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Wie kann ein Mensch, der sich in seinem Leben beengt oder sogar fehl am Platz fühlt, ein "Ja" zu sich selbst finden? Ille Ochs lädt auf eine heilsame Reise durch menschliche Geschichten ein, die Wege aus dem Gefängnis aus Angst und Erdrückung in eine kraftvolle Lebendigkeit aufzeigen. Sie zeigt Möglichkeiten, wie Lebenslügen entlarvt und fehlgeleitete Ansprüche an uns selbst entmachtet werden können. Und sie eröffnet Perspektiven zu einem Leben, in dem wir uns annehmen und entfalten können.
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Seitenzahl: 264
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ILLE OCHS
Ich bin so frei
ABGESCHMINKT, VERNARBTUND WUNDERSCHÖN
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Datenkonvertierung E-Book: CPI books, Leck
ISBN 978-3-7751-7399-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5847-3 (lieferbare Buchausgabe)
© 2018 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41
71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Weiter wurde verwendet:
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart. (EÜ)
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Jacqui Miller, stocksy.com
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Ille Ochs, Autorin von »Im Käfig der Angst«, aus Wuppertal lebt mit ihrem Mann, Pastor Siegfried Ochs, in Kierspe/Sauerland. Die gelernte Krankenschwester arbeitet heute als kreative Therapeutin und Supervisorin freiberuflich mit Gruppen, Teams und Einzelpersonen.
www.illeochs.de
Über die Autorin
Vorwort
Einleitung
I. Im Käfig zurückgelassen
Ein anstrengendes Leben
Im falschen Leben
Gefangen in einem christlichen System?
II. Ins eigene Leben finden
Das Ungeliebte annehmen
Leitsätze und Leidsätze
Kontakt zum inneren Raum finden
III. Gelebte Freiheit
Die Freiheit der flexiblen Grenze
Die Freiheit, sich zuzumuten
Die Freiheit, sich zu gestatten
IV. Gelebte Spiritualität
Ein Modewort?
Das Geschenk des Seg(n)ens
Ganz im Hier und Jetzt
»Auf dem Wasser gehen«
Lebendig
Schlusswort und Dank
Anhang
Buchempfehlungen
Professionelle Hilfsangebote (Beratungsstellen)
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn Sie dieses Buch von Ille Ochs aufschlagen, hat Sie vermutlich der Titel angesprochen. Frei – ja, so möchte ich mich gern in dieser Welt bewegen, dachte ich, als ich den Buchtitel zum ersten Mal las. Abgeschminkt. Ohne Maske, einfach mal ungeschminkt sein dürfen. Mit allen Macken und Narben. Ein schöner Gedanke. Und ein Wagnis. Mich so zu zeigen – das braucht Mut und den richtigen Raum.
Was immer Sie bewegt hat, das Buch aufzuschlagen – Sie betreten hier einen besonderen Raum. Einen, der Ihnen ganz allein gehört. Einen Raum, in dem Sie auf Entdeckungsreise gehen können. In dem Sie sich selbst besser kennenlernen und vielleicht der Sehnsucht nach Geborgenheit, Heilung, Leben und Sinn in sich Raum geben. Angeregt von der Autorin, die Sie in ihre eigene Welt mitnimmt. Die äußere und die innere. Erleben Sie, wie Ille Ochs den Weg hinein in ein selbstbestimmtes, bewusstes Leben fand. Von Angst zum Mut. Von Depressionen zu einer kraftvollen Lebendigkeit. Von einem Glauben, der einengt, zu einem Glauben, der frei macht. Frei, Gott, sich selbst und andere zu lieben.
Dieses Buch ist kein psychologischer Ratgeber und kein Arbeitsbuch. Es ist viel mehr. Ille Ochs hat entschieden: Es soll ein Buch voller Geschichten aus dem Leben werden. Geschichten, die die Autorin selbst berührt haben. Die sie weitergebracht haben auf ihrem Weg der Heilung. Die ihr einen tieferen Blick in das Geheimnis des Daseins erlaubt haben. Ille Ochs erzählt von jungen und alten Menschen, die ihr begegnet sind, von Träumen und Hinweisen aus ihrem eigenen Körper und ihrer Seele.
Wie die christlichen Mystikerinnen und Mystiker aller Zeiten entdeckt sie dabei Spuren Gottes im Alltag. Wird selbst durchlässig für sein Wirken. Ohne Zwang, ohne Anstrengung hält sie sich Gott hin. Damit lässt sie ein christliches Milieu hinter sich, in dem vieles »fromm zugedeckt wurde«, wie sie sagt. In dem eine »äußere Frömmigkeit gelebt wurde, die keinen Zugang zum Inneren Kind« erlaubte. Und damit auch keinen wirklichen Kontakt zu sich selbst, zu den eigenen Verletzungen und vernarbten Wunden. Ille Ochs erzählt, wie hilfreich eine Bindung an die Leben spendende und heilende Kraft Gottes sein kann, wenn man sich auf die Reise zu seinem »Inneren Kind« macht. Ein Gott, der nicht verfügbar ist und der Autorin auf ihrem Lebens- und Heilungsweg immer wieder überraschend begegnet.
So ist das Buch auch eines für spirituell Interessierte. Es gibt viele Wege, heil zu werden. Deshalb gibt Ille Ochs auch keine Ratschläge, sondern formuliert am Ende eines Kapitels oder Abschnittes lediglich Fragen. Fragen, die den Leserinnen und Lesern helfen, das Gelesene zu vertiefen und mit der eigenen Erfahrung zu verbinden. Ich bin so frei, mir nur die Fragen vorzunehmen, die mich interessieren, oder mir meine ganz eigenen Gedanken zu machen, denn dazu will die Autorin anregen. Und sie macht Mut: Wir sind lebenslang lernfähig. Es ist nie zu spät, sich auf die Suche nach einem Leben ohne Käfige zu machen.
Haben Sie Lust, in diesen Entdeckungsraum einzutreten? Ich war schon so frei, es vor Ihnen zu tun. Und ich fühle mich gestärkt und ermutigt dank dieser couragierten, sanften und inspirierenden Reisebegleiterin.
Alle guten Wünsche für Ihre Lebensreise!
Petra Schulze
Landespfarrerin, Evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR, Leiterin Evangelisches Rundfunkreferat NRW, Düsseldorf
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Liebe Leserin, lieber Leser,
es ist ein herrlicher Frühlingstag, den ich für einen ausgedehnten Spaziergang am Niederrhein nutze. Dabei genieße ich die Ruhe, die warmen Sonnenstrahlen und den Blick über die weiten Felder und Wiesen in frischem Grün. In der Ferne sehe ich ein flaches Gebäude, einen Reitstall, von denen es hier viele gibt. Davor kann ich schemenhaft einen Menschen und ein Pferd erkennen. Irgendetwas stimmt da nicht, denke ich. Von meiner Neugier angespornt lege ich deutlich einen Schritt zu. Als ich nah genug bin, werde ich Zeuge einer Szene, die mich augenblicklich innehalten lässt und meinen Blick fesselt.
Eine junge Frau hält ein Pferd am Halfter und führt es aus dem Stall auf eine große eingezäunte Wiese – zumindest versucht sie es, denn das Pferd scheint ganz und gar nicht einverstanden mit dieser Aktion zu sein. Es bockt, stellt sich stur wie ein Esel und bewegt sich kaum von der Stelle. Die Frau schafft es nur unter äußerster Kraftanstrengung und mit beruhigenden Worten, das Pferd zum Weitergehen zu bewegen. Ich bekomme fast Mitleid mit dem Tier. »Wenn es partout nicht will, lass es doch im Stall«, denke ich. Doch dann geschieht eine Wende, die sich mir tief einprägt. Die junge Frau hat endlich ihr Ziel erreicht. Sie führt das Pferd auf die Wiese, nimmt ihm das Zaumzeug ab und schließt das Gatter hinter sich. Das Pferd scheint zunächst irritiert, bleibt stehen und sieht sich nach allen Seiten um. Dann setzt es sich in Bewegung, zunächst langsam und vorsichtig, doch wie aus heiterem Himmel scheint es seine plötzliche Freiheit zu erkennen. Es springt ausgelassen in der Gegend herum, wirft die Hinterhufe, ja sogar das ganze Hinterteil hoch, dreht sich im Kreis und galoppiert in einem rasanten Tempo kreuz und quer über die Wiese.
Was für ein Bild der Befreiung!
Gleichzeitig tut sich mir eine andere Wahrheit auf: Wie schwer fällt es uns, unseren gewohnten, warmen Stall zu verlassen. Selbst wenn wir laut und vernehmlich sagen, dass wir uns nach Freiheit sehnen, hält uns irgendetwas immer noch im Stall oder im Käfig fest.
So erging es lange Zeit auch mir. In meinem Buch »Im Käfig der Angst«1 habe ich beschrieben, wie mich der sexuelle Missbrauch durch meinen Vater im Käfig meiner Angst festgehalten hat. Nicht bei jedem ist das, was ihn oder sie im Käfig zurückhält, etwas so Gravierendes. Unsere Käfige können viele Namen haben. Manchmal sind es Lebenslügen und innere Festlegungen, die uns in einem fremdbestimmten Leben gefangen halten und uns daran hindern, in unser eigenes Leben und damit in die Freiheit zu gelangen. Wir halten an ihnen fest, denn sie geben uns trotz aller Enge ja auch Sicherheit wie der Stall dem Pferd. Manchmal halten wir ein Stück unseres Selbst im Käfig zurück, weil wir es nicht mögen und für nicht liebenswert halten; nur den Vorzeigeteil lassen wir »auf die Wiese«. Dabei verlieren wir allerdings den Kontakt zu uns selbst, sind sozusagen nur noch im Außen unterwegs. Andere Menschen begegnen nicht mehr uns, sondern unserer Außenwirkung. Ich möchte es nicht Fassade nennen, denn es ist ja durchaus echt und ernst gemeint, aber eben trotzdem nicht stimmig.
Und dann sind da die Christen, zu denen ich mich auch zähle. Wir behaupten gern, unsere Identität in Gott gefunden zu haben. Doch was genau meinen wir damit? Manchmal habe ich den Verdacht, dass wir Gott als Ausrede benutzen, um vor uns selbst zu flüchten. Da setzen wir ihn an die Stelle unseres Selbst und nennen das Hingabe, verdrängen unsere Verletzungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte oder ordnen sie einer säkularen, nicht christlichen Welt zu und leben in uns selbst gespalten. Das ist fatal, denn es trennt uns nicht nur von der Person, die wir wirklich sind, sondern letztlich auch von Gott, der sich doch gerade allem, was uns ausmacht, einschließlich unserer tief vergrabenen Verletzungen, zugewandt hat.
Manche, die zu mir in die Beratung kommen, empfinden es wie einen inneren Knoten, der nicht definierbar und nicht zu greifen, aber doch deutlich fühlbar ist. Sie leiden darunter, wollen ihn irgendwie auflösen und wünschen sich, wirklich frei zu sein. Aber wie?
In diesem Buch möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mitnehmen auf eine Entdeckungs- und Befreiungsreise, eine Reise vom Stall auf die Wiese, heraus aus dem Käfig in die Freiheit. Ich reise mit Ihnen durch menschliche Geschichten, die zugleich göttlich sind, weil sie diese unfassbare, wunderbare Gott-Mensch-Verbindung beinhalten. Es sind Geschichten vom Heil- und Ganzwerden, aber auch von unseren Irrtümern und Irrwegen, die nur allzu menschlich sind.
Dabei lade ich Sie ein, einen ehrlichen Blick zu wagen, einen Blick auf sich selbst und Ihre oft unbewussten und über Jahre antrainierten Lebensmuster, die Sie daran hindern, wirklich Sie selbst zu sein. Ich möchte Sie ermutigen, ganz neu, staunend und kindlich entdeckend sich selbst zu begegnen und konkrete Schritte in die Freiheit zu gehen.
Dieses Buch ist kein Arbeitsbuch, sondern lebt von persönlichen Erfahrungen. Es sind wahre Begebenheiten, aber ich habe überall dort, wo nur ein Vorname genannt wird, die Namen und einige Details geändert, um die betreffenden Personen zu schützen. Nur Anne heißt wirklich so.
Zwischen den einzelnen Kapiteln stelle ich persönliche Fragen, die Ihnen eine Hilfe zur Selbstreflexion sein können, aber keineswegs ein Muss sind. Gehen Sie beim Lesen dieses Buches bitte achtsam mit sich um. Vielleicht spricht Sie nur eine der Fragen an, vielleicht gehen Ihre Gedanken und Gefühle aber auch einen ganz anderen, eigenen Weg.
Da ich in meiner Beratung oft mit Menschen zu tun habe, die aus einem christlichen Hintergrund kommen und mir in Bezug auf mein erstes Buch viele Fragen stellen, wird dieser Bereich ebenfalls einen größeren Raum einnehmen. Falls Sie nicht zu dieser Leserschaft gehören, mag Ihnen manches fremd, vielleicht sogar kurios erscheinen, vielleicht aber können Sie sich auch in einigem wiederfinden.
Nun wünsche ich Ihnen, dass Sie sich beim Lesen des Buches geradezu in sich selbst verlieben. Denn ganz gleich, wer und wie Sie sind, ob Sie an einen Gott glauben oder nicht: Sie sind ein fantastischer, einzigartiger und, wie ich glaube, auch geliebter Mensch.
Ihre Ille Ochs
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
I. Im Käfig zurückgelassen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Lassen Sie mich noch einmal in die Welt der Pferde eintauchen. Insgesamt zwanzig Jahre haben wir in Krefeld am Niederrhein gewohnt. Dort gibt es viele Reiterhöfe und ganz in der Nähe unserer damaligen Wohnung auch eine Pferderennbahn. In jener Zeit bin ich oft mit dem Fahrrad unterwegs. Komme ich aus der Innenstadt nach Hause, führt mich mein Weg durch den Stadtwald direkt an der Pferderennbahn vorbei.
Manches Mal, wenn dort gerade ein Rennen stattfindet, tauche ich in diese ganz eigene, mir völlig fremde Welt ein, sehe die gut gekleideten Damen mit ihren auffallend großen Hüten, bewundere die glänzenden und gut gepflegten Autos mit ihren Pferdeanhängern.
Die Rennbahn selbst kann ich nicht einsehen, ebenso ist mir der Blick auf die Zuschauertribüne versperrt. Aber ich höre das Rufen und Applaudieren der Menschen und die galoppierenden Hufe der Pferde. Abends auf der Terrasse klingen laute Musik und Feierlaune zu uns herüber. Welches Pferd hat gewonnen, wer hat den Sieg davongetragen und Geld in die Kassen der Wettenden gespült?
Diese Situation ist eine ganz andere als bei dem Pferd auf der grünen Wiese. Die Pferde auf der Rennbahn rennen und galoppieren ebenfalls, aber auf festem, vorbestimmten Parcours. Hier geht es um Leistung und darum, als Erster am Ziel, also besser, schneller, weiter als die anderen zu sein. Das Publikum johlt und applaudiert.
Ein Leben auf der Bühne, im Außen, ist auf die Dauer äußerst anstrengend. Hier geht es zwar um Pferde, aber ich finde einige Parallelen zu uns Menschen. Auch wir brauchen den Applaus, brauchen es, dass man uns in unserem Tun und noch viel mehr in unserem Sein bestätigt. Rennpferde werden nach ihrer Leistungsfähigkeit beurteilt. Man schaut sie sich an unter den Aspekten: Wie schnell sind sie? Wie viel Ausdauer haben sie? Was kann man ihnen zumuten? Was bringen sie ein? Haben sie die Chance auf einen Sieg? Nun denken Sie vielleicht: Bei Rennpferden mag es so sein, aber trifft das auch auf Menschen zu?
Leider werden auch wir Menschen oft genug auf Leistung getrimmt. Es ist die Spannung zwischen unserem Tun und unserem Sein. »Das hast du gut gemacht!«, »Wir sind stolz auf dich!« – wer hört das nicht gern? Doch was passiert, wenn wir nichts mehr leisten können, zum Beispiel aufgrund einer Krankheit? Dann entscheidet nicht mehr das, was wir tun, sondern das, was wir sind. Neulich sagte mir eine Frau: »Sie haben eine ungeheure Ausstrahlung!« Dieser Satz hat mich sehr ermutigt, viel mehr, als wenn sie eine Fertigkeit oder irgendeine Aktion von mir gelobt hätte. Diese Frau hat damit etwas über mich selbst, über mein Sein ausgedrückt. Sie hat mich als Person gesehen.
Genau das brauchen wir, um uns zu zeigen, wie wir sind, Bestätigung in unserem Sein. »Ich mag dich. Ich freue mich, dass du da bist. Deine Gegenwart tut mir gut. Du bist ein wunderbarer Mensch!« Wie wichtig ist es vor allem für ein Kind, dies zu hören. »Ich liebe dich um deiner selbst willen.« Nur, wenn wir diese Sicherheit haben, um unserer selbst willen geliebt zu sein, können wir uns auch ein Scheitern erlauben. Nur auf diesem Boden sind Fehler keine Katastrophe, sondern eine Chance und ein Übungsfeld. Haben wir diese Basis nicht, sind wir gezwungen, nach außen gut zu funktionieren, sind auf den Applaus der Zuschauer angewiesen, die in uns nur unsere Funktion und unsere Leistung sehen. Ja, wir müssen sogar noch besser als die anderen sein, um in der Menge der Galoppierenden nicht unterzugehen, sondern beachtet zu werden.
Das springende Pferd auf der Wiese kann auch trainiert werden, aber es hat die Möglichkeit, sein eigenes Potenzial zu entfalten. Dabei macht es nicht unbedingt eine gute Figur. Nein, es wirkt sogar komisch und lächerlich, wie es über die Weide springt. Trotzdem fasziniert es mich, denn sein Verhalten ist sprühende Lebendigkeit, sozusagen das pralle Leben, und zeigt mir, was in dem Pferd steckt.
Wenn wir dagegen wie ein Rennpferd nach außen perfekt funktionieren wollen oder müssen, bleibt unser Sein, unser Selbst mit seinem Potenzial, aber auch mit seiner Sehnsucht und Trauer im Stall zurück, nach außen unsichtbar, gut versteckt und perfekt getarnt. Schlimm ist es – oder sollte ich es gut nennen? –, wenn die »Zuschauer« aufhören zu applaudieren, weil sie nur noch genervt sind von der vermeintlichen Stärke, die wir nach außen demonstrieren – so wie ich es bei Klaus erlebt habe.
Ich lerne Klaus während meiner theologischen Ausbildung kennen. Für mich gehört er nicht gerade zu den Sympathieträgern. Auch den anderen Kommilitonen geht er manchmal gehörig auf die Nerven. Er redet zu viel und zu laut, muss zu allem und jedem einen Kommentar abgeben, zieht es ins Lächerliche oder bagatellisiert es. Gleichzeitig kommt er als der Wissende daher, der alles schon kennt, den totalen Durchblick hat und weiß, wie Probleme zu lösen sind.
An einem Abend kommen wir von einem Einsatz zurück. Die anderen vom Team sind schon ausgestiegen. Ich sitze allein mit Klaus im Auto und will gerade die Tür öffnen, als er plötzlich sagt: »Mir ist klar, dass ich euch auf die Nerven gehe. Aber weißt du, eigentlich bin ich ganz anders. Ich fühle mich total unsicher und habe Angst, nicht anerkannt zu werden. Meine große Klappe hilft mir, meine Angst zu kaschieren. Das macht keinen Spaß, glaub mir!«
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Ist dieser in sich zusammengekauerte Mann tatsächlich derselbe, mit dem wir es sonst zu tun haben? Wir reden noch lange an diesem Abend. An die genauen Inhalte dieses Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich weiß, dass meine Einstellung zu ihm sich seitdem grundlegend verändert hat.
Wie unendlich anstrengend ist solch ein Leben »auf der Bühne«, wie kraftraubend muss es sein, Stärke und Überlegenheit zu zeigen, wenn einem in Wahrheit das Herz in die Hose rutscht!
Hat Klaus unsere Ablehnung gespürt? Hat ihn das veranlasst, nun wenigstens bei mir ehrlich zu sein? Wie wäre es gewesen, wenn dieser verängstigte, kleine Junge in ihm sich hätte zeigen dürfen? Wenn er gemeinsam mit dem Erwachsenen »aus dem Stall« gekommen wäre? Hätte er einen Raum gefunden? Hätten wir ihn aufgefangen? Dann hätte er sich nicht so anstrengen müssen.
Stärke zu demonstrieren kostet Kraft. Wenn wir mit aller Kraft versuchen, unsere Ängste und Schwächen zu verheimlichen, raubt uns das Lebensenergie. Haben wir einmal gezeigt, dass wir nicht vollkommen sind, haben die anderen unsere Fehler gesehen und uns nicht beschämt, nicht ausgebuht, sondern sind uns wohlwollend begegnet, kann uns das geradezu anspornen. Wir fühlen uns befreit vom Erwartungsdruck. Diese Freiheit fördert unser inneres Potenzial zutage. Es zeigt sich erst, wenn alle Masken fallen, wenn unsere Unzulänglichkeiten sich nicht mehr vertuschen lassen. Wie heißt es so schön: »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.« Manchmal zeigt sich die Wahrheit dieses Satzes auf eine eher komische Art wie bei der folgenden Begebenheit.
In einem sogenannten Freitagsgottesdienst, einem Gottesdienst für Gäste mit anderen als den gewohnten Formen, führen wir zu dritt ein Theaterstück auf. Die erste Szene beginnt mit einem Mitspieler, der als mein Ehemann eine Frage an mich richtet. Er ist startklar, ich noch nicht, denn mein Headset hat sich in meinen Haaren verfangen. Das Mikrofon sitzt nicht vor meinem Mund, wo es eigentlich hingehört, sondern exakt vor meinem Auge, versperrt mir also die Sicht. Mein »Ehemann« merkt davon nichts, sondern spricht seinen Text und schaut mich erwartungsvoll an. Ich antworte nicht, sondern fummle erfolglos an meinem Headset herum. Mein Mitspieler wiederholt unterdessen seine Frage.
Mir ist das alles äußerst peinlich, deshalb werfe ich ihm einen giftigen Blick zu. »Meine Güte, sieht er denn nicht, dass ich noch nicht startklar bin?«, denke ich. Schließlich spreche ich es aus. »Moment, ich bin noch nicht so weit, ich habe hier ein kleines Problem!« Jetzt, wo es ausgesprochen ist, kann mir mein Mitspieler helfen, das Headset aus meinen Haaren zu befreien. Wir alle lachen, auch das Publikum.
Das ist nun wahrhaftig keine große Sache gewesen, lächerlich geradezu. Und trotzdem hat mich diese Situation etwas Wichtiges gelehrt. Vorher bin ich innerlich angespannt gewesen in dem Wunsch, gut zu sein, meine Rolle gut zu spielen. Nach diesem haarigen Ereignis fällt dies alles von mir ab. Eine heilsame Gleichgültigkeit macht sich in mir breit, und ich fühle eine unglaubliche Freiheit in mir. Diese Freiheit zeigt sich in meinem Theaterspiel, wie mir im Nachhinein Zuschauer erzählen.
Ein Leben jenseits von Anstrengung hat etwas mit Loslassen und Echtsein zu tun, damit, sich zu zeigen, wie man eben ist. Das braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, ein Bewusstsein meiner selbst. Wie viele Menschen aber wurden in ihrem Selbst abgelehnt! Das Kind konnte sich nicht entfalten, nicht zu einem gesunden erwachsenen Menschen heranwachsen. Es wurde verkrümmt oder ihm wurde sogar »das Rückgrat gebrochen«. Der Familientherapeut John Bradshaw schreibt: »Die größte Verletzung, die man einem Kind zufügen kann, ist die Zurückweisung seines wahren Selbst!«2
Wie geschieht das? Es müssen nicht immer schwerste Verletzungen sein wie Gewalterfahrungen im Elternhaus. Ablehnung und Ignoranz reichen schon aus, um eine Kinderseele zu »verkrümmen«.
Angelika, eine Frau in der Beratung, sagte mir einmal: »Ich möchte ein Wildpferd sein. Als Kind war ich das auch – ungeheuer lebendig und voller kreativer Ideen. Doch zu Hause war ich so nicht erwünscht. Es gab viele Verbote und Vorschriften, wie man zu sein hat. Ich spürte, dass meine Mutter mir nur Zuwendung gibt, wenn ich mich ihren Erwartungen gemäß verhalte. So habe ich gelernt, mich selbst zu reglementieren. Das hat sich in meinem Leben als Erwachsene fortgesetzt. Heute traue ich mich nicht mehr heraus, lebe stattdessen nur noch angepasst und habe meine Antennen weit ausgefahren nach den Erwartungen der Menschen.«
Die innere Unsicherheit zeigt sich bei Angelika ganz anders als bei Klaus. Sie gleicht sie nicht mit nach außen demonstrierter Stärke aus. Stattdessen passt sie sich ihrer Umwelt an, lebt geradezu wie ein Chamäleon, unauffällig und angepasst. Doch auch dieses Leben ist anstrengend, denn so muss sie ständig ihre inneren Antennen ausfahren und schauen, was von ihr erwartet wird, um diesen Erwartungen zu entsprechen.
Letztlich ist jedes Leben anstrengend, in dem ich nicht ich selbst bin, sondern – in welcher Weise auch immer – anderen gefallen muss, um zu überleben. Wir alle brauchen Liebe und Zuwendung wie die Luft zum Atmen – umso mehr ein Kind von seinen Bezugspersonen.
Sind denn nun Ge- und Verbote falsch? »Regeln müssen doch sein«, denken Sie vielleicht. Lassen Sie es mich an einem Tierbeispiel deutlich machen.
Hunde haben in meinem Leben schon immer eine große Rolle gespielt. Schon als Kind liebte ich sie heiß und innig. Während meiner Kindheit hatten wir einen schwarzen Mischlingshund namens Mohrle. Im Allgemeinen wurde er so erzogen wie die meisten Hunde zu jener Zeit. Tat er etwas, was er nicht sollte, wurde er bestraft, machte er etwas richtig, wurde er belohnt, die klassische Konditionierung also. Da ich die meiste Zeit mit ihm verbrachte, lernte ich ihn am besten kennen, nicht nur sein Wesen, sondern auch seine Affinitäten. Was steckte in ihm, was tat er gern, was bot er an? Natürlich stellte ich mir als Kind diese Fragen nicht. Ich nahm es einfach ganz kindlich wahr und baute mit Mohrle zusammen diese Fähigkeiten aus. Das machte uns beiden Spaß und so stellten wir bald ein richtiges kleines Zirkusprogramm auf die Beine. Ich war mächtig stolz darauf. Mein Hund und ich waren ein tolles Team!
In der Hundeerziehung spricht man hier vom Formen. Man nimmt das auf, was an Fähigkeiten und Affinitäten und damit auch an Potenzial in einem Hund steckt, fördert es und lenkt es so in die richtigen Bahnen. Das ist mehr als Konditionieren, mehr als Ge- und Verbote. Das setzt voraus, dass der Hund wirklich gesehen wird. Das kann man auch auf den Umgang mit Kindern übertragen. Ein Kind wirklich zu sehen, fordert Respekt vor diesem kleinen Wesen, das schon eine Persönlichkeit ist und nicht erst werden muss. Es trägt schon jetzt ein Potenzial in sich, das sich im Laufe des Lebens mehr und mehr entfalten darf. Dieser kleine Mensch muss nicht zu dem werden, was die erwachsenen Bezugspersonen sich wünschen, sondern zu dem, was er ist.
Lernt ein Kind aber, dass es einer Erwartung entsprechen muss, um zu gefallen und akzeptiert zu werden, geht es in eine Art Rebellion wie Klaus oder in ein Leben der Anpassung wie Angelika.
Tatsächlich kann so ein angepasstes Leben, ein »Rennen« auf der vorgeschriebenen Bahn, geradezu betäubend wirken. Der Applaus bestärkt mich. Ich muss mich meiner Sehnsucht und meinen Enttäuschungen nicht stellen, funktioniere stattdessen, und mit mir funktioniert das Leben. Also: Deckel drauf. Das Wildpferd bleibt im Stall. Das wahre Selbst ist eingesperrt im Käfig.
Wie gut kann ich das nachvollziehen, kenne ich es doch aus meinem eigenen Leben!
In meiner Erziehung gab es den alles prägenden Satz: »Was sollen denn die Leute sagen!« Ich bin mir nicht einmal sicher, ob dieser Satz jemals so ausgesprochen wurde, aber er wurde gelebt, vor allem von meiner Mutter und meiner Oma.
Wir lernen auch durch Nachahmung, und so lernte ich von meiner Mutter: »Pass dich an, tu, was die Leute von dir erwarten, dann bekommst du keinen Ärger. So ist es richtig. So geht Leben.«
In meiner Kindheit fühle ich mich manchmal wie ein Radargerät, ständig auf Empfang eingestellt, um atmosphärisch wahrzunehmen, was »man« von mir erwartet. Da wir in einem alten Gemeindehaus wohnen, unter uns der Gemeindesaal, sind wir sozusagen ständig unter Beobachtung. Unsere Wohnküche wird getragen von einem alten Holzboden, äußerst geräuschempfindlich. Bei jedem Schritt knarrt es unter den Füßen. Nur nicht stören – zumindest während einer Gemeindeveranstaltung –, nicht aufzufallen ist die Devise.
Möglichst alle Menschen, vor allem die Christen, zufriedenzustellen und sie nicht vor den Kopf zu stoßen, ist in meiner Kindheit ein tragendes Element und, wie ich damals glaube, Christenpflicht. Das zieht sich weiter durch mein Leben. Als 1983 mein Mann seinen ersten Dienst als Pastor in einer Gemeinde antritt, bleiben meine Antennen ausgefahren. Es gibt einen Motor, der mich antreibt: Ich möchte eine gute Pastorenfrau sein, ich will es richtig machen. Für mich steht ganz außer Frage, dass auch Gott das möchte, und ich bin sehr stolz, dass ich eine klassische Pastorenfrau bin und mich deutlich von den rebellischen jungen Pastorenfrauen abgrenze, die nicht mehr in dieses Bild passen.
Einmal im Jahr gibt es eine sogenannte theologische Woche aller Pastoren des Bundes Freier evangelischer Gemeinden (FeG). Parallel dazu treffen sich die Pastorenfrauen an einem anderen Ort und behandeln »ihre« Themen. Zu dieser Zeit nehme ich regelmäßig daran teil. Und da gibt es sie, die etwas rebellischeren Frauen, die sich nicht mehr in ein Bild pressen lassen wollen, wie eine gute Pastorenfrau zu sein hat. Innerlich nehme ich Abstand von ihnen, ja, verachte sie sogar ein wenig, finde es nicht in Ordnung, was sie sagen und vertreten. Dabei will ich mir nicht eingestehen, dass tief in meinem Inneren eine Sehnsucht steckt, es ihnen gleichzutun. Erst sehr viel später – es mag Ihnen seltsam erscheinen – begreife ich, dass ich als Frau eines Pastors meine eigene Berufung leben darf und dass dies nicht bedeutet, dass ich meinem Mann in den Rücken falle und ihm meine Unterstützung versage.
Unsere Anpassungsfähigkeit kann tatsächlich so extrem werden, dass wir aus Angst vor Ablehnung, aus Angst, nicht zu genügen, zum Schluss nicht mehr wissen, wer wir selbst sind. Andere, die sich trauen, anders zu sein, machen uns wütend und lassen uns unser Urteil fällen, nicht selten garniert mit frommen Argumenten. In Wahrheit ist dies eine Strategie der Vermeidung, um uns nicht unserer eigenen Unzufriedenheit zu stellen. Denn wenn ich wirklich in mir ruhe, zufrieden und ausgefüllt in meinem Sein und Tun, habe ich die Freiheit, den anderen in seiner Überzeugung stehen zu lassen, und muss ihn nicht be- oder sogar verurteilen. Ich kann es mir leisten, wirklich hinzuhören, ja sogar seine Gedanken mitzudenken, ihn auf seinem Gedankenweg ein Stück zu begleiten, um zu spüren, wie es wäre, wenn er recht hätte. Wie würde es sich anfühlen? Das wäre gelebte Freiheit.
Bin ich mir aber meiner selbst nicht sicher und muss ich mich nach außen richten, um meine Position zu erhalten, ist es nur allzu verständlich, dass ich den ohnehin unsicheren und schwankenden Boden unter meinen Füßen nun vollends verliere. Dann stellt ein Andersdenkender nicht nur meine Meinung und Überzeugungen infrage, sondern letztlich mich als Person. So ist es bei mir lange Zeit gewesen. Alles, was anders war als gewohnt, und jede Kritik zog mir förmlich den Boden unter den Füßen weg. Alles hatte existenzielle Bedeutung für mich.
Vieles von dem, was ich beschrieben habe, geschieht allerdings unbewusst und ist deshalb schwer zu durchschauen. Wir bekommen es selbst nicht mit und spüren nur, dass es wehtut, diesen anderen Meinungen und Ansichten zu begegnen. Deshalb vermeiden wir Konflikte, gehen ihnen aus dem Weg, wünschen uns stattdessen Harmonie, völlige Übereinstimmung. Manchmal flüchten wir auch ganz allgemein vor Gefühlen, legen uns einen Panzer an, der uns schützen soll. Gefühle, die wir bei anderen sehen, stecken wir in eine Schublade mit der Bezeichnung »zu emotional«. Darunter verstehen wir dann so etwas wie »irrational«, ohne Bodenhaftung.
Dieser Panzer trennt uns aber nicht nur von den Gefühlen der anderen, sondern auch von unseren eigenen Gefühlen, die wir leugnen und denen wir uns nicht stellen wollen. Er trennt uns damit letztlich von uns selbst und das ist das Tragische daran.
Wir befinden uns in Hamburg auf dem ersten deutschen Willow-Creek-Kongress der Community-Church aus den USA, einer modernen Freikirche. Während der Veranstaltung sitzt ein junger Pastor eine Reihe hinter mir. In der Pause grüßen wir uns kurz und plaudern ein wenig über den Kongress. »Hoffentlich singen wir dieses schreckliche Lied nicht mehr!«, sagt er plötzlich. Er meint ein Lied, das sehr emotional ist und hier schon häufig gesungen wurde. Ich erwidere nichts darauf, denn mir gefällt das Lied, ich möchte mich aber nicht mit ihm anlegen, da ich den Konflikt scheue.
Bald geht die Veranstaltung weiter, das Musikteam betritt die Bühne. Es dauert nicht lange, da wird das besagte Lied angestimmt. Seltsamerweise kann ich es nun auch nicht mehr wirklich genießen. Zwischendurch schaue ich mich verstohlen nach meinem Gesprächspartner von vorhin um. Er hat seine Brille abgenommen und wischt sich über die Augen. Er kämpft mit den Tränen! Das berührt mich und ich schließe daraus: Wir wollen das vermeiden, wovor wir Angst haben. Möglicherweise bringt es uns mit einer Seite in Berührung, die tief vergraben in uns schlummert und aus irgendeinem Grund nicht leben durfte. Das wiederum bedeutet Begegnung mit dem Schmerz. Ich bekomme Verständnis für den Pastor und seine Ablehnung des Liedes. Und ich wünsche ihm von Herzen, dass er den Mut bekommt, nicht weiter gegen seine Tränen zu kämpfen, sondern sich seinen Gefühlen zu stellen.
Unsere Gefühle sind ein riesengroßes Geschenk. Sie spielen in unserem Leben eine viel größere Rolle, als wir meinen, auch dann, wenn wir sie verdrängen. Dann allerdings agieren sie eigenwillig und eigenständig und bestimmen erst recht unser Leben, tun damit genau das, was »Gefühlsgegner« so sehr als drohende Gefahr sehen. Inzwischen hat man herausgefunden, dass unsere Entscheidungen weitestgehend aufgrund von Gefühlen getroffen werden, und dass wir am ehesten die Ereignisse in Erinnerung behalten, die mit intensiven Gefühlen verknüpft sind. In manchen hitzigen Diskussionen, in denen die vermeintliche Sachlichkeit betont wird, sind so deutlich unterschwellige Emotionen spürbar, dass man meint, sie mit Händen greifen zu können.
Ich selbst war früher in jeglicher Vermeidungsstrategie sehr geübt, auch darin, Konflikten aus dem Weg zu gehen, wie im Gespräch mit diesem Pastor. Heute weiß ich, dass meine Konfliktscheue meine Angst vor Ablehnung zeigt. Streitkultur und Auseinandersetzungen auf Augenhöhe gab es in meiner Familie nicht. Verschiedener Meinung zu sein, war ja schon schlimm genug, aber streiten, sich argumentativ auseinandersetzen, dabei auch mal lauter werden, das erzeugte in mir immer ein schlechtes Gewissen, denn Einheit untereinander ist doch ein wichtiges Merkmal für Christen, wie die Bibel sagt (Johannes 17,20-21).
Auch heute liebe ich Konflikte nicht und gehe ihnen lieber aus dem Weg, halte sie aber inzwischen für gesund und notwendig. Ich versuche deshalb, mich ihnen zu stellen und nicht mehr vor ihnen zu flüchten oder mich zu verbiegen, wie ich es in der Vergangenheit oft getan habe.
Meine Vermeidungsstrategie brachte mich sogar manchmal dazu, Wissen vorzutäuschen, das ich nicht hatte. Ich tat so, als hätte ich ein bestimmtes Buch ebenfalls gelesen oder nickte verständnisvoll, wenn ich keine Ahnung hatte, wovon gesprochen wurde. Als Kind fühlte ich mich dumm; die anderen wussten und konnten mehr als ich. Aber ich traute mich nie, Fragen zu stellen, denn die hätten ja meine Unwissenheit entlarvt; deshalb bekam ich keine Antworten und konnte mein Wissen nicht erweitern.
Wie sehr beneide ich heute Kinder, die ununterbrochen Fragen stellen. Mein Neffe, der inzwischen erwachsen ist, war so einer. Ich erinnere mich gut, wie sehr er uns früher mit Fragen bombardieren und manchmal auch nerven konnte. Was ist das? Was bedeutet das Wort? Warum ist das so? Wieso? Warum, hä? Beneidenswert!
Doch neben Tarnung, Anpassung und Vermeidung gibt es noch eine andere äußerst anstrengende Art, auf der Rennbahn unterwegs zu sein.
O ja, sie sind beliebt, die Menschen, die für alles und jedes Verantwortung übernehmen, in jede Lücke hineinspringen. Wenn Not am Mann oder an der Frau ist, sind sie sofort zur Stelle.