I fight for you - Madlen Schaffhauser - E-Book

I fight for you E-Book

Madlen Schaffhauser

0,0

Beschreibung

Was bist du bereit, zu riskieren, wenn es nicht mehr viel für dich zu verlieren gibt? Nach dem Selbstmord ihres Bruders Dean, muss sich Sue allein um den jüngeren Bruder kümmern. Um diesem ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, bricht sie ihr Studium ab und verdient als professionelle Autodiebin ihr Geld. Ihre Sorgen ertränkt Sue in Alkohol. So betäubt sie auch den Schmerz darüber, von ihrer großen Liebe Kane verlassen worden zu sein, als sie ihn am meisten brauchte. Als er drei Jahre später plötzlich vor ihr steht – so anziehend und heiß wie sie ihn in Erinnerung hatte – und von einer riesigen Verschwörung spricht, fällt es ihr schwer, ihm zu glauben. Doch dann steht plötzlich ihr Leben auf dem Spiel und es bleibt ihr keine andere Wahl, als ihm erneut ihr Vertrauen zu schenken ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 345

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zu diesem Buch

Was bist du bereit, zu riskieren, wenn es nicht mehr viel für dich zu verlieren gibt?

Nach dem Selbstmord ihres Bruders Dean, muss sich Sue allein um den jüngeren Bruder kümmern. Um diesem ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, bricht sie ihr Studium ab und verdient als professionelle Autodiebin ihr Geld.

Ihre Sorgen ertränkt Sue in Alkohol. So betäubt sie auch den Schmerz darüber, von ihrer großen Liebe Kane verlassen worden zu sein, als sie ihn am meisten brauchte. Als er drei Jahre später plötzlich vor ihr steht – so anziehend und heiß wie sie ihn in Erinnerung hatte – und von einer riesigen Verschwörung spricht, fällt es ihr schwer, ihm zu glauben. Doch dann steht plötzlich ihr Leben auf dem Spiel und es bleibt ihr keine andere Wahl, als ihm erneut ihr Vertrauen zu schenken ...

Prolog

Sue

Amersham, England, August 2013

Manchmal frage ich mich, warum ich das hier mache. Warum ich jeden Tag vor meinen Büchern sitze und angestrengt versuche, alles in meinen Kopf zu bekommen. Besonders Mathe macht mir zu schaffen. Ich kann die Gleichung noch so lang fixieren, nur werde ich die Lösung dadurch doch nicht erhalten.

Der Stift in meinem Mund ist schon ganz zerbissen, weil ich ständig auf ihm herumkaue, sobald ich nicht mehr weiterkomme. Jetzt ist ein solcher Moment, wo ich lieber den Schreiber zur Seite legen möchte, um mit meinen Freundinnen eine Shoppingtour zu machen. Doch dann schleicht sich Dean in mein Ohr. Ich habe ihm versprochen, das College durchzuziehen, um später Ärztin zu werden. So wie er am Grab unserer Eltern versprochen hat, auf mich und unseren kleinen Bruder Jayson aufzupassen. Er glaubt an mich, was einer der wichtigsten Gründe ist, warum ich nicht aufgeben darf. Aber der bedeutendste Ansporn ist Kane.

»Niemand da?«

Als ich seinen tiefen Bass höre, zucke ich kurz zusammen. Unheimlich, als hätten meine Gedanken ihn angezogen, steht er nun in unserem Haus. Schnell kämme ich mit meinen Händen durch die Haare, um wenigstens passabel auszusehen. »Hier!«, rufe ich aus der Küche und spüre sofort dieses unverkennbare Kribbeln im Bauch. Mein Herz macht wilde Purzelbäume, mein Puls rast.

»Na?«, fragt er mit samtig-weicher Stimme, als er den Raum betritt und schenkt mir dabei ein Lächeln, das mir fast den Verstand raubt. Seine Lippen bilden einen sinnlichen Bogen, dabei erhasche ich einen Blick auf seine makellos weißen Zähne.

Ich werde wohl nie genug von seinen hellgrauen Augen bekommen, die jedes Mal eine hypnotische Wirkung auf mich haben. »Suchst du Dean?«

»Ist er denn nicht da?«, fragt Kane, als er sich ein Bier aus dem Kühlschrank holt und auf den Stuhl neben mir setzt.

»Nein, er musste noch mal weg. Er kommt erst in ein paar Stunden wieder.«

»Kommst du voran?« Er deutet auf die Bücher vor mir.

»Nicht wirklich. Ich stecke bei Mathe fest.«

»Brauchst du Hilfe?«

»Wenn du nichts anderes zu tun hast ...« Ich kann gerade noch ein verzücktes Seufzen unterdrücken, als er eins der Bücher zu sich zieht und dabei mit seinen langen, schlanken Fingern für eine Millisekunde meine berührt.

Es ist nicht das erste Mal, dass er mit mir den Mathestoff für mein Studium durchgeht. Bei ihm scheint alles so klar und einfach zu sein.

Kane erklärt mir die Aufgabe, bei der ich gerade hänge, und scherzt zwischendurch, wie er es auch sonst immer tut. Manchmal glaube ich, er flirtet mit mir, aber vermutlich ist das reines Wunschdenken.

Ich bin in Kane verschossen, seit er das erste Mal unser Haus betreten hat. Mein Bruder glaubt, dass es sich um eine bloße Schwärmerei handelt, die sich irgendwann geben würde. Doch ich bin mir sicher, dass ich mein Herz unwiderruflich an Kane verloren habe. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denken muss. An sein Lächeln. An seinen Blick. An seine rauen Hände, die mich in meinen Träumen berühren. Und an seine Lippen, die mich küssen – überall.

Sollte Dean jemals von meinen Gedanken über seinen besten Freund erfahren, wäre hier die Hölle los. Er mag Kane, der wie ein Bruder für ihn ist. Dean ist froh, dass wir uns alle so gut verstehen. Nur hält er Kane für einen schamlosen Playboy, der dauernd irgendwelche Frauen abschleppt. Mein Bruder würde mich ganz bestimmt nicht mit seinem Freund allein lassen, wüsste er von dessen Wirkung auf mich. Daher bin ich immer darauf bedacht, mir nichts anmerken zu lassen und meine Gefühle zu überspielen, was alles andere als einfach ist.

»Hast du alles verstanden?«, möchte Kane wissen, als ich die letzte Ziffer aufs Papier bringe.

»Ich denke schon.«

»Gut.« Er sieht auf seine Hände, die auf dem Tisch liegen. »Wo ist Jayson?«, fragt er nach meinem jüngeren Bruder.

»Dean hat ihn vorhin zu einem Freund gebracht. Er übernachtet da.«

Kane hebt den Kopf und sieht mich an. Sein Blick ist elektrisierend und so unglaublich intensiv, dass ich mich unmöglich abwenden kann.

»Und was machen wir jetzt?«

Bilde ich mir das ein oder klingt seine Stimme belegt? »Hast du Hunger?«, bringe ich kaum hörbar heraus.

»Ja.« Dabei lässt er mich nicht aus den Augen.

»Soll ich etwas zu Essen machen?«, frage ich mit einem dicken Kloß im Hals und fahre mir mit der Zunge schüchtern über die Lippen. »Wollen wir eine Pizza kommen lassen? Oder wäre dir chinesisch oder ein Burger lieber?«

»Pizza klingt gut. Dabei könnten wir uns einen Film ansehen.«

»Ich suche einen Film aus und du bestellst das Essen.« Bei der Vorstellung, mit Kane alleine auf einem Sofa zu sitzen, wird mir fast schwindelig. Auch wenn wir schon des Öfteren zusammen einen Film angesehen haben und er mich dabei auch hin und wieder leicht berührt hat, mich manchmal sogar an sich zog, ist es für mich immer wieder aufregend. Und jedes Mal hoffe ich auf mehr. Aber zu meinem Leidwesen ist dauernd jemand oder etwas dazwischengekommen. Allerdings kommen heute weder Jayson noch Dean nach Hause. Dieses Mal könnte es anders werden ... Jeder einzelne Nerv in mir vibriert.

Aber empfindet Kane so wie ich?

Langsam schiebt er seinen Stuhl zurück. »Quattro Stagioni, wie immer?«

»Wie immer«, bestätige ich lächelnd und gehe ins Wohnzimmer, während er den Pizzaservice anruft.

Ich versuche gerade, mich zwischen zwei Filmen zu entscheiden, als er sich über meine Schultern beugt. »10 Dinge, die ich an dir hasse oder Daniel Craig als James Bond?«

»James Bond«, antwortet er. Sein warmer Atem streift dabei meine Haut und ein Kribbeln geht durch meinen Körper.

Ich möchte mich zurücklehnen, um ihm näherzukommen. Stattdessen setze ich mich neben ihn, darauf bedacht, nur wenig Raum zwischen uns zu lassen. Seine Nähe macht mich ganz kribbelig. Ich wünschte, er würde den Arm um mich legen, mich halten, mich streicheln. Aber ich bin zu feige, den ersten Schritt zu machen, also bleibe ich still neben ihm sitzen und konzentriere mich auf den Film. Ich versuche es zumindest.

Irgendwann klingelt es und noch ehe ich reagieren kann, erhebt sich Kane vom Sofa und geht zur Tür. Ich lausche seiner Stimme. Höre, wie er den Pizzakurier bezahlt und sich bei ihm bedankt, bevor er mit einem großen Pappkarton ins Wohnzimmer zurückkommt.

»Abendessen«, sagt er feierlich und legt die geöffnete Pizzaschachtel vor uns auf den Tisch.

Wir nehmen beide ein Stück und beißen fast gleichzeitig hinein.

Wenn mich jemand fragen würde, was in den letzten Minuten im Film passiert ist, müsste ich lügen. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, Kane beim Essen zuzusehen. Bei jedem Bissen, den er macht, träume ich insgeheim davon, seine Lippen mit meinen zu berühren. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, sie zu küssen, sie zu schmecken.

Ein bezauberndes Lächeln umspielt seine Lippen. »Gefällt dir, was du siehst?«

Erschrocken reiße ich die Augen auf und mache einen Satz zur Seite. Meine Wangen werden rot, weil er mich dabei ertappt hat, wie ich ihn beobachtet habe. »Tut mir leid«, sage ich ganz verlegen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Sehr«, antworte ich im Flüsterton. Jetzt glüht mein Gesicht noch mehr.

»Komm wieder zu mir«, sagt er sanft.

Nur zu gern rutsche ich wieder an seine Seite und ehe ich mich versehe, liegt sein Arm auf meinen Schultern.

Viel zu schnell beginnt der Abspann, viel zu schnell kommt der Gedanke, dass Kane bald nach Hause gehen könnte. Ich möchte nicht, dass er geht. Verzweifelt vergrabe ich eine Hand in seinem Shirt und bitte ihn stumm zu bleiben.

Als er mir dann plötzlich mit seiner Hand meinen Arm auf und ab streicht, setzt für einen Moment mein Atem aus. Vielleicht habe ich sogar ein leises Stöhnen von mir gegeben, ich bin mir nicht sicher. Ich lausche jedem seiner Atemzüge und fühle seine Finger abwechselnd in meinen Haaren und auf meiner Haut. Ich kuschle mich dichter an seine Brust, spüre dabei seinen ruhigen Herzschlag und als dann seine Lippen einen zarten Kuss auf meinen Scheitel drücken, dann noch einen auf meine Schläfe, rutschen mir Worte aus dem Mund, die ich mich sonst niemals getraut hätte zu sagen.

»Möchtest du mit mir nach oben gehen?«

Kane zuckt zusammen und sein Herz schlägt mit einem Mal schneller. Doch er bewegt sich nicht, hält mich nach wie vor in seinen Armen.

Ich schlucke schwer und habe Mühe, zu atmen. Verzweifelt warte ich auf seine Antwort.

Nach ein paar Sekunden, die sich anfühlten, wie eine halbe Ewigkeit, legt Kane einen Daumen unter mein Kinn und hebt es etwas an. Sein Blick bohrt sich in meinen. »Bist du sicher?«

»Ich war mir nie sicherer.«

Seine Augen wirken dunkler als zuvor. »Ich hatte gehofft, du würdest das fragen, Sweetheart.«

Mein Herz hört auf zu schlagen, um in der nächsten Sekunde in einen wilden Galopp zu verfallen. »Komm«, hauche ich. Ich stehe auf und halte ihm die Hand hin. Gemeinsam gehen wir zur Treppe und hinauf in mein Zimmer.

1. Kapitel

Sue

Heute, Juli 2016

Ich brauche nur noch ein paar Tasten des Laptops, der auf meinem Schoß liegt, zu drücken, dann habe ich ihn. »Bist du bereit?«, frage ich nach hinten.

Auf dem Rücksitz wartet Perce auf seinen Einsatz und wippt ungeduldig mit dem Fuß.

»Kann es kaum erwarten«, erwidert der schwarzhaarige Chinese mit einem frechen Grinsen.

»Ich schicke ihn in die nächste Seitengasse, dann bist du dran.«

»Alles klar.«

Ich brauche noch die Zustimmung unseres Fahrers, der uns mit seinem Subaru durch die Straßen lenkt, damit er auch im richtigen Moment handelt. Ich werfe einen Blick zum Fahrersitz. »Ike?«

»Du kannst loslegen.« Ike hat eine Hand am Lenkrad, die andere am Schalthebel. Sein Blick ist nach vorn gerichtet.

Mit Zeigefinger und Daumen drücke ich auf meinem Notebook zwei Tasten gleichzeitig und sofort blinkt der BMW vor uns nach links. Ich beschleunige den Wagen und lasse ihn unkontrolliert schlängeln, um das Überraschungsmoment für den BMW-Fahrer noch zu erhöhen. Das alles mache ich nur mit meinem Rechner. Sobald ich im System des jeweiligen Autos bin, übernehme ich die Steuerung. So wie jetzt bei dem leuchtend blauen Sportwagen, der gleich eine Vollbremsung hinlegen wird.

»Jetzt!«, rufe ich in die angespannte Stille.

Ike tritt sofort die Bremse durch und in der nächsten Sekunde leuchten die Bremslichter des vorderen Wagens rot auf.

»Los! Los! Los!«, brüllt Ike.

Die rechte hintere Tür wird aufgestoßen und wieder zugeschlagen. Perce rennt auf das vordere Auto zu, während ich abermals auf meinem Laptop herumdrücke und fast zeitgleich geht bei dem königsblauen Schlitten vor uns automatisch die Fahrertür auf. Perce zerrt einen verdutzt schauenden Mann aus dem Wageninneren, stößt ihn zur Seite und schlüpft hinter das Steuer. Ich kappe die Verbindung zum BMW. Gleich darauf fährt Perce mit unserer neuesten Errungenschaft davon – durch die Straßen von London, Richtung Garage, wo Greg und Chad, die letzten beiden der Gang auf uns warten.

Ike und ich folgen Perce durch die Seitengasse, wobei ich durch den Seitenspiegel den Mann beobachte, dem soeben sein Auto gestohlen wurde und der nun wild mit seinen Armen rudert. Dabei sieht er fassungslos seinem mindestens zweihunderttausend Pfund teuren M4 nach, der in den nächsten Sekunden um eine Linkskurve biegen und aus seinem Blickfeld verschwinden wird.

»Kannst du mich hören?«, frage ich Perce über den Ohrknopf, mit dem wir alle miteinander verbunden sind.

»Yeah! Ist das ’ne geile Karre!«, johlt dieser.

Ich muss schmunzeln, doch Ike starrt finster durch die Frontscheibe. »Achte auf den Verkehr, fahr die erlaubte Geschwindigkeit und mach keinen Scheiß«, weist er Perce an.

»Mann, Ike, mach dich mal locker. Lass mich diese kurze Fahrt genießen. Wir haben das Baby. Also kein Grund zur Sorge.«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Kein unnötiges Risiko. Wir sehen uns in der Zentrale.« Ike biegt nach rechts, während Perce nach links fährt.

Wir überqueren eine Kreuzung, bevor Ike einen raschen Seitenblick in meine Richtung wirft. »Du warst wieder einmal absolute Klasse, Kleines.«

»Danke.«

»Dein Bruder wäre stolz auf dich.«

Ich zucke leicht zusammen. Dean war es, der mir die Sprache der Computer beigebracht hat. Ich war eine gute Schülerin und verbesserte meine Fähigkeiten von Tag zu Tag. Aber Dean wollte bestimmt nicht, dass ich Systeme hacke und mich illegal bereichere. Daher glaube ich eher, Dean wäre enttäuscht von mir, wenn er das hier miterleben würde. Doch das tut nichts mehr zur Sache. Dean ist tot. Und ich muss ohne ihn klarkommen.

Ich erwidere nichts auf Ikes Äußerung und konzentriere mich auf den Verkehr sowie die Stimmen in meinem Ohr.

»Perce ist angekommen«, erklärt uns Greg, der in der Zentrale vor seinen Computern sitzt.

»Sehr gut«, meint Ike neben mir.

»Wir sind in einer Minute bei euch«, melde ich mich bei den anderen und fahre meinen Laptop runter.

Bei der nächsten Kreuzung biegen wir nach rechts in ein abgelegenes Industriegebiet ab. Hier befindet sich unser Hauptquartier. Wir steuern auf ein großes, gräuliches und etwas heruntergekommenes Gebäude zu, das früher bestimmt als Autowerkstatt gedient hat. Eins der beiden Tore steht offen und schließt sich wieder, sobald wir hindurchgefahren sind.

»Lass uns das Schmuckstück betrachten«, meint Ike, nachdem er den Motor des Subarus ausgemacht hat.

Ich folge ihm zu dem leuchtend blauen Auto, das in wenigen Tagen einen neuen Besitzer bekommen wird. Die anderen stehen bereits um den BMW herum und begutachten ihn von allen Seiten.

Perce prahlt damit, wie geil diese Sportkarre zu fahren ist und was für ein Feeling es war, in den Kurven zu liegen, während Gregs blonder Haarschopf unter der Haube steckt. Mit geübtem Blick überprüft er den Motor, klappt schließlich die Haube wieder zu und grinst zufrieden.

Ike setzt sich auf den Fahrersitz, fährt mit der Hand über das lederne Lenkrad und das schwarze Armaturenbrett, ehe er wieder aussteigt und jedem auf die Schultern klopft.

Während Perce, Greg und Ike ihre Begeisterung kaum zurückhalten können, steht Chad ganz gelassen neben dem Auto. In seiner rechten Hand hält er wie immer einen Joint und hat ein dreckiges Grinsen auf dem Gesicht. »Sehr gut«, meint er, zieht an seinem Glimmstängel und schiebt seine schulterlangen, fettigen Haare hinter die Ohren.

Ich kann Chad nicht ausstehen. Zwar versteht er sein Handwerk als Mechaniker, aber manchmal gibt mir seine gleichgültige, schleimige Art echt zu denken. Ich versuche, es irgendwie locker zu nehmen.

Ich bin als Letzte zur Gruppe gestoßen. Vor fast drei Jahren haben sie mich aufgenommen, als ich keinen Ausweg mehr sah. Damals waren die vier Jungs schon eine eingeschworene Gemeinschaft, weshalb ich mich hüten werde, mich über ein anderes Mitglied auszulassen. Eigentlich komme ich mit allen gut aus. Nur mit Chad habe ich meine Mühe.

Wir klatschen alle in die Hände, um den Erfolg des heutigen Tags auszudrücken. Jedes einzelne Augenpaar leuchtet vor Freude und Erleichterung, weil alles so reibungslos abgelaufen ist – wie wir es geplant haben. Wir haben schon viele Coups hinter uns, trotzdem kommt jedes Mal eine gewisse Anspannung auf und löst sich erst wieder, wenn alle heil und sicher zurück sind.

Hoffentlich strahlen auch meine Augen eine solche Begeisterung aus. Niemand soll erfahren, wie ich tatsächlich über das Ganze denke.

Das Auto ist zweifellos ein wahres Juwel. Es wirkt sportlich, mit aerodynamischen Linien und das Interieur besteht nur aus den allerbesten Materialien. Aber am besten ist, was es uns einbringen wird. Und dieser edle BMW wird jede Menge Geld abwerfen.

»Du warst super, Sue.« Perce klopft mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Zuverlässig wie immer.« Das kommt von Greg.

»Lasst uns anstoßen.« Chad taucht mit Bier auf, für jeden eine Flasche.

Wir öffnen sie und trinken auf unseren Triumph. Danach wird das weitere Vorgehen besprochen, wobei die leeren Flaschen durch volle ausgetauscht werden. Ich höre mehr zu, als dass ich an der Diskussion teilnehme. Meinen Part habe ich erledigt. In den nächsten Tagen ist das Können von Greg und Chad gefragt. Sie werden das Auto umlackieren, die Fahrgestellnummer austauschen, vielleicht noch etwas am Motor herumschrauben. Keine Ahnung, was alles nötig ist, damit man den Wagen nicht mehr zurückverfolgen kann. Hauptsache, die beiden Mechaniker wissen, was zu tun ist. Mein Talent ist wieder erwünscht, wenn es um die Suche nach dem nächsten Objekt geht und darum, es zu knacken. Bei manchen Autos komme ich im Nullkommanichts in das System rein, bei anderen dauert es länger, bis ich sie gehackt habe, doch bis jetzt konnte ich noch jedes Fahrzeug, auf das wir es abgesehen haben, unter meine Kontrolle bringen.

Mein zweites Bier kippe ich in schnellen Zügen runter, um endlich nach Hause zu kommen. Ich bin erschöpft und fühle mich irgendwie ausgelaugt. Die letzten Wochen waren ziemlich anstrengend. Wir gehen immer auf Nummer sicher, ehe wir zum Schlag ansetzen. Dafür braucht es eine genaue Überwachung unseres Zielobjekts sowie exakte Vorbereitung des Coups. Deshalb musste ich viel Zeit mit den Jungs verbringen, was mir oft nicht leichtfällt. Sie sind nicht wirklich meine Freunde – einzig vielleicht Perce – und schon gar nicht meine Familie. Bei ihnen kann ich nicht ich sein, aber durch sie komme ich zu Geld.

Nun brauche ich Ruhe, Abgeschiedenheit und meinen kleinen Bruder. »Jungs, ich verziehe mich!«

»Jetzt schon?« Ike wirkt baff, weil ich meistens länger sitzen bleibe und mindestens ein Bier mehr trinken würde.

Aber heute ... »Ich bin müde.«

»Soll ich dich fahren?«

»Nein, ich bin mit dem Auto da.«

Als wir uns ein paar Schritte von den anderen entfernt haben, stoppt mich Ike. »Willst du heute Nacht nicht ausnahmsweise bei mir bleiben?« Ein kleines Grübchen neben seinem linken Mundwinkel kommt zum Vorschein, als er mich mit einem leichten Lächeln ansieht.

Ike mag mit seiner muskulösen Statur und seinen immer perfekt gestylten, schwarzen Haaren auf viele Frauen attraktiv wirken, doch wenn ich in seine Augen blicke, sehe ich nur eisige Kälte. Hinter seiner charmanten Fassade steckt etwas Dunkles, Gefährliches. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, was es ist. »Das hatten wir doch schon.«

»Du bist wirklich eine harte Nuss.«

Oder einfach ein Feigling, füge ich stumm hinzu. »Wir hören uns.«

»Pass auf dich auf«, meint Ike und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

Seit über zwei Jahren versucht er, mich auf den Mund zu küssen, doch jedes Mal wehre ich ihn ab, sodass er mit seinen Lippen oberhalb meiner Augenbrauen landet.

»Du machst es mir echt schwer«, höre ich ihn noch sagen, ehe ich mich aus seinem Griff löse und die Halle durch einen Seiteneingang verlasse.

Glaub mir, nicht nur dir.

Draußen herrscht absolute Dunkelheit. In dieser abgeschiedenen Gegend gibt es keine Straßenbeleuchtung und auch keine Kameras. Weder am Tag noch in der Nacht wird dieser Ort überwacht, was der Grund ist, warum sich die Gang für dieses Stadtviertel entschieden hat. Wie lang die Jungs dieses Gebäude schon ihr Eigen nennen, weiß ich nicht. Ich bin vor dreiunddreißig Monaten zu ihnen gestoßen, da gab es diese Clique bereits. Damals war auch Dean einer von ihnen.

Manchmal vergesse ich, warum ich das hier mache und es erscheint mir in jenen Augenblicken nicht mal falsch zu sein, weil ich dann meiner Vergangenheit entfliehen kann. Doch meistens quält mich mein Gewissen, da ich Jayson jeden Tag aufs Neue belüge, so wie es schon Dean getan hat. Ich habe mir damals geschworen, nicht denselben Fehler zu machen. Und dennoch – es brauchte nur zwei Monate, um so zu werden wie er.

Ich schüttle den Kopf, wie um meine Gedanken abzuwerfen und schließe meinen Honda auf, den ich vor dem Gebäude geparkt habe, starte den Motor und mache mich auf den Heimweg. Während den nächsten fünfzig Minuten überlege ich mir eine gute Ausrede, damit ich Jayson meine lange Abwesenheit erklären kann. Dabei hoffe ich, dass er bereits schläft und ich dadurch unbemerkt in mein Schlafzimmer schleichen kann.

Das Haus ist dunkel, als ich in die Auffahrt einbiege. Nachdem ich geparkt habe, bleibe ich noch ein paar Minuten im Auto sitzen und betrachte das Haus, das schon mein ganzes Leben mein Heim ist. Es gibt Momente, in denen ich nichts lieber täte, als auszuziehen. Zu viele Gefühle, Erinnerungen und Eindrücke existieren hier, die mich ständig zu erdrücken versuchen. Doch dann tauchen die Gesichter meiner Eltern und das von Dean vor meinem inneren Auge auf – ich sehe, wie wir lachend über den Rasen springen, am Esstisch spielen oder uns alle auf die Couch kuscheln und zusammen einen Film ansehen. In solchen Augenblicken verfliegen all die Überlegungen, ein neues Zuhause zu suchen.

Ich steige aus und gehe ins Haus, lasse meine Tasche neben der Tür auf den Boden fallen. Müde schlurfe ich durch den Flur Richtung Wohnzimmer.

»Wo warst du?«, fragt Jayson und macht damit meine Hoffnung, dass er schon längst im Bett liegt, zunichte. Er sitzt auf dem Sofa und sieht mich missbilligend an.

»Ich musste Überstunden machen.« Das ist nicht mal gelogen.

»Schon wieder?«

»Du weißt doch, wie das ist«, sage ich vage.

»Nein, weiß ich nicht. Und ich glaube dir kein Wort. Überstunden, Treffen mit potenziellen Kunden im Ausland, längere Meetings, dichter Verkehr und all die anderen Entschuldigungen, die du von dir gibst, sind nichts weiter als Müll. Es ist echt zum Kotzen, dass du mich dermaßen an der Nase herumführen willst!« Jayson schüttelt den Kopf und geht in die Küche, vermutlich, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er wirkt wütend und frustriert, und ich kann es ihm nicht mal verdenken.

Ich folge ihm. Er hat sich mit den Händen auf der Arbeitsfläche abgestützt und sieht durch das kleine Fenster oberhalb der Spüle in die Nacht hinaus. Seine Haltung ist gebeugt, als würde eine schwere Last auf seinen Schultern liegen. Er wirkt wie ein alter Mann. Dabei ist er gerade siebzehn geworden.

Verzweifelt suche ich nach Worten, doch statt ihm eine Erklärung zu geben oder ihn um Verzeihung zu bitten, bringe ich gerade noch seinen Namen heraus. »Jayson ...«

»Was?« Er dreht sich zu mir um. »Was willst du mir sonst noch vorgaukeln? Du bist keinen Deut besser als Dean«, schleudert er mir entgegen, bevor er nach oben rennt und die Tür seines Zimmers hinter sich ins Schloss wirft.

Mir bleibt der Mund offen stehen. Sein letzter Vorwurf trifft mich hart und unvorbereitet. Nur leider hat er verdammt noch mal recht.

Unser großer Bruder hat uns getäuscht und angelogen, was seinen Beruf anbelangt. Irgendwann fand ich heraus, was er tatsächlich machte. Ich sprach ihn niemals darauf an und versuchte auch nicht, ihn davon abzubringen. Ich hätte sowieso nichts ändern können. Allerdings glaubte ich, dass Jayson noch zu klein war, um etwas von Deans eigentlichem Leben mitzubekommen. Doch heute zeigte sich, dass ich mich geirrt habe – in beiderlei Hinsicht.

Ich gehe nach oben und stelle mich vor seine Tür. Überlege, ob ich anklopfen soll, entscheide mich dann jedoch für die feige Variante. »Es tut mir leid, Jayson«,flüstere ich vor seinem Zimmer und wende mich ab, um mich aufs Ohr zu legen.

Der nächste Morgen kommt viel zu schnell, aber als ich Jayson im Haus rumoren höre, steige ich aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach ihm. Ich muss ihm einiges erklären.

Er steht in der Küche, an den alten runden Tisch gelehnt, und hält ein Glas Orangensaft in der Hand. Als er mich wahrnimmt, wendet er sofort den Blick ab.

Es tut mir weh, ihn so traurig und verletzt dastehen zu sehen. Ganz besonders, weil ich einen großen Teil dazu beigetragen habe. Erst haben uns unsere Eltern verlassen, dann Dean. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihn zu enttäuschen.

»Jayson ... ich ...«

»Ich muss in die Schule.« Ohne mich anzusehen, geht er an mir vorbei.

»Jayson, bitte.«

Er hält inne, dreht sich allerdings nicht zu mir um. »Dachtest du wirklich, ich würde dir die Geschichte über den Job als Marketingagentin abnehmen?« Er lässt seinen Kopf hängen und schüttelt ihn. » Ich bin nicht blöd, Sue. Solange du nicht bereit bist, die Wahrheit zu sagen, brauchen wir uns nicht zu unterhalten.«

Verdutzt schaue ich aus dem Küchenfenster und sehe meinem Bruder nach, wie er das Haus verlässt und die Einfahrt hinuntergeht.

***

In den vergangenen drei Tagen versuchte ich mehrmals, an Jayson heranzukommen. Doch er hat immer gleich dichtgemacht und meine Bemühungen, mich mit ihm auszusprechen, sofort im Keim erstickt. Er verließ frühmorgens das Haus, um in die Schule zu gehen und ist erst am späten Nachmittag zurückgekommen. Sein Rückzug trifft mich. Aber kann ich ihm sein Verhalten verübeln?

Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er erst wieder mit mir reden wird, wenn ich bereit bin, ihm die Wahrheit über meinen Job zu erzählen. Und dieser hat nichts mit einer großen Marketingagentur zu tun, wie ich es ihm seit fast drei Jahren weiszumachen versuche.

Zwar ist er mein kleiner Bruder, allerdings bestimmt er momentan, wie es bei uns abläuft. Ich hasse es, wenn wir streiten oder uns wie zwei Fremde anschweigen. Ich habe keine Ahnung, was oder wie viel er von meinem Job weiß, allerdings scheint es auszureichen, um mich in die Ecke zu drängen. Ich habe nur noch Jayson. Vielleicht ist es an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Er ist schließlich kein Kind mehr.

Während ich das Haus auf Vordermann bringe, das Bad schrubbe, die Küche putze und den Einkauf wegräume, überlege ich mir, wie ich ihm, das, was ich tue, erklären kann. Dann warte ich ungeduldig auf meinen Bruder und wünsche mir, dass das Gespräch so ablaufen wird, wie ich es bereits Dutzende Male im Kopf durchgegangen bin. Es wird nicht leicht, ihm zu erklären, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe. Aber damals, als das mit Dean passiert ist, war ich ein absolutes Wrack. Ich habe die Stipendien verloren, mein Studium geschmissen. Mich selbst verloren. Und dann, als ich keinen Ausweg mehr sah, tauchte plötzlich Ike auf. Es klingt vielleicht seltsam, aber er war es, der mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fing an, Autos zu hacken, um Geld zu verdienen. Ich konnte den großen Schuldenberg abbauen, den uns Dean hinterlassen hat und kann heute, ohne lange zu grübeln, die laufenden Rechnungen bezahlen. Manchmal gelingt es mir sogar, ein wenig Geld auf die Seite zu legen. Vor Jahren habe ich mich für diese Richtung entschieden, jetzt fällt es mir schwer, in eine andere abzubiegen.

»Jayson!«, rufe ich, als ich die Eingangstür höre.

»Was gibts?«, will er wissen und klingt genervt.

Ich gehe in den Flur und sehe ihn mit einem hübschen Mädchen auf der untersten Stufe der Treppe stehen.

Ist das seine Freundin?

In diesem Moment wird mir bewusst, wie wenig ich von seinem Leben mitbekomme, was mich unheimlich traurig stimmt. Ich bin viel zu sehr mit meinem Mist beschäftigt, als dass ich Zeit für ihn aufbringen könnte.

»Ich bin Sue, Jaysons Schwester«, stelle ich mich vor.

»Jill.«

Ich lächle sie kurz an und bitte sie stumm um Entschuldigung, weil ich mich für ein paar Minuten mit Jayson unterhalten möchte, womit ich bestimmt ihre Pläne für den Abend durcheinanderbringe. »Können wir reden?«, wende ich mich an Jayson.

»Muss das jetzt sein?«

»Ich habe schon viel zu lang gewartet.«

Wir sehen uns einen Augenblick an. Schlussendlich nickt er schwach. »Ich komme gleich.«

Sofort stiehlt sich ein Bild vor mein inneres Auge. Es zeigt Jayson, der seine Freundin die Treppe hinauf in sein Zimmer führt. Dann verändert sich das Bild und statt Jayson sehe ich Kane, der meine Hand nimmt. Noch immer schleichen sich Erinnerungen an ihn gnadenlos in mein Herz und lähmen mich, wie ein tödliches Gift, das von meinem Körper Besitz ergreift, bis ich kaum noch atmen kann. Ich klammere mich am Treppengeländer fest, um nicht den Halt zu verlieren, wobei einige Sekunden vergehen, bis ich meine widerspenstigen Gedanken unter Kontrolle habe.

Kaum bin ich in der Küche und habe mir ein Glas Wasser geholt, betritt Jayson den Raum.

»Schieß los.« Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich ernst an. Sein Gesicht ist voller Verachtung.

»Setz dich bitte.« Ich deute auf die vier Stühle, die rund um den Tisch verteilt stehen und nehme selbst Platz.

»Warum sollte ich?«

»Ich kann nicht reden, wenn ich ständig aufsehen muss.«

Anscheinend genügt ihm der Grund und er nimmt sich einen Stuhl.

»Es tut mir leid«, beginne ich, um ihm damit hoffentlich diese Wut zu nehmen, die er auf mich zu haben scheint.

»Warum sagst du das?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Und was tut dir leid?« Er redet zwar leise, aber der Ton in seiner Stimme verrät mir, was er von mir hält. Was er von meiner Arbeit hält. »Du bist in der gleichen Gang wie Dean, stimmt’s?« Jayson beugt sich vor und sieht mir fest in die Augen, ehe er mir die nächste Äußerung mit nahezu verhasster Schärfe entgegenschleudert. »Du machst den gleichen Scheiß wie er damals.«

Wir beide haben gesehen, was mit Dean passiert ist. Wir haben ihn verloren, weil er mit dem, was er gemacht hat, nicht mehr Leben konnte. Ich glaube, Jayson versucht, seine Sorge zu überspielen, indem er seine Gefühle in Zorn verpackt. Trotzdem brauche ich eine Minute, um mich zu fassen. »Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich nicht vorhatte, in Deans Fußstapfen zu treten?«

»Aber du hast diesen Weg gewählt. Du ganz allein.«

Ich sollte nicht wütend werden, trotzdem machen mich seine Vorwürfe zornig und es enttäuscht mich, dass er dermaßen schlecht von mir denkt.

Noch vor drei Jahren hatte ich ein genaues Ziel vor Augen, doch meine Zukunftsträume wurden in einer einzigen Nacht vernichtet. Wie ein Streichholz ausgeblasen wird, so wurde alles, was ich mir wünschte, ausgelöscht.

»Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen?«

»Weiterstudieren.«

»Und wer hätte dann zum Henker für uns gesorgt? Wer würde sich jetzt um uns kümmern?« Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch, bevor ich aufstehe und rastlos in der Küche umhergehe.

»Wir werden eine andere Lösung finden.«

»Du denkst immer, es wäre alles so einfach. Aber da täuschst du dich. Im Moment bin ich es, die unseren Lebensunterhalt verdient. Vielleicht solltest du dich daher etwas rücksichtsvoller verhalten. Letztendlich mache ich das alles für uns.«

»Wenn die Bullen dich schnappen, kannst du gar nichts mehr.« Betrübt sieht er auf die Tischplatte, die ihre besten Tage schon längst hinter sich hat.

Damit hat er absolut recht, dennoch erwidere ich ganz ruhig: »Sie werden mich nicht kriegen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Vertrau mir.«

»Ich möchte nicht, dass du so endest wie Dean.«

»Niemals«, stöhne ich verzweifelt auf und gehe vor ihm in die Hocke.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, weshalb Jayson solche Ängste plagen. Schließlich ist es nicht ungefährlich, noch dazu verboten, was ich tue. Was, wenn mich doch eines Tages die Polizei kriegt? Was würde dann aus Jayson werden?

Meine Wut und mein Zorn sind wie verflogen, dafür stürmen Schmerz und Verzweiflung auf mich ein, als ich nun in sein Gesicht sehe. Ich lege meine Hände an Jaysons Wangen, streiche mit den Daumen die Tränen weg, die plötzlich über sein Gesicht laufen, und flüstere: »Was er gemacht hat ... Ich könnte dir das nie im Leben antun.«

Jayson legt die Arme um mich und drückt mich fest an sich. »Ich hab dich lieb, Schwesterherz.«

»Ich dich auch, Jayson.«

Etliche Minuten vergehen, bis wir uns wieder lösen.

»Erzählst du mir von Jill?«, frage ich ihn, nachdem wir einen Augenblick stillschweigend in der Küche saßen und sich unsere Gemüter wieder beruhigt haben. »Sie macht einen netten Eindruck.«

»Sie ist auch nett.«

»Geht sie in deine Klasse?«

»Nein, sie ist eine unter mir.«

Ich bin so unheimlich erleichtert, dass wir wie Bruder und Schwester wieder normal miteinander reden können. »Und seit wann läuft das zwischen euch?«

Er zuckt kurz mit den Schultern. »Seit etwa vier Monaten.«

Er hat noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht, weshalb ich jetzt etwas überrascht bin, dass er scheinbar seit Wochen eine Beziehung hat. Ich nehme seine Hand und lächle ihn an. »Es gefällt mir, dass du jemanden gefunden hast.«

»Mir auch.«

Wenn er glücklich ist, warum klingt dann seine Stimme so zurückhaltend, ja fast besorgt? Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass ihn irgendwas bedrückt, er aber nicht weiß, wie er es aussprechen soll.

»Was?«, fordere ich ihn auf.

»Vielleicht solltest du auch endlich nach vorn schauen und ihn loslassen.«

»Dean?«, frage ich bestürzt.

»Nein, Kane.«

2. Kapitel

Sue

Seit unserem letzten Coup sind fünf Tage vergangen, als mich Ike ansimst. Abingdon Villas, ist seine schlichte Nachricht.

Ab und an frage ich mich, ob mein Leben verflucht ist. Kaum habe ich mich mit meinem Bruder versöhnt und es kehrt so etwas wie Alltag ein, steht bereits der nächste Auftrag an. Jayson und ich haben über meinen Jobgesprochen, aber ist damit wirklich alles aus der Welt geschafft? Nein. Wir haben für einen Moment Frieden geschlossen, der vermutlich spätestens dann Risse bekommt, wenn er erfährt, dass ich immer noch Autos klaue.

Er hat Angst um mich und das zu Recht. Was ich tue, ist gefährlich und strafbar. Wie er gesagt hat, könnten mich die Bullen erwischen oder wir bauen bei einem unserer Coups einen Unfall. Trotzdem mache ich weiter, weil ich keine Alternative habe. Ich darf nicht zulassen, dass die Behörden uns unser Zuhause wegnehmen oder Jayson bis zu seiner Volljährigkeit zu Pflegeltern geben. Ich würde es mir nie verzeihen, so versagt zu haben. Außerdem möchte ich, dass Jayson eine bessere Zukunft hat. Er träumt davon, ein großer Rugbyspieler zu werden. Er soll seinen Sport zum Beruf machen, studieren, egal, was, nur nicht in diesem Sumpf landen, in dem ich mich befinde. Jayson soll die Chance bekommen, an der ich bloß schnuppern durfte. Wenigstens einer in unserer Familie sollte seine Träume leben dürfen.

Es läuft immer gleich ab. Ich bekomme eine Nachricht von Ike, wo unser nächstes Objekt steht, und mache mich dann an die Nachforschungen, Überwachung und wäge die Risiken ab. Für den Raub ist es notwendig, über den genauen Tagesablauf des Besitzers des zu stehlenden Autos informiert zu sein. An welcher Straße das Fahrzeug steht. Wo wir ihn am besten entwenden können. Und nicht zu vergessen, wie das System des Autos funktioniert. Nur wenn wir gut vorbereitet sind, wird uns ein reibungsloser Coup gelingen.

Unser nächstes Ziel befindet sich anscheinend in der Abingdon Villas. Eine Straße, die mitten in London liegt, was die ganze Überwachung eine Spur heikler macht. Zu viele Nachbarn, zu viele Spaziergänger, zu viele Arbeiter, die irgendwas in den Häusern oder an den Fassaden zu reparieren haben. Soll heißen: zu viele Zeugen.

Ich fahre mit meinem Auto in Richtung Stadt und lasse es dann außerhalb stehen, um mit der U-Bahn ins Innere zu kommen. Je unauffälliger, umso besser.

Nach zehn Gehminuten biege ich in die Abingdon Villas, in der sich auf den Straßenseiten ein Auto ans nächste reiht. Praktisch jeder Parkplatz ist besetzt. Trotzdem brauche ich von Ike keine detaillierte Beschreibung oder den Standort des Zielobjekts. Kaum laufe ich in die besagte Straße, werde ich sogleich von einem Traum von Auto magisch angezogen. Da steht er: Ein nachtschwarzer Mercedes Roadster, der tiefergelegt ist, sodass fast kein Spielraum mehr zwischen Karosserie und Straße vorhanden ist. Er hat eine lange Motorhaube, die beinah die Hälfte des Autos ausmacht. Passend dazu das aggressive Aussehen der Frontpartie. Abgerundet wird das Ganze von LED-Matrix-Scheinwerfern – das neueste, teuerste und momentan beste Lichtsystem, das auf dem Markt erhältlich ist. Und natürlich eine Auspuffanlage mit vier Endrohren. Diese Maschine hat alles, was neu, außergewöhnlich und luxuriös ist. Sie strotzt geradezu vor Kraft und Eleganz.

Ich gehe weiter bis ans Ende der Straße, überquere sie und spaziere auf der anderen Seite wieder zurück. Dabei versuche ich, so viele Details wie möglich aufzunehmen. Die Häuserfassaden wechseln von weiß zu braun und von braun zu backsteinrot. Vier Gebäude werden gerade renoviert und vor jedem Haus gibt es mindestens einen Parkplatz für ein Auto. Gartenzäune oder niedrige Mauern trennen die Grundstücke von den Gehwegen und der Straße ab.

Ich suche die Gegend nach einer geeigneten Nische oder Treppe ab, irgendwas, wo ich in Ruhe mein Notebook herausholen kann, um mit meiner Arbeit loszulegen. Ein feines Lächeln huscht mir über das Gesicht, als ich ein kleines Café entdecke. Dort kann ich mich unauffällig niederlassen. Besser und einfacher könnte es gar nicht sein. Dort habe ich einen perfekten Blick auf den Mercedes und es ist nah genug, sodass ich zwischen meinem Rechner und dem Auto eine Verbindung herstellen kann.

Doch als ich das Café betreten möchte, hängt an der Tür ein kleines Schild: Wegen Privatfeier geschlossen.

So bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Feierabend zu machen. Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Daher ziehe ich mich zurück und mache mich auf den Heimweg, nicht ohne vorher noch mal einen Blick auf die schwarze Schönheit – unser nächstes Opfer – zu werfen.

Als ich wieder in der U-Bahn sitze, melde ich mich kurz bei Ike.

Da hast du dir ein wahres Juwel ausgesucht. Wird nicht einfach.

Es dauert nicht lang, bis mein Smartphone eine Nachricht von ihm empfängt.

Trotzdem kein großes Ding für dich, oder?

Auf jeden Fall einen Versuch wert. Gehe morgen wieder hin. Du hörst von mir.

Nachdem meine Antwort abgeschickt ist, stecke ich das Telefon in die Tasche zurück und lehne meinen Kopf gegen den Sitz. Als meine Haltestelle kommt, steige ich aus und gehe nach Hause.

Es ist fast Mittag, als ich mich wieder auf den Weg nach London mache. Genau wie gestern. Zuerst mit dem Auto, dann mit der U-Bahn. Gott sei Dank hat das Café heute geöffnet. Nachdem ich bei der Bedienung ein Wasser bestellt habe, hole ich mein Notebook aus der Tasche und lege es betriebsbereit vor mir auf den kleinen runden Tisch. Ich beobachte das Haus, vor dem mein Objekt steht und wünsche mir mit jeder verstreichenden Minute, dass sich endlich der Besitzer des schwarzen Mercedes’ zeigen würde. Doch als es anfängt, zu dämmern, wurde mein Wunsch noch immer nicht erfüllt. Gleichzeitig habe ich auch keinen Erfolg, in das System des Autos einzudringen. Je mehr Technik, umso einfacher das Hacken. Doch bei diesem Fahrzeug werden meine Versuche, ins Herzstück vorzustoßen, jedes Mal zunichtegemacht. Immer wieder erhalte ich die gleiche Meldung. Immer werden dieselben fünf Buchstaben auf meinem Bildschirm angezeigt: Error.

Es ist frustrierend und enttäuschend. Darum ist es besser, für heute Schluss zu machen.

Jill und Jayson lachen gerade über etwas, als ich durch die Tür trete und mir wird schlagartig warm ums Herz. Viel zu lang ist es her, dass dieses Haus mit Lebensfreude und Heiterkeit gefüllt wurde. Ich lehne mich an den Türrahmen und beobachte die beiden, wie sie zusammen auf dem Sofa sitzen und sich einen Film ansehen. Eng aneinandergeschmiegt. Jayson fährt immer wieder durch ihr Haar, während sie eine Hand auf seinem Oberkörper liegen hat.

Es macht mich glücklich, ihn so zu sehen. Mein kleiner Bruder wird sein Leben richtig leben. Dafür werde ich sorgen.

»Willst du dich nicht zu uns setzen?« Jill reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich lächle ihr zu. »Ich möchte euch nicht stören«, sage ich und will mich bereits abwenden.

»Das tust du nicht«, meint Jayson. »Komm.« Er winkt mich mit einer Hand zu sich. »Wir sehen uns gerade Hangover an.«

»Na gut.« Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt einen Film mit meinem Bruder angesehen habe. Obendrein ist es eine gute Ablenkung von meiner Arbeit. Ich lasse mich auf dem übergroßen Sessel nieder, der neben der Couch steht, und ziehe meine Beine an. Nach einer guten Stunde ist der Streifen zu Ende.

»Übernachtest du heute hier?«, frage ich Jill, als Jayson auf der Toilette verschwindet.

»Wenn es dir nichts ausmacht?«

»Natürlich nicht. Wenn deine Eltern wissen, wo du bist.«

Jills Augen fangen an zu leuchten. »Sie mögen ihn. Meine Eltern wissen, was er, was ihr«, korrigiert sie sich schnell, »durchgemacht habt.«

»Er ist ein guter Junge.«

»Ja, das ist er.« Ihre Stimme ist voller Liebe.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«

»Er ist mir vor Monaten schon aufgefallen. Aber er hat sich immer mit seinen Rugbykollegen abgegeben.« Jill hält ihren Kopf gesenkt und pult an ihren Fingernägeln herum. »Irgendwann habe ich ihn nach dem Training angesprochen und auf einen Kaffee eingeladen, obwohl ich Angst vor einer Abfuhr hatte.« Sie fängt an zu lächeln. »Damals wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Es hat ewig gedauert, bis er mir eine Antwort gab. Ich dachte, er würde sich Worte zurechtlegen, wie er mir schonend einen Korb geben könnte. Doch dann sagte er: Nur, wenn ich zahlen darf. Von da an haben wir uns jeden Tag verabredet. Wir verstehen uns wirklich gut und brauchen nicht zu überlegen, was wir dem anderen sagen können oder wollen, wir erzählen einfach das, was uns gerade durch den Kopf geht oder bedrückt. Ich fühle mich wohl bei ihm. Er ist einzigartig.«

»Redet ihr auch über die Vergangenheit? Über seine Vergangenheit?«, frage ich vorsichtig.

»Ja. Ich denke, es tut ihm gut, darüber zu reden.«

Ich nicke ein paar Mal und frage mich, was er wohl alles über mich erzählt hat.