ICH BIN MEINE SCHWESTER - Brad Williams - E-Book

ICH BIN MEINE SCHWESTER E-Book

Brad Williams

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine heiße Nacht in Las Vegas. Die Würfel rollen. An einem der Spieltische sitzt Norma Collins, vor sich einen Stapel Silber-Dollars. Sie hat Glück.

Doch dann muss Norma fort - sehr plötzlich muss sie fort. Es gibt nur einen einzigen Zufluchtsort...

Das Mädchen, welches sie dort erwartet, ist ihr zum Verwechseln ähnlich. Und in ein paar Stunden wird eine von ihnen tot sein - die andere aber wird sich fragen: Wer bin ich?

Der Thriller Ich bin meine Schwester von Brad Williams erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1965.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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BRAD WILLIAMS

 

 

Ich bin meine Schwester

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 103

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ICH BIN MEINE SCHWESTER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Eine heiße Nacht in Las Vegas. Die Würfel rollen. An einem der Spieltische sitzt Norma Collins, vor sich einen Stapel Silber-Dollars. Sie hat Glück.

Doch dann muss Norma fort - sehr plötzlich muss sie fort. Es gibt nur einen einzigen Zufluchtsort...

Das Mädchen, welches sie dort erwartet, ist ihr zum Verwechseln ähnlich. Und in ein paar Stunden wird eine von ihnen tot sein - die andere aber wird sich fragen: Wer bin ich?

 

Der Thriller Ich bin meine Schwester von Brad Williams erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1965.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   ICH BIN MEINE SCHWESTER

 

 

 

 

 

   

  Erstes Kapitel

 

 

Die zeitlosen Stunden einer Nacht in Las Vegas: Im Royal Nevada herrschte die gleiche Atmosphäre wie in allen anderen Hotels zu beiden Seiten des weltberühmten Strip - der Hauptvergnügungsstraße dieser Stadt. Die harten, blechernen Klänge der bekannten Neger-Band drangen aus der Bar nebenan und vermischten sich mit dem typischen Geräusch einer Spielhölle. Das Royal Nevada besaß das größte Casino von Las Vegas. Über zweihundert Spielautomaten standen an den Wänden entlang. Ein Dutzend Roulett- und ebenso viele Würfeltische befanden sich in der Mitte des riesigen Saals.

Man sah alle Arten von Kleidung. Am Ende eines Würfeltisches saß eine junge Frau mit einem tiefausgeschnittenen hautengen Cocktailkleid. Ihre gepflegten Hände spielten nervös mit einem Haufen von Silberdollars, die vor ihr auf dem grünen Filz lagen. Schräg gegenüber von ihr stand eine ungefähr gleichaltrige Frau in Blue Jeans und einem ausgewaschenen Leinenhemd und setzte, sobald die Würfel fielen, scheinbar völlig unbekümmert eine Reihe von 25-Dollar-Chips. Die Akustik des Spielcasinos war so gut, dass alle Geräusche gedämpft schienen. Sogar die freudigen Ausrufe der jeweiligen Gewinner.

Hektisch und gewandt schoss das Râteau über den Filz, Einer der Croupiers räumte den Tisch ab. Er türmte vier 25-Dollar-Chips aufeinander und schob sie der Dame im Cocktailkleid hin. Im Gegensatz zu den meisten Gewinnern verzog sie keine Miene.

Sie räusperte sich schwach, warf drei Silberdollars auf den Tisch und ließ die Chips in ihrer Handtasche verschwinden. Sie war eine außergewöhnlich attraktive Frau, Anfang Zwanzig. Ihr Haar war lang und blond; ihre Flaut sonnengebräunt. Sie hatte sich kaum geschminkt. Lediglich eine Spur Rouge auf den vollen Lippen. Ihre Augen waren tiefblau. Sie reflektierten den Schein der Lampe über dem Spieltisch.

Sie fuhr fort, ihre Silberdollars zu setzen, bis ein Barmädchen hinter ihr stehen blieb und fragte, ob sie etwas bringen dürfte. Die junge Frau blickte über die Schulter und schüttelte den Kopf. Dann strich sie ihr Geld ein und stand vom Tisch auf. Langsam schlenderte sie auf einen Teil des Saales zu, wo hinter einer Samtkordel unter den wachsamen Augen eines uniformierten Casinoangestellten Bakkarat gespielt wurde. Die junge Frau schien sich der Blicke,  die sie im Vorbeigehen streiften, durchaus bewusst zu sein. Die Frauen musterten sie kritisch. Die Männer verlangend.

Im Royal Nevada gab es lediglich einen Bakkarat-Tisch, und nur acht Leute saßen beim Spiel. Bis auf einen jungen Mann, der sich scharf von den anderen unterschied, waren sie alle gut über Vierzig. Er hatte dickes, schwarzes, welliges Haar; seine Haut war olivfarben und ließ auf südliche Abstammung schließen. Bakkarat ist ein teures Spiel. Der Mindesteinsatz betrug hier zwanzig Dollar, und im Handumdrehen waren fünftausend Dollar auf dem Tisch.

Das Mädchen beobachtete das Spiel, ohne es zu verstehen. Nur eine der acht Personen machte einen desinteressierten Eindruck: eine grauhaarige Dame mittleren Alters, die dauernd auf die Armbanduhr blickte, während sie Zwanzigdollarscheine auf den Tisch blätterte. Sie schien Angestellte des Casinos zu sein, die durch ihr hohes Spiel die Gäste zum Setzen animieren sollte. Offensichtlich wartete sie auf ihre Ablösung. Die anderen, die hier ihr Glück versuchten, beobachteten konzentriert die Karten, die aus dem Schlitten glitten. Doch keiner verfolgte das Spiel mit mehr Aufmerksamkeit und Spannung wie der junge Mann, der neben der Animierdame saß.

Das Glück muss ihm nicht zur Seite gestanden haben, stellte das Mädchen fest, als sie das jämmerliche Häufchen Geld vor ihm sah. Er schien verärgert zu sein. Seine vollen Lippen waren fest zusammengepresst, seine dunklen Augen glühten. Als der Bankhalter die Karten vor ihn hinschob, richtete er sich leicht auf, fuhr mit dem Finger zwischen Kragen und Hals, langte in die Brusttasche seines Jacketts und zog eine schmale Brieftasche heraus. Er entnahm ihr fünf Hundertdollarscheine, legte sie vor sich auf den Tisch und sah hoch. Ihre Augen trafen sich. Er nickte der jungen Frau kurz zu und zuckte mit den Schultern. Als sein Blick über sie hinwegging, fuhr er plötzlich zusammen. Doch schon im selben Moment konzentrierte er sich wieder auf das Spiel und ließ sich zwei Karten geben.

Das Mädchen drehte langsam den Kopf. Sie versuchte herauszufinden, was ihn beunruhigt hatte; aber die Menge sah genauso aus wie vorher. Als sie sich wieder umwandte, war der junge Mann bereits aufgestanden, faltete gerade sein Geld zusammen und schob die Scheine achtlos in die Tasche. Er schlenderte um den Tisch herum, bedachte den uniformierten Aufseher mit einem Nicken und kam auf die junge Frau zu.

»Komm, lass uns etwas trinken«, sagte er, legte eine Hand auf ihren Arm und führte sie zur Bar. Seine Bewegungen waren ohne

Hast, aber sie spürte, dass eine seltsame Gespanntheit von ihm ausging. Man kann einem Menschen in drei Monaten wirklich nahekommen, dachte sie, und ihn gleichzeitig so überhaupt nicht kennen.

Ein Ober stand in der Tür zur Bar und verbeugte sich tief, als sie an ihm vorbeigingen.

»Guten Abend«, grüßte er die junge Frau, dann wandte er sich an ihn. »Guten Abend, Mr. Pato.« Ohne auf eine Antwort zu warten, begleitete er sie zu einem kleinen Tisch direkt vor der Band. Beflissen schob er die beiden Stühle zusammen, dass das Paar nebeneinander sitzen konnte. Anschließend winkte er eine Bedienung an den Tisch. Sie nahm die Bestellung auf.

Einige Minuten lang fiel kein Wort. Der junge Mann drehte das Glas in seinen Händen - was ebenfalls ungewöhnlich war. Sonst, wenn sie zusammen saßen, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit ihr und lächelte, während er sprach. Jetzt aber starrte er auf seinen Drink, und wenn er etwas sagte, sah er sie nicht an, und seine Lippen bewegten sich kaum.

»Ich wünsche«, murmelte er, und man konnte seine Stimme beim Lärm der Blechinstrumente kaum verstehen, »dass du in ein paar Minuten zur Toilette gehst. Wenn du wieder herauskommst, begibst du dich direkt zum Bungalow.«

»Was ist denn los, Johnny?«

Plötzlich begriff sie, dass er Angst hatte. Und das war besonders seltsam, denn er war nicht der Mann, der sich so schnell vor etwas fürchtete,

Einen Moment ignorierte er ihre Frage. »Pack unsere Sachen«, fuhr er schließlich im gleichen Ton fort, »und vergiss auf keinen Fall das kleine Köfferchen im Wandschrank. Alles muss in fünf Minuten erledigt sein.«

Sie sah ihn an. Seine Angst ging auf sie über.

»Und verhalte dich völlig normal«, ermahnte er sie und legte die Rechte auf ihr Knie.

»Aber was ist denn los?«, fragte sie nochmals und streichelte ihm über die Hand.

»Das werde ich dir später erklären«, entgegnete er und trank von seinem Glas. »Weißt du, wie man zur Rennbahn kommt, die ich dir vorgestern gezeigt habe?«

»Ich denke, schon.«

»Pack alles in den Wagen«, fuhr er fort. »Im Eingang der Stallungen wartest du auf mich.«

Die Bläser der Band standen auf, und das Getöse wurde ohrenbetäubend. Sie fuhr sich über die Stirn. Die Musik war so laut, dass sie keinen Gedanken fassen konnte. Es ist vielleicht besser so, dachte sie und musste innerlich lächeln. Johnny nahm die Hand von ihrem Knie, holte zwei Zigaretten aus einem Päckchen, zündete sie an und tat eine in den Aschenbecher vor ihr. Als er seine Hand wieder auf ihr Knie legte, ließ er die Autoschlüssel in ihre Finger gleiten. Die Band setzte zum Schlusschorus an. Das Podium drehte sich, und ein zweites Jazzorchester, das dieselbe Melodie spielte, erschien. Nun wusste sie, warum die Musik so irrsinnig laut gewesen war. Ein zweites großes Ensemble hatte hinter der Bühne in dasselbe Stück mit eingestimmt.

»Richte es so ein, dass du in ungefähr fünfundvierzig Minuten an der Rennbahn bist«, sagte er. »Zieh an der Zigarette und lege sie wieder in den Aschenbecher.«

Sie tat es. »Und jetzt?«, fragte sie.

Er blickte sie an und lächelte schwach. Dann stand er auf und schob ihren Stuhl zurück. »Beeil dich, mein Liebling«, sagte er laut. Als sie den Tisch verließ, setzte er sich wieder hin und betrachtete die Jazzmusiker auf dem Podium.

Es war ein halbes Jahr her, hatten sie vor ein paar Tagen in Los Angeles festgestellt. Sechs Monate waren vergangen, seit sie sich zum ersten Male getroffen, neunzig Tage, seit sie das erste Wochenende zusammen in Malibu verbracht hatten. Aus dem Grunde hatte er sie mit nach Tijuana genommen, wo er geschäftlich zu tun gehabt hatte. Und anschließend nach Las Vegas... In ein paar Tagen, wenn er hier alles erledigt haben würde, wollten sie nach Südamerika weiterfliegen. Eigentlich kannte sie ihn nicht sehr gut, aber von Tag zu Tag erfuhr sie mehr über ihren Liebhaber. Las Vegas war ihm nichts Neues, und er war ein leidenschaftlicher Spieler. Und wenn sie darüber nachdachte, erstaunte sie das keineswegs. Er hatte immer die Taschen voll Geld, und seine ganze Art war die eines Spielers. »Wenn sich einem eine Chance bietet«, hatte er einmal gesagt, »muss man zupacken. Wenn man glaubt, aus etwas Nutzen schlagen zu können, muss man sofort handeln und alle Skrupel beiseiteschieben.«

Sie blickte in den Spiegel. Hinter ihr lief die Toilettenfrau geschäftig hin und her. Eigentlich nur, um etwas Zeit zu gewinnen, beugte sich die junge Frau nach vorn und zog ihre Lippen mit dem hellrosa Stift nach. Die Farbe steht mir, dachte sie. Auch das war neu. Es war Johnnys Idee gewesen, und sie hatte gelacht, als er ihr das Rouge geschenkt hatte. »Wir Pato-Jungs lieben Frauen mit Klasse«, hatte er gesagt.

Lächelnd steckte sie den Lippenstift wieder in die Handtasche und gab der Toilettenfrau einen Silberdollar Trinkgeld. Es war wie ein Traum, und sie konnte es selbst kaum glauben. Noch vor wenigen Monaten war sie als Angestellte einer Agentur für Schauspieler in Beverly Hills tätig gewesen, hatte von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends gearbeitet und nie mehr als fünfundzwanzig Cent Trinkgeld gegeben. Natürlich hatte man Bemerkungen fallen lassen, dass sie sich mehr für Johnny Patos Geld als für Johnny Pato selbst interessierte, aber diese Bemerkungen trafen sie nicht. Sie wusste genau, dass sie bei Johnny bleiben würde, auch wenn er nicht einen Cent besäße. Und wenn er nicht heiraten wollte oder aus irgendeinem Grund nicht heiraten konnte, wäre ihr auch das egal. Sie liebte ihn.

Als sich die Tür hinter ihr schloss, blieb sie einen Moment in der Halle stehen. Dank der hervorragenden akustischen Verhältnisse dieses Hotels hatte man den Eindruck, als sei das Jazzorchester meilenweit entfernt. Die Geräusche aus dem Spielcasino waren kaum zu hören. Niemand schien die junge Frau zu beachten. Vielleicht ein Dutzend Menschen befanden sich in der »Halle. Aber keiner von ihnen sieht so aus, als könne er Johnny Angst einjagen, dachte sie, als sie langsam aus dem Hotel ging, die Tür aufstieß und in den großen Garten mit dem Swimming-Pool hinaustrat.

Draußen war alles völlig verlassen, Laut Anschlägen gab es ein Gesetz, wonach das Schwimmen nach Einbruch der Dunkelheit verboten war. Dieses Gesetz, hatte ihr Johnny erklärt, war auf Veranlassung der Hotelbesitzer durchgebracht worden, weil man vermeiden wollte, dass die Hotelgäste abends um das Schwimmbad herumsitzen anstatt beim Roulett ihr Geld zu verspielen. Sie beschleunigte den Schritt. Ihre hohen Absätze klapperten auf den Steinplatten, während sie um den Swimming-Pool herum auf den Bungalow an der Rückseite des Gartens zuging. Einen Moment später betrat sie das luxuriöse Häuschen, das sie mit Johnny in den letzten zwei Tagen bewohnt hatte.

Ihre Bewegungen waren schnell und geschickt. Dies war das erstemal, dass Johnny sie um etwas gebeten hatte. Und obwohl sie seine Gründe nicht kannte, war sie entschlossen, ihn nicht im Stich zu lassen und alles so zu erledigen, wie er es ihr aufgetragen hatte. Kurz darauf trug sie ihre beiden eigenen Koffer zu dem teuren ausländischen Kabriolett, das einige Meter von dem Bungalow entfernt geparkt war. Sie begegnete niemandem. Gott sei Dank, dachte sie. Eine junge Frau im Cocktailkleid, die ihre Koffer zum Wagen trägt, musste reichlich absonderlich aussehen. Falls ein Angestellter oder Hoteldetektiv sie beobachtete, konnten diese nur den einen Schluss ziehen: dass sie sich aus dem Staub machen wollte, ohne die Rechnung zu bezahlen. Und so ist es ja auch, dachte sie mit einem leichten Seufzer, schloss den Kofferraum auf und schob ihr Gepäck. hinein. Immerhin hatte sie inklusive der Chips noch fünfhundert Dollar in der Tasche - was allerdings kaum reichen würde.

Als sie die beiden hastig gepackten Lederkoffer ihres Freundes nach draußen trug, war nach wie vor alles still und verlassen. Johnnys Gepäck war unheimlich schwer, und nachdem sie den Kofferraum abgeschlossen hatte, musste sie einen Moment innehalten und verschnaufen, bevor sie in den Bungalow zurückging, um seinen kleinen Aktenkoffer zu holen.

Kurz darauf, als sie die Tür des Bungalows hinter sich zuzog, war sie jedoch nicht mehr unbeobachtet. Jemand kam langsam den Weg entlang. Sie drückte das Aktenköfferchen an sich, blieb einen Moment stehen und sah zum Casino zurück. Als sei ihr Blick ein Signal gewesen, brachen die Schritte plötzlich ab. Der Weg, der um das Schwimmbad herumlief, war mit Palmen eingesäumt. Unter jeder zweiten Palme brannten kleine Scheinwerfer, deren gelbliches Licht über Farnsträucher hinwegstrich, die sich im Nachtwind leicht bewegten. Die Bewegung in den Pflanzen war seltsam trügerisch. Von der Person, deren Schritte sie eben gehört hatte, war keine Spur zu sehen. Sie musste sich hinter einer der Palmen versteckt haben. Jedoch jemand, der zufällig einen Weg entlangkommt, verschwindet nicht sofort hinter einem Baum, nur weil er eine junge Frau einen Bungalow verlassen sieht. Nervös biss sie sich auf die Lippen, drückte das Aktenköfferchen noch fester an sich, drehte sich wieder um und ging schnell zum Wagen.

Erst, als sie die Autotür aufmachte, hörte sie die Schritte wieder - die festen Schritte eines Mannes. Sie steckte den Schlüssel in das Zündschloss. Die Schritte fingen an zu laufen. Der Motor sprang an. Sie schaltete die Scheinwerfer an und legte hastig den Rückwärtsgang ein. Ihr Verfolger schlug einen Haken, um dem Licht der Scheinwerfer zu entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie eine vage Silhouette. Rückwärts raste sie in eine Parklücke, schaltete und schoss im gleichen Moment mit quietschenden Reifen davon. Als sie um das Hotel bog, warf sie einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Genau an der Stelle, wo der Weg auf den Parkplatz mündete, stand ein Mann, die Arme in die Hüften gestemmt, und starrte ihr nach.

Erst, als sie sich im fließenden Verkehr auf dem Strip befand, setzte die Reaktion ein. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und fuhr rechts an den Straßenrand, um sich zur Beruhigung ihrer Nerven eine Zigarette anzuzünden und den Sitz in eine bequemere Position zu rücken. Bevor sie weiterfuhr, blickte sie sich um. Nichts gab zu der Befürchtung Anlass, dass sie verfolgt wurde. Das riesige Neonschild in Form einer altägyptischen Barke auf dem Dach des Royal Nevada leuchtete in der Ferne. Alles sah so völlig normal aus, dass sie sich im Moment fragte, ob die Phantasie mit ihr durchgegangen sei.

Die Rennbahn von Las Vegas lag ungefähr eineinhalb Kilometer südlich vom Strip. Man hatte Unsummen in diese Anlage hineingesteckt und ein sehr großes Clubhaus und eine riesige Tribüne errichtet. Vor Jahren war alles noch ausnehmend gepflegt gewesen und man hatte den Eindruck gemacht, als ob die Initiatoren dieser Investition die großen Rennbahnen von Santa Anita und Hialeah hatten ausstechen wollen. Aber nicht ein Pferd war jemals über den Turf von Las Vegas gelaufen. Bevor das erste Rennen zustande kam, war das Geld ausgegangen, und keiner der Spielhöllenbesitzer am Strip war bereit gewesen, auch nur einen Cent für ein Projekt herzugeben, das eine Konkurrenz für das eigene Geschäft geworden wäre. Sandstürme hatten dem Anstrich des Clubhauses und der Tribüne inzwischen schwer zugesetzt. Die Polizei fuhr gelegentlich über die Anlage und jagte irgendwelches Landstreichervolk, das sich hier eingenistet hatte, vom Gelände. Doch das kam verhältnismäßig selten vor.

Als sie vor zwei Tagen nach Las Vegas gekommen waren, hatte Johnny am Eingang der verlassenen Stallungen angehalten und über die Rennbahn gezeigt. »Aussicht auf Las Vegas«, hatte er gesagt, und sie hatten die Bemerkung beide sehr komisch gefunden.

In der tiefen Dunkelheit dieser Nacht jedoch hatte das totenstille Gelände gar nichts Komisches an sich. Sie blieb vor dem Eingang zu den Ställen mit laufendem Motor stehen. Rechts von ihr warf das Neongeglitzer des Strip einen roten Schein gegen den Himmel. Am Horizont sah sie das rote Licht eines Düsenjägers, der vom Flugplatz McCarreen gestartet war.

Auf gleicher Höhe zu jener Stelle, an der sie angehalten hatte, leuchtete die altägyptische Barke des Royal Nevada zu ihr herüber. Zu Fuß hätte man vom Hotel zur Rennbahn nur ungefähr eine Viertelstunde gebraucht. Sie jedoch hatte erst an die eineinhalb Kilometer in westlicher Richtung fahren müssen, bis sie auf eine Querstraße gestoßen war.

»Im Eingang der Stallungen wartest du auf mich«, hatte er gesagt. Langsam fuhr sie über die Straße und lenkte den Wagen durch das offene Tor, das zu den Ställen führte. Drinnen wendete sie und zog neben einem kleinen Gebäude, das wohl als eine Art Verwaltungshaus gedacht gewesen war, die Bremse. Sie stand parallel zur Straße geparkt. Falls ich aus irgendeinem Grund schnell von hier weg muss, dachte sie, bin ich im Nu draußen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und wartete.

Eine ganze Zeit lang war alles totenstill. Dann hörte sie plötzlich ein schwaches Geräusch. Ein Karnickel, das über den Sand hüpft oder eine Klapperschlange... Klapperschlangen huschen nur nachts durch die Wüste. Obwohl die Luft warm und trocken war, lief ihr ein Schaudern über den Rücken.

Aus der Ferne kam ein Wagen angerast, fuhr am Tor zu den Ställen vorbei, und das Brummen des Motors verstummte langsam wieder. Sie knipste das Licht am Armaturenbrett an und sah auf die Uhr. Es war gut eine Stunde vergangen, seit sie das Hotel verlassen hatte. Sie fragte sich, was sie tun sollte, wenn Johnny nicht kommen würde. Im gleichen Augenblick hörte sie vorsichtige Schritte. Sie kamen von hinten. Sie drehte sich um und erstarrte von Angst.

Der Mann, der ungefähr zwei Meter vom Kofferraum des Wagens entfernt stand, war nicht Johnny. Ihre Augen waren bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte das unrasierte, ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der ziemlich auf seinen Beinen schwankte und sie anstarrte. Ein Landstreicher, ein junger Herumlungerer, dachte sie erschrocken. Dazu war er noch betrunken. Selbst aus dieser Entfernung roch er nach Alkohol. Er war wie ein Tier, das eine Falle witterte. Sein Kopf rollte auf den Schultern hin und her. Er machte einen weiteren Schritt und kam schließlich so nahe heran, dass er sich auf den rückwärtigen Kotflügel stützen konnte. Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie fuhr herum und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus. Aber der Fremde reagierte blitzschnell. Ihre plötzliche Bewegung hatte ihn aus seiner schwankenden Untätigkeit gerissen. Er sprang auf sie zu, packte sie am Handgelenk und drückte mit seinem Daumen so lange zwischen die Sehnen, bis sie vor Schmerz den Zündschlüssel losließ. Sein Atem war übelriechend, seine Jacke schmutzig und zerschlissen. Sie schüttelte sich vor Ekel.

Wieder versuchte sie zu schreien, und wieder konnte sie keinen Ton herausbringen. Der Mann richtete sich langsam auf. In seiner Hand baumelten die Wagenschlüssel. Einen Moment lang stand er nur da und stierte wortlos auf sie herunter. Seine Haltung war furchterregend. Er schnalzte mit den Fingern, und die Autoschlüssel flogen auf den Rücksitz und rutschten auf den Boden herunter. Seine Haare hingen ihm bis in den Kragen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Wie versteinert vor Angst saß sie da, das Gesicht dem Fremden halb zugewandt. Als der Mann sich wieder vorbeugte, fuhr sie zusammen; aber er berührte sie nicht, sondern holte das Aktenköfferchen vom Rücksitz.

Während er sich bückte, um es auf den Boden zu stellen, brach die hypnotische Wirkung, die er auf sie ausgeübt hatte, zusammen. Norma Collins schrie. Zur gleichen Zeit beugte sie sich nach vorn, schaltete die Scheinwerfer ein und lehnte sich gegen die Hupe. Eine Sekunde lang schien alles taghell erleuchtet zu sein, dann fühlte sie einen schweren Schlag gegen ihre Schläfe und verlor die Besinnung.

Es können nur ein paar Minuten verstrichen sein, dachte sie. Alles war wieder stockdunkel. Sie hatte wahnsinnige Kopfschmerzen. Ohne sich zu rühren, lag sie da, gegen die Armstütze des rechten Sitzes gelehnt. Sie war nicht vergewaltigt worden, denn ihre Kleider waren in Ordnung. Noch nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Und in dem Moment erinnerte sie sich an die Pistole im Handschuhfach. Plötzlich hörte sie zögernde, schleichende Schritte. Langsam hob sie den Arm und machte vorsichtig das Handschuhfach auf. Sie wusste mit dieser Waffe umzugehen. Auf der Fahrt nach Ensenada hatten sie angehalten und auf Zaunpfosten an der Landstraße geschossen. Wieder hörte sie einen Schritt, und ihre Finger schlossen sich um den Griff der kleinen italienischen Pistole.

Es war wie ein Alptraum. Langsam kamen die schleichenden Schritte näher. Sie konnte sich nicht mehr zusammennehmen, schoss in die Höhe, zielte in die Richtung, aus der die Schritte kamen und zog den Abzug durch. Die schattenhafte Gestalt, die nur einige Meter von ihr entfernt stand, krampfte sich zusammen; versuchte sich aufrecht zu halten und stolperte zurück. Der Knall der Schüsse zerriss die Stille der Nacht. Der Mann sackte in sich zusammen und fiel. Sie ließ die Waffe sinken.

Die Pistole fiel ihr aus der Hand. In den Ohren war ein unerträgliches Rauschen. Dann hörte sie wieder Schritte, die durch die Nacht rannten. Das Aktenköfferchen stand noch genau an derselben Stelle; es war nur umgekippt. Der Klang der fliehenden Schritte verlor sich in der Dunkelheit. Mühsam riss sie ihren Blick von dem Aktenköfferchen und zwang sich, die leblose Gestalt auf dem Boden zu betrachten.

Entsetzen stieg in ihr hoch: Sie hatte Johnny Pato erschossen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Der Pilot hatte die Geschwindigkeit erheblich verringert. Er setzte zur Landung an. Es war ein altes Flugzeug. Älter, als das Mädchen, das neben dem Flughafengebäude an einen Maschenzaun gelehnt stand und beobachtete, wie die Maschine auf die Landebahn zu schwebte.

Es war ein für den Spätherbst ungewöhnlich warmer Tag. Das Mädchen war dementsprechend angezogen. Sie hieß Nadine Rand. Die Beine ihrer enganliegenden Blue Jeans steckten in Lederstiefeln. Die hellblaue Bluse erinnerte an ein Cowboyhemd. Um die schmale Taille trug sie einen breiten Ledergürtel mit einer robusten Messingschließe. Sie hatte eine auffallend gute, wohlproportionierte Figur. Und sie schien es zu wissen, wie man aus der fast arroganten Haltung, mit der sie gegen den Zaun gelehnt stand, schließen konnte. Ihr Haar, das in einem Pferdeschwanz zusammengeschlungen war, fiel ihr bis auf die Schultern herunter. Ihr Gesicht war braungebrannt, und auf den vollen, leicht sinnlichen Lippen lag nur eine Spur Rouge. Ihre Augen waren tiefblau.

Die zweimotorige Maschine setzte auf der Asphaltpiste auf. Das Mädchen wusste, dass zu dieser Jahreszeit nur wenige Passagiere in Kalispell aussteigen würden. Selbst während des Sommers, wenn Touristen in das nahegelegene Bigfork oder an den Flathead See kamen, waren die Flugzeuge mit ihren zweiundzwanzig Plätzen selten ausgebucht. Und jetzt, wo der Labour Day vorbei war, stieg wohl kaum mehr als ein Passagier aus der Maschine. Und dass ein Passagier ankommen würde, wusste sie bestimmt, denn sie hatte am Vorabend einen Anruf aus Los Angeles bekommen.

Das Flugzeug war soeben gelandet. Das Mädchen stützte beide Arme auf den oberen Rand des Zauns und legte das Kinn auf die gekreuzten Hände. Die Blue Jeans saßen stramm auf ihren Schenkeln. Sie beobachtete, wie das Flugzeug von der Landebahn abbog und auf einen Flughafenangestellten zurollte, der zwei gelbe Metalltafeln durch die Luft schwenkte. Sie sah diesem Manöver einen Moment lang zu, und als die Maschine drehte, richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Tür.

Das Gespür war plötzlich wieder da. So hatten sie es als Kinder immer genannt. Das Gespür.

Sie rechnete zurück. Mehr als fünfzehn Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letzten Male gesehen hatten. Eine lange Zeit - besonders für eineiige Zwillinge. Anfangs war das merkwürdige Gespür ein fast konstanter Zustand gewesen. Aber seit mindestens sechs oder sieben Monaten hatte sie nichts mehr davon gemerkt. Zum letzten Male hatte sie es gehabt, als Norma, dreitausend Kilometer von ihr entfernt, Blinddarmentzündung bekommen hatte. Sie selbst hatte Schmerzen bekommen, doch es war ihr irgendwie sofort bewusst gewesen, dass Norma diejenige war, die krank war. Nach ein paar Stunden waren die Schmerzen vorbei gewesen. Die Psychiater nannten es außersinnliche Wahrnehmung. Aber das, was sie verband, war stärker. Oder war zumindest stärker gewesen. Es bestand ein Unterschied zwischen außersinnlicher Wahrnehmung und dem Gespür, das sie füreinander hatten. Ein mit außersinnlicher Wahrnehmung begabter Mensch konnte zum Beispiel die Gedanken eines anderen lesen oder dessen Reaktionen voraussehen. Bei diesem Voneinander-Wissen jedoch identifizierte sich der eine Zwilling mit dem anderen und durchlebte die gleiche Stimmung oder dieselbe momentane Lage. Wie eben jetzt: Norma ging auf die Tür des Flugzeuges zu, dessen Motoren inzwischen abgestellt waren, und war fast starr vor Angst. Und diese Angst übertrug sich auf das Mädchen, das auf den Zaun gestützt dastand und wartete.

Leicht schaudernd blickte sie um sich. Alles machte einen völlig normalen Eindruck. Ein leichter Wind war aufgekommen. Irgendwo in der Ferne ratterte ein Traktor über eine Landstraße. Sie sah wieder zu dem Flugzeug hinüber.

Jetzt wurde die Tür der Maschine aufgemacht, und ein Steward trat zur Seite. Er verbeugte sich leicht. Nadine rührte sich nicht, als Norma aus dem Flugzeug trat, kurz auf der Treppe stehenblieb und zu ihr herüberblickte. Sie sah die Zwillingsschwester einen Moment an, dann senkten sich ihre Augen auf die Stufen, die sie langsam hinunterging. Am Fuß der Treppe stockte Norma für den Bruchteil einer Sekunde. Der Anblick eines uniformierten Flughafenangestellten, der schnell auf die Maschine zukam, ließ ihr den Schrecken in alle Glieder fahren. Nadine spürte es sofort. Doch als Norma den Mann als Mitglied des Bodenpersonals erkannte, ließ ihre Angst nach.

Nadine beobachtete die Schwester kritisch, während diese auf das Flughafengebäude zuging. Norma war sehr gut angezogen. Und teuer. Ihr Strickkleid saß wie angegossen. Die hochhackigen Pumps, die in der Farbe genau passten, hatten mindestens so viel gekostet wie ein Paar Reitstiefel. In einer Hand trug sie ein verhältnismäßig großes Aktenköfferchen. Über ihrem rechten Arm. hing ein Kamelhaarmantel. Ihre große Handtasche hatte sie unter den Ellbogen geklemmt. Sie trugen die gleiche Frisur, stellte Nadine fest, doch Normas Gang war anders. Ihre Hüften hatten beim Gehen einen fast berechneten Schwung. Aber es war schließlich auch ein Unterschied, ob man Pumps mit hohen Absätzen oder Cowboystiefel trug.

Norma verschwand im Innern des Flughafengebäudes. Der Mann vom Bodenpersonal lief schnell mit einem blauen Koffer über das Flugfeld. Die Treppe wurde wieder eingefahren. Die Tür der Maschine schloss sich. Norma Collins war tatsächlich der einzige aussteigende Passagier gewesen. Nadine wartete, bis die Motoren wieder angelassen wurden. Sie wollte ganz sichergehen, dass niemand mehr ausstieg. Dann drehte sie sich schnell um und ging zu dem Parkplatz, auf dem der Jeep stand. Als sie vor dem Flughafengebäude vorfuhr, trat Norma gerade auf die Straße heraus.

Mit ihrem großen Koffer an der Hand war sie mehr als beladen. Doch Nadine machte keine Anstrengungen, ihr zu Hilfe zu kommen. Das hätte nur Zeit gekostet. Norma lief, so schnell sie konnte, auf den Wagen zu, warf ihr Gepäck auf den Rücksitz und kletterte neben Nadine in den Jeep. Sie saß no di kaum, als Nadine schon anfuhr. Jetzt, wo sie so nahe zusammen waren, wurde das Gefühl der Angst in Nadine noch größer. Und sie wusste nicht einmal, wovor sie sich fürchtete.

Mit ziemlicher Geschwindigkeit verließ sie das Flughafengebäude und bog in die Verbindungsstraße ein, die nach ungefähr vier Kilometern auf die Kalispell-Bigfork-Chaussee führte. Einen Moment lang sprach sie kein Wort, sondern versuchte nur, den Grund zur Angst ihrer Schwester herauszufinden. Aber vergeblich. Als sie in die Chaussee einbogen, drehte sich Norma um und blickte zurück. Und erst als sie sah, dass ihnen niemand folgte, ließ ihre Spannung nach.

»Du warst der einzige aussteigende Passagier«, meinte Nadine und lenkte den Wagen in Richtung Bigfork.

Die Angst ließ etwas nach. Norma rückte das Aktenköfferchen auf ihrem Schoß zurecht, dann machte sie ihre Handtasche auf und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Sie zündete zwei an und gab eine ihrer Schwester. Beide rauchten fast gierig.

»Ist es schlimm?«, fragte Nadine.

»Ziemlich.« Es hätte dieselbe Person sein können, die sprach. Normas Stimme hatte den gleichen Klang. Am Telefon konnte man einen leichten Unterschied feststellen. Aber das lag wahrscheinlich lediglich an der technischen Wiedergabe. Wenn man seine Stimme zum ersten Male auf einem Tonband hört, ist man im allgemeinen höchst erstaunt.

Nadine überholte einen Viehwagen, dann erhöhte sie die Geschwindigkeit. Wieder überflutete sie eine Welle von Angst. Als säße der Grund zu dieser Angst im Führerhäuschen des kleinen Lastautos. Sie hatte sich das Zusammentreffen nach so vielen Jahren anders vorgestellt. Umarmungen, Seligkeit und vielleicht ein Tranchen, obwohl sie beide nicht besonders gefühlsduselig waren.

»Bitte, sei mir nicht böse«, sagte Norma ruhig. »Es blieb mir keine andere Wahl. Ich wusste nicht, wohin.«

Nadine zuckte mit den Schultern. »Ich wollte gerade heute abreisen und den Winter über in Seattle bleiben.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie es schon bereute. »Ich meine damit nur«, fuhr sie fort, »dass das Blockhaus leer steht.«

»Können wir eine Zeitlang dort bleiben?«

»So lange das Wetter so bleibt, natürlich. Es kann morgen anfangen zu schneien. Dann müssen wir sofort aufbrechen, oder den ganzen Winter bleiben.«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

»Du würdest dich zu Tode langweilen. Der Winter ist lang. Und mutterseelenallein...«

Norma stieß einen kleinen Seufzer aus und warf ihre Zigarette auf die Straße. »Wie schnell man doch vergisst«, meinte sie und warf einen kurzen Seitenblick auf die Schwester. »Das enge Band zwischen uns...«

»Genau«, entgegnete Nadine. »Man spürt es erst so richtig, wenn man zusammen ist. Oder nicht?«

Norma sah Nadine an. Ein seltsamer Ausdruck lag in ihren Augen. »Doch«, antwortete sie, dann wandte sie sich plötzlich ab und blickte über die Landschaft.

Während einer ganzen Weile schwiegen die beiden Mädchen. Auf der Straße herrschte kaum Verkehr - ab und zu ein Lastwagen oder ein Bus in Richtung Spokane. Sie ließen Bigfork links liegen und fuhren kurz danach auf eine schmale Gebirgsstraße, die sich ziemlich steil in die Höhe wand. Seltsamerweise schien es mit steigender Höhe wärmer zu werden. Allerdings war es bald zwölf Uhr mittags, und das war wohl der Grund.

»Ich werde zu MacCombers Landesteg fahren«, meinte Nadine, als sie zu der Stelle kamen, wo man den See sehen konnte. »Er war einer von Papas besten Freunden.« Sie lächelte. »Er hat mich nie offiziell adoptiert. Aber ich habe ihn immer Papa genannt.«

»Was auf das gleiche herauskommt«, stellte Norma trocken fest. Es lag keinerlei Vorwurf in ihren Worten. »Du benützt ja sogar seinen Familiennamen.«

»Ja, und das hat ihn immer besonders gefreut«, entgegnete Nadine und lächelte wieder.

Sie bog in einen schmalen Weg ein, gerade breit genug für den Jeep. Es ging ein Stück bergab, und nach einer Biegung lag der See vor ihnen.

Norma presste beide Hände zusammen. »Wie herrlich es hier ist!«, rief sie aus.

Der See war ungefähr vierundzwanzig Kilometer lang und an dieser Stelle an die neun Kilometer breit. An diesem Ufer, an dem eine Straße entlanglief, standen einige Villen und Sommerhäuser. Auf der gegenüberliegenden Seite war alles wild und von dichtem Tannenwald bestanden.

Nur wenn man es wusste und nach ihm suchte, konnte man das Blockhaus auf der anderen Seite des Sees erkennen. An einer Stelle waren die Tannen ausgeschlagen und hatten einer kleinen Rasenfläche, auf der die Hütte stand, Platz machen müssen.

Zur Rechten verengte sich der See zu einer ganz schmalen Stelle. Als Nadine den Jeep in einer weiten Kurve zu einer lehmigen Stelle steuerte, die wohl als Parkplatz diente, sah Norma plötzlich in der Ferne ein Licht aufblinken. Sie bildete in die Richtung, aus der der Schein gekommen war, und erkannte den Bus, den sie vor einer Weile überholt hatten. Er fuhr gerade über die Brücke, die sich an der Stelle über den Goose River spannte, wo der Fluss in den See eintrat. Wieder blitzte ein Leuchten auf. Es musste von der Sonne kommen, die sich in den Windschutzscheiben der vorbeifahrenden Wagen spiegelte.

»Es ist doch verhältnismäßig viel Verkehr auf der Straße«, stellte sie fest und deutete auf die Brücke in der Ferne.

»Das ist auch die Hauptverkehrsstraße zwischen Missoula und Kalispell«, erklärte Nadine, zog die Bremse und stellte den Motor ab. Dann streckte sie die Hand aus und zeigte über den See hinüber. »Das Blockhaus ist genau gegenüber«, sagte sie.

»Es ist größer, als ich es mir vorgestellt habe«, sagte Norma.

»Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass es vor Jahren von einem sehr reichen Mann gebaut worden ist. Als Hochzeitsgeschenk für seinen Sohn.«

»Und der Sohn wollte es nicht«, entgegnete Norma nickend. »Es hat ihm nicht gefallen.«

»Richtig. Papa hat es für ganz billiges Geld gekauft. Es wurde fast vier Jahre lang daran herumgebaut, bis es wirklich bequem war.« Sie sprang aus dem Jeep, hob die beiden Koffer vom Rücksitz und ging auf den Steg zu, an dem ein kleines Boot mit Außenbordmotor festgemacht war. »Die einzige Möglichkeit, zum Blockhaus zu kommen, ist per Boot«, erklärte sie.

Normas hohe Absätze sanken in den weichen Boden ein. Sie zögerte einen Moment. Dann zog sie die Schuhe aus, ging zum Jeep zurück und warf sie hinein. »Du hast deine Schlüssel stecken lassen«, rief sie Nadine zu.

Nadine zuckte mit den Schultern. »Im Umkreis von dreißig Kilometern ist keine Menschenseele«, erwiderte sie.

Sie verstaute Normas Gepäck im Boot und streckte die Hand nach dem Aktenköfferchen aus. Aber die Schwester wies die Hilfe wortlos zurück und stieg, ihren Mantel, die Handtasche und das Aktenköfferchen gegen den Körper gepresst, ins Boot. Mit einem leichten Schulterzucken folgte ihr Nadine, machte die Leine los und stieß das Boot vom Steg ab. Ohne die Schwester anzusehen, spürte sie, dass diese jede ihrer Bewegungen beobachtete. Der Motor sprang mit einem Aufheulen an.

Es war anders als früher, als sie noch Kinder gewesen waren. Die Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken des anderen zu spüren, war schon immer vorhanden gewesen. Aber jetzt war es wie das Aufblitzen der Sonne, die sich in der Windschutzscheibe eines vorüberfahrenden Wagens spiegelt.

Nadine war mit diesen Gedanken beschäftigt, bis sie zwanzig Minuten später das Boot mit großer Geschicklichkeit an einen Steg steuerte, den Motor abstellte und das Tau an einem Holzpfahl verzurrte. Dann wandte sie sich zu Norma um und streckte ihr die Rechte entgegen, um ihr aus dem Boot zu helfen. Sobald sich ihre Hände berührten, war die Gedankenverbindung hundertprozentig.

Der Schock war so groß, dass Nadine unwillkürlich die Hand zurückzog und die Schwester fassungslos und ungläubig anstarrte. Eine ganze Zeitlang sah sie in Augen, die wie ihre eigenen waren. Sie war sich kaum bewusst, dass ihr Mund offenstand, und ihre plötzliche Reaktion sehr unklug war. Doch sie war machtlos und wie versteinert.

Doch dann konnte sie sich schließlich lösen. Sie kniete sich auf den Steg, hob die beiden Koffer aus dem Boot und trat zur Seite, um die Schwester herausklettern zu lassen. Als Norma neben ihr stand, schüttelte Nadine langsam den Kopf. Sie konnte es einfach nicht glauben. »Warum?«, fragte sie. »Warum willst du mich umbringen?«

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Der heiße Wind vom Nordwesten kam schon früh am Nachmittag auf, fegte über Hunderte von Kilometern Wüstenland hinweg und wirbelte Staub und Schmutz auf. Es war ein trockener Sturm - nichts Neues für die Menschen, die diese Gegend kannten. Sie wussten, dass der Sandsturm einen Wagen innerhalb kürzester Zeit von seiner Farbe freiwaschen konnte. Die Bewohner der kleinen Bergwerksstädte von Nevada strichen ihre Häuser nicht an und hielten ihre Autos möglichst in der Garage. Las Vegas jedoch konnte sich kein schäbiges Bild leisten und war daher den Gewalten der Natur am härtesten ausgesetzt.

Einige Stunden nach Mittag war der Himmel voll von winzig kleinen Staub- und Sandkörnchen, und ein schmutziger Schleier lag vor der roten Sonne. Der Flugverkehr zum McCarren Airport war längst eingestellt. Die kleinen Maschinen, die draußen auf dem Platz standen, wurden schleunigst in die Hangars abgeschleppt und mit Zeltbahnen bedeckt. Nichts allerdings konnte man unternehmen, um die riesigen Neonreklameschilder zu schützen.

Und das erste, was der Sturm mit sich riss, war die große altägyptische Barke vom Dach des Hotels Royal Nevada. Der Wind traf auf das immense Metallsegel mit der Wucht eines Schlaghammers. Die Neonröhren zerbarsten in Tausende von winzigen Glasteilchen, kaum größer als die Sandkörner. Eine Sekunde später riss das leicht gewölbte Metallsegel aus seiner Halterung und flog über die Bungalows, den Parkplatz und das brache Wüstenland hinter dem Hotel hinweg.

Über der Straße, die parallel zum Strip läuft, brach der Sturm einen Moment ab, als habe ihn die Anstrengung ermüdet. Das Metallsegel kippte vornüber und raste zu Boden. Es landete direkt auf der Straße. In dem Moment kam der Sturm wieder auf, hatte aber nicht mehr die Kraft, das Segel vom Boden aufzuheben, sondern schleuderte es lediglich über die Straße auf die verkommene Rennbahn, wo es in einem Maschenzaun, der mit Kletterpflanzen bewachsen war, hängenblieb.

Nach einer halben Stunde war der Sturm vorbei und hinterließ für eine halbe Million Dollar Sachschaden und eine riesige Wolke von Staub und Schmutz, die noch Stunden über der Stadt hing.

Die Direktion des Royal Nevada regte sich über den Verlust des Reklameschildes weniger auf, als über die eventuelle Verwüstung, die es angerichtet haben konnte, bevor es schließlich auf dem Boden gelandet war. Sobald sich der Sturm gelegt hatte, wurden deshalb zwei Techniker des Hotels losgeschickt, um das Schild zu suchen. Sie fuhren zuerst durch eine kleine Wohnsiedlung hinter dem Rennplatz, konnten aber keine Spur entdecken. Schließlich bogen sie auf die Straße ein, die an der Bahn entlangführte. Einen Moment später hatten sie das Schild entdeckt.

Der Sturm hatte auch den verwahrlosten Rennplatz nicht geschont. Als die beiden Männer aus ihrem Unimog kletterten, stellten sie fest, dass vom Dach der Tribüne ein Stück herausgerissen und neben der Startertafel zu Boden gesaust war. Eine Holzwand, die zu beiden Seiten der Tribüne als Art Windschutz entlanglief, war zum Teil aus ihren Pfosten geborsten. Überall lagen Holzsplitter und zerbrochene Schindeln herum. Und dann fielen einem der beiden Männer plötzlich die nackten Füße auf, die unter dem Schild hervorschauten. In der Nähe lag ein Paar Schuhe mit Löchern in den Sohlen und abgetretenen Absätzen.

Die beiden Techniker liefen zu ihrem Unimog zurück und brausten zu dem ersten offenen Tor zur Rennbahn. Es war in der Nähe der Ställe. Sie fuhren innerhalb des Maschenzauns entlang, bis sie zu der zerstörten Holzwand kamen. Sie waren beide kräftige junge Kerle, und es war verhältnismäßig einfach für sie, das riesige Schild hochzustemmen und auf die Seite zu wälzen.

»Der hat seinen Teil weg«, stellte der eine fest, als sie auf die Leiche herunterblickten, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Ein Hemd und eine Unterhose, das war die ganze Kleidung.

»Das Schild kann nicht daran schuld sein«, meinte der andere und bückte sich, um den Toten auf den Rücken zu wälzen.

Beide Männer hielten vor Schreck den Atem an, als sie das getrocknete Blut auf dem Hemd und die Einschussstelle auf der Stirn der Leiche sahen. Nun wussten sie mit Sicherheit, dass hier nicht der Sturm getötet hatte. Es handelte sich um Mord.