I Am Fury - Emily Varga - E-Book

I Am Fury E-Book

Emily Varga

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Beschreibung

Eine Female Rage Revenge Romantasy 364 Tage. Schwertkämpferin Dania zählt die Tage, seit sie unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde. Seit sie verraten wurde. Seit ihre Gedanken nur noch um ein Ziel kreisen: Rache. Dieses Ziel – und die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen – hält sie aufrecht. Und dann ergibt sich dank einer Mitgefangenen endlich die Chance zur Flucht. Bewaffnet mit einem geheimen Vorrat an Dschinn-Magie und einer neuen Identität, setzt Dania einen Plan in Gang, um diejenigen zu Fall zu bringen, die sie und ihre Familie hintergangen haben. Doch Rache ist ein kompliziertes Spiel. Besonders wenn der Mann, an dem sie sich rächen will, immer noch ein Feuer in ihr entzündet … Eine pakistanisch-inspirierte Fantasywelt voll dunkler Dschinn-Magie. Eine mitreißende Liebesgeschichte voll widersprüchlicher Gefühle. Eine starke Heldin voller Identifikationspotenzial. «Für alle Romantasy-Fans, die nach einer Heldin wie Arya Stark suchen.» School Library Journal «Die Enemies-to-Lovers-Second-Chance-Romance meiner Träume!»Judy I. Lin, #1-New-York-Times-Bestsellerautorin «Intensive Kampfszenen, unvorhersehbare Magie und eine hitzige Liebesgeschichte.» Kirkus «A Love Letter to Angry Girls.» Vaishnavi Patel, New-York-Times-Bestsellerautorin

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Seitenzahl: 630

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Emily Varga

I Am Fury

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Nina Bellem

 

Über dieses Buch

Von dem Mann, den sie liebte, verraten.

Für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hat, verurteilt.

 

364 Tage. Schwertkämpferin Dania zählt die Tage, seit sie unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde. Seit sie verraten wurde. Seit ihre Gedanken nur noch um ein Ziel kreisen: Rache. Dieses Ziel – und die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen – hält sie aufrecht. Und dann ergibt sich dank einer Mitgefangenen endlich die Chance zur Flucht. Bewaffnet mit einem geheimen Vorrat an Dschinn-Magie und einer neuen Identität, setzt Dania einen Plan in Gang, um diejenigen zu Fall zu bringen, die sie und ihre Familie hintergangen haben. Doch Rache ist ein kompliziertes Spiel. Besonders wenn der Mann, an dem sie sich rächen will, immer noch ein Feuer in ihr entzündet …

 

Eine Female Rage Revenge Romantasy für alle, die manchmal auch am liebsten ein Schwert in die Hand nähmen.

Vita

Emily Varga hat schon überall auf der Welt gelebt, aber momentan nennt sie zusammen mit ihrer Familie die Rocky Mountains in Kanadas Westen ihr Zuhause. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als Anwältin für Familienrecht, ein Beruf, der ihr mehr übers Geschichtenerzählen beigebracht hat, als sie je vermutet hätte. «I Am Fury» ist ihr Debüt, eine Neuerzählung von «Der Graf von Monte Christo» in einer pakistanisch inspirierten Fantasywelt, und wurde in Amerika und England direkt nach Erscheinen zum Bestseller.

Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage (emilyvargabooks.com) und auf Instagram oder TikTok (@emilyvargabooks) zu finden.

 

Nina Bellem ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium zog es sie nach Korea und Hawaii, bevor es nach Berlin ging. In der großen Stadt machte sie es sich mit Mann und Reiseführern gemütlich und wechselte vom Agenturleben in die Freiberuflichkeit. Nachdem Berlin aber zu eng wurde, ging es mitsamt Mann und Reiseführern zurück ins schöne Ruhrgebiet, wo sie auch heute noch lebt.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «For She Is Wrath» bei Wednesday Books, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«For She Is Wrath» Copyright © 2024 by Emily Varga

Redaktion Hendrik Lambertus

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von St. Martin’s Press

Coverabbildung Flammen: Shutterstock

Illustration: Sam Hadley

Design: Kerri Resnick

ISBN 978-3-644-02336-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für meinen Vater, der Fantasy-Bücher liebte.

Ich wünschte, du hättest dieses Buch lesen können.

 

Und für meine Mutter, die mir den Glauben daran gab, dass ich meine Träume wahr machen kann. Danke, dass du immer für mich da warst.

Eins

Heute gab es günstiges Licht für eine Flucht.

Es fiel durch die Eisengitter – wie goldene Farbe, die über eine schmutzige Leinwand gespritzt wurde. Wenn ich mich weit genug streckte, konnte ich seine Wärme an meinen Fingern spüren. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir sogar vorstellen, dass ich draußen war, das Gesicht zur Sonne gewandt. Frei.

Aber das war ich nicht.

Stattdessen war ich eingeschlossen von bröckelndem grauen Granit und kalten Steinböden.

Wenn es nach der Kerkermeisterin ging, würde ich nie wieder die Sonne auf meinem Gesicht spüren.

Wenn.

Ich ergriff meinen Stein, den ich wochenlang zurechtgeschliffen hatte, und ritzte einen einzigen Strich in die Wand über meinem Kopf. Dreihundertvierundsechzig.

Ich war fast schon ein ganzes Jahr hier drin.

Ein Jahr war es her, dass ich andere Stimmen als die der Wächter gehört hatte, die mir jeden Abend den Eimer mit meinen Hinterlassenschaften abnahmen. Oder die Stimmen der anderen Gefangenen, die schluchzend über ihr Schicksal lamentierten. Nicht zu reden von den endlosen, schmerzhaften Verhören durch die Kerkermeisterin. Ein Jahr war es her, dass ich das Hammel-Karahi meiner Großmutter gekostet hatte, die Schärfe seiner Gewürze auf meiner Zunge gespürt hatte. Ein Jahr, seit ich meinen Vater das letzte Mal umarmt hatte. Ihm gesagt hatte, dass alles gut werden würde, dass ich nach Hause kommen würde.

Und wenn ich an den Jungen dachte, der mir all das gestohlen hatte, hätte ich am liebsten jeden einzelnen Stein eingerissen, der mich hier umgab, und ihn darunter begraben. Er sollte das erdrückende Gewicht spüren. Sollte die Schande spüren, die nicht meine hätte sein dürfen. Dreihundertvierundsechzig Tage der Wut, die beständig in meinen Adern brodelte.

Dreihundertvierundsechzig Tage des rastlosen Planens – für meine Flucht.

Ich prüfte den Stand der Sonne durch die Eisengitter und berechnete die Stunde – Mittag. Fast war es so weit! Meine Fingerspitze drückte gegen die scharfe Kante des Steins. Als sie die Haut durchschnitt und ein dünner Blutstropfen heraussickerte, atmete ich erleichtert auf. Alles war bereit.

Ich war bereit.

Wochen der Planung lagen hinter mir. Ich hatte die geflüsterten Gespräche der Wächter belauscht, hatte genau abgepasst, wann die Kerkermeisterin nicht hier sein würde. Jetzt war meine Chance gekommen – jetzt würde sich all das auszahlen.

Meine leere Essensschale wartete unter dem offenen Schlitz in der Metalltür darauf, wieder gefüllt zu werden. Ich hockte mich daneben, den Stein in der Hand.

Heute würde ich freikommen. Ich würde wieder bei Baba sein.

Und dann würde ich denen das Leben zur Hölle machen, die mich hier reingebracht hatten! Schritte polterten den Gang hinunter, das Geräusch hallte von den Wänden des Gefängnisses wider.

Das rostige Quietschen einer sich öffnenden Türklappe. Eine Schöpfkelle, die gegen eine von Patina überzogene Metallschale klackerte. Das gierige Schlürfen der anderen Gefangenen, die ihre Rationen bereits erhalten hatten.

Trapp, trapp.

Am Geräusch der Schritte konnte ich ermessen, wie weit der Wärter noch von meiner Tür entfernt war. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ich stünde auf dem Übungsplatz, das Schwert in der Hand, während mein Gegner sich näherte.

Trapp, trapp.

Immer wenn er verharrte, um die Gefängnisrationen auszuteilen, atmete ich aus.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich von dem Grauen abzulenken, das plötzlich meinen Körper durchströmte. Wenn ich mich zu sehr auf meine Angst konzentrierte, würde ich niemals von diesem Ort fortkommen, und all meine Pläne würden ins Leere laufen.

Der Wächter blieb stehen. Als er sich bückte, erklang das Knacken seiner Knie wie ein Donnerschlag. Dann schoss auch schon sein Arm durch die Öffnung! Die verbeulte Metallkelle kippte den fauligen Brei mit einem Schlag in meine Schale.

Vor Überraschung hätte ich fast aufgeschrien. Rasch presste ich mir die Hand auf den Mund. Er war schnell, aber ich war schneller. In letzter Sekunde packte ich seinen Ärmel aus grobem Stoff, riss seinen Arm durch den Spalt zu mir und schlug sein Gesicht gegen die Tür.

Sein Kopf prallte mit einem befriedigenden Knall gegen das Metall, und sofort versuchte er, sich aus meinem Griff zu winden. Ich hielt ihn mit aller Macht fest, drückte mich mit den Füßen gegen die Tür, um mich besser abstützen zu können. Zugleich kämpfte ich darum, meinen angespitzten Stein in Position zu bringen. Es gelang mir, seinen Ärmel hochzuschieben und die Spitze in den fleischigen Teil seines Unterarms zu rammen. Sofort zog ich den Stein durch seine Haut, in Richtung seiner Hand. Der Wärter stieß einen erstickten Schrei aus und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Ich aber umklammerte seinen Arm fester und zog mit aller Kraft daran, sodass er mit dem Gesicht abermals gegen die Tür knallte.

Wieder.

Und wieder.

Seine Schreie hörten sich jetzt eher wie ein Gurgeln an, ein ersticktes Wimmern. Meine Arme zitterten, während ich weitermachte, vor Anstrengung rann mir der Schweiß über den Nacken. Ich konzentrierte mich ganz auf mein blutiges Werk. Auf das, was ich tun musste, um hier herauszukommen. Blut tropfte aus der kleinen quadratischen Öffnung wie purpurner Regen.

Bald verstummte der Wächter und rührte sich auch nicht mehr. Meine Finger zitterten, und ich ließ ihn schließlich los. Sein Körper sackte leblos zusammen und schlug mit einem nassen Klatschen auf dem Boden auf. Der metallische Geruch nach frischem Blut war fast zu viel für mich. Für eine Minute presste ich mein Gesicht auf den kühlen Steinboden, sog die abgestandene Luft meiner Zelle tief in meine Lungen.

Doch schon bald würden die anderen Wärter das Fehlen ihres Kameraden bemerken!

Ich setzte mich auf und schob meine Arme durch die Türöffnung. Mit den Händen fuhr ich am Oberkörper des Wächters entlang, tastete über seine blutgetränkte Uniform, bis ich den metallenen Ring mit den Schlüsseln daran an seiner Hüfte fand. Ich löste ihn von seinem Gürtel, war kurz davor, vor Freude zu platzen. Endlich, endlich war einer meiner Pläne erfolgreich!

Ich würde von hier verschwinden. Würde meinen Vater wiedersehen.

Ich brauchte ein paar Versuche, bis das rostige Schloss sich öffnen ließ und die Tür mit einem Klicken aufsprang. Bewusst mied ich den Anblick des blutigen Körpers, stattdessen packte ich seine Beine und zog ihn in meine Zelle.

Hätte ich ihn angeschaut, dann hätte ich möglicherweise so etwas wie Bedauern gespürt.

Doch all die Male, die die Wärter mich aus meiner Zelle geholt hatten, um mich zu foltern, hatten dafür gesorgt, dass es in meinem Herzen keinen Platz mehr gab für Bedauern und Mitleid. Nicht für sie.

Und nicht für irgendjemanden sonst.

Dieses Mal verließ ich meine Zelle auf eigene Faust, auf meinen eigenen Füßen – befleckt mit dem Blut des Wärters, den ich gerade getötet hatte. Ich warf einen raschen Blick in den Gang und vergewisserte mich, dass er leer war. Dann ging ich hinaus und steuerte auf die Tür an seinem Ende zu. Es war gespenstisch still. Als hätten alle Gefangenen in meinem Flügel kollektiv den Atem angehalten ob meiner Dreistigkeit, einen Wärter zu töten.

Ich blickte auf und bemerkte, dass mich ein Paar dunkler Augen anstarrte, durch die vergitterte Öffnung in einer der Kerkertüren hindurch.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Alarm ausgelöst wurde!

Ich musste weg von hier.

Blindlings rannte ich los. Meine nackten Füße klatschten über den kalten Boden, jeder Schritt jagte scharfe Schmerzblitze durch meine Oberschenkel.

Fast konnte ich schon die frische Brise auf meiner Zunge schmecken, den salzigen Duft des Meeres im Wind riechen. Die Möglichkeit, dass ich es tatsächlich lebend hier herausschaffen könnte – dass ich meine Familie wiedersehen könnte –, beflügelte meine Schritte.

Und natürlich die Aussicht, ihn für das bezahlen zu lassen, was er mir angetan hatte.

Zellen säumten den Gang. Die Gefangenen drückten ihre Gesichter gegen die vergitterten Öffnungen oben an ihrer Tür. Sie brüllten und hämmerten mit ihren leeren Essensnäpfen gegen die Wand. Hunderte von ihnen schienen gleichzeitig zu schreien, und ich konnte nicht sagen, ob sie mich verhöhnten oder es feierten, dass eine von ihnen es geschafft hatte, ihrem Kerker zu entkommen.

Wäre die Kerkermeisterin vor Ort gewesen, hätte ich mir vermutlich größere Sorgen gemacht. Doch solange Meisterin Thohfsa fort war, wurden die Sicherheitsvorkehrungen lockerer gehandhabt und die Wächter waren fauler.

Dieses Mal würde ich es schaffen, zu fliehen.

Mit den Schlüsseln fummelte ich die Tür nach draußen auf. Dabei klirrten sie wie ein schreckliches Windspiel, aber schließlich gelang es mir, das Schloss zu öffnen.

Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten!

Nichts – außer der Reihe von Wächtern, die draußen mit der Kerkermeisterin warteten. Ihre Klingen waren direkt auf mich gerichtet.

«Wie gut, dass ich früher zurückgekommen bin», näselte Thohfsa gedehnt, während sie auf mich zukam.

Sie trug ihren üblichen pflaumenfarbenen Sherwani. Der lange Mantel wogte in ihrem Rücken, ihr dichtes Haar war zu einem Zopf geflochten und als Dutt auf ihrem Kopf festgesteckt. Ihr Mund war zu einem bedrohlichen Strich zusammengepresst, und die tiefen Falten auf ihren Wangen zeichneten sich scharf in der Mittagssonne ab.

Mir sackte der Magen in die Kniekehlen.

Ich konnte nicht wieder zurück – alles, was mich in dieser Richtung erwartete, war meine Zelle. Aber ich konnte mir auch nicht den Weg nach vorne freikämpfen. Denn ich hatte nur einen mickrigen Stein als Waffe, gegen sechs scharfe Krummsäbel.

Ich wünschte, ich hätte einen meiner alten Wurfdolche zur Hand! Damit ich mich wenigstens anständig wehren könnte. Aber die hatten sie mir natürlich bei meiner Verhaftung abgenommen. Ich starrte auf die Krummsäbel, die auf mich gerichtet waren, und das Herz pochte laut in meiner Brust. Dabei genoss ich für gewöhnlich den Nervenkitzel des Schwertkampfes!

Doch Thohfsas Lächeln war schlimmer als jedes Schwert.

Der säuerliche Geschmack von Galle stieg mir in die Kehle. In jedem anderen Gefängnis wäre ich für diesen Fluchtversuch wahrscheinlich hingerichtet worden. Hier jedoch würde man mich dazu bringen, um den Tod zu beten.

Denn Thohfsa bevorzugte ihre Gefangenen lebendig. Sie wollte sie leiden lassen.

Nach dreihundertvierundsechzig Tagen wusste ich das nur zu gut.

«Sieht so aus, als müsste ich den Wächter im ersten Stock dafür exekutieren, dass er deinen armseligen Fluchtversuch zugelassen hat.»

«Zu spät!», rief ich quer über den Hof. «Das habe ich bereits für dich erledigt.»

Thohfsa stieß ein überraschtes Schnauben aus. Ein paar der Wachen schnappten nach Luft angesichts meiner Dreistigkeit, aber ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie auch nur anzusehen. Stattdessen richtete ich meine ganze Wut auf Thohfsa. Ich ließ den scharfen Stein in meiner Hand hin und her rollen und erwog die Möglichkeiten, die mir noch blieben – so mager sie auch aussahen.

Thohfsa wandte sich an die Männer an ihrer Seite. «Gebt den Gefangenen im ersten Stock eine zusätzliche Ration. Das haben sie sich verdient, nachdem sie uns mit ihrem Alarm über Danias Flucht informiert haben. Und bereitet den Verhörraum für sie vor.»

«Kein Grund für ein Verhör! Ich möchte ganz gewiss nicht mehr Zeit mit dir verbringen als unbedingt nötig.» Weil ich sie so selten gebrauchte, klang meine Stimme heiser, wie ein trauriges Krächzen. Aber das hielt mich nicht davon ab, Thohfsa meine nächsten Worte ins Gesicht zu schleudern. «Lieber leiste ich den Flöhen in meiner Zelle Gesellschaft.»

Thohfsa lachte – ein grausames Bellen, das sie oft von sich gab, bevor sie eine Bestrafung vollzog.

Ich konnte jede einzelne Wunde mit den Fingern nachzeichnen, die sie auf meiner Haut hinterlassen hatte – die Narben auf meinem Körper bildeten eine Karte meines Ungehorsams. Allein der Gedanke daran versetzte mich noch mehr in Wut. Ich würde nicht einfach hier herumstehen und mich erneut von ihr festsetzen lassen – nicht, ohne mich zu wehren. Ich umklammerte den angespitzten Stein so fest, dass meine Finger sich taub anfühlten. Thohfsa hob ihr Kinn und musterte mich, als wäre ich eine Nacktschnecke unter ihrem Stiefelabsatz.

Scheiß drauf. Wenn ich schon verrecken sollte, dann würde ich wenigstens dieses Miststück mit mir nehmen!

Mit dem Stein in der Hand stürzte ich mich auf sie. Ein Schrei entrang sich meiner Kehle. Thohfsa regte sich nicht. Sie winkte nur kurz mit der Hand in Richtung der Wachen, die sie flankierten.

Sofort explodierte ein scharfer Schmerz in meinem Hinterkopf, und alles wurde dunkel.

Meine Haut brannte, sie war überzogen von blutigen Striemen. Jeder Versuch, mich zu bewegen, brachte neue Wellen der Qual mit sich – so heftig, dass ich meinen nicht vorhandenen Mageninhalt ausspuckte. Nach dem Kotzen versuchte ich, meinen Körper vom Boden der Zelle zu hieven.

Aber ich konnte mich kaum vorwärts schleppen, denn Thofsa hatte ihre schlimmsten Foltermethoden auf meine Gliedmaßen konzentriert. Es stank scharf und beißend – es ging doch nichts über den Geruch des eigenen verkohlten Fleisches, um dich an deine Stellung im Leben zu erinnern.

Sie hatten mich hier abgeladen, nachdem Thohfsa mich fertig ausgepeitscht hatte. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Stein und wünschte nur, ich könnte mich selbst in Stein verwandeln. Dann wäre zumindest der Schmerz nicht mehr mein ständiger Begleiter. Hinzu kam die vertraute Pein, nicht zu wissen, was aus meiner Familie geworden war.

Dass ich nicht wusste, was mit meinem Vater passiert war, mit meiner Großmutter – sogar mit meiner Katze.

Man hatte mich des Mordes angeklagt. Des Verrats. Und damit waren sie allesamt entehrt. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und schmeckte die bittere Wut, die seit der Anklage keinen Tag von mir gewichen war. Denn man hatte mir ein Verbrechen angehängt, das ich nicht begangen hatte.

Deshalb hatte meine Familie ihre Ehre verloren. Mein Vater konnte wahrscheinlich seine Schmiede nicht länger betreiben, und die Freunde meiner Großmutter hatten sich gewiss angewidert von ihr abgewandt. Ich wollte mir die Haare ausreißen bei dem Gedanken daran, was sie alles ohne mich durchmachen mussten – und ich konnte nichts tun, um ihnen zu helfen.

Warum hatte mich der Kaiser nicht einfach hinrichten lassen? Langsam atmete ich aus, um meine Gedanken nicht davonrasen zu lassen. Ich musste mich aufs Überleben konzentrieren. Einfach noch einen weiteren Tag irgendwie am Leben sein, trotz der Schmerzen, trotz der Dunkelheit.

Und dann fliehen. Meine Familie wiedersehen.

Rache.

Ein leises Kratzen riss mich aus meinen Gedanken.

Ich drehte den Kopf, und bei der Bewegung zuckte Schmerz durch mein Gehirn. Ich sah mich in meiner Zelle nach der Quelle des Geräusches um. Mondlicht fiel durch die Gitterstäbe des Fensters über mir und malte Schatten auf den Boden.

Doch da war nichts. Meine Zelle war leer, einmal abgesehen von ein wenig Stroh und dem Eimer für meinen Unrat.

Könnte es eine Ratte gewesen sein?

Mein Bauch reagierte sofort lautstark auf die Vorstellung, und mein Blick wanderte zu meiner leeren Essensschüssel. Eine Ratte zum Abendessen wäre zumindest mal eine Abwechslung! Allerdings war ich nicht sicher, ob ich sie in meinem Zustand überhaupt fangen könnte.

Wieder hörte ich das Geräusch – und erstarrte. Es war nicht zu leugnen: Da schabte etwas über den Stein.

Der Laut prallte an den Granitwänden ab, war überall um mich herum, als würde er in meinem Kopf widerhallen. Ich presste meine Hände auf die Ohren und fragte mich, ob ich nun endgültig verrückt geworden war.

Aber das Geräusch war immer noch da. Es war hartnäckig.

Wurde lauter.

Ich zwang mich dazu, mich aufzusetzen, obwohl mir dabei fast schwarz vor Augen wurde. Eine Welle der Übelkeit überkam mich. Ich versuchte, aufzustehen – doch meine Beine gaben unter mir nach. Also stützte ich mich auf dem Boden ab und hielt den Atem an. Versuchte, zu lauschen.

Kratz, kratz, kratz.

Es kam von unter mir, ein unablässiges Klopfen. Ich drückte meine Wange auf den kühlen Granit. Ein leichtes Vibrieren lief über mein Gesicht. Sofort zuckte ich zurück.

Kratz, kratz.

Genauer gesagt schien es aus der gegenüberliegenden Ecke des Raumes zu kommen, aus der Nähe des Fensters, einer winzigen Öffnung im Gestein; man konnte sie nur «Fenster» nennen, wenn man eine Katze «Löwe» nannte. Langsam schlich ich auf diese Ecke zu. Mit jedem Zentimeter, den ich mich voranbewegte, vibrierte es stärker.

Das Geräusch war nicht länger ein leises Klopfen, es wurde zu einem heftigen Pochen, zu einem Krachen gegen den Stein. Ich schrie auf und wich zurück! Jede Wunde und jede Verbrennung an meinen Oberschenkeln brüllte vor Qual.

Der Boden brach mit einem splitternden Geräusch auf, Bruchstücke des Gesteins flogen in alle Richtungen davon.

Wieder schrie ich, schlang die Arme um meinen Kopf. Trümmer flogen in meine Richtung, kleine Steinsplitter streiften meine Haut. Ein größerer Brocken prallte von meiner Schulter ab. Rasch hob ich ihn auf, bewaffnete mich damit.

Das war eindeutig keine Ratte!

Ein menschlicher Kopf schob sich aus dem Boden, als würde man das Fleisch einer Mango aus der Schale pressen. Diesmal unterdrückte ich meinen überraschten Aufschrei – und schleuderte meinen Stein! Plötzlich starrte ich in das Gesicht eines anderen Menschen, der mich vom Boden meiner Zelle aus ansah. Mein Kopf war wie leer gefegt.

«Ach, Scheiße», sagte das Mädchen, als sie aufschaute, um sich in meiner Zelle umzusehen.

Zwei

«Was bist du?», flüsterte ich, während sich das Mädchen aus dem dunklen Loch schob, das dort klaffte, wo sich eben noch der Boden befunden hatte. Sie schien etwa in meinem Alter zu sein. «Bist du ein Ghoul? Bist du endlich gekommen, um mich zu verschlingen?»

«Ich wäre jedenfalls kein sehr gerissener Ghoul, wenn ich mich hätte einsperren lassen, nur um deine Seele stehlen zu können.» Sie ließ ihren Blick über mich wandern, und ihre Stirn legte sich in Runzeln. «Außerdem siehst du furchtbar aus. Man sollte meinen, ich würde gesündere Menschen finden, an denen ich mich laben kann.»

Sie war kleiner als ich und hatte lockiges, dunkles Haar, das wild über ihre Schultern hing; es war schmutzig und verfilzt, wie bei einem Tier. Ich strich mir über mein eigenes Haar und fragte mich, wie ich wohl nach so vielen Monaten aussah. In den ersten Tagen meiner Gefangenschaft hatte ich mir die Haare zu einem Zopf geflochten, damit sie nicht verknoteten. Doch mittlerweile hatte ich es aufgegeben, mir Gedanken um mein Aussehen zu machen. Wenn man sich um sein Äußeres kümmerte, brauchte man ein Gegenüber, für das man gut aussehen wollte. Doch ich hatte nur vier triste, graue Wände.

Die Haut hing von den Wangen des Mädchens herab, als hätte man ihr das Fleisch aus dem Körper gesaugt. Doch auch wenn sie wie tot aussah und einem Ghoul ähnelte – in ihren Augen brannte ein knisterndes Feuer.

«Ich dachte wirklich, dieses Mal wäre ich ganz nah dran.» Sie strich sich mit ihren schmutzigen Händen über das Gesicht.

Ich blickte auf ihre Fingernägel, die dick mit Schmutz verkrustet waren. «Du gräbst dich aus dem Gefängnis frei», sagte ich langsam.

Das Mädchen hörte auf herumzutigern, und musterte mich. «Bist wohl von der ganz schnellen Sorte, was?»

Ich funkelte sie böse an. «Bitte entschuldige, dass mich der Anblick einer weiteren Gefangenen, die spontan durch den Boden bricht, erschreckt hat.» Ich war überrascht, dass ich trotz allem noch so etwas wie Sarkasmus in mir hatte. «Es ist ein Jahr her, dass ich mit jemand anderem als Thohfsa oder den Wächtern gesprochen habe.»

Ich fragte mich, ob ich mittlerweile endgültig den Verstand verloren hatte. Ob ich hier saß und mir eine andere Person vorstellte, während ich mit mir selbst redete.

Sie sah mich abschätzend an. «Bei mir sind’s drei.»

Drei Jahre! Ich pfiff durch die Zähne. Drei Jahre waren eine lange Zeit, um sie allein zu verbringen, nur umgeben von Steinmauern und dem Geruch nach menschlichem Unrat.

Aber auch mir stand das bevor.

Ich blickte durch mein wirres Haar zu ihr auf. Dieses Mädchen hatte es fertiggebracht, die Wände ihrer Zelle zu überwinden. Das war mir nur ein einziges Mal gelungen, und es hatte in einem Desaster geendet.

«Wie hast du das geschafft? Wie bist du entkommen?» Ich deutete auf das Chaos, in das sie den Boden verwandelt hatte.

«Nun, ich habe es eben nicht geschafft, oder? Ich bin hier gelandet – und nicht draußen! Ein ganzes Jahr lang habe ich gegraben, und jetzt sitze ich in einer noch schlimmeren Zelle fest als da, wo ich hergekommen bin.» Sie schnupperte. «Sogar der Gestank ist hier schlimmer.»

Ich lachte. Es hörte sich an wie ein Gackern, und es dauerte so unnatürlich lange, dass ich gewiss vollkommen verstört wirkte. Schließlich räusperte ich mich und deutete auf meine Wunden. «Ich habe keinen Besuch erwartet. Sonst hätte ich vorher geputzt.»

Das Mädchen verzog das Gesicht. «Hat Thohfsa dir das angetan?»

«Ich werde es mir wohl kaum selbst angetan haben, oder?»

Sie kniff die Augen zusammen. «Du bist diejenige, die versucht hat zu fliehen, nicht wahr? Wegen dir hätte man mich fast erwischt! Die Wachen haben alle anderen Gefangenen nach Waffen durchsucht, nachdem sie dich wieder eingefangen hatten.» Sie legte den Kopf schief. «Hast du wirklich geglaubt, du könntest hier am helllichten Tag einfach so rausspazieren?»

«So wie du glaubst, du könntest dir einfach so einen Weg nach draußen graben – und stattdessen hier landest?», schoss ich zurück.

«Hast ja recht.» Sie reckte sich und schaute sich erneut um. «Deine Zelle ist viel kleiner als meine. Was hast du ausgefressen? Jemanden getötet, den du besser nicht getötet hättest?»

Ich verzog das Gesicht. «So in etwa.»

Abgesehen davon, dass er schon tot vor mir lag.

Schritte ertönten auf dem Gang – eine Wache auf ihrer üblichen Patrouille. Ich setzte mich auf und ignorierte dabei den Schmerz in meinen Schultern.

«Sei still, sonst entdecken sie dich», schnauzte ich leise.

Schweigend saßen wir da, während das Echo der schweren Stiefel um uns herum widerhallte. Als der Wächter endlich vorbeigegangen war, zog das Mädchen die Brauen hoch.

«Jeder andere Gefangene hätte mich sofort verraten», flüsterte sie. «Warum rufst du nicht die Wärter? Holst dir die zusätzliche Ration, die sie einem zukommen lassen, wenn man Ausbrecher an sie verpfeift?»

Ich erwiderte ihren abschätzenden Blick. Sie hatte recht. Ich würde belohnt werden, wenn ich sie auslieferte – genau das war mir schließlich passiert. Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich einen anderen Menschen der Bestrafung durch Thohfsa aussetzte! Ganz egal wie sehr mein Magen auch knurrte.

Doch in meinem Kopf begann eine Idee zu keimen. Mit jedem Augenblick, den das Mädchen hier saß, wurde sie stärker.

«Ich habe keinerlei Interesse daran, einen anderen Gefangenen zu verraten», antwortete ich ehrlich. «Nicht nach meinem letzten Fluchtversuch. Du willst von hier verschwinden? Dann viel Spaß dabei.» Ich deutete auf meine frischen Verletzungen. «Aber dir werden sie dasselbe antun.»

Sie lächelte. Es war mehr eine Andeutung auf ihren Lippen, als ob sie nicht mehr wüsste, wie man überhaupt lächelt, und es erst mal ausprobieren musste. Das konnte ich verstehen – ich hatte das Lächeln auch verlernt.

«Wie lautet dein Name?»

Ich richtete mich auf. Niemand hatte mich im gesamten letzten Jahr nach meinem Namen gefragt!

Namen hatten eine Bedeutung. In ihnen lag Macht. Ich wusste: Wenn mein Name ein anderer gewesen wäre – wenn ich eine andere Familie gehabt hätte –, säße ich vielleicht gar nicht in diesem Gefängnis. Doch hier waren wir alle gleich.

Hier waren wir alle nichts.

Und mein Name hatte hinter diesen Steinmauern keine Bedeutung.

«Dania», erwiderte ich. «Meine Freunde nennen mich Dani.»

Nicht, dass ich noch welche hätte.

«Ich bin Noor.» Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Ich sah zu der kleinen Öffnung in meiner Tür. In den nächsten Stunden war eigentlich keine weitere Wachpatrouille zu erwarten. Aber ich wusste nicht, ob Thohfsa mich nach meinem Fluchtversuch genauer im Auge behalten würde.

«Und sie werden mich nicht erwischen», fuhr sie fort. «Ich werde mir einen Weg hier raus graben. Ich werde fliehen.»

Ihre Worte klangen so sicher, so kühn in meiner dunklen Zelle, dass mir ein erschrockenes Lachen entwich.

Der Gedanke, der in meinem Kopf heranwuchs, wurde lauter. Ich betrachtete das klaffende Loch, das sie in den Boden gerissen hatte.

«Es ginge schneller, wenn wir zu zweit graben.» Ich sprach die Worte langsam aus, als ob sie mir gerade erst in den Sinn kamen. Als ob ich sie mir nicht bereits zurechtgelegt hätte.

Dieses Mädchen hatte sich bis hierhin gegraben. Und wenn sie sich bis hierher graben konnte, dann konnte sie sich auch bis in die Freiheit graben!

Wir konnten uns in die Freiheit graben.

Sie musterte mich mit verengten Augen. Ihr Blick war so scharf, als würde sie mich bis auf die nackten Knochen durchschauen.

«Ja, das stimmt.» Sie legte den Kopf schief. «Ich habe ein Jahr lang gegraben. Meiner Einschätzung nach liegt deine Zelle auf der anderen Seite des Gefängnisses. Als sie mich an diesen Ort brachten, muss ich die Richtungen durcheinandergebracht haben. Ich habe in die falsche Richtung gegraben.»

«Ah.» Ich beugte mich zu ihr, bemühte mich, mein Gesicht weiter völlig unbewegt wirken zu lassen – als würde ich ständig Besucher in meiner schmuddeligen Zelle empfangen.

«Merken sie nicht, dass du gräbst?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin immer rechtzeitig zurück, um meinen Unrat und die Essensschüssel rauszustellen. Ich bin nie länger als einen Tag weg – und meine Kerze spendet nicht viel Licht.» Sie deutete auf die Tasche mit ihrer Ausrüstung, die sie auf den Boden geworfen hatte. Ein kleiner Wachsstummel und ein verbeulter Zinnbecher lugten aus der Öffnung hervor.

Meine Augen weiteten sich angesichts der beiden fremden Gegenstände. Ich hatte hier nie etwas anderes als einen Löffel bekommen, mit dem ich meine Linsen essen konnte.

«Woher hast du das?» Ich hätte nie gedacht, dass meine Stimme beim Anblick eines verrosteten Zinnbechers mal so ehrfürchtig klingen würde. Es war seltsam, was man alles vermissen konnte, wenn es einem weggenommen wurde.

Das Mädchen grinste, doch in ihren Augen war nicht ein Funke Humor zu erkennen. «Du willst wirklich alle meine Geheimnisse erfahren, was? Die Wärter sind sehr an dem interessiert, weswegen ich hier bin – und was ich ihnen zu bieten habe. Manchmal geben sie mir Dinge im Austausch für Informationen. Oder sie hoffen darauf, dass ich mich eines Tages revanchieren werde.»

«Mir bieten sie nie irgendwelche Vergünstigungen an.»

«Du hast auch gerade erst einen von ihnen umgebracht, oder?»

Ich runzelte die Stirn. «Was hast du denn so Besonderes angestellt?»

Noor lehnte sich zurück und stützte sich auf ihre Hände. «Ich war die rechte Hand eines Stammesfürsten, der Zoraat für Kaiser Vahid angebaut hat.»

Überrascht sog ich die Luft zwischen die Zähne ein. Die Worte kamen ihr so ungezwungen über die Lippen!

Als ob sie nicht gerade zugegeben hätte, dass sie dabei geholfen hatte, die Machtquelle des Kaisers anzubauen: die begehrten Samenkörner, für die er einen Handel mit einem Dschinn eingegangen war, um das Reich zu übernehmen. Dschinns waren mächtige magische Wesen, die ihre Gaben nicht leichtfertig verteilten. Es galt als unklug und gefährlich, einen Handel mit ihnen abzuschließen. Sie existierten nicht einmal in unserer Welt, sondern im Reich des Unsichtbaren.

«Mein Fürst hat eine große Menge Zoraat gestohlen und es versteckt, zusammen mit einem kleinen Vermögen», fuhr sie fort.

Ich pfiff leise durch die Zähne. Seit Vahid die ersten magischen Samen von dem Dschinn erhandelt hatte, ließ er alles Zoraat streng bewachen – schließlich hatte er mit seiner Hilfe die fünf Königreiche und die nördlichen Völker gewaltsam unter seine Herrschaft gezwungen. Das Zoraat hatte ihm Heilmagie beschert, einen endlosen Nahrungsvorrat und eine unzerstörbare Armee. Und Kaiser Vahid kontrollierte diese Macht allein – er war nicht bereit, sie mit irgendjemandem zu teilen.

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass dem Kaiser das besonders gut gefallen hat.»

«Nein.» Sie schaute weg, und ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis sie schließlich fortfuhr. «Der Kaiser hat meinen Fürst für seinen Verrat getötet.» Sie schluckte. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. «Und Kaiser Vahid glaubt, dass ich weiß, wo mein Fürst die Samenkörner versteckt hat. Also ließ er mich foltern und in dieses Gefängnis werfen.»

Auch ich schwieg kurz. «Und?», fragte ich schließlich. «Weißt du es? Wo er sie versteckt hat?»

Wieder spielte der Schatten eines Lächelns um ihre Lippen. Sie gab mir keine Antwort und ließ stattdessen ihren Blick erneut durch den Raum schweifen. Ihre Augen blieben bei der Zahl der Tage hängen, die ich in die Wand geritzt hatte – jeder Strich eine makabre Erinnerung an meinen beständig näher rückenden Tod.

«Das ist doch eine ziemlich bequeme Unterkunft hier, findest du nicht? Am Ende der Welt, auf einer kargen Insel, wohin man diejenigen verbannt, die niemand mehr finden soll.»

Ich setzte mich aufrechter hin, getrieben von meiner unbeantworteten Frage. Ein Zugang zum Dschinn-Magievorrat des Kaisers bedeutete beträchtliche Macht!

Wenn Noor tatsächlich über so einen Zugang verfügte, könnte sie damit alles kontrollieren.

Das Königreich. Den Kaiser. Die Welt.

Als ob Noor meine Gedanken lesen könnte, richtete sie ihren scharfen Blick wieder auf mich. «Und warum bist du hier, Dania? Was hast du getan?»

Ich schluckte. Es fiel mir schwer, die Wahrheit laut auszusprechen – auch wenn ich täglich an sie denken musste. Denn wenn ich sie aussprach, machte sie das real. Es bedeutete, dass ich mir nicht alles nur eingebildet hatte. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker.

«Man hat mich reingelegt. Ich wurde beschuldigt, einen Stammesfürsten aus dem Norden ermordet zu haben.» Ich senkte den Blick. Betrachtete meine Hände und versuchte, nicht an die Leiche zu denken, die am Tag meiner Verhaftung vor meinen Füßen gelegen hatte – verbrannt und von innen heraus zerfressen.

«Mord und Verrat.»

Noor pfiff. «Und? Hast du es getan?»

Ein Echo meiner eigenen Frage. Aber dieses Spiel konnte man zu zweit spielen! «Du sagst mir die Wahrheit – und ich sage sie dir.»

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. «Wenn du dich mir anschließen willst, muss ich erst wissen, ob du mir nicht ein Messer in den Rücken rammen wirst!»

«Nach einem Jahr hier drin würde ich alles tun, um zu entkommen. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe ihn nicht umgebracht.»

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Nicht ich war es, die ihn getötet hatte. Ich wusste genau, wer es getan hatte – und warum.

In jeder einzelnen Nacht flüsterte ich für mich ihre Namen.

Und besonders einen einzelnen Namen – den einer Person, bei der ich es niemals für möglich gehalten hätte.

«Ich wurde … verraten. Reingelegt. Ich dachte, ich könnte diesem Menschen vertrauen. Aber es stellte sich heraus, dass er nicht wirklich auf meiner Seite war.»

Diese Worte bohrten sich am schmerzhaftesten in mich.

Nicht das Eingeständnis, dass ich überlistet worden war – sondern die bloße Tatsache, dass mich mein bester Freund verraten hatte. Meine erste große Liebe. Und dass ich aus diesem Grund allein in einer dunklen Zelle auf einer vergessenen Insel vor mich hin rottete.

Mazin war es, der mich hierhergebracht hat.

Allein der Gedanke an seinen Namen ließ Wut in meinem Blut brodeln – wie das Wasser hinter einem Damm, der zu brechen drohte. Bald würde es so weit sein! Doch heute atmete ich vorerst langsam aus, um die brennende Wut unter meiner Haut zu beruhigen.

«Und ich kann nichts unternehmen – nicht, solange ich hier drin bin und sie da draußen.»

Noor spielte mit dem Saum ihrer dreckigen Kurta. Schmutz überzog das gesamte Kleidungsstück und ließ es grau wirken. «Und was würdest du unternehmen – wenn du nicht mehr hier drin wärst?»

Ich schloss die Augen. Ihre Worte hatten sich mit spitzen Haken in mein Herz gebohrt und ließen mich nicht mehr los. «Wenn ich nicht mehr hier gefangen wäre, würde ich …»

Ich dachte an meine Familie. An meinen Vater, der sich sicher Sorgen um mich machte. Und ich dachte an diejenigen, die mich hintergangen hatten.

Mazin, dem ich mein Herz anvertraut hatte – nur damit er es mit seinem Krummsäbel aufspießen konnte. Darbaran, der Hauptmann der Palastwache, der mich verhaftet hatte. Kaiser Vahid, der mich benutzt hatte, um einen mächtigen politischen Gegner loszuwerden, ohne auch nur einen Gedanken an mein Leben oder meine Familie zu verschwenden. Ich ballte meine zerschundenen, blutverschmierten Hände zu Fäusten.

Wenn ich frei wäre, würde ich sie alle für ihre Taten büßen lassen.

Sie würden jeden Bluterguss zu spüren bekommen, den man mir zugefügt hatte. Jeden Moment der Demütigung und des Verrats.

Aber irgendwas hinderte mich daran, es auszusprechen. Noch nicht. Nicht, nachdem ich diese Worte seit einem Jahr nur zu mir selbst gesagt hatte.

«Ich bin mir nicht sicher.»

Noor warf mir einen Blick zu, als ob sie mir nicht glaubte. Als ob sie jeden meiner Gedanken der letzten dreihundertfünfundsechzig Tage auf meinem Gesicht ablesen konnte – und wusste, dass ich mir sehr wohl sicher war, was ich tun würde, sobald ich hier ausgebrochen wäre.

Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum.

«Ich will Freiheit», sagte sie schließlich. «Ich will sie so sehr, dass ich sie schmecken kann. Aber ich will auch Vergeltung. Kaiser Vahid hat mir mein Leben gestohlen. Und ich will es zurück.»

Ihre Worte klangen eindringlich. Plötzlich waren wir nicht mehr nur zwei Mädchen, die zusammen in einer Gefängniszelle hockten und keinerlei Hoffnung auf eine Zukunft hatten. Für einen Moment fühlte es sich so an, als hätten wir die Macht, tatsächlich etwas zu erreichen.

«Und du hast recht», fügte sie hinzu. «Alleine zu graben, dauert tatsächlich viel zu lange.»

Ich rührte keinen Muskel. Hatte Angst, mich zu bewegen.

«Mit einer Partnerin ginge es viel schneller.» Aus dem Augenwinkel schielte sie zu mir. «Aber du musst dich erst einmal erholen.» Sie streckte ihre Hand aus, als wollte sie mich berühren. Ich wich überrascht vor ihr zurück. Seit meiner Verhaftung war ich nicht mehr freundlich von einem anderen Menschen berührt worden.

Doch sie streckte mir lediglich ihre Hand entgegen. Misstrauisch sah ich sie an – und ergriff sie. Ihre Finger schlossen sich um meine, und wir schüttelten uns die Hände, um unsere Abmachung zu besiegeln.

«Zusammen werden wir kein weiteres Jahr brauchen, um von hier wegzukommen», sagte ich, und meine Stimme klang hoffnungsvoll, während die künftigen Möglichkeiten in mir zu brodeln schienen.

Sie nickte. Der Funke der Hoffnung breitete sich immer weiter in mir aus.

«Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wenn du frei wärst, Dania – was würdest du tun?»

Mazins Gesicht schoss mir durch den Kopf. Der Mann, der mich in diese Hölle geworfen hatte und mich hier leiden ließ. Der mich der königlichen Garde ausgeliefert hatte, ein ergebener Diener des Kaisers.

Aber es gab jemanden, der wichtiger war als jede Rache.

Babas neue Klinge in der Hand zu halten.

Mit ihm auf dem Übungsplatz zu trainieren.

Sein leises Kichern zu hören, wenn ich die anderen Schüler besiege.

Zusammen mit ihm im gedämpften Licht seiner Schmiede zu essen.

All die Dinge, nach denen ich mich gesehnt hatte, drängten in mir hoch, als ob ein Damm gebrochen wäre. Doch es war keine Wut, die dahinter hervorrauschte, sondern pure Sehnsucht.

«Wenn ich frei wäre, würde ich zu meinem Vater gehen.»

Drei

Früher

Heute gab es günstiges Licht für einen Kampf.

Ich hielt der Sonne mein Schwert entgegen, sodass die Klinge glühte, als hätte man sie erneut in der Schmiede erhitzt.

«Entschuldigung, bin ich hier richtig? Ich suche nach dem Schwertschmied.»

Ein Junge, etwas älter als ich, stand am Tor und sah unsicher zum Laden meines Vaters. In den Händen hielt er die Zügel eines schönen schwarzen Hengstes. Er war groß und schlaksig, hatte schwarzes Haar, ein ausgeprägtes Kinn und volle Wangen, in die er noch nicht so ganz reingewachsen zu sein schien. Sein dunkler Sherwani mit Goldstickereien und juwelenbesetzten Knöpfen verriet seinen Status, er war ihm etwas zu groß.

Ich verengte die Augen – der Kerl lebte im Palast und arbeitete für Kaiser Vahid.

Für den Kaiser, der unser Königreich gewaltsam eingenommen und das Volk meiner Mutter im Norden zur Hälfte abgeschlachtet hatte.

Und ich wusste genau, warum er hier war.

«Du erkennst nicht, dass du beim Schwertschmied bist, obwohl da jede Menge Klingen vor dem Haus hängen? Dann hast du wohl andere Probleme, als dich lediglich verlaufen zu haben.»

Sein unsicheres Gehabe verwandelte sich in einen finsteren Blick.

Gut. Ich würde ihm nicht helfen. Wenn er für den Kaiser arbeitete und als sein Lakai in unser Dorf kam, hatte er von uns nichts als Verachtung zu erwarten. Mein Vater hatte Waffen für den alten König geschmiedet, die ebenso schön wie tödlich waren. Und anscheinend wollte Kaiser Vahid seine Schwerter nun beim selben Schmied fertigen lassen.

«Ich ziehe es vor, mir einer Sache sicher zu sein, ehe ich eine Vermutung äußere, damit ich am Ende nicht als der Dumme dastehe», sagte er hochnäsig. «Etwas, womit du offenbar kein Problem zu haben scheinst.»

Ich atmete scharf ein. Hatte mich dieser rausgeputzte Narr etwa gerade dumm genannt?

Er blähte seine Brust auf wie ein übergroßer Vogel und musterte mich von oben herab. «Du hast anscheinend keine Ahnung, wer ich bin.»

Mir entwich ein Schnauben. Dieser Junge hatte kaum Haare am Kinn – und wollte sich aufspielen, als stünde er über mir?

«Ich weiß leider nur zu gut, wer du bist. Falls du wegen des neuen Schwerts für den Kaiser gekommen bist: Mein Vater ist derjenige, der es schmiedet.»

Ihm blieb der Mund offen stehen, und ich schenkte ihm ein zufriedenes Grinsen.

«Der Kaiser selbst schickt mich hierher – und du wagst es dennoch, so mit mir zu sprechen?»

«Schau dich doch mal um.» Ich deutete auf mein kleines Dorf im Schatten der Berge, dessen Lehmhäuser wie Schneeflecken in den Berghang eingebettet waren. Es lag am Rande jenes Gebiets, in dem alle nördlichen Völker gezwungen worden waren, sich dem Kaiser zu unterwerfen. Zwar waren wir nur einen Tagesritt von der Stadt entfernt, in der der Kaiser seinen neuen Hofstaat eingerichtet hatte – aber wir waren hier alles andere als gehorsame Untertanen.

Niemand in diesem Dorf würde sich von der Macht Kaiser Vahids beeindrucken lassen.

Diese Menschen hatten mehr Angst vor den Räubern, die ihre Familie überfallen konnten. Sie machten sich mehr Gedanken darum, wie sie sich von den aufgezwungenen Gesetzen der Hauptstadt befreien konnten. Und darüber, wie sie in der Stadt mit ihren Waren handeln und Geld verdienen konnten. Kein einziger Dorfbewohner würde sich nach dem prachtvollen Hengst dieses Jungen umdrehen – außer, um ihn zu stehlen und damit Vergeltung am Kaiser zu üben. Für uns waren nur die Plünderer aus den Bergen von Belang und der bittere Winter, der die nächste Aprikosenernte im Tal vernichten konnte.

Ich warf einen Seitenblick auf das Pferd des Jungen, auf dessen Sattel das Emblem von Kaiser Vahid gestickt war: der goldene Umriss einer Zoraat-Blüte.

«Diese Menschen waren Gefolgsleute des alten Königs. Er hat sie beschützt. Hier wird dir niemand die Stiefel lecken, falls es das ist, worauf du aus bist.»

«Und dennoch: Wenn dein Vater der Schmied ist, dann hat er bereits zugestimmt, das Schwert für den Kaiser anzufertigen.» Er reckte stolz sein Kinn vor.

Wut tobte durch meine Brust und raubte mir für einen Moment den Atem. Ich presste die Lippen aufeinander. «Er hängt eben an seinem Kopf.»

«Du offensichtlich nicht.»

Ich knibbelte an meinen Nägeln herum, um möglichst ruhig zu wirken. «Doch, das tue ich, aber ich weiß auch, wer die Macht hat, ihn mir zu nehmen. Und du gehörst nicht dazu.»

Seine Hand fuhr zu der Scheide an seiner Hüfte, als wollte er seinen Krummsäbel ziehen, um mir damit das Gegenteil zu beweisen. Der schmucklose Griff verriet mir, dass die Waffe definitiv nicht von meinem Vater stammte.

Die Griffe unserer Schwerter waren solide, belastbar und mit kunstvollen Schnitzereien geschmückt. Mein Vater war stolz auf seine Griffe mit silbernen Koftgari-Verzierungen und den Schwertknäufen aus Kamelknochen, die er gewöhnlich selbst formte.

Aber ich hatte schon von klein auf mit Messern hantiert. Und in der Regel setzte derjenige sich durch, der seines zuerst in der Hand hielt. Meine Klinge blitzte im Sonnenlicht auf, noch ehe der Junge seine Waffe überhaupt ziehen konnte. Ich richtete mein zweischneidiges Talwar auf ihn, die schärfste Stelle der Schneide verharrte dicht an seiner Kehle. Er hob die Hände.

«An deiner Stelle würde ich das nicht tun», sagte ich ruhig und machte mir nicht die Mühe, mein triumphierendes Lächeln zu verbergen.

«Das ist Verrat!», stotterte er. Mir entgingen nicht die Flammen, die in seinen dunkelgoldenen Augen aufblitzten. Es schien, als hätte der hübsche Junge doch noch so etwas wie Kampfgeist in sich.

«Dania!», rief jemand quer über den Hof.

Ich stöhnte innerlich auf, als mein Vater den Weg hinaufkam.

Er verbeugte sich vor dem Jungen, der mindestens zwanzig Jahre jünger war als er. Und ich hätte am liebsten geschrien. Hätte nur zu gerne seinen gesenkten Kopf hochgerissen und ihm gesagt, dass er sich nie wieder vor den Lakaien des Kaisers verbeugen sollte. «Bitte verzeiht meiner Tochter. Sie ist manchmal etwas zu leidenschaftlich.» Baba warf mir einen warnenden Blick zu, und seine ockerfarbenen Augen verengten sich.

Ich lachte nur, konnte den bitteren Tonfall aber nicht verbergen. «Ich habe doch nur mit dem Jungen gespielt! Mal ehrlich, bringt der Palast seinen Wächtern nicht bei, wie man kämpft?»

Baba sah mich stirnrunzelnd an. Er glaubte mir nicht eine Sekunde lang. «Das ist kein Wächter, Dani – wie du sehr wohl weißt.»

Ich zuckte zusammen. «Nanu würde nicht wollen, dass wir uns mit ihm unterhalten», murmelte ich so leise, dass nur er mich hören konnte.

«Nanu kommt auch nicht für unsere Ausgaben auf», schoss er zurück.

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und starrte lieber den Jungen finster an. Er warf mir einen abschätzigen Blick zu. Dann wandte er sich wieder an meinen Vater. Ich presste die Zähne zusammen, um den Drang zu unterdrücken, noch einmal mein Schwert zu ziehen.

«Mein Name ist Mazin, und ich bin das Mündel des neuen Kaisers. Auf sein Geheiß bin ich hierhergekommen, um seine Wünsche bezüglich seines neuen Schwertes zu überbringen und die Bezahlung zu übergeben.» Er hielt inne. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber mir entging nicht, dass sein Blick zu mir wanderte. «Falls Eure Fähigkeiten sich als zufriedenstellend erweisen sollten», fügte er schließlich hinzu.

Ich konnte nicht mehr an mich halten. Wieder pochte die Wut heiß in meiner Brust! Dass er es wagte, auch nur anzudeuten, die Fähigkeiten meines Vaters wären nicht ausreichend für den Kaiser … Mein Blut wallte heiß auf. «Wenn du glaubst, seine Klingen wären nicht zufriedenstellend, weißt du überhaupt nichts über meinen Vater! Er ist der begehrteste Schwertschmied in sämtlichen Königreichen.»

Mein Vater legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. «Das ist schon in Ordnung, Dani. Kaiser Vahid hat jedes Recht, meine Arbeit darauf zu prüfen, ob sie seinen Ansprüchen genügt.»

«Warum schickt er dann diesen dummen Jungen? Besonders, nachdem er dem Dorf jeden weiteren Schutz verweigert hat? Warum kommt er nicht selbst?»

«Vielleicht, weil er diesem dummen Jungen vertraut», sagte Mazin spitz und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Diese war beachtlich, das musste ich neidlos anerkennen.

Ich legte den Kopf schief, ließ mich auf keinen Fall einschüchtern. «Ich schätze, damit ist endgültig bewiesen, dass Vahid ein Narr ist.»

Mazin holte scharf Luft. Überraschung und so etwas wie Verwunderung zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Vermutlich hatte es noch nie jemand gewagt, Kaiser Vahid in seiner Gegenwart zu beleidigen.

Gut. Er hatte es verdient, mal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Doch als ich den entsetzten Gesichtsausdruck meines Vaters sah, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war.

«Dania!» Vater zerrte mich hinter sich. «Du bleibst jetzt hier draußen, während ich mich mit unserem Gast unterhalte.» Er warf mir einen unmissverständlichen Blick zu: Ich sollte es bloß nicht wagen, mich seiner Aufforderung zu widersetzen.

Mir wurde heiß im Gesicht. Ich starrte meinen Vater ungläubig an. «Was? Du nimmst mich doch immer mit in den Laden, wenn du …»

«Dieses Mal nicht. Vielleicht darfst du wieder mit, wenn du gelernt hast, deine Zunge besser zu hüten – damit wir nicht wegen Verrats angeklagt werden.» Er sprach so leise, dass nur ich seine Worte hören konnte. Der Frust verlieh seiner Stimme Schärfe.

Ich klappte den Mund zu. Baba hatte noch nie zuvor auf diese Weise mit mir gesprochen! Ich verengte die Augen, fixierte den Jungen, der neben ihm stand.

Baba und ich waren Kampfgefährten. Seit dem Tod meiner Mutter hieß es: Wir gegen die Welt.

Mazin folgte meinem Vater in seine Schmiede, während ein Anflug von Scham meine Wangen erhitzte. Der Junge warf mir beim Gehen ein angedeutetes Grinsen über die Schulter zu.

Meine Hände ballten sich an meinen Seiten zu Fäusten.

Dieser Junge hatte sich heute eine Feindin gemacht.

Vier

Ich grub, bis meine Hände bluteten. Nach ein paar Tagen waren meine Verletzungen so weit verheilt, dass ich mich jede Minute des Tages darauf konzentrieren konnte, einen Tunnel unter dem Boden meiner Zelle zu graben. Zentimeter für Zentimeter arbeiteten wir uns voran. Und obwohl es nur winzige Schritte waren, hatte ich das Gefühl, dass ich mich auf ein Ziel zubewegte.

Freiheit.

Familie.

Ich wehrte mich gegen die leise Stimme, die ein anderes Ziel anstrebte. Ein dunkleres, zornigeres Ziel.

Rache.

Aber ich konnte es mir nicht leisten, jetzt an Rache zu denken! Meine oberste Priorität war es, zu meinem Vater zurückzukehren und sicherzustellen, dass es ihm gut ging.

In den ersten Tagen sprachen Noor und ich nicht beim Graben. Wir arbeiteten einfach nur Hand in Hand und schoben die schwarze Erde Millimeter für Millimeter beiseite. Aber nachdem ich ein ganzes Jahr allein eingesperrt gewesen war, wollte ich nicht länger schweigen. Die Arbeit an Noors Seite machte mir klar, dass ich mein Bedürfnis nach menschlicher Gesellschaft nicht länger verleugnen konnte – sosehr ich mir das auch einreden mochte.

Wir hockten zusammen in dem dunklen Tunnel, der nur von dem wenigen Sonnenlicht erhellt wurde, das durch das kleine Fenster hereinfiel. Ich trug das Erdreich ab und reichte ihr immer wieder gefüllte Becher zum Ausleeren.

«Du hast also für Kaiser Vahid gearbeitet? Hattest du auch mit Dschinn-Magie zu tun?», fragte ich vorsichtig. Schon seit Tagen brannte ich darauf, mit ihr darüber zu sprechen. Immer wieder wälzte ich ihre Worte in meinem Kopf herum. Wenn sie wirklich Zugang zu Zoraat hatte – der mächtigsten Substanz in unserer Welt! –, dann war nicht abzusehen, was sie tun würde, sobald sie hier rauskam.

Sie hielt inne, hielt den Zinnbecher einfach nur in der Hand. Dann hob sie ihren Blick zum kleinen Fenster in meiner Zelle und starrte in das verschwindende Licht.

«Genauer gesagt für einen seiner Fürsten», antwortete sie schließlich. «Er hieß Souma und hat Vahids Zoraat-Plantagen verwaltet. Außerdem war er dafür verantwortlich, die richtigen Dosen für seine Soldaten und Heiler anzumischen. Ich arbeitete unter Soumas Aufsicht als Kräuterkundige in Vahids kaiserlicher Apotheke.»

«All diese Dschinn-Macht.» Meine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. «Warum durftest gerade du damit arbeiten? Ich dachte, man muss jemand ganz Besonderes sein, um Zoraat auch nur anzufassen.»

«Willst du damit sagen, dass ich nichts Besonderes bin?» Sie zog eine Braue hoch, aber ihr Lächeln verblasste. «Nein, das bin ich wirklich nicht. Ich bin nur ein Waisenkind, das zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Ich brauchte einen Platz, an den ich gehöre – und Souma brauchte eine Assistentin. Die Arbeit mit Zoraat ist ziemlich gefährlich, und er hat immer wieder Assistenten … verloren.» Sie sank ein wenig in sich zusammen.

«Du wurdest also nicht ausgewählt, weil du etwas Besonderes bist, sondern weil alle anderen gestorben sind.»

Ich reichte ihr einen weiteren Becher mit Erde. Noor leerte ihn in den Unrateimer aus und kam zurück in den Tunnel.

«Das kann man wohl sagen. Aber ich hatte auch ein Händchen für Zoraat-Mischungen. Man muss die Dschinn-Samen im exakt richtigen Verhältnis zu sich nehmen, sonst sind die Folgen katastrophal. Kaiser Vahid setzt natürlich seine eigenen Mischungen an. Angeblich hat ihn der Dschinn, von dem er diese Macht durch seinen Handel erhalten hat, gelehrt, wie man sie benutzt. Aber für die Soldaten und Heiler und alle anderen, die Zoraat verwenden, mischen Souma und seine Angestellten die Samen an.»

«Hast du es probiert?» Ich konnte die Ehrfurcht in meiner Stimme nicht verbergen. Bisher war ich noch nie jemandem begegnet, der Zoraat gegessen hatte. Ich hatte Kaiser Vahid ein paarmal im Vorbeigehen gesehen, wenn ich mit Maz im Palast gewesen war. Aber ich hatte nie direkt mit ihm gesprochen.

Über reine Dschinn-Magie zu gebieten! Die Macht zu haben, den eigenen Körper verwandeln zu können, eine rauchlose Flamme als Waffe zu schwingen oder sogar die Erde, auf der wir gingen, zu erschüttern – das waren gewiss nützliche Fähigkeiten. Ich bewegte meine Finger und dachte dabei nicht so sehr an die Dschinn-Magie, sondern an meine eigenen Fähigkeiten: die Schwerter, die ich gerne in der Hand halten würde. Die Dolche, die ich gerne wieder werfen würde.

Es war nicht die Magie, nach der ich mich sehnte – sondern das Gewicht von Stahl in meinen Fingern.

«Nein, ich habe die Samen nie selbst benutzt. Sie waren nur für die Generäle oder die persönlichen Heiler des Kaisers bestimmt, und er kontrolliert ihre Verwendung sehr streng. Er will niemandem mehr zukommen lassen, als er unbedingt braucht. Aber Souma sagte, ich sei eine der besten Bereiterinnen von Dschinn-Mischungen, die er je gesehen hat. Das war einer der Gründe, warum er …»

Noors Stimme verklang. Ihr Gesicht lag im Halbdunkel des Tunnels im Schatten, das schwache Licht fing den Schimmer in ihren Augen ein. Nach einem Moment räusperte sie sich. «Das war einer der Gründe, warum er mir so sehr vertraute.» Ihre Stimme brach.

Das klang so, als sei Souma ihr wichtig gewesen. Vielleicht sogar so etwas wie ein Vater für sie. Ich schluckte, meine Kehle wurde eng. Ich wusste, was es hieß, seinen Vater zu vermissen.

Ein ungewohntes Gefühl von Verbundenheit zerrte an meinem Herzen. Es erkannte die Gemeinsamkeit zwischen uns. Wir waren mehr als nur zwei Gefangene, die fliehen wollten. Wir waren zwei Töchter. Zwei Menschen, denen Unrecht getan worden war. Zwei Menschen, die versuchten, das zurückzugewinnen, was wir einmal hatten – auch wenn wir es wahrscheinlich nie wieder zurückbekommen würden. Dieser Ort hatte uns Jahre unseres Lebens gestohlen, und wir würden nie wieder die Chance bekommen, sie zu leben. Ich krallte meine Finger in den Schmutz und genoss das Gefühl, wie er sich unter meine Fingernägel schob. Jemand war dafür verantwortlich, dass mir dieses Leben genommen worden war – und ich wollte diejenige sein, die ihn dafür bezahlen ließ.

Noors Schniefen brachte mich zurück ins Hier und Jetzt. Sie stopfte mehr Erde in den Zinnbecher.

«Es tut mir leid», sagte ich leise.

Sie sah zu mir auf und strich sich mit ihrer schmutzigen Hand das verfilzte Haar aus den Augen. «Ja, mir auch.»

Aber da war noch mehr an dieser Geschichte. Souma hatte Vahid verraten – und ich wusste besser als jeder andere, was passierte, wenn einem Verrat am Kaiser vorgeworfen wurde.

«Du sagtest, Souma hat dem Kaiser Zoraat vorenthalten. Dass er ihn bestohlen hat.» Ich überlegte, was daraus folgen musste. Man hatte mich in meine Zelle geworfen, damit ich hier verrottete – aber ich hatte dem Kaiser keine Dschinn-Macht gestohlen. «Ich bin überrascht, dass Vahid nicht Soumas gesamte Familie ausgelöscht hat.»

Noor schwieg für einen Moment. Ich rechnete schon nicht mehr mit ihrer Antwort. «Oh doch, das hat er. Vahid war wütend. Soumas Söhne wurden allesamt hingerichtet. Und jeder, der mit Souma in Verbindung stand, wurde hierhergebracht und gefoltert, um aus ihm herauszupressen, wo das Zoraat versteckt war. Du kannst dir sicher vorstellen, wie sehr Thohfsa das genossen hat.»

Ihre Stimme klang bitter, und mir ging durch den Kopf, wie das für sie gewesen sein musste. Wenigstens wusste ich, dass mein Vater noch am Leben war und auf mich wartete. Alle, die Noor jemals gekannt hatte, gab es nicht mehr.

Ich hackte auf der fest zusammengepressten Erde herum und war plötzlich dankbar dafür, dass ich hier im Gefängnis verrottete – und nicht mein Vater.

Aber wenn Souma Zoraat versteckt hatte – wusste Noor um das Versteck? Und wenn ja, würde sie dorthin zurückgehen, um die Dschinn-Samen zu holen?

Über solche Magie zu verfügen, war mehr wert, als einfach nur hier rauszukommen. Sie bedeutete völlige Freiheit! Die Macht, überallhin zu gehen. Alles zu sein, was man wollte. Ich könnte mit meinem Vater fliehen – fort vom Kaiser, fort von Maz.

Aber etwas Dunkles und Verdorbenes tief in mir mischte sich ein.

Wollte ich wirklich vor Mazin davonlaufen?

Wollte ich überhaupt davonlaufen?

Oder wollte ich ihn brennen sehen?

Ich warf Noor einen flüchtigen Blick zu. Sie hatte nicht gesagt, ob Vahid seine gestohlene Dschinn-Magie wieder aus dem Versteck geholt hatte. Was bedeutete, dass sie vielleicht wirklich wusste, wo sie war.

«Alle, die du kennst, sind tot», sagte ich, während ich einen besonders großen Stein aus der Erde brach und ihn an sie reichte. «Und Vahid hat Souma getötet. Was wirst du also tun, sobald du von hier geflohen bist?»

Mir hatte sie diese Frage bereits gestellt – und selber keine Antwort darauf gegeben.

Vermutlich war es Ansporn genug, einfach nur von diesem Ort wegzuwollen. Aber sie grub die Steine mit einem Feuereifer aus, der meinem in nichts nachstand. Es ging ihr nicht nur um Freiheit – so wie auch ich nicht nur meinen Vater wiedersehen wollte. Wir trugen beide etwas mit uns, das wir uns nicht eingestehen wollten – denn es einzugestehen hätte bedeutet, es zuzugeben.

Noor hielt den Stein umklammert, den ich gerade ausgebuddelt hatte. Schatten zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab und ließen sie noch bedrohlicher erscheinen als sonst. Sie war kein besonders großes Mädchen, mit einem spitzen Kinn und einem Wust dunkler Locken. Doch gerade ähnelte sie sogar noch mehr einem rachsüchtigen Ghoul als damals, als sie zum ersten Mal in meine Zelle geplatzt war.

«Man könnte wohl sagen, dass ich ein loyaler Mensch bin», sagte sie leise. «Und ich glaube, dass Souma Gerechtigkeit verdient hat.»

«Und bist du diejenige, die ihm diese Gerechtigkeit verschaffen kann?», wollte ich wissen, wobei ich mich fragte, ob dieses Bedürfnis auch durch meine Adern floss.

Doch Gerechtigkeit war eine edle Sache – anders als das, was ich wollte. Nach Gerechtigkeit zu streben, war bewundernswert. Was ich hingegen mit den Leuten vorhatte, die mich verraten hatten, war nicht bewundernswert.

Nicht, wenn ich mir den Dolch vorstellte, der sich in Mazins Herz bohrte.

Aber selbst ich hatte noch einen schwerwiegenderen Grund, Gerechtigkeit zu fordern, als sie. Noor war eine Waise, die niemandem verpflichtet war. Sie wurde nicht des Verrats beschuldigt. Es war nicht ihr eigener Name, den sie reinwaschen musste. Schon seltsam, dass sie das Unrecht so sehr umtrieb, das man dem Mann angetan hatte, der sie einfach nur aufgenommen hatte.

«Das bin ich.» Ihre Stimme war hart wie Stein. «Wenn nicht ich es tue, dann tut es niemand sonst.»

«Wie?», bohrte ich nach, und das Wort waberte zwischen uns wie eine Beschwörung. «Wie würdest du Gerechtigkeit einfordern?» Wir wussten beide, dass ich nach etwas viel Größerem fragte als nur nach der Strategie für ihr Vorgehen.

Wie stürzte man ein Kaiserreich?

Vahid hatte es mit der Macht des Dschinns an seiner Seite geschaffen. Könnte man diese Macht noch einmal nutzen?

Sie zögerte, ihre Antwort blieb ihr im Hals stecken. «Ich habe einen Plan.»

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass dieser Plan Dschinn-Magie und einen gestohlenen Schatz beinhaltete, dessen Versteck Thohfsa seit drei Jahren aus den Menschen herauszufoltern versuchte. Und wenn Noor auf diesen Schatz zurückgreifen konnte, dann konnte ich das vielleicht auch.

Die Aussicht ließ Hoffnung in meiner Brust aufkeimen, zusammen mit der Möglichkeit, dass wir vielleicht von hier entkamen.

Doch es war gefährlich, diesen kleinen Hoffnungsschimmer zu hegen. Denn wenn ich ihn verlor, würde mich die Verzweiflung endgültig übermannen.

So viel hatte ich im vergangenen Jahr gelernt.

«Ich glaube, der Dreck sitzt mir schon so tief unter den Fingernägeln, dass er ein Teil meiner Haut geworden ist.»

Ich lag in Noors Zelle und begutachtete meine Hände. Sie hatte recht – meine war schlimmer als ihre. Im Vergleich wirkte ihre Zelle wie ein regelrechter Palast – sie war mindestens dreimal so groß, und es gab hier sogar ein klappriges Bett mit einer wurmzerfressenen Strohmatratze. Sie fühlte sich so gut an, als wäre sie mit Pfauenfedern gefüllt.

Als ich das Bett zum ersten Mal sah, kamen mir die Tränen.

Dann legte ich mich hin. Meine Knochen seufzten, mein Rücken streckte sich, nachdem ich ein Jahr auf dem kalten Steinboden hatte schlafen müssen.

«Du hast gesagt, dass man dich bei deiner Verhaftung reingelegt hat.» Noors Stimme schnitt durch meine Freude darüber, endlich wieder auf einem Bett zu liegen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und musterte mich. «Erzähl mir, was passiert ist. Weswegen bist du hier gelandet?»

Ich setzte mich auf, rollte die Schultern und ignorierte meinen knurrenden Magen. Meine Muskeln schmerzten vom Graben, und ich spürte den Mangel an Nahrung jetzt noch deutlicher.

Als ich nicht sofort antwortete, stieß Noor ein schallendes Lachen aus. «Du hast so einen Gesichtsausdruck, wenn du an zu Hause denkst – da muss ich dich einfach danach fragen. Und manchmal, wenn du von unserer Flucht sprichst, dann schaust du so, wie ich mich fühlen würde, wenn jemand Thohfsa vor meinen Augen zerstückelte.»

Meine Mundwinkel hoben sich unwillkürlich. «Ich weiß genau, wie ich gucken würde, wenn das passiert.»

«Also, dann erzähl mal. Was ist geschehen?»

Was ist geschehen?

Das war die eine Frage, über die ich immer wieder nachdachte. Mittlerweile konnte ich alles nachvollziehen, was gewesen war: jeden Fehler, den ich begangen hatte. Jeden Hinweis, der mir hätte zeigen können, was sie vorhatten.

Was er vorhatte.

Wie hatte ich nur so töricht sein können? Wie hatte ich nicht erkennen können, wer er wirklich war? Wie konnte ich nur daran zweifeln, dass er immer den Kaiser mir vorziehen würde, wenn es darauf ankam?

Ich krallte meine Finger in die kratzige Bettdecke. «Ich wurde von jemandem verraten, den ich zu lieben glaubte. Jemand, von dem ich dachte, er stünde hinter mir. Aber das tat er nicht.»

«Bastard», zischte Noor, als sie stellvertretend für mich wütend wurde. «Wie war sein Name?»