Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ich hatte ein angenehmes Leben und eine schöne Zukunft vor Augen. Doch eines Tages kam alles ganz anders. Ich verlor meine Liebe, meine Heimat und mein Leben. Nun in London versuche ich schliesslich einen Neuanfang zu starten, wo ich auf den geheimnisvollen Damian treffe. Obwohl ich mir geschworen habe mich nicht mehr auf einen Mann einzulassen, kann ich mich seinem Zauber einfach nicht entziehen. Er entfacht in mir eine ungekannte und zügellose Leidenschaft, die mich beinahe alles vergessen lässt. Doch ich sollte mich von ihm fernhalten. Dafür gibt es mehr als einen guten Grund: Meine Vergangenheit, seine Dämonen und die Tatsache dass er mein Chef ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 587
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Madlen Schaffhauser
Damian - Falsche Hoffnung
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Bücher von Madlen Schaffhauser: Leseprobe Tödliches Verlangen
1.
Leseprobe Gesucht Gefunden
1.
2.
Leseprobe Machtspiel
1.
2.
3.
Impressum neobooks
Ich hatte ein angenehmes Leben und eine schöne Zukunft vor Augen. Doch eines Tages kam alles ganz anders. Ich verlor meine Liebe, meine Heimat und mein Leben.
Nun in London versuche ich schliesslich einen Neuanfang zu starten, wo ich auf den geheimnisvollen Damian treffe. Obwohl ich mir geschworen habe mich nicht mehr auf einen Mann einzulassen, kann ich mich seinem Zauber einfach nicht entziehen. Er entfacht in mir eine ungekannte und zügellose Leidenschaft, die mich beinahe alles vergessen lässt. Doch ich sollte mich von ihm fernhalten. Dafür gibt es mehr als einen guten Grund: Meine Vergangenheit, seine Dämonen und die Tatsache, dass er mein Chef ist.
Band 1
Für Dani, Marianne, Samuel, die mich mit ihrem Können grossartig unterstützen und damit wunderbares vollbringen.
Ich sehe dem kleinen, runden Licht zu, wie es im Sekundentakt von einem Stockwerk zum nächsten wandert, nach oben auf die oberste Etage zurast und mich an mein Ziel bringt, während ich nervös meine Hände abwechselnd ineinander verschränke, um sie dann gleich wieder an meinem dunklen Kleid abzuwischen.
Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass ich in diesem Lift stehe, aber damals fuhr ich nicht in den sechsundvierzigsten Stock, wo sich das Heiligtum von Mr. Meyer befindet und der mich in wenigen Minuten in seinem Büro erwartet.
Es ist noch nicht einmal eine Stunde her, seit mich seine Assistentin auf meinem Smartphone angerufen und mich hierher gebeten hat. Obwohl sie kein Wort darüber verloren hat, was ihr Boss mit mir besprechen möchte, habe ich einen ziemlich genauen Gedanken darüber, was dieses Treffen bedeuten soll. Schliesslich hatte ich schon vor wenigen Tagen in diesem Gebäude, einer der höchsten Wolkenkratzer Londons, ein Vorstellungsgespräch. Nur dass es dieses Mal ein Stockwerk weiter oben stattfindet, mit dem Gründer der Firma, der unter anderem Eigentümer dieses Hochhauses ist und der noch weitere Geschäfte und Immobilien besitzt. Was mich etwas beunruhigt. Warum möchte einer der namhaftesten Männer von ganz London seine Zeit für mich opfern?
Weiter komme ich in meiner Grübelei nicht, denn schon gleiten die Türen lautlos auseinander und ich trete in einen halbrunden, hellen Flur hinaus. Verunsichert sehe ich mich in diesem grossen Empfangssaal um, in dem es so sauber zu sein scheint, wie in einem Krankenhaus, aber keineswegs so kalt und kahl wirkt. Die Möbel aus wertvollem, rotbraunem Holz und die cremefarbigen Wände bilden einen wunderbaren Kontrast zueinander.
Eine Handvoll hohe, dunkle Türen gehen von diesem Raum ab, doch nur eine davon ist verschlossen. Jene, die sich am äussersten Rand des Halbkreises befindet und hinter der ich Mr. Meyer vermute.
Ausser einer älteren Dame, die hinter einer gebogenen Theke sitzt, sehe ich niemanden. Es herrscht eine angenehme Stille, die nur durch das Tippen auf eine Tastatur unterbrochen wird. Erst als sie ihren Kopf hebt und mich mit einem warmen Lächeln empfängt, fällt etwas von meiner Unsicherheit ab und gehe auf leisen Sohlen auf sie zu, um ja nicht diese angenehme Atmosphäre zu unterbrechen.
Die Frau am Empfang erhebt sich aus ihrem Stuhl und kommt hinter der Theke hervor. Sie ist makellos gekleidet und jedes einzelne ihrer Haare scheint an seinem rechtmässigen Ort zu sein. Ich fühle mich sofort wie eine kleine, graue Maus. Hätte ich mir vielleicht ein anschmiegsameres Kleid überziehen und meine wilden Haare zu einem Zopf flechten sollen? Vielleicht etwas Lidschatten und Kajal?
Als würde die Frau meinen skeptischen Blick richtig deuten, lächelt sie mich beruhigend an. „Sie müssen Miss Weber sein?“ Ihre Stimme klingt sanft, ja fast mütterlich. Ihr Englisch ist makellos. Anscheinend stammt sie aus dieser Gegend, wie mir ihr Akzent verrät.
„Ja genau.“ und strecke ihr zur Begrüssung meine Hand hin.
Sie lächelt mich höflich an. „Ich bin Rose Morgan. Mr. Meyers persönliche Assistentin.“ erwidert sie, als sie bemerkt, wie ich mit einem Seitenblick ihr Namensschild versuche zu entziffern.
„Dann haben wir vorhin miteinander gesprochen?“ frage ich sie unnötigerweise. Aber mir fällt im Moment keine passendere Konversation ein.
„Sie brauchen nicht nervös zu sein.“ Wieder ihr beruhigendes Lächeln.
„Das können Sie so einfach sagen. Schliesslich habe ich in wenigen Augenblicken einen Termin mit einem der mächtigsten Männer Londons.“
„Er ist auch nur ein Mensch. Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz.“ Mrs Morgan deutet auf eine Reihe dunkler Sessel an der gegenüberliegenden Wand. „Ich werde ihm mitteilen, dass Sie da sind.“ Ich wende mich den Sitzmöbeln zu und lasse mich in die weichen Polster fallen, während Mr. Meyers Assistentin an die verschlossene Tür klopft, um gleich darauf dahinter zu verschwinden.
Ich lege meine Handtasche und meine schwarze leichte Jacke, die ich soeben ausgezogen habe, auf die Beine und bearbeite mit fahrigen Fingern meine Nägel, um mich vor der nicht zu verstreichen wollenden Zeit abzulenken, die ich alleine in diesem Raum verbringe.
Schon nach wenigen Sekunden steht Mrs Morgan wieder hinter ihrer Theke und blickt mich auffordernd an. „Er empfängt Sie nun.“
Ich nehme meine Sachen und folge ihr durch die Tür, die nun nicht mehr verschlossen ist.
„Wollen Sie etwas zu trinken? Ein Kaffee? Wasser?“ fragt mich die Assistentin, bevor sie sich an den Mann hinter dem robusten Tisch wendet.
„Nein danke.“ flüstere ich beinahe.
„Damian, kann ich dir etwas bringen?“
Mir bleibt beinahe der Mund offen stehen, als sie ihn mit seinem Vornamen anspricht und dazu noch duzt.
„Ein Glas Wasser.“ erwidert er mit einer festen, tiefen und enormen sexy Stimme, die all meine Nackenhaare aufrichten lässt.
Unumwunden starrt er mich an, während er sich entspannt aus seinem Stuhl erhebt. Ich kann meinen Blick ebenfalls nicht von ihm abwenden, als er sich zu seiner ganzen Grösse erhebt. Er überragt mich um mindestens zwanzig Zentimeter. Ich werde gezwungen meinen Kopf in den Nacken zu legen, um weiterhin in seine Augen sehen zu können, die wie zwei kleine, braune Magnete sind, die einen fesseln wie ein unsichtbares Band.
„Miss Weber“ Er umrundet den grossen Tisch und streckt mir seine Hand zur Begrüssung entgegen. „Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen konnten.“
„Kein Problem.“ ist das Erste, was ich herausbringe, lege meine Hand in seine und hoffe, dass er das Zittern nicht bemerkt, das mein Körper erfasst hat.
Er strahlt eine natürliche Autorität aus und besitzt eine unglaubliche Selbstsicherheit, welche mir selbst in diesem Augenblick verloren gegangen zu sein scheint.
„Setzen Sie sich doch bitte.“ Er deutet auf den Stuhl neben mir, als er auf die andere Seite des Tisches zurückgeht.
Wie jemand der von etwas völlig in den Bann gezogen wurde, sehe ich ihm nach, wie er sich um das Möbelstück herumbewegt und wieder auf seinem Stuhl Platz nimmt.
Er sieht viel besser aus, als auf den Fotos, die ich von ihm gesehen habe. Sein olivgrünes Hemd und seine schwarze Flanellhose umschmeicheln seinen Körper wie eine zweite Haut, wodurch mir sein breiter, muskulöser Oberkörper und seine festen Beine nicht verborgen bleiben.
Ach du meine Güte, wo wandern nur meine Gedanken hin? Schockiert darüber sehe ich verlegen zu Boden und grabe meine Hände in die Jacke.
„Haben Sie gut hergefunden?“
„J...ja, ich....war ja schon mal hier.“ stottere ich herum. Hör auf, dich wie ein kleines Schulmädchen zu benehmen. Reiss dich zusammen. Herrgott nochmal! Tadle ich mich im Stillen.
„Natürlich. Bei Mr. Baker. Wie fanden Sie das Gespräch?“
„Ziemlich interessant und aufschlussreich.“
„Mein Buchhalter meinte, dass Sie zu qualifiziert seien für diesen Job. Was halten Sie von dieser Aussage?“
„Zu qualifiziert?“ frage ich zurück, statt ihm eine Antwort zu geben.
„Schliesslich waren Sie die Chefin der Buchhaltung in einem grossen Schweizerkonzern. Wir bieten Ihnen nur eine einfache Anstellung in der Kreditabteilung. Lange nicht so anspruchsvoll, wie Ihr letzter Job es war. Was gedenken Sie hier zu erreichen? Sie haben eine angesehene Stelle aufgegeben, um nach London zu kommen. Warum?“
Ich weiss nicht, was er mit seinen Fragen beabsichtigt, aber sie werden mir allmählich etwas unangenehm und unter seinem durchdringenden Blick zu persönlich. „Ich brauche einen Tapetenwechsel.“ höre ich mich sagen, bevor ich noch lange über seine Neugierde nachdenken kann. Wenn es denn überhaupt Neugierde ist oder eben nur ein berechtigtes Interesse gegenüber seiner Firma. Er fixiert mich mit seinen braunen Augen. „Es ist eine private Angelegenheit.“ bringe ich knapp hervor. Mehr braucht er nicht zu wissen.
„So.“ entgegnet er gedehnt und streift mit dem Zeigefinger über sein Kinn, während er mich immer noch abwartend ansieht. „Und wenn Sie genau aus diesem Grund diese Stelle nicht erhalten werden, was machen Sie dann?“
Ich versuche ruhig zu bleiben, auch wenn mir das äusserst schwer fällt. Meine anfängliche Nervosität ist wie verflogen. Niemand braucht meine privaten Beweggründe zu kennen. Schliesslich hat das nichts mit meiner Arbeit zu tun. Gelassen sehe ich ihm in die Augen. Hoffe zumindest, dass es den Eindruck macht, als würde es mich kalt lassen, wenn ich diese Stelle nicht erhalten werde. „Dann muss es so sein und ich werde mich nach einem anderen Job umsehen.“
„Glauben Sie, dass Sie an einem anderen Ort bessere Chancen haben, wenn Sie nicht Ihre wahren Gründe nennen?“
„Warum sind Sie vor zehn Jahren nach London ausgewandert und haben alles hinter sich gelassen?“ Noch bevor ich meine Worte zurücknehmen und überlegen kann, was ich soeben gesagt habe, sind sie schon über meine Lippen. Verlegen senke ich meinen Blick. Meine Finger sind krampfhaft ineinander verschlungen, die auf meinem Schoss liegen und bringe ein kaum hörbares „Es tut mir leid.“ hervor.
„Sie haben Mut.“ Obwohl seine Augen einen gefährlichen und ja sogar einen schmerzhaften Ausdruck angenommen haben, zieht er seinen linken Mundwinkel leicht nach oben, das ein schwaches Lächeln andeuten soll.
„Oder ein vorschnelles Mundwerk. Das war nicht meine Absicht. Entschuldigung. Ihre Vergangenheit, sowie Ihr ganzes Leben geht mich nichts an. Das wollte ich Ihnen klarmachen. Ich habe ein Privatleben wie jeder andere auch und das soll so bleiben.“
„Nur das ein Teil von meinem Leben nicht so Privat ist, wie es sein sollte. Aber Sie haben Ihre Aufgabe gemacht.“
„Ich möchte wissen, für wen und was ich arbeite.“
„Das ist Ihr gutes Recht, wie es auch mein Recht ist, über meine Mitarbeiter Bescheid zu wissen.“ Er senkt seinen Blick auf die Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch liegen. „Ihre Adresse ist in der Schweiz.“ Er hebt seinen Kopf und sieht mich wieder an. „Haben Sie vor nach London zu ziehen oder wie stellen Sie sich das vor?“
„Ich wollte mich zuerst beruflich absichern, bevor ich meine Papiere umschreiben lasse und alles was sonst noch notwendig ist, um in ein anderes Land zu ziehen.“
Er bewegt leicht seinen Kopf auf und ab ohne seine Augen von mir zu wenden. „Ich habe mit Ihrem ehemaligen Chef telefoniert.“
Abwartend sehe ich ihn an.
„Er hat nur in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Ausserdem begreift er immer noch nicht, warum Sie Ihren Job an den Nagel gehängt haben.“
Ich nicke nur. Es stimmt mich traurig, wenn ich an meinen früheren Arbeitgeber denken muss. Philipp war ein fairer und toleranter Chef. Ich habe meine Arbeit geliebt. Mein Team war fast mehr wie eine grosse Familie für mich, als nur Arbeitskollegen und trotzdem konnte ich nicht so weitermachen, als wäre alles in Ordnung. Auch wenn ich mir mehrmals gewünscht habe, dass es eine andere Lösung für mein Problem geben würde, wusste ich, dass ich nur eine Möglichkeit hatte. Und genau aus diesem Grund bin ich nun hier und sitze vor einem Mann, der eines der erfolgreichsten Imperien von ganz London geschaffen hat und bewerbe mich um eine bescheidene Stelle, um mich endlich von meiner Vergangenheit zu lösen und neu zu beginnen.
„Ich weiss nicht, was genau Sie von mir erwarten Mr. Meyer. Wenn Sie hoffen, dass ich meine wahren Gründe offenlege, warum ich tatsächlich nach London gekommen bin, muss ich Sie enttäuschen. Aber eines können Sie sicher sein, es hat absolut nichts mit meiner ehemaligen Arbeit zu tun. Es betrifft einzig mein Privatleben und ich möchte nicht darüber sprechen. Wenn Sie mir deshalb die Stelle nicht geben, dann muss es wohl so sein und ich bedanke mich in aller Form bei Ihnen, dass Sie Ihre Zeit für mich geopfert haben.“ Meine Finger biegen sich um meine Jacke und Tasche und erhebe mich aus dem Stuhl. Ich habe mir mehr von diesem Gespräch erhofft. Tatsächlich glaubte ich, dass ich die Stelle bekommen würde, wenn der oberste Mann der Firma mich zu einem Treffen einlädt. „Darf ich Sie etwas fragen?“
„Nur zu.“ Er steht ebenfalls auf.
„Warum bin ich hier?“
„Jeder meiner Mitarbeiter ist von mir persönlich eingestellt worden. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe, dem ich mein Geschäft anvertraue.“
„Sind Sie ein Kontrollfreak?“
„Wenn Sie es so nennen wollen.“
„Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben bei Ihnen vorzusprechen und werde Sie nun nicht mehr länger aufhalten, Mr. Meyer.“
Er ergreift meine Hand, die ich zur Verabschiedung ausstrecke. „Mrs Morgan wird sich bei Ihnen melden, wenn der Vertrag zum unterschreiben bereitliegt.“ Er hält noch immer meine Hand.
Vor Sprachlosigkeit starre ich ihn mit offenem Mund an und stottere dann in meiner Muttersprache herum. „S...sie... Sie wollen mir damit sagen, dass ich den Job habe?“
„Ich habe schon lange niemanden mehr auf Schweizerdeutsch reden gehört. Es klingt schön.“ Er lächelt mich doch tatsächlich an. Lässt aber zu meinem Bedauern meine Hand los. „Sind Sie bereit?“
„Wofür?“ frage ich ihn ahnungslos. Ich bin noch immer verwirrt darüber, dass mir seine Berührung ein angenehmes Kribbeln durch den Körper jagte.
„Für mich zu arbeiten?“
Ich würde nichts lieber tun, als ihm um den Hals zu fallen, kann mich aber gerade noch im letzten Moment beherrschen. „Soll das ein Witz sein?“
„Eigentlich nicht.“ Wieder zieht er einen Mundwinkel nach oben. Dieses Mal erreicht es sogar seine Augen.
Ich drehe mich von ihm weg und gehe zur Tür. Doch bevor ich sie öffne, blicke ich mich nochmals zu ihm um. „Ich habe es nicht gelesen.“
„Was haben Sie nicht gelesen?“ Verständnislos sieht er mich an.
„Das, was im Internet über Sie zu finden ist. Über Ihre Vergangenheit. Was Sie dazu geführt hat, nach England zu gehen.“
„Warum nicht.“ Ich sehe, wie er einen grossen Kloss versucht hinunterzuschlucken, der seine Kehle zuzuschnüren droht.
„Wie ich schon sagte, hat jeder ein Anrecht auf eine Privatsphäre. Auch Sie. Was immer vor all den Jahren geschehen ist, Sie können nichts Schlimmes getan haben. Aber ich denke, dass Sie etwas sehr Dramatisches erlebt haben, das Ihr ganzes bisheriges Leben verändert hat. Auf Wiedersehen Mr. Meyer.“ Ich drücke den Griff nach unten und betrete den halbrunden Flur ohne mich nochmals zu meinem zukünftigen Chef umzusehen.
Bereits zum dritten Mal lese ich die Schrift auf der grossen Tafel, die vor dem Eingang des Meyer Empires steht und versuche ein heimisches Gefühl für die Firma zu bekommen, für die ich ab heute arbeiten werde. Ich nehme die Worte wie ein Stück Schokolade in den Mund und lasse sie genauso darauf zergehen, als wären sie ein Teil dieser süssen Köstlichkeit.
In wenigen Minuten beginnt mein erster Arbeitstag. Denn wie versprochen, hat sich Mrs Morgan schon einen Tag nach meinem Gespräch mit Mr. Meyer kontaktiert und mich gebeten vorbeizukommen, um den Vertrag zu unterschreiben.
Aufgeregt? Zappelig? Erregt? Ich weiss nicht, wie ich meinen Gemütszustand beschreiben soll. Es sind schon einige Wochen vergangen, seit ich einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen bin. Ich habe genug Zeit verstreichen lassen, um mich wieder zu fangen und bis vor Kurzem glaubte ich auch, ich hätte mich wieder unter Kontrolle. Aber jetzt, wo ich die Möglichkeit erhalten habe, ein Teil von einem der grössten Unternehmen von ganz England zu werden und vor diesem riesigen Gebäude stehe, drohen mir meine Beine nicht zu gehorchen.
Wie festgefroren stehe ich da und schweife mit meinen Augen ständig von den gläsernen Drehtüren vor mir nach oben, wo ich mein zukünftiges Büro vermute, dabei kann ich nicht einmal das obere Ende des Wolkenkratzers sehen.
Ich starre durch die Glastüren in die Lobby, in der sich viele Frauen und Männer hin und her bewegen oder vor den Fahrstühlen warten, bis sie mit einem der drei Aufzüge nach oben fahren können.
Plötzlich fühle ich mich um einige Jahre zurückversetzt und sehe mich, wie ich auf das nicht mehr ganz so weisse Schulhaus zugehe, in dem ich meine nächsten zwei Jahre verbringen werde. Jenes Haus, in dem ich meine obligatorische Schulzeit zu ende bringen werde. Viele mir fremde Gesichter sehen in meine Richtung, während ich mit unsicheren Schritten auf die Treppe zugehe. Teenager, Junge wie Mädchen verziehen ihre Münder und tuscheln hinter vorgehaltenen Händen miteinander, als ich näher komme.
„Wollen Sie nicht endlich hineingehen?“
Erschrocken drehe ich mich zu der mir bereits bekannten Stimme um, die mich soeben aus meinen trüben Erinnerungen holte. „Wie?“
„Macht Ihnen dieser kalte Wind etwa nicht zu schaffen?“ fragt mich Rose Morgan etwas verwundert und zieht sich ihren Schal ein klein wenig enger um den Hals, damit die frostige Kälte nicht an ihre Haut gelangt. „Kommen Sie, Ihr neuer Vorgesetzter wird sicher schon auf Sie warten. Mr. Baker ist nämlich immer einer der ersten und kann es ausserdem nicht ausstehen, wenn man unpünktlich zur Arbeit erscheint.“
„Dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren.“ Ich gehe neben Mrs Morgan durch die Drehtüren. Sie geht auf den Empfang zu und unterhält sich kurz mit der Dame dahinter. Daraufhin händigt mir die Frau mit den lockigen, blonden Haaren hinter der langen Theke einen Ausweis aus, damit ich von nun an ohne mich jedes Mal anmelden zu müssen, in die oberen Stockwerke gelange.
„Bitte weisen Sie den jeweils vor, wenn Sie nach oben wollen.“ Rose Morgan zieht ihren eigenen hervor und zeigt ihm dem Mann, der vor den Fahrstühlen Wache steht. Ich mache es ihr gleich und augenblicklich gehen die Fahrtüren auf und wir steigen ein.
„Sie brauchen nicht nervös zu sein.“ Sie blickt auf meine Finger, die ich unbewusst ineinander verkeilt habe und lächelt mich an. „Schliesslich haben Sie den Job schon längst in der Tasche.“
„Ich weiss. Obwohl sich meine Arbeit hier von meiner letzten nur in wenigen Dingen unterscheiden wird, ist das was auf mich zukommt trotzdem etwas Neues. Ich kenne keinen Menschen. Ich habe keine Ahnung, wie mich meine neuen Mitarbeiter aufnehmen werden und ob ich wirklich die Leistungen bringen werde, die Mr. Meyer von mir erwartet.“
„Was kann schon schieflaufen?“ Die Frau neben mir, die mir nun schon so oft moralische Unterstützung gegeben hat, sieht mich fragend an. „Sie können sich nicht mit allen gleich gut verstehen. Das kann niemand. Aber die Mitarbeiter von Meyer Enterprises sind wie eine Grossfamilie. Alle wurden persönlich von Damian“ Sie spricht diesen Namen auf eine Art aus, als wäre es ganz natürlich unseren Chef mit Vornamen anzusprechen. „eingestellt und wenn irgendwer denkt, er könne ihn hinters Licht führen oder einen anderen Kollegen mobben, fliegt dieser jemand schneller aus der Firma, als ihm lieb ist.“
Ihre Worte dringen tief in mein seelisches Empfinden, aber sie können meine Ängste und Zweifel, die mich schon seit Monaten verfolgen, nur ein klein wenig schmälern.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fährt sie fort: „Ausserdem kennen Sie ja mich. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie irgendein Problem haben oder jemanden brauchen, um sich auszusprechen. Egal was.“
In den wenigen Momenten, in denen ich dieser Frau begegnet bin, hat sie mich jedes Mal freundlich und liebevoll behandelt. Wie oft in meinem Leben habe ich mir schon gewünscht, solch eine Mutter zu haben, die mir hilft meinen richtigen Platz im Leben zu finden und mich in allen Belangen unterstützen würde? Ich habe keine Ahnung. Aber seit dem Tag, an dem meine Mutter mich und meinen Vater einfach im Stich gelassen hat, verging kein einzelner Tag, an dem ich nicht wünschte, eine solche Person wie Mrs Morgan an meiner Seite zu haben.
Mein Vater ist der beste, fürsorglichste und einfühlsamste Dad, den man sich überhaupt erträumen kann und doch hat in all den Jahren meiner Kindheit die Wärme einer Frau gefehlt, die Stimme und das Lächeln einer liebenden Mutter.
„Miss Weber?“
„Ja?“ Ich blicke Rose Morgan fragend an.
„Zeit für Sie auszusteigen.“
Die Aufzugstüren sind bereits geöffnet, wie ich erst jetzt feststelle und sehe mich verlegen über meine Schultern nach Mrs Morgan um, als ich in den langen, hellen Flur hinaustrete.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Start.“ ruft sie mir noch schnell zu, bevor sich die Türen wieder schliessen.
„Danke.“ und hebe die Hand zum Gruss.
Ich habe wackelige Beine und mein Herz flattert. So aufgeregt und zugleich erwartungsvoll habe ich mich schon seit langem nicht mehr gefühlt. Genau genommen seit dem Tag nicht mehr, als ich die Stelle in einem grossen Schweizerkonzern als Abteilungsleiterin der Buchhaltung bekommen habe. Jenen Arbeitsplatz den ich geliebt und erst vor wenigen Wochen gekündigt habe, um mich aus meinem alten Leben befreien zu können, das sich in letzter Zeit in ein einziges Chaos verwandelt hat.
Mein Büro das ich mit einer gleichaltrigen Mitarbeiterin teilen werde, liegt nur einige Schritte vom Fahrstuhl entfernt. Mr. Baker zeigte mir den Raum bei unserem Gespräch, das mittlerweile etwas mehr als einer Woche zurückliegt.
Ich atme nochmals kurz tief durch und wappne mich für meinen ersten Arbeitstag bei Meyer Enterprises. Der geräumige Raum, in dem zwei grosse Schreibtische einander gegenüber stehen, ist noch leer. Meine neue Mitarbeiterin, ich glaube ihr Name ist Mira oder so, ist offenbar noch nicht erschienen. Also lege ich erst einmal meinen Mantel ab und hänge ihn an die Garderobe, die gleich neben der Tür steht.
Ich gehe an das über zwei Meter grosse Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht und lasse meinen Blick über die Stadt und in die Ferne schweifen, wo ich sogar die Themes ausmachen kann und sehe, wie sie sich durch London schlängelt. Aber auf die Strasse unter mir, riskiere ich keinen Blick, sonst werde ich noch von Schwindel befallen. Schliesslich befinde ich mich im fünfundvierzigsten Stock, knapp hundertfünfzig Meter über Boden. Ich hätte mir niemals ausmalen können, irgendwann in dieser Höhe zu arbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass ich mal in London leben werde. Und jetzt bin ich hier.
Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und frage mich, was ich nun machen soll. Soll ich hier warten, bis endlich jemand kommt und mich in meine neuen Aufgaben einarbeitet oder wäre es vielleicht klüger das Büro meines Vorgesetzten aufzusuchen? Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken und trete wieder in den Flur hinaus.
Während ich den Korridor entlanggehe, komme ich an anderen Räumen vorbei und lächle jedem zu, der mir einen Blick entgegenwirft. Als ich am Ende des langen Ganges in einen Vorraum vor Mr. Bakers Büro trete, erkenne ich die Frau wieder, die mich schon bei meinem Vorstellungsgespräch empfangen und sich als Mr. Bakers Sekretärin vorgestellt hat. Sie lächelt mir zwar zu, während sie von Bakers Tür auf mich zukommt, aber es erscheint mir genauso kalt, wie ihr Charakter auf mich wirkt. Schon bei meinem ersten Besuch hatte ich ein eigenartiges Gefühl bei ihr. Ich kann mir nicht erklären warum, aber sie erweckt in mir das eigenartige Gefühl, als müsse ich mich bei ihr in Acht nehmen. So wie bei Michael. Nur dass ich es bei ihm viel zu spät festgestellt habe.
Auch dieses Mal trägt sie ein makelloses Kleid. Ein Ensemble aus weisser Seide. Dazu passenden Schmuck, perfekt manikürte Fingernägel und ein stark geschminktes Gesicht. Was für meinen Geschmack, für den beruflichen Alltag, zu aufgedonnert ist. Und wieder frage ich mich, wie sie diese teuren Sachen leisten kann. Hat sie als persönliche Sekretärin einen derart guten Lohn, dass sie sich mit solchen Kostbarkeiten eindecken kann? Ich kann mir jedenfalls kein Bild davon vor Augen führen. Aber vielleicht bin ich ja einfach nur eifersüchtig auf sie. Was ich mir wiederum nicht erklären könnte.
„Sie haben den Job also gekriegt?“ fragt mich die Blondine in einem herablassenden Ton und etwas zu hoher Stimme. „Mr. Baker hat mich soeben informiert, dass Sie heute erscheinen werden und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er gleich Zeit für Sie hat. Nur einen kleinen Moment.“
„Danke.“ Ich bleibe stehen, wo ich bin. Die Möbel scheinen in der ganzen Firma das gleiche Muster zu haben und aus demselben Holz zu stammen. Genau wie in Mr. Meyers Büro. Cremefarbene Wände und Möbel aus Mahagoni.
Ich bin angenehm überrascht, dass der Inhaber dieser Firma sich nicht scheut für sein Personal ebenfalls so viel Geld auszugeben, wie für sich selbst. Meine Gedanken schweifen zu jenem Gespräch vor einer Woche zurück. Abermals betrete ich Damian Meyers Büro und sehe ihn hinter seinem riesigen Tisch, wie er lässig dahinter sitzt und seine Augen über mich schweifen lässt. Als wäre ich eine seltene Schönheit oder auch das genaue Gegenteil.
Seine glänzend braunen Augen, die mich jedes Mal an ein grosses Raubtier erinnern, wenn ich sie in meinem Gedächtnis wiedersehe, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie zogen mich damals sofort in seinen Bann und liessen mich nicht mehr los. Bis jetzt nicht.
„Hat man Ihnen Ihr Büro schon gezeigt?“
Erschrocken drehe ich mich um und sehe genau in jene Augen, die soeben noch meine Gedanken beherrscht haben. „Äh...ja. Nein.... Also.“ Ich stottere wie ein Kleinkind herum, das man bei etwas Verbotenem ertappt hat. Dafür könnte ich mich ohrfeigen.
„Guten Morgen Miss Weber.“ Er lächelt mich an und reicht mir seine Hand zur Begrüssung, die ich schnell ergreife. Vielleicht eine Spur zu schnell.
„Tut mir leid. Guten Morgen Mr. Meyer. Ich habe Sie nicht gehört. Sie haben mich ein wenig überrascht.“
Er löst seine Hand von meiner. „Das habe ich bemerkt.“ Wieder dieses freundliche Lächeln. „Und haben Sie?“
„Was habe ich?“ frage ich ahnungslos.
„Ihren Arbeitsplatz gefunden?“ Ich bin ihm dankbar dafür, dass er sich in unserer Muttersprache mit mir unterhält. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Bakers Sekretärin jedes Wort von unserer Unterhaltung mitanhören würde, wenn sie es verstehen könnte.
„Ja. Ich warte nur noch auf Mr. Baker, damit er mich in meine neuen Aufgaben einführt.“
„Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen guten Start und heisse Sie herzlich willkommen bei Meyer Enterprises.“ Ohne ein weiteres Wort geht er weiter zu Bakers Assistentin.
Ich höre, wie er ihr einen guten Morgen wünscht. Mit jener weichen Stimme, wie er mich willkommen hiess. Warum sollte er nicht alle auf die gleiche Art begrüssen wie mich? Ich hebe meine Augenbrauen und verdrehe die Augen, um mich selbst zu tadeln, weil ich annahm, er würde mich als jemand besonderen betrachten.
Mir schwirrt beinahe der Kopf. Zwar war der Tag sehr interessant, aber trotzdem bin ich froh, dass ich endlich in mein Hotelzimmer, das ich seit gut zwei Wochen bewohne, zurückkehren kann. Ich habe viele neue Leute kennengelernt und von Mr. Baker etliche Erklärungen und Papiere erhalten, die meine Aufgabe in der Firma Meyer Enterprises betreffen.
Auch wenn die Arbeit nicht so anspruchsvoll sein wird, wie meine letzte als Chefin der Buchhaltung, freue ich mich trotzdem sehr darüber, dass ich die Stelle in der Kreditabteilung erhalten habe und die damit verbundene Chance in London ein neues Leben aufzubauen.
Mrs Morgan hatte kein bisschen damit übertrieben, als sie meinte, dass die Meyer Enterprises wie eine Grossfamilie sei. Alle gehen freundlich, hilfsbereit und respektvoll miteinander um, ausser die Superblondine von Mr. Baker, wie ich sie insgeheim getauft habe. Sie scheint bei fast allen ein Dorn im Auge zu sein. Sicher bei den Frauen. Bei den männlichen Arbeitskollegen ist das etwas schwieriger zu beurteilen.
Ich schlüpfe aus meinen Stiefeletten und falle erschöpft auf das breite Bett, das zusammen mit einem Kleiderschrank und einem kleinen Sekretär das Zimmer schmückt. Der Raum ist zwar nicht gross, aber er erfüllt seinen Zweck.
Viel lieber wäre ich jetzt in meiner alten Wohnung. Mit meinen persönlichen Möbelstücken und meinem Vater in der Nähe, den ich unheimlich vermisse. Und doch ist mir bewusst, dass der Neubeginn in London, die richtige Entscheidung ist, so schwer mir dieser Schritt auch fallen wird.
Kurzerhand überlege ich mir meinen Dad anzurufen, da klingelt schon mein Telefon. Schmunzelnd nehme ich den Anruf entgegen. „Du kannst wohl Gedanken lesen?“
„Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir mein Liebling?“
„Soweit ganz gut.“
„Wie war dein erster Arbeitstag?“
„Gut.“
„Nur gut?“ hakt er nach.
„Nein, nicht nur gut. Die Leute da sind wirklich nett. Nicht so wie...wie...“
„Du brauchst es nicht auszusprechen, meine Liebe. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass deine neuen Mitmenschen dich so sehen, wie du wirklich bist und dass du dich wohl fühlst, da wo du jetzt bist.“
„Ach Dad. Es klingt ja beinahe so, als hättest du keine Ahnung, wo ich bin. Dabei weisst du ganz genau, wo ich mich aufhalte und du kennst meine Telefonnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen oder mich besuchen. Das haben wir abgemacht, oder?“
„Ja, das haben wir abgemacht.“ murmelt mein Vater am anderen Ende der Leitung in den Hörer. „Nur haben wir meine Flugangst vergessen.“
„Du kannst mit dem Auto kommen.“
„Ja.“ Er klingt plötzlich ziemlich bedrückt.
„Ich werde dich bald besuchen.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
„Geht es dir auch wirklich gut?“
„Gut wäre etwas übertrieben. Aber mit jedem Tag, an dem ich weit von ihm entfernt bin, geht es mir besser.“
„Ich wünsche es dir.“
„Ich weiss.“ Ein kurzer Moment herrscht eine angespannte Stille in der Verbindung, bevor mein Dad sie vorsichtig beendet. „Sandy hat nach dir gefragt.“
„Was hast du ihr gesagt?“
„Das Übliche. Aber ich weiss nicht, wie lange ich sie noch hinhalten kann. Was soll ich ihr nur sagen?“
„Dass ich sie schrecklich vermisse.“
„Willst du dich nicht wenigstens bei ihr melden?“
„Das geht nicht.“ Meine Stimme klingt brüchig. Verzweifelt versuche ich meine innere Unruhe zu überspielen. Nur dass es vor meinem Vater nicht verborgen bleibt.
„Ach Jessica. Es tut mir im Herzen weh, dich so leiden zu hören.“
„Es wird schon wieder. Das habe ich mir geschworen.“
„Das ist mein starkes Mädchen. Ich hab dich lieb.“
Die Fahrstuhltüren gleiten auf und ich trete in den Flur der fünfundvierzigsten Etage. Bereits seit vier Wochen gehe ich jeden Tag durch diesen Korridor in mein Büro. Sogar an den Wochenenden bin ich für ein paar Stunden hier, genau wie an diesem Sonntag.
Irgendwie kann ich von Glück sprechen, dass meine Vorgängerin so ein Durcheinander hinterlassen hat. Somit fehlt es mir keineswegs an Arbeit und kann so meinen einsamen Tagen etwas entfliehen. Und den Fragen meiner Mitbewohnerin gezielt ausweichen.
Seit gut drei Wochen teilt Mira nicht nur ihr Büro bei Meyer Enterprises mit mir, sondern auch ihre Wohnung. Sie ist ein wahrer Engel, wie auch Rose Morgan. Kaum habe ich hier begonnen zu arbeiten, boten mir beide ihre Hilfe an, was ich sehr zu schätzen weiss. Und obwohl ich ihnen sehr dankbar für ihre Unterstützungen bin, kann ich ihren Fragen, die aus berechtigten Sorgen herbeigeführt werden, keine Antworten liefern. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ein Teil von mir würde gerne über meine Schwierigkeiten sprechen, doch der andere ist noch viel zu weit davon entfernt.
Durchaus wissen sie, wann sie mich nicht weiter bedrängen dürfen, aber irgendwann bin ich ihnen einige Erklärungen schuldig, was mein eigenartiges Benehmen gegenüber anderen betrifft. Ich wünsche mir nur, dass sie mir dafür genug Zeit geben werden. Denn ich habe sie in dieser wenigen Wochen, in der ich in London lebe, schon ziemlich lieb gewonnen.
Es ist ruhig in den Räumen, die an mein Büro grenzen. Schliesslich ist heute Sonntag. Wer ausser mir sollte sonst noch anwesend sein? Niemand ist so verrückt und geht an seinen freien Tagen arbeiten. Das musste ich schon einige Male von Mira anhören. Was ja im Grunde genommen auch stimmt. Aber für mich ist es der einzige Weg vor meiner Bedrückung und den schrecklichen Erinnerungen zu fliehen, die mich immer noch täglich einholen.
Ich streife meinen Schal ab und ziehe meine Handschuhe aus, die mich vor der eisigen Kälte beschützen, die ausserhalb des Wolkenkratzers herrscht und lege alles über die Garderobe. Während ich mir den Mantel aufknöpfe, trete ich ans Fenster und blicke auf die Stadt hinunter. Ich betrachte die funkelnden Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen, die fast an jedem Gebäude angebracht sind und die noch immer leuchten, weil der dichte Nebel die Dunkelheit nicht vertreiben lässt.
Nicht mal mehr einen Monat dann ist Weihnachten. Alle werden die Feiertage mit ihren Geliebten verbringen. Sie werden sich glücklich um einen Tisch versammeln und ein feines Essen geniessen, das die Mutter mit ihren Kindern zubereitet hat, während ich mich in diesem Raum aufhalten werde, weil ich zu grosse Angst habe, nach Hause zu meinem Dad zu gehen. Ich habe ihn nun schon seit über sechs Wochen nicht mehr gesehen. Das gab es in meinem ganzen Leben noch nie. Ich vermisse ihn. Auch wenn wir fast täglich miteinander sprechen, ist es nicht das Gleiche, wie wenn ich ihm in die Augen sehen könnte.
Deprimiert seufze ich auf und drehe mich um, um mich endlich an den Schreibtisch zu setzen und mich in die Arbeit zu stürzen. Gerade als ich einen Schritt nach vorne machen möchte, bleibe ich wie versteinert stehen und ein erschrockener Schrei dringt aus meiner Kehle, als ich den Mann entdecke, der im Türrahmen steht, der mich von oben bis unten mustert und dabei seine Stirn in tiefe Falten zieht.
„Was tun Sie hier?“ fragt er mich mit ernster Miene.
Plötzlich habe ich das Gefühl etwas Unrechtes zu tun, dass es verboten ist, am Wochenende hier zu sein. „Ich... ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Mr. Meyer.“ antworte ich ihm kaum hörbar. „Ich dachte ich wäre alleine und könnte etwas von der Arbeit aufholen, die liegen geblieben ist. Aber wenn sie das nicht möchten, werde ich wieder gehen.“ Sofort knöpfe ich meinen Mantel wieder zu. Doch bevor der letzte Knopf geschlossen ist, legt mein Chef seine Hand auf meinen Arm, woraufhin ich unverzüglich einen Schritt von ihm abrücke. Schreckliche Bilder flammen vor meinem inneren Auge auf. Meine Hände beginnen zu Zittern und stecke sie rasch in meine Manteltaschen, damit er mein Beben nicht sehen kann.
„Miss Weber, alles in Ordnung?“
Ich kenne den Ausdruck in seinen Augen. Schon so viele haben mich mit Blicken der Verständnislosigkeit angesehen. Ich ertrage dieses Mienenspiel nicht mehr und starre deshalb zu Boden. „Ich... Ja... Alles Bestens.“ Was sollte schon sein? Was sollte ich ihm sagen? Dass ich Angst hatte, er würde mich in seine Arme reissen, mich küssen und überall berühren, um mir danach einen Fusstritt in den Magen zu verpassen?
„Tut mir leid, wenn ich Ihnen das nicht abnehme, Miss Weber. Denn Sie erwecken den Eindruck, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“ Seine Stimme klingt sanft und irgendwie beruhigend, was mich veranlasst den Kopf zu heben.
Ich sehe direkt in seine braunen Augen, die mich eindringlich beobachten und die rein gar nichts mit den Augen gemein haben, die mich in jeder Nacht in meinen Albträumen verfolgen. „Es ist alles gut, wirklich Mr. Meyer.“ Wem versuche ich das einzureden? Ihm oder mir selbst?
„Bin ich Ihnen zu nahe getreten? Wenn das der Fall ist, möchte ich mich dafür entschuldigen. Das war nicht meine Absicht.“
„Nein. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Ich versuche an ihm vorbeizugehen, um den Schal und die Handschuhe von der Garderobe zu nehmen. Dabei mache ich einen grösseren Bogen um ihn, als wirklich nötig wäre. Doch zu meinem Erschrecken muss ich feststellen, dass der Abstand doch nicht genug ist. Denn schon wieder liegt seine Hand auf meinem Arm. Ich möchte mich von seinem stählernen Griff lösen, aber er gibt mich nicht frei. Beinahe gerate ich in Panik und Tränen drohen die Augen zu verlassen. Durch feuchte Augen sehe ich ihn an und bitte ihn leise mich loszulassen.
Augenblicklich lockert er seinen Griff, lässt mich aber nicht los. Von einer Sekunde auf die andere fühlen sich seine Finger nicht mehr wie Klauen an, die sich in meinen Arm bohren, sondern wie eine lautlose, tröstende Liebkosung. Mein Blick schweift von seinen Augen zu seiner Hand auf meinem Arm und wieder zurück. Lese ich etwa Mitgefühl in seinem Ausdruck?
Warum verspüre ich plötzlich das Bedürfnis von diesem Mann, den ich kaum kenne, beschützt zu werden?
Soeben noch wollte ich vor ihm fliehen, weil mich beinahe eine Panikattacke erfasste und nun wünsche ich mir nichts sehnlicher als von ihm gehalten zu werden, in seinen Armen zu liegen und meinen Kopf an seinen muskulösen Körper zu legen. Voller Hoffnung starre ich in seine wunderschönen Augen und male mir aus, wie es ist, von ihm umarmt zu werden, nur um im nächsten Moment bitter in die Realität zurückzukehren. Seine Finger streifen über meinen Handrücken und lassen mich schliesslich ganz los. Wo gerade noch seine Hand lag, fühlt es sich nun unbehaglich kalt und verlassen an. Unbegreiflich blicke ich ihn an.
Verlegen, wie mir scheint, fährt er durch seine kurzen, dunkelblonden Haare. „Ich werde Sie nicht länger belästigen und Sie Ihre Arbeit machen lassen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, ja?“
Ich muss mich räuspern, um einen Ton herauszubekommen. „Welchen?“
„Machen Sie irgendwann Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Werde ich, Mr. Meyer.“ Ich warte ab, bis er den Raum verlassen hat und sinke erleichtert auf meinen Stuhl hinab.
Müde, aber nicht erschöpft, reibe ich über meine Augen. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Mehr als vier Stunden bin ich an meinem Platz gesessen und habe ein Dokument nach dem anderen bearbeitet ohne eine Pause zu machen. Nur ein einziges Mal bin ich den Flur entlanggegangen und habe mir etwas zu trinken aus dem Automaten geholt, um gleich wieder an meinen Computer zurückzukehren.
Bedauerlicherweise meldet sich jetzt mein Magen, den ich nicht ignorieren kann. Also entschliesse ich für heute die Arbeit zu beenden, um irgendwo in einem gemütlichen Café einen kleinen Sack einzunehmen.
Gerne hätte ich mich noch länger mit den Rechnungen beschäftigt, die unverarbeitet auf meinem Pult liegen, denn mein Job macht mir richtig viel Spass, auch wenn es ganz einfache Aufgaben sind. Sie erfüllen ihren Zweck, weil sich mich daran hindern, an meine Vergangenheit zu denken und das ist momentan das Wichtigste was zählt.
Nur ab und zu wurde meine Aufmerksamkeit auf die Zahlen unterbrochen. In jenen Augenblicken schweiften meine Gedanken stets zur gleichen Person. Die attraktiven braunen Augen, die sich in mein Inneres bohrten und die angenehme Wärme, die sich auf meinem Arm ausbreitete, als er mich für wenige Sekunden mit seiner Hand hielt, liessen meine Erinnerungen an jenen Moment nicht mehr los. Auch jetzt schleicht mein Chef im Kopf umher.
Ich getraue mich nicht die aufkommenden Gefühle zu ergründen, die in mir emporsteigen und meinen ganzen Körper fesseln, wenn meine Gedanken zu meinem überaus charmanten Boss wandern. Aber sie lassen mich wieder etwas fühlen. Etwas was ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr empfunden habe. Hoffnung. Hoffnung auf bessere Zeiten.
Während ich darauf warte, bis mein Computer heruntergefahren ist, hole ich meinen Mantel, lege ihn um und knöpfe ihn zu. Danach ziehe ich meinen Schal über den Kopf, wobei mein Blick für eine Sekunde in der Dunkelheit verschwindet. Als ich meine Augen wieder öffne, kann ich einen angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken. „Wow, haben Sie mich erschreckt.“ und halte eine Hand auf mein bebendes Herz.
„Tut mir leid. Das stand nicht in meinem Interesse.“
„Schon gut. Ich bin eben etwas schreckhaft.“
„Das habe ich mittlerweile auch bemerkt. Vielleicht mögen Sie mir irgendwann den Grund dazu anvertrauen.“
Ich beisse auf meine Unterlippe, um nicht gleich meinen ganzen Ballast von der Seele zu reden, den ich schon seit Monaten mit mir herumtrage und der mich mit seinem Gewicht zu erdrücken droht. „Da gibt es nichts zu erzählen.“ gebe ich schliesslich von mir und nehme meine restlichen Sachen, um endlich aus diesem Raum zu kommen. Denn obwohl ich seine Anwesenheit auf irgend eine Weise geniesse, so habe ich doch Angst, dass er mir zu nahe treten könnte. Ich sehe nur einen Ausweg, um dem allem auszuweichen. Die Flucht. Weg von ihm, so schnell und weit wie möglich.
„Ich dachte ich sehe mal nach Ihnen. Allem Anschein nach haben Sie die gleichen Absichten, wie ich Ihnen vorschlagen wollte. Was halten Sie von einem gemeinsamen Essen?“
Mit offenem Mund starre ich ihn an. Als hätte ich ihn nicht richtig verstanden, frage ich ihn: „Wie bitte?“
„Wollen wir etwas essen gehen? Ich denke, Sie könnten genauso gut wie ich eine kleine Stärkung gebrauchen.“
„Halten Sie das für eine gute Idee?“
„Warum nicht?“
„Sie sind Schliesslich mein Boss.“
„Was sollte daran falsch sein, wenn zwei Mitarbeiter miteinander essen gehen?“ fragend sieht er mich an, aber bevor ich etwas darauf erwidern kann, spricht er weiter. „Waren Sie nie mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten essen?“
Ich hatte stets ein hervorragendes Verhältnis zu Philipp, es wäre mir aber zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, mit ihm alleine in ein Restaurant zu gehen. Meine Augen sind fest auf den Mann vor mir gerichtet. „Nein, war ich nie.“
„Dann wird das heute Ihr erstes Mal sein.“ Eine geringe Andeutung eines Lächelns bildet sich um seine Mundwinkel und seine Iris leuchtet verdächtig hell auf. War das eine kleine Anspielung oder interpretiere ich zu viel in seine Bemerkung? Ein schwaches, aber intensives Kribbeln breitet sich in meiner Magengrube aus. Und weg sind meine guten Vorsätze von hier zu verschwinden, um mich in meiner Einsamkeit zu verkriechen. Obwohl mich meine innere Stimme warnt mit ihm zu gehen, siegt das Kribbeln in meinem Körper.
Was auch immer er mit seinem ersten Mal andeuten wollte, es ist nicht von Bedeutung. Denn es ist seine unbefangene Art, die mich fasziniert und die mich zu dieser Entscheidung führt.
„Ich könnte wirklich einen Imbiss gebrauchen.“ Wie zur Bestärkung knurrt mein Magen. Verlegen lege ich meine Hand auf meinen Bauch.
„Dann lassen Sie uns gehen. Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant.“
Ich gehe neben meinem Chef auf den Fahrstuhl zu. Als die Türen aufgleiten, treten wir ein und er drückt den Knopf für das Erdgeschoss. Vor dem Gebäude steuere ich gleich den Zebrastreifen an. Doch bevor ich noch einen weiteren Schritt in diese Richtung machen kann, spüre ich plötzlich eine Hand auf meinem Arm, die mich mit leichtem Druck festhält und mich zwingt umzudrehen.
„Mein Fahrer wartet bereits.“ Mr. Meyer deutet auf eine schwarze Limousine. Davor steht ein hochgewachsener, stämmiger Mann mittleren Alters. Sein Haar ist kurz, ziemlich kurz und ebenso dunkel wie sein Anzug und das Auto hinter ihm, jedoch trägt er keine Mütze, so wie man es von Chauffeuren kennt.
„Wir gehen nicht zu Fuss?“ Etwas überrascht sehe ich meinen Chef an.
„Wir müssen ein paar Minuten fahren. Aber dafür lohnt es sich. Vertrauen Sie mir.“ Er lenkt mich mit seiner Hand auf meinem Arm zu seinem Fahrer. „Hallo Pietro. Alles gut?“
„Ja, Boss.“ Er tippt sich an seine imaginäre Hutkrempe und beachtet mich dann mit einem freundlichen, aber verständnislosen Blick. „Wo darf ich Sie hinbringen, Mr. Meyer?“ Sein italienischer Akzent ist unverkennbar.
„Miss Weber und ich würden gerne eine Kleinigkeit essen. Bringen Sie uns bitte ins Forestlake.“
„Natürlich. Miss Weber,“ Er knickst mit seinem Kopf in meine Richtung und öffnet uns die hintere Wagentür, wobei mir sein Waffenholster unter seiner dicken Jacke nicht verborgen bleibt. „bitte steigen Sie ein.“
Ich blicke mich nach allen Seiten um, weil mir diese ganze Situation plötzlich ein eigenartiges Gefühl in mir auslöst, steige aber trotzdem in das Auto.
Als hätte ich meine Besorgnisse laut ausgesprochen, äussert sich Damian Meyer leise dazu, der nun neben mir im hellen Lederpolster sitzt. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überfallen.“ fragt er mich, sobald sich die Limousine in Bewegung gesetzt hat.
„Warum trägt Ihr Fahrer eine Waffe?“
„Verunsichert Sie das?“
„Vielleicht ein wenig.“ gebe ich ehrlich zu.
„Er trägt sie für meinen Schutz.“
„Benötigen Sie denn so was?“
„Bis jetzt war es nicht nötig. Aber man sichert sich lieber im Voraus ab. Stört es Sie?“
„Nein.“ Auch wenn ich versuche meine Unsicherheit zu verbergen, so klinge ich nicht sehr überzeugend. Ich kann meinem Chef nicht in die Augen sehen und blicke daher aus dem schwarz getönten Fenster. Der Rolls Royce, dessen gemütlichen Polster und jeglichen Komfort, welches dieses Schiff auf vier Rädern bietet, ich kaum wahrnehme, rollt leise über die Londoner Strassen.
Die Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond ist geschlossen und somit der Chauffeur weder zu sehen noch zu hören. Es ist still im Auto. Nur mein schneller Atem ist zu hören. Ich bete, dass Damian das heftige Pochen meines Herzens nicht bemerkt, das kurz vor einer Panikattacke steht. Ich versuche mich zu beruhigen, aber das ist nicht so einfach, wie man sich das manchmal wünscht.
Verzerrte Erinnerungsfetzen, die noch kein Jahr alt sind, schleichen sich in meinen Kopf und drängen sich langsam immer weiter nach vorne.
Ich dachte ich wäre über das Schlimmste hinweg, doch soeben werde ich eines Besseren belehrt, während sich mein Puls immer mehr beschleunigt.
„Jessica?“
Leise dringt mein Name in mein Ohr. Langsam, wie in Zeitlupe, drehe ich mich zu ihm um. Er sieht mich besorgt und ratlos an.
„Jessica?“ Nie hat mein Name so schön geklungen, wie aus seinem Mund. Es klang beschützend und vielversprechend. „Ist alles in Ordnung? Sollen wir umdrehen oder anhalten?“ Seine tiefe, starke Stimme legt sich wie eine feste Umarmung um mich, in die ich mich gerne fallen lassen würde. Noch nie in meinem Leben habe ich mir etwas sehnlicher gewünscht, als von diesem Man gehalten zu werden. Ich verspüre den Wunsch zu weinen. All den unvergossenen Tränen freien Lauf zu lassen und trotzdem kämpfe ich gegen dieses mächtige Verlangen an und blinzle sie zurück.
Seine Augen bohren sich in meine. Unfähig etwas zu sagen oder zu tun, erwidere ich seinen Blick in der gleichen Intensität, wie er mich betrachtet. Eine gefühlte Ewigkeit sehen wir uns an, ohne dass irgendwer irgendwas unternimmt, bis er eine Hand nach mir ausstreckt und mich ohne Vorwarnung an sich zieht. Ich lasse es einfach geschehen und lege meinen Kopf an seine harte Brust. Er schliesst seine muskulösen Arme um mich und zieht mich noch näher an sich. Ein lautes, befreiendes Wimmern dringt aus meiner Kehle, das ich nicht aufhalten kann. Sowie die Tränen, die nun über meine Wangen laufen.
Über mehrere Monate hinweg durfte mich kein Mann mehr berühren. Nicht einmal mein Vater. Warum muss es ausgerechnet mein Chef sein, der mich halten darf? Der mich fest an sich drückt und ich dabei seinen beruhigenden Herzschlag hören kann? Warum fühlt sich seine Hand auf meinem Rücken, die mich sanft streichelt, so unglaublich beschützend an?
Als ich mich wieder gefangen habe, löse ich mich vorsichtig aus seinen Armen. Er reicht mir ein weisses Taschentuch womit ich die salzige Spur meiner Tränen auf dem Gesicht wegwischen kann. Unfähig ihn anzusehen, blicke ich verlegen auf meine Hände, die gefaltet auf meinem Schoss liegen, dazwischen das zerknüllte Taschentuch.
„Geht's wieder?“
„Ich denke schon.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
„Wollen Sie weiterhin mit mir essen gehen oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir Sie nach Hause bringen?“
Mein Magen knurrt verdächtig laut und wir brechen beide in ein herzhaftes Lachen aus.
„Ich nehme das als Antwort.“ meint er, als wir uns wieder erholt haben.
Er stellt mir keine Fragen. Sieht mich nicht bemitleidend an. Sondern sitzt nur ruhig neben mir, so als wäre vorhin gar nichts gewesen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, auch wenn mir ganz bewusst ist, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem er mich über meine Vergangenheit ausfragen wird.
Wir sitzen in einer gemütlichen Ecke einander gegenüber. Draussen ist es noch immer düster. Zum einen, weil das Restaurant beinahe von einem Wald, der um das Gebäude steht, verschlungen wird und zum anderen, weil sich der Nebel noch kein bisschen gelichtet hat, was heute wahrscheinlich auch nicht mehr geschehen wird.
Seit ich in London bin, habe ich keinen richtigen Wald mehr gesehen und würde gerne in diesem hier spazieren gehen und die frische Luft der Natur einatmen. Vielleicht habe ich ja irgendwann die Gelegenheit wieder hierherzukommen.
Ich fühle mich satt und wohl. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, was schlussendlich ein richtiges Menü war und nicht nur eine Kleinigkeit. Die Atmosphäre ist angenehm entspannt. Nicht zu laut. Nicht zu ruhig. Der Speisesaal nicht zu leer und nicht zu voll. Genau richtig für unser Beisammensein.
Damian Meyer und ich sitzen bereits seit über zwei Stunden in diesem Lokal und unterhalten uns immer noch angeregt über Gott und die Welt. Ich bin wirklich erstaunt, wie locker mein Chef mit mir als seine Mitarbeiterin umgeht. Als Mensch und auch als Vorgesetzter ist er eine beeindruckende Person. Er stellt sich nicht höher als seine Angestellten, was mich mit sehr viel Bewunderung zu ihm aufsehen lässt.
Beinahe vergesse ich sogar jenen Vorfall in seiner Limousine. Aber nur beinahe. Mit keinem Wort hat er davon angefangen. Keine Bemerkung, keine Frage. Nichts. Auch hat er mich nicht über mein Privatleben ausgefragt. Was ich auch bei ihm niemals getan hätte, obwohl ich seltsamerweise liebend gern etwas mehr über ihn erfahren würde. Was seine Freizeitbeschäftigungen sind. Welche Bücher, welche Filme er liebt. Wo er aufgewachsen ist. Es gibt so viel, was ich ihn gerne fragen würde und doch halte ich mich zurück. Er akzeptiert meine Verschwiegenheit, also werde ich auch seinen Wunsch tolerieren.
„Ist es dir unangenehm, wenn ich dich mit Jessica anspreche?“ Er lehnt sich etwas nach vorne, legt seine Arme auf den Tisch und sieht mir dabei offen ins Gesicht. Wahrscheinlich nimmt er all meine Regungen wahr, während ich über seine Frage nachdenke.
Seit er mich im Auto das erste Mal mit meinem Vornamen angesprochen hat, hat er nicht mehr damit aufgehört, mich so zu nennen.
„Warum sollte es mir unangenehm sein?“
„Weil du dann jedes Mal einen befangenen Ausdruck in deinen Augen bekommst.“
Ich bewege langsam meinen Kopf hin und her, aber mein Blick ruht weiterhin in seinem. „Es ist...“ Ich senke meinen Kopf. Ich kann ihm nicht länger in die Augen sehen. „Es ist mir nicht unangenehm. Ich finde es sogar sehr tröstlich, wenn ich meinen Namen aus Ihrem Mund höre.“
Nichts. Stille. Verkrampft halte ich die Kaffeetasse in meinen Händen. Ich traue mich nicht in seine Richtung zu sehen, sondern starre weiter auf das weisse Tischtuch mit den lachsfarbenen Blüten und schliesse dann meine Augen.
Erschrocken reisse ich sie wieder auf, als ich seine Finger an meinem Kinn spüre, die mich zwingen ihn anzusehen. Kein Lächeln umspielt seine Lippen, aber einen Augenblick glaube ich einen inneren Kampf in seinen Augen zu lesen.
„Es wäre nur fair, wenn du mich Damian nennen würdest. Oder?“ Seine Finger hinterlassen eine leere Stelle an meinem Kinn, als er sie zurückzieht.
„Damian.“ hauche ich kaum hörbar. Bereits seit unserer ersten Begegnung nenne ich ihn im Stillen so. Ich musste mich schon mehrmals zusammenreissen, damit ich ihn nicht vor Rose oder Mira so anredete und jetzt bietet er mir an, ihn mit seinem Rufnamen anzureden. „Sehr gerne, Damian.“
Sein linker Mundwinkel zuckt kaum merkbar. Es fällt einem nur auf, wenn man ihn genau beobachtet. So wie ich es in diesem Moment tue.
„Wir werden später darauf anstossen.“
„Später?“ Verwirrung breitet sich in mir aus.
„Der Tag ist noch jung. Ich möchte dir etwas zeigen.“
„Aber wollen Sie....“
„Du.“ unterbricht er mich sofort, als ich ihn sieze.
„Ich möchte nicht deinen Plan, den du für heute hattest, durcheinander bringen.“
„Mein Plan war es zu arbeiten. Das habe ich getan. Und bevor du weitere Fragen stellst. Ich habe keine Verpflichtungen anderen gegenüber. Nur mir selbst.“ Er sieht kurz zur Seite und ruft einem Ober, der ganz in der Nähe bereits auf einen Wink von uns wartete. Damian begleicht die Rechnung, ohne mir eine Chance zu geben, mein Essen selbst zu bezahlen.
„Sieh es als Geschenk.“
„Geschenk? Für was?“
Er lächelt mich an. Zum ersten Mal wirkt sein Lächeln weder gekünstelt noch aufgesetzt und es gilt nur mir. Es entspringt seinem wahren Inneren, was mir fast den Atem raubt. „Für deinen Einsatz. Glaubst du wirklich mir wäre deine hervorragende Arbeit verborgen geblieben?“
Mein Mund klappt auf und wieder zu. Ich starre ihn ein, zwei Sekunden an, bevor ich schliesslich ein zaghaftes Danke herausbringe.
„Ich habe dir zu danken. Bist du bereit?“
Wir gehen nach draussen, wo Damians Chauffeur auf uns wartet. Pietro möchte schon die Wagentüre öffnen, doch sein Boss winkt ab. „Lust auf einen Spaziergang?“
Sofort stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. „Ich habe gehofft, dass du mich das fragst. Seit ich hier in London bin, war ich kein einziges Mal an so einem frischen Ort wie diesen.“ Mit dem Schal um den Hals und Handschuhe über meinen Händen folge ich Damian, der geradewegs auf den Wald zugeht.
Buchen, Eschen und Ulmen umschliessen uns, sobald wir über den Parkplatz auf den Waldweg abgebogen sind. Augenblicklich verliert der Wind seine Kraft in den Ästen der Bäume, die wie eine schützende Wand um uns stehen und somit die Kälte nicht mehr so arg um meine Ohren zieht.
Wir gehen eine Weile nebeneinander her, ohne dass jemand von uns etwas sagt. Beide erfreuen sich über die Stille in dieser Umgebung. Nur Geräusche der Natur sind zu hören und unsere Schritte, die über gefrorenes Laub gehen. Ich liebe dieses Knirschen und geniesse jeden weiteren Gang, den ich neben meinem Chef mache.
Ständig versuche ich mir einzureden, dass meine gute Verfassung nur diesem Naturreich zuzuschreiben ist, dass es nicht an dem Mann liegt, der an meiner Seite geht, dass es nicht der ist, der eine beruhigende Wirkung auf mich hat und doch kann ich nicht die Augen davor verschliessen, dass überwiegend er der Grund ist, warum es mir in diesem Moment gut geht und ich mich seit langer Zeit wieder einmal richtig wohl fühle.
Es führen etliche Wege durch diesen Wald. Nach links, rechts, geradeaus. Aber Damian scheint genau einem Pfad zu folgen. Schliesslich möchte er mir etwas zeigen. Das hat er jedenfalls vorhin im Restaurant gesagt. Ich frage mich, was es sein kann und bin schon fast ein wenig aufgeregt. Freudig aufgeregt.
„Bist du oft hier?“ frage ich ihn, als wir ein weiteres Mal nach rechts abbiegen.
„Manchmal.“ Nach ein paar weiteren Schritten. „Ich hoffe, es gefällt dir.“
„Was es auch ist. Dieser Tag könnte nicht schöner sein, als er schon ist. Ich empfinde deine Nähe als wahren Genuss.“ Es ist wahr. Seine Anwesenheit tut mir gut. Die Panikattacke, die ich auf der Fahrt hierher hatte, habe ich gut überwunden, dank ihm und ich glaube, er ist es wert ihm zu vertrauen. Er zerstreut meine Gedanken an meine Vergangenheit, bringt mich zum lachen und lässt mich aufatmen.
Wie erstarrt bleibt er stehen und sieht mich an. Er versucht zu Lächeln, aber der Ausdruck in seinen Augen entgeht mir nicht. Verärgerung, Trauer oder lese ich gar eine gewisse Unsicherheit darin? Warum nur konnte ich meinen Mund nicht halten?
„Tut... tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.“
Er betrachtet mich, als würde er mich soeben das erste Mal sehen. Weshalb äussert er sich nicht? Sein Blick ist starr auf mich gerichtet. Seine Stimme klingt wie immer, aber in seinen Augen liegt tiefer Schmerz, als er mich auffordert weiterzugehen. Mit keiner Silbe erwidert er etwas auf mein Geständnis. Darüber sollte ich erleichtert sein und trotzdem spüre ich eine kleine Enttäuschung.
„Nur noch diese Kurve, dann sind wir da.“
Eine kühle Seebrise weht durch meine Haare, als meine Füsse plötzlich steinigen Boden berühren. Ich blinzle mehrmals, um den Anblick, der sich vor mir aufgetan hat, als Wirklichkeit zu erkennen. Der See erstreckt sich fast bis zum Horizont und sein Türkisgrün ist so klar, dass man die Fische darin zählen könnte. Bäume umsäumen ihn, als müssten sie ihn vor der restlichen Welt beschützen. Dieses Fleckchen Natur wirkt so unberührt und rein, dass ich mich fast wie ein Eindringling fühle. Trotzdem ist es ein Platz, der mich sofort willkommen heisst. Ich recke mein Kopf in die Höhe, schliesse meine Augen und lasse diesen Moment auf mich wirken. Atme die Seeluft ein und höre dem Wasser zu, wie es gegen das Ufer rauscht.
Als ich noch in der Schweiz lebte, verbrachte ich viel Zeit am Wasser. Erst jetzt merke ich, wie sehr mir das gefehlt hat. Ich nehme mir fest vor, in nächster Zukunft häufiger hierher zu gehen. Ich muss mich wieder den schönen Dingen des Lebens zuwenden statt mich davor zu verkriechen.
Damian hätte mir nichts Schöneres zeigen können, als diesen Ort. Ich wende meinen Kopf und blicke zu ihm herüber. Sehe sein markantes Profil, sein scharfes Kinn und seinen fabelhaften Mund. „Danke.“ hauche ich mehr, als dass ich es wirklich ausspreche. Mein Blick haftet immer noch auf seinen fantastischen Lippen, während er sich in meine Richtung dreht. Dabei bemerke ich nicht, wie er mich ansieht und sich mir nähert.
Plötzlich spüre ich seinen weichen Mund auf meinem. Er berührt mich kaum und doch lassen mich seine feinen Berührungen freudig erzittern. Er liebkost mich mit federleichten Küssen. Erst zaghaft dann vertieft er den Kuss immer mehr. Er schmeckt sündhaft gut und ich öffne ihm bereitwillig meinen Mund. Seine Hände umfassen meine Taille und ziehen mich eng an ihn, als seine Zunge meine Lippen kitzelt, bevor sie sich einen Weg in meinen Mund bahnt und unsere Zungen sich einander umkreisen.
Ich spüre seinen wild klopfenden Herzschlag unter meiner Hand, die auf seiner Brust liegt. Wir stehen eng umschlungen an einem verlassenen Seeufer und küssen uns wie zwei Ertrinkende, die sich schon lange keinen solchen Gefühlen mehr hingegeben haben. Er zieht mich mehr an sich, wobei mir seine harte Männlichkeit nicht verborgen bleibt.
Abrupt versteife ich mich und stosse ihn von mir. „Damian, bitte nicht.“ Ungewollte Tränen steigen mir in die Augen und verschleiern meine Sicht. „Hör auf.“ flüstere ich abermals, aber unnötigerweise, denn er lässt mich sofort los und macht einen Schritt zurück. Bestürzt sieht er mich an. Ich möchte ihm alles erklären, kann es aber nicht. Ich starre ihn nur an. Ich versuche in meinem Mund Sätze einer Erklärung bereitzulegen, allerdings verwerfe ich alles wieder. Denn nichts kommt auch nur ansatzweise genug nah an meinen Gemütszustand. Denn selbst für mich ist es unerklärlich, dass ich mich genauso nach seiner Nähe sehne, wie ich davor zurückschrecke. „Entschuldige bitte.“ und dränge mit aller Kraft die Tränen zurück.
„Du brauchst dich ganz bestimmt nicht zu entschuldigen.“ bringt er zwischen zusammengepressten Zähnen und geballten Fäusten hervor. „Wenn, dann bin ich das.“ Damit wendet er sich ab uns sieht in die Ferne. Er scheint mit einem Mal weit weg zu sein. Irgendwo, nur nicht hier. Sein Gesicht hat einen finsteren Ausdruck angenommen, der mich etwas beunruhigt. Irgendwas beschäftigt ihn, das verraten mir seine angespannten Gesichtszüge und die Falten auf seiner Stirn, aber was es ist, davon habe ich keine Vorstellung. Anscheinend bin ich nicht die einzige Anwesende, die mit Dämonen zu kämpfen hat.
„Habe ich dich verärgert?“ frage ich ihn mit zitternder Stimme.
Langsam dreht er sich zu mir. Ich erblicke gerade noch, wie der Schatten in seinen Augen verschwindet, als er mich ansieht. Was auch immer er bekämpft, er hat gewonnen. Jedenfalls für diesen Moment.
„Nein.“ erwidert er in einem beissenden Ton, der mich sogleich zusammenzucken lässt, was ihm nicht verborgen bleibt. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anfahren.“ Er streckt die Hand nach mir aus, doch ich weiche einen Schritt zurück. „Ich würde dir niemals absichtlich wehtun. Niemals.“ beteuert er nach längerem Schweigen.
Ich nicke schwach mit dem Kopf, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden habe, aber nicht bereit bin, ihm vollends zu vertrauen. Denn so etwas hat mir schon einmal jemand versprochen. Und ich habe ihm geglaubt, weil ich ihn liebte. Aber eines Tages hat er mir das genaue Gegenteil bewiesen.
„Pietro wartet auf uns. Wir sollten zurück.“ reisst mich mein Chef aus der Vergangenheit.
„Ja.“