (Es war eher selten, daß der Lehrer in den Silbernen Hammel ging, durfte aber schon an dem Tisch im Erker Platz nehmen.)
„Heut’ nicht mehr, Herr Pfarrer“ (auch zu Hochwürden, wie man eigentlich und ordentlich sagte, sogar Durchlaucht sagten, konnte sich der Lehrer nicht finden; auch was er so über die Kirche im allgemeinen murmelte …), „aber früher. Die reinsten Raubritter.“
„Ja früher – früher! Früher ist nicht heute, Herr Lehrer.“
„Abszeß am Körper des Volkes.“
„Es ist eben so.“
„Leider.“
„Was heißt leider. Es ist eben die gottgewollte Ordnung. Es gibt ein Oben und ein Unten. So gebt dem Kaiser …“
„Ich weiß, Herr Pfarrer, Matthäus 22, 21 –“
(Ob auch der Pfarrer die Stelle so genau nach Kapitel und Vers zitieren hätte können?)
Wie dem auch sei: ursprünglich vom Rhein. Feldenwerth-Tragans oder so ähnlich. Herren von – später Freiherren von – noch später in den Grafenstand erhoben (durch den Kurfürsten von der Pfalz als Reichsvikar) –
Es fällt auf, wenn man – ist nicht uninteressant, ist zu empfehlen – den Gotha durchliest oder, nein, durchlesen kann man den nicht, genausowenig wie ein Telephonbuch, also: darin blättert, daß sehr viele adelige Häuser ihre Standeserhebung oder -verbesserung dem Reichsvikar, also einem der beiden jeweiligen Reichsvikare verdanken.
Der Leser weiß – nein, der Leser weiß nicht, jedenfalls nicht viele Leser wissen – der Kurfürst von der Pfalz / Pfalzgraf bei Rhein war in der Zeit nach dem Tod eines Kaisers bis zur Wahl des neuen der Reichsvikar, Vicarius Imperii, für, grob gesprochen, West- und Süddeutschland, der Kurfürst von Sachsen für den Rest.
Verzeihen die Abschweifung nebst Belehrung.
Hatten das Recht zu adeln, zu – neues Wort: standeserheben und wappenbessern. Sie machten offenbar sehr reichlich Gebrauch davon, adelten schnell ihre, der Lehrer Hahn würde sagen: „Spießgesellen“, Bastarde und Kebsweiberfrüchtchen, die zu adeln der Kaiser hohnlachend von sich gewiesen hätte –
Zurück zu den Feldenwerth-Traganses: Hatten sie eigentlich so große Verdienste für Kaiser und Reich aufzuweisen? Daß sie, salva venia, stockkatholisch waren und dem Hof-Jesuiten und Inquisiteur hineinkrochen in den – „Hahn! Ich bitte, vor den Kindern und überhaupt. Du bringst dich noch um die Lehrerstelle und uns an den Bettelstab.“
„Weil es doch wahr ist.“
„Weißt du immer, was wahr?“
Stifteten Klöster (was sie später nicht daran hinderte, ein anderes Kloster, wenn der Ausdruck – eigentlich angebracht – erlaubt ist: leichenzufleddern), sammelten Reliquien, „– der Stolz des Grafen Ferdinand Gaudenz war ein Blatt der Lilie, die der Erzengel Gabriel Maria bei der Verkündigung übergab –“
Ja, gut, und ab und zu ein Feldmarschall-Leutnant dabei, ein Landeshauptmann in Krain und der Windischen Mark, hätte alles für den Fürstenhut nicht ausgereicht, aber da die ganzen Liechtenstein und Windisch-Graetz und Auersperg rundherum plötzlich Fürsten waren, wenigstens primogeniturisch (die jüngeren Söhne blieben Grafen, aber immerhin), jammerte Graf Franz Maria Kaspar dem Kaiser so lang in die Ohren, bis er halt auch … „Bevor er noch öfter kommt und mir die Zeit stiehlt“, wird sich der Kaiser gedacht haben.
*
Aber dann der Napoleon. Der hat, wie nun wirklich der Leser, jeder Leser weiß, Europa gründlich aufgemischt, und da ist Fürst Ernst Gaudenz Maximilian, der Sohn jenes Franz Maria Kaspar, ins französische Lager hinübergeweht worden, also so halbwegs, das heißt ins bayrische, dazumalen noch mit i: bairische, dessen Kurfürst vom Napolium die Königskrone verpaßt worden war und er dafür, das wird man ja noch sagen dürfen –
„Weil’s wahr ist“, sagte Hahn.
„Da haben Sie allerdings recht, Herr Lehrer.“
– dem Kaiser und dem schon im Abdriften begriffenen Reich den „bleckerten Hintern hingehalten“, den bairischen, damit man ihn – Ihn, den Neukönig, „Kini“ auf bairisch – am … und so fort … kann.
So ist – so sind – Durchlaucht kgl. bair. Feldmarschall geworden, hat mit seinem Herrn, dem „Kini“, schnell, als dies opportun, die Front gewechselt, „Undank ist der Welten Lohn“, hat sich Napoleon gedacht, ist dem Kaiser, der aber inzwischen Anders-Kaiser war, sich selber von Franz II. zum Franz I. heruntergestuft hat (oder ist I. besser als II.? So wie bei der Eisenbahn?), wiederum in den … („Hahn, bitte! Vor den Kindern!“)
Es hat weder der Bairische seine schändlich erworbene Krone zurückgegeben noch der Fürst Ernst Gaudenz Maximilian das Kloster Huturm am See, das ihm vorher noch der Napoleon via König Max Joseph von Baiern geschenkt hat. („Es schenkt sich leicht etwas, was einem nicht gehört, Sire!“ Aber Napoleon war, so ist er halt einmal, in Gedanken sprunghaft bei was anderem.)
Ist dann irgendwie im großen Aufwasch abgesegnet worden: so die Krone, so das Kloster – nun Schloß, nachdem der Napoleon zwar nicht zum Teufel, aber zur heiligen Helena geblasen wurde. Das hat ihn wahrscheinlich auch nicht getröstet, daß diese heilige Helena eine Kaiserin war.
*
Das war aber noch vorher. Da fuhr der Fürst und Feldmarschall mit der Kutsche, vierspännig von drüben, von Westen her über Land und Berg und Stock und Stein nach Huturm, um sein neues Schloß nebst See und Wald zu besichtigen und sozusagen in Besitz zu nehmen. Vom Osten her kam nullspännig auf Schusters sogar ziemlich abgelaufenem Rappen ein gewisser Friedrich Guggemot daher und wurde an einer Wegkreuzung, das war schon nah am Huturmer See, vom fürstlichen Viergespann fast überfahren, weil er nicht schnell genug zur Seite gesprungen war.
Der fürstliche Lakai am Bock fluchte: „Verdammter Zigeuner, schau daß’d –“
Guggemot raffte sich wieder auf, blutete an der Stirn, hatte ein schlechtes Gewissen –
– hätte NB! der Lakai haben müssen, weil er geschlafen hat am Bock droben –
– hatte ein schlechtes Gewissen, was solche Leute wie er haben, weil sie überhaupt die Frechheit haben zu existieren. Aber der Fürst hatte seinen leutseligen Tag, schaute aus dem Fenster, dachte vielleicht wohlig, was für ein schönes Schloß er da jetzt dann sehen werde, was alles, alles ihm gehört, wahrscheinlich auch der Wald, durch den man eben fuhr, langte in seine mit goldenen Pfauen bestickte flaschengrüne Samtweste und reichte dem Landstreicher ein – sage und schreibe – Goldstück.
„Küß d’Hand, Euer Gnaden“, stammelte Guggemot.
„Schon gut, schon gut, komm’ er ins Schloß, soll dort verköstigt werden.“
Guggemot mit offenem Mund – der Lakai peitschte – die Pferde drückten den Rücken durch.
„– und ein Glas Wein soll auch dabei sein“, rief der Fürst frohgelaunt.
Nach einer guten Stunde kam Guggemot an den See. Da war eine halbmondförmige Bucht. Guggemot befühlte seine Stirn. Die Wunde blutete nicht mehr. Guggemot tunkte sein Schneuztuch in das Wasser und wischte das getrocknete Blut ab. Dann schaute er sich um: dort drüben lag das Dorf – oder Markt? Sogar vielleicht kleine Stadt? Die zwei Türme der Klosterkirche (ehemals, jetzt Schloßkirche, das wußte Guggemot selbstverständlich nicht) ragten in den Himmel. Rundum ein Rand aus ein paar Häusern.
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