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Der Schriftsteller Jan Chernik wird von verstörenden Visionen heimgesucht, als seine schwangere Freundin bei einem tragischen Unfall stirbt. Er folgt Hinweisen, die ihren Tod mit einer Serie von brutalen Morden in Verbindung bringen, die vor zwanzig Jahren mit dem Tod des sogenannten »Rosenkillers« ein Ende fand — oder etwa doch nicht? Hauptkommissar Karl Sauer und Jan Chernik müssen sich gemeinsam den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, als der neue »Rosenkiller« sie zu einem gnadenlosen Spiel auf Leben und Tod herausfordert. Kommissar Sauer aus DIE SCHULD DER ENGEL ist zurück!
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TODESZONE: Tatort Malmö
SO KALT DEIN HERZ
TOTGESPIELT
DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall
ICH BRECHE DICH: Sauers zweiter Fall
Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Autors
www.LCFrey.de
Über das Buch
Dieses Schweigen darfst du niemals brechen. Der Schriftsteller Jan Chernik wird von verstörenden Visionen heimgesucht, als seine schwangere Freundin bei einem tragischen Unfall stirbt. Er folgt Hinweisen, die ihren Tod mit einer Serie von brutalen Morden in Verbindung bringen, die vor zwanzig Jahren mit dem Tod des sogenannten »Rosenkillers« ein Ende fand — oder etwa doch nicht?
Hauptkommissar Walter Sauer und Jan Chernik müssen sich gemeinsam den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, als der neue »Rosenkiller« sie zu einem gnadenlosen Spiel auf Leben und Tod herausfordert.
Lektorat: Claudia Heinen, Schreib- und Korrekturservice Heinen
Covergestaltung, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, unter Verwendung von ©kasha_malasha, Fotolia.com, ©anatskwong, Fotolia.com, ©hookmedia, Fotolia.com
Copyright © 2017 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle in diesem Roman beschriebenen Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Impressum: L. C. Frey, c/o Alexander Pohl, Breitenfelder Str. 66, 04157 Leipzig, E-Mail: [email protected]
Knabe sprach: »Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.«
Röslein sprach: »Ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.«
– J. W. von Goethe, 1827
»Du musst mir versprechen, dass ich deine beste Freundin bin.«
»Du bist meine allerbeste Freundin auf der Welt.«
»Sag, dass du mich nie wieder allein lässt.«
»Ich lass dich nicht allein. Bestimmt nicht.«
»Versprichst du’s?«
»Ich verspreche es.«
»Für immer?«
»Für immer.«
30. Oktober 1994
Er beobachtet das Haus schon seit über einer Woche. Beinahe jede Nacht ist er hier. Den Wagen parkt er jedes Mal an einer anderen Stelle der Straße.
Dem Mädchen gilt sein besonderes Interesse. Melina. Sie ist ein Einzelkind. Vater, Mutter, Kind wie in dem Sandkastenspiel.
Er sieht auf seine Armbanduhr. Das letzte Licht im Haus ist vor exakt fünfundvierzig Minuten ausgegangen, im Schlafzimmer der Eltern. Aber er wird noch ein bisschen warten. Bis auch sie fest schlafen. Er selbst wird in den kommenden Stunden nicht an Schlaf denken können.
Das vertraute Prickeln klettert an seiner Wirbelsäule empor. Bald nun.
Er schraubt die Thermoskanne auf, die er sich mitgebracht hat, gießt sich den Rest des Kaffees in den Deckel, den er als Trinkbecher benutzt. Er erforscht den Geschmack des lauwarmen Getränks auf seiner Zunge. In dem Zustand, in dem er sich jetzt befindet, gleicht dieses Erlebnis einer regelrechten Geschmacksexplosion. Er leert den Becher und schraubt die Kanne zu, stellt sie behutsam in den Korb auf den Beifahrersitz und verstaut das Ganze dann im Fußraum. Nicht auf der Rückbank, die wird er später noch benötigen.
Von hier kann er die Straße in beide Richtungen überblicken.
Niemand ist mehr unterwegs um diese Uhrzeit. Nicht hier, am Rande der Stadt, wo man in Einfamilienhäusern lebt und jeder einen kleinen Garten vor der Haustür hat. Eine Garage, darin ein Auto oder zwei. Es ist eine VW-Passat-Gegend, ein Idyll des oberen Durchschnitts. Man lebt hier ungestört, ist unter sich, grüßt sich im Vorbeigehen. Ist sorglos.
Er schnappt sich seinen Aktenkoffer, öffnet die Wagentür und steigt aus, dann klinkt er sie lautlos ein. Er huscht in die Schatten zwischen den überhängenden Zweigen einer Weide, die aus jemandes Garten auf die Straße ragt. Er verharrt und lauscht, bis er sich der Stille sicher ist. Dann geht er hinüber zum Haus der Paulsens.
Er schlüpft zwischen den Buchsbaumhecken hindurch, die den gepflasterten Weg zum Hintereingang begrenzen – keine Kiesel, das wäre schlecht: Es ist unmöglich, sich auf einem Kieselweg geräuschlos zu bewegen –, dann zieht er den nachgemachten Schlüssel aus der Tasche.
Es ist ein bisschen, als kehrte man nach getaner Arbeit nach Hause zurück, denkt er. Heute wird ihm dieses Haus gehören, mit allem, was darin ist, aber die Arbeit liegt noch vor ihm.
Er öffnet die Hintertür, zieht sie geräuschlos auf. Sie ist gut geölt, er hat das selbst getan vor zwei Tagen. Dann betritt er das Haus. Bleibt für einen Moment stehen, saugt die Luft tief in seine Lungen. Den Geruch des fremden Lebens, der ihm inzwischen so vertraut ist wie einem Weinkenner das Bouquet seiner bevorzugten Rebsorte.
Er erkennt das Aftershave des Vaters und das Parfum, das die Mutter benutzt. Es ist eine teure Sorte, verführerisch, ohne aufdringlich zu sein.
Am meisten genießt er den Duft des Kindes. Unverfälscht, rein. Köstlich. Er hat ihn in sich aufgesogen, während er sein Gesicht in ihrem kleinen Kissen vergraben hat.
Die Paulsens haben eine Alarmanlage wie die meisten Bewohner dieser Gegend. Und wie die meisten Bewohner haben sie ihre Alarmanlage nicht scharfgeschaltet, weil sie zu oft versehentlich losgegangen ist. Nur, um sicherzugehen, hat er sie trotzdem sabotiert.
Dann geht er nach oben in das Kinderzimmer.
Er muss es in genau dieser Reihenfolge tun, auch wenn es riskant ist. Das Kind ist das Wichtigste, es hat oberste Priorität. Kinder schlafen tief, zumindest Kinder, die in einer wohlbehüteten Umgebung aufwachsen. Kinder wie die Tochter der Paulsens, die bald eine von seinen Töchtern sein wird.
So jung, so hübsch.
Die Vorstellung erregt ihn maßlos. Je näher er dem Zimmer kommt, desto intensiver nimmt er den Geruch ihres Körpers wahr. Wenn sie schlafen, das hat er festgestellt, riechen sie besonders gut.
Er zieht den Lappen und das Fläschchen hervor.
Geräuschlos betritt er das Kinderzimmer, nachdem er eine Weile durch die angelehnte Tür dem gleichmäßigen Atem des Kindes gelauscht hat.
In zwei raschen Schritten ist er bei dem Kinderbett und presst dem Mädchen den chloroformgetränkten Lappen auf Nase und Mund.
Die Kleine ist sofort bewusstlos.
Für einen Moment ist der Drang beinahe übermächtig.
Er steht neben dem Bett und starrt lange hinab auf das wehrlose, betäubte Geschöpf, berauscht von ihrer Schönheit und Hilflosigkeit. Schließlich erlangt er die Kontrolle über seine Gedanken zurück. Später, sagt er sich, später wird er alle Zeit der Welt dafür haben. Alle Zeit, die nötig ist.
Und er wird sich Zeit lassen mit ihr.
Ganz besonders viel Zeit.
Er öffnet seinen Koffer und entnimmt ihm eine Rose aus Papier, die er in das Bettchen zu dem Kind legt. Er wird sie hier zurücklassen, wenn er das Kind später holt.
Er verlässt das Kinderzimmer und geht nach unten. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern ist einen Spalt offen. Vielleicht, damit die Kleine zu ihnen ins Bett kriechen kann, wenn sie einen Albtraum hat. Damit hat er nicht gerechnet. Er nimmt sich vor, künftig seine Beobachtungen auch auf die Nächte auszudehnen. Nur für den Fall.
Er kennt sich auch im Elternschlafzimmer bestens aus und er weiß, dass die Frau stets auf der linken Seite schläft. Ungewöhnlich, bei den meisten Paaren ist es andersherum. Auch in ihrem Bett hat er gelegen und ihren Duft eingeatmet. Sie ist hübsch, sehr sogar. Aber sie ist nicht wie die Kleine oben. Sie ist nicht unberührt. Nicht makellos.
Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig, jetzt zählt nur noch das Spiel. Es ist immer das gleiche Spiel, und es geht immer auf dieselbe Weise aus. Aber er findet, er schuldet ihnen das. Ihnen die Möglichkeiten vor Augen zu führen, die sie gehabt hätten. Und die sie dennoch niemals wählen. Niemals.
Die Eltern schlafen immer noch. Als er um das Bett herumgeht, ist er nicht einmal besonders leise.
Dann betätigt er den Schalter an der Nachttischlampe und das Licht flammt auf. Der Mann stöhnt leise und dreht sich auf die Seite, die Frau öffnet die Augen und blinzelt in das Licht.
Dann sieht sie ihn und fährt zusammen.
Ihre Augen sind nussbraun, aber jetzt sind sie sehr viel dunkler, beinahe schwarz. Sie kapiert verblüffend schnell, dass sie nicht mehr träumt, und starrt ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Wie ein Reh in das Scheinwerferlicht starrt. Er spürt die Erregung wie eisige Silberfinger über sein Rückgrat gleiten. Bald.
Wortlos formen ihre Lippen den Namen ihrer Tochter, während ihre Augen sich mit Tränen füllen. Eine gute Mutter, denkt er. Vielleicht wird das Spiel ja doch eine neue Wendung erfahren, wer weiß?
Er lächelt und legt einen Finger an die Lippen. Er nickt und deutet nach oben in das Kinderzimmer. Dann auf den Lauf der Pistole in seiner anderen Hand, den er auf sie gerichtet hat. Nur, falls sie die noch nicht mitbekommen hat. Doch das hat sie, natürlich. Er deutet auf den immer noch schlafenden Mann, und schließlich tastet ihre zitternde Hand nach dessen Schulter, rüttelt ihn sanft. Er grunzt im Schlaf, sie rüttelt ihn fester.
Dabei lässt sie ihre Augen nicht vom Lauf seiner Pistole.
Schließlich erwacht auch der Mann und richtet sich langsam auf.
»Was’n los?«, nuschelt er und blinzelt in das Licht.
Die Haare stehen ihm vom Kopf ab. Man kann erste graue Strähnen an den Schläfen sehen. Er ist attraktiv. Ob er sie wohl gelegentlich betrügt?
Dann folgt der Mann dem Blick seiner Frau und schließlich sieht er auch ihn. Dann sieht er die Pistole und schließlich kapiert auch er, was hier passiert. Oder das, von dem er glaubt, dass es gerade passiert.
»Wer …«, die Stimme des Mannes bricht ab, er räuspert sich, »was wollen Sie?«
»Sie sind versichert, oder? Ihre Wertgegenstände?«
Jetzt atmen beide sichtlich auf. Nur ein Einbrecher, denken sie. Das denken sie immer, anfangs.
So beginnt das Spiel.
»Ja«, sagt der Mann. »Kein Problem. Nehmen Sie, was Sie wollen, nur bitte tun Sie uns nichts.«
Es ist seltsam, während die beiden das gewohnte Programm abspulen wie Schauspieler in einem Theaterstück, wirken sie, als glaubten sie, immer noch zu träumen. Ihre Blicke sind schläfrig, als sie sich mit fahrigen Bewegungen aufeinander zubewegen. Aber sie werden nicht lange schläfrig bleiben.
So geht das Spiel weiter.
»Gut«, sagt er, immer noch lächelnd. Die Leute wollen an den Gentleman-Räuber glauben, immer. Sie wollen glauben, dass sie Glück im Unglück hatten. »Dann fesseln Sie sich jetzt bitte gegenseitig. Morgen früh rufen Sie Ihre Versicherung an. Und die Polizei, wenn Sie mögen. Aber für den Moment muss ich darum bitten, dass Sie mir nicht in die Quere kommen.«
»Fesseln?« Die Frau starrt ihn an.
»Damit«, sagt er und wirft ihr ein Seil hinüber. »Machen Sie einen schönen, festen Knoten um seine Handgelenke, ja? Und seien Sie bitte leise dabei. Kein Grund, Melina zu wecken.«
Sie nickt und beginnt, an dem Seil zu fummeln. Er erklärt ihr, wie sie es machen muss. Nach ein paar Versuchen hat sie den Bogen raus.
»Jetzt die Füße.«
Sie tut es. Er überprüft den Sitz der Fesseln, während er die Pistole lässig in ihre Richtung hält und lächelt, immerfort lächelt.
»Jetzt Sie«, sagt er zu der Frau.
Er findet es amüsant, dass seine Opfer der inneren Logik des Geschehens sofort folgen. Sie stellen das Spiel nicht mehr infrage, jetzt ist es zu einer Tatsache geworden, zu ihrer Wirklichkeit.
Also fesselt er sie und legt dabei die Waffe auf den Nachttisch. Soll sie ruhig versuchen, danach zu greifen, sie ist ohnehin nicht geladen. Aber das machen sie nie, danach greifen. Wie sie auch nie bemerken, dass er den Namen ihres Kindes kennt, den er doch gar nicht kennen dürfte.
Als er mit routinierten Griffen ihre Handgelenke zusammengebunden hat, nimmt er sich die Fußgelenke vor. Ihre Beine unter dem Satinhemdchen sind schlank und lang und offenbar frisch rasiert. Er fesselt sie leicht gespreizt an den äußeren und mittleren Pfosten des Betts, wie er sich das seit Tagen ausgemalt hat. Er bemerkt, dass sich seine Erregung gegen den Stoff seiner Jeans presst. Nicht mehr lang jetzt.
Das Spiel ist fast vorüber.
Er zieht ein Tuch aus der Tasche, ein sauberes weißes Taschentuch. Er achtet immer darauf, dass es sauber ist, wegen des Vertrauens. Das Vertrauen ist alles. Er stopft es der Frau in den Mund, mit einer raschen, aber durchaus sanften Bewegung. Dann lächelt er entschuldigend.
»Nur zur Sicherheit«, sagt er und sie nickt, während er den Knebel mit einem zweiten Tuch um ihren Hinterkopf festzurrt.
Als er es verknotet hat und ihr in die Augen blickt, glaubt er, den leisen Anflug eines Erkennens darin zu sehen. Ist das möglich? Hat sie ihn bereits durchschaut? Egal, jetzt spielt es keine Rolle mehr. Sein Schwanz pulsiert schmerzhaft gegen den Schritt seiner Hose.
Nun endet das Spiel.
Er zieht das Messer aus der Tasche und rammt es dem Mann bis zum Heft in den Hals. Die Bewegung ist so beiläufig, dass zunächst überhaupt niemand reagiert, bis er die Klinge aus dem Kehlkopf reißt und eine sprudelnde Fontäne dunkelroten Blutes aus dem Hals des Mannes schießt.
Dann sticht er noch einmal zu, und noch einmal.
Der Mann bäumt sich unter seinen Fesseln auf, aber seine Frau hat gute Arbeit geleistet. Er kann sich nicht befreien.
Aus seinem Mund dringen gurgelnde und seltsam zischende Laute, während sein Blut überall hinspritzt. Die hellen Bettbezüge mit den Blumenmustern werden von unzähligen großen und kleinen neuen Blumen bedeckt, die aufgehen wie Blüten. Ein Bett aus Rosen, denkt er. Ja. Das ist es.
Die Frau windet sich und brüllt unter ihrem Knebel. Es kommt nur als ersticktes Stöhnen heraus, bestenfalls.
Es ist jetzt zu spät, und sie weiß es. Sie hatte ihre Chance, und wie alle anderen hat sie sie verwirkt.
Niemand wird sie hören, nicht jetzt, da sie ihrem Ehemann beim Sterben zusieht und auch nicht in den folgenden Stunden, in der er ihr seine Aufmerksamkeit zuwenden wird. Seine ganze Aufmerksamkeit.
Sie haben das Spiel verloren, er hat gewonnen.
Wie immer.
Er reißt das blutige Messer aus dem Hals des Toten und wendet sich dann der Frau zu, die aufgehört hat, sich zu wehren. Regungslos liegt sie da und starrt ihn aus aufgerissenen Augen an.
Er sieht in diesen Augen, dass die Frau bereits woanders ist und das Geschehen um sich herum nur noch wie einen Film wahrnimmt, einen Film, den sie durch die blinden Gläser einer gesprungenen Brille betrachtet. Aber das macht nichts.
Er setzt die blutbespritzte Klinge am Ausschnitt ihres Hemdchens an, dann beginnt er zu schneiden, mit der Anmut und Präzision eines erfahrenen Chirurgen.
Das Messer durchtrennt den hauchdünnen Stoff ihres Nachthemds, ohne die darunterliegende Haut auch nur zu ritzen. Die Klinge gleitet über den Körper der Frau, der Stoff löst sich mit einem leisen Rascheln und entblößt kleine, feste Brüste. Makellose Haut, die milchweiß leuchtet im Licht der Nachttischlampe.
Sie wirft ihren Kopf herum, dorthin, wo ihr Mann liegt. Tränen laufen über ihre Wangen, zwei hektische rote Flecken leuchten in ihrem kalkweißen Gesicht.
Dann schließt sie die Augen.
Er lässt die Klinge tiefer gleiten, bis dahin, wo ihr flacher Bauch in den Ansatz ihres Schamhügels übergeht, der in einem einfachen weißen Baumwollslip verschwindet. Er schiebt die Klinge des Messers unter den Stoff und durchtrennt das Kleidungsstück mit einem kräftigen Ruck. Ihr Körper ist nun nackt und ungeschützt und ausgesprochen begehrenswert.
Er steht auf und beginnt, sich auszuziehen.
Er legt seine Kleidung säuberlich zusammen und hängt sie über den Stuhl vor der Frisierkommode. Als er sich ihr zuwendet, starrt sie auf seine pralle Erregung.
Er legt das Messer zu der ungeladenen Pistole auf den Nachttisch.
Dann beginnt er.
Der Mörder bemerkt das Augenpaar nicht, das durch den Türspalt in das Schlafzimmer blickt. Es sind Augen, in denen das blanke Entsetzen steht. Unsägliche Angst ist in diesen Augen, die immer wieder drohen, zuzufallen, obwohl der kleine Körper, zu dem diese Augen gehören, vollgepumpt ist mit Adrenalin.
Als der Mörder mit der Vergewaltigung der Mutter beginnt, schleichen kleine, nackte Füße geräuschlos davon.
Heute, noch 33 Tage
Leipzig, Südvorstadt
Als Jan Chernik erwachte, brachte er das Wummern mit aus seinem Traum herüber. Für einen Moment lag er einfach da, die Augen geschlossen, die Finger in das durchgeschwitzte Laken gekrallt und lauschte dem Pochen in seinen Schläfen.
Eine Tür. Etwas hatte gegen diese Tür gewummert, ein eisernes Ungetüm, das meterhoch vor ihm aufzuragen schien. Etwas befand sich hinter dieser Tür, etwas Furchtbares. Und es wummerte.
Dann war er erwacht.
Er presste die Augenlider noch fester aufeinander, während er versuchte, sich an die Reste seines Traumes zu erinnern. Manchmal half das. Eine beinahe morbide Angewohnheit, wenn man die spezielle Natur seiner Träume bedachte. Eine Angewohnheit, die er seinem Beruf hätte zuschreiben können, wenn er denn Horrorschinken oder Krimis geschrieben hätte.
Was er natürlich nicht tat.
Aber vielleicht, dachte er, ist es allmählich Zeit, damit anzufangen. Oder überhaupt mal wieder anzufangen mit einem Buch. Mit irgendeinem.
Jan schlug die Augen auf.
Und machte sie gleich wieder zu.
Die Sonne knallte schadenfroh durch die Glasfront des Lofts. So sehr Jan die Wohnung im Dachgeschoss auch liebte – ein solches Erwachen war ihm in dem Kellerloch erspart geblieben, in dem er die ersten zehn Jahre seiner sogenannten Künstlerkarriere verbracht hatte.
Jan stand auf. Kaum stand er, musste er sich schon wieder hinsetzen. Die Kopfschmerzen verlangten ihren Tribut, das Wummern schoss zurück in seine Schläfen. Dieses stammte nicht aus dem Traum. Es stammte von gestern Nacht.
Er öffnete die Schublade des Nachttischs, ein antik anmutender Klotz aus irgendeinem dieser Hipsterläden. Jan wühlte sich durch benutzte Papiertaschentücher, Kondompackungen und irgendwelchen Krimskrams, bis er schließlich das Notizbuch fand.
Die Träume aufzuschreiben half, zumindest manchmal.
Jan notierte die Sache mit der Metalltür, dann hielt er inne. Manchmal kamen Details aus den Träumen dazu, während er sie aufschrieb. Eine Blume, da war irgendetwas mit einer Blume gewesen, und sie wuchs hinter der Tür. Woher er das wusste? Traumlogik.
Er schrieb das Wort Rose unter seine Traumnotizen, kringelte es ein und malte dann ein Fragezeichen daneben. Dann klappte er das Notizbuch zu und legte es zurück. Abgehakt.
Von unten, wo der Wohnbereich des Lofts lag, stieg Kaffeeduft herauf. Und etwas, das gebratene Eier sein mochten oder aber auch nur Jans Wunschdenken.
Jan ging nach unten, in Boxershorts und T-Shirt. Er trug selten etwas anderes vor Mittag. Einer der Vorteile, wenn man einer Arbeit im Home Office nachging, oder auch gar keiner Arbeit. Er stellte fest, dass er noch immer das Ramones-Shirt trug, das er gestern Abend getragen hatte und offenbar mit irgendeiner hellen Flüssigkeit bekleckert hatte. Die hoffentlich, hoffentlich nicht aus seinem Magen stammte. Das und der Traum, da war Jan sicher, hatten etwas zu bedeuten. Vielleicht versuchte ihm sein Unterbewusstsein zu sagen, dass er weniger trinken sollte. Oder mehr.
Katrina stand in der Küche vor dem geöffneten Panoramafenster und rauchte. Sie hatte ihn nicht gehört, weil sie ihre Kopfhörer trug. Jan sah, dass sich die weißen Kabel unter ihren blonden Haaren hervorschlängelten. Sie wiegte sich sanft im Takt der Musik hin und her, während sie ihm den Rücken zuwandte.
Jan wäre gern hingegangen und hätte die Arme um sie gelegt. Dann hätten sie beide da gestanden und nach draußen geblickt, und er hätte der Musik aus ihren Ohrhörern gelauscht, während sie sich an ihn gelehnt und er den Duft ihres Haars, vermischt mit dem Zigarettenrauch, aufgesogen hätte. Vielleicht würde sie zulassen, dass er seine Hände unter ihren Pulli schob und …
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Da war noch ein Rest Kaffee in der Maschine. Aber die Eier waren Einbildung. Und würden es auch bleiben, wenn er sich nicht selbst welche machte.
»Morgen«, krächzte Jan mit belegter Stimme.
Sie drehte sich abrupt um und starrte ihn an, halb erschrocken und halb … etwas Undefinierbares.
Wut? Durchaus möglich.
Wiedersehensfreude war es jedenfalls nicht. Sie ließ die halb gerauchte Zigarette in ihren Kaffeebecher fallen und ging zur Küchenzeile hinüber, wo sie beides abstellte und sich dann die Ohrhörer aus den Ohren pulte.
»Ich geh ins Atelier«, sagte sie, schnappte sich ihre Jacke vom Haken und zog sie über. Dann sah Jan die Tasche, die sie an der Tür abgestellt hatte.
»Wirst du …?«, Jan räusperte sich, »ich meine … wann wirst du zurück sein? Ich …«
Hätte, hätte.
Sie stand an der Tür, die Hand schon auf der Klinke, und drehte sich zu Jan um. Aber sie antwortete nicht, sah ihn nur an. Als er auf sie zuging und die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, als hätte Jan eine ansteckende Krankheit.
»Mann, Katrina, ich meine … es war doch nur …«, stammelte Jan und bereute es sofort, als er den Ausdruck in ihrem Gesicht sah. Halt doch einmal deine dumme Klappe, Chernik, schalt er sich. Und konnte es doch nicht.
»Ich liebe dich, Kat…«
Sie riss die Tür regelrecht auf und rauschte hindurch, die riesige Tasche hinter sich herschleifend. Irgendwie hatte das was von einem kleinen Mädchen, das einen viel zu großen Teddy hinter sich her zog. Dann war sie draußen und stürmte die Treppe nach unten. Ließ Jan zurück in der offenen Tür in seinen Shorts und dem bekleckerten Ramones-Shirt. Auf dem Treppenabsatz wandte sie sich ein letztes Mal zu ihm um.
»Arschloch«, sagte sie, und dann war sie fort.
Noch 30 Tage
Jan kippte den Rest des Kaffees in eine Tasse und ging wieder nach oben. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf das zerwühlte Bett und setzte sich dann im Nebenzimmer an seinen Schreibtisch. Die Kopfschmerzen waren nicht mehr ganz so stechend, aber noch vorhanden.
Er öffnete das Staufach des zerkratzten Ungetüms, das ihm seit den Zeiten im Keller als Schreibtisch diente, indem er seinen Zeigefinger in die Vertiefung zwischen Tür und Rahmen drückte. Einen Griff hatte das Fach nie besessen.
Er langte um eine Reihe zerlesener Bücher herum und ertastete den Hals der Flasche. Er befreite sie aus ihrem dunklen Versteck, schraubte den Verschluss ab und kippte eine gute Handbreit Wodka zu dem lauwarmen Kaffee in seine Tasse. Guten Morgen Schatz, Frühstück ist fertig. Haha.
Dann klappte er sein MacBook auf und tippte den Entsperrcode ein. Während er das tat, spürte er bereits die Angst. Sie kroch seine Wirbelsäule empor wie ein kalter, schleimiger Wurm.
Klick, er öffnete das Schreibprogramm.
Der leere Bildschirm starrte ihn an.
Jan begann zu tippen:
Neues Buch (Arbeitstitel)
von
Jan Chernik
Na großartig. Neues Buch. Das klang eher nach einer To-Do-Liste als einem Titel. Daher: Nicht mal unpassend, vielleicht würde er es so lassen. Jan versuchte ein Lachen. Nahm einen tiefen Schluck von dem Kaffee-Wodka-Gemisch. Versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen.
Versuchte, nicht an Katrina zu denken.
Nahm noch einen Schluck.
Dann schrieb er:
Fuckfuckfuckfuckfuck.
Das hätte ihn eigentlich zum Lachen bringen müssen. Ein Schriftstellerwitz. Stephen Kings fiktiver Autor Paul Sheldon hatte das geschrieben, als er von einem verrückten, weiblichen Fan gekidnappt worden war. Die Wahnsinnige hatte ihn gezwungen, eine abscheuliche Schmonzette namens »Misery« fortzusetzen, obwohl Sheldon die Protagonistin gerade um die literarische Ecke gebracht hatte. Jan konnte das gut nachvollziehen.
Vielleicht sollte er auch mal so einen Horrorschinken rauskloppen, wie schwer konnte das schon sein? Auf jeden Fall sollten dabei jede Menge Fußknöchel zermalmt werden, das war ein ungeschriebenes Gesetz. So was kam immer gut an.
Ein anderes ungeschriebenes Gesetz war allerdings, dass ein Autor nicht sein Genre wechselte. Besonders kein einigermaßen erfolgreicher Autor.
Jan Chernik schrieb junge Literatur mit zynisch-bissigem Unterton. Jedenfalls stand das so auf seiner Website. Keine Liebesromane – in Cherniks Büchern wurde, wenn überhaupt, gefickt und nicht geliebt, und anschließend hatten sich die Beteiligten gefälligst von irgendeinem Hochhaus in Berlin-Mitte zu stürzen. Keine Romantik. Schon gar kein frei erfundener Horrorquatsch. Chernik schrieb Dramen. Vom bittersüßen Leben, das einem vor die Füße kotzte. Damit kannte er sich nämlich aus.
Jan löschte das soeben Geschriebene.
Dann schrieb er es noch mal:
Fuckfuckfuckfuckfuck.
Es zündete auch beim zweiten Mal nicht.
Aber die Angst war wieder da, stärker als zuvor. Sie kickte rein wie der Turbo Boost bei einem Rennwagen und Jan blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen und zu versuchen, das Rennen irgendwie zu überleben. Und zu versuchen, dabei nicht an Katrina zu denken, und den riesigen Teddybär, den sie hinter sich hergeschleppt hatte.
Als sie ihn verlassen hatte.
fuckfuckfuckfuckfuck
Leipzig
Sauer beugte sich hinab und küsste seine Frau auf die Stirn. Ein mattes Lächeln auf ihren abwesenden Zügen war die einzige Reaktion. Oxana saß apathisch in ihrem Sessel und hielt das gerahmte Foto in der Hand. Aber sie schaute nicht das Bild an, sondern zum Fenster hinaus. In den Garten, in dem jetzt nichts als Unkraut wuchs.
Wo sie so gern gespielt hatte.
Sauer strich ihr sanft über das lange Haar, dann ging er ins Schlafzimmer, nahm einen Anzug aus dem Schrank und begann, sich hineinzuzwängen.
Dann die Krawatte. Sauer war sicher, dass er irgendwann gewusst hatte, wie man so ein Ding band. Er zog und zerrte an dem Stoffanhängsel, bis es schließlich irgendwie um seinen Hals baumelte. Dann gab er es auf und ging zurück ins Wohnzimmer.
Oxana saß unverändert in ihrem Sessel und starrte milde lächelnd zum Fenster hinaus. Für einen Moment überlegte Sauer, seiner Frau zu sagen, wo er hingehen würde, aber dann ließ er es doch bleiben. Noch nicht.
»Ich liebe dich, Oxana«, sagte er in die Stille des Raumes hinein.
Sie schaute weiter apathisch aus dem Fenster, aber ihre Mundwinkel bewegten sich ein bisschen, schließlich öffnete sie den Mund, als versuchte sie, etwas zu erwidern. Dann nickte sie nur. Sauer genügte es.
»Ich habe dir Brote gemacht«, sagte er. »Im Kühlschrank. Ich hätte dir gern was gekocht, aber …«
Sie drehte den Kopf und bedachte ihn mit einem abwesenden Lächeln. Vermutlich würde sie sowieso nichts davon essen.
Sauer ging in den Flur und warf im Hinausgehen einen letzten Blick in den Spiegel. Hoffnungslos.
Auf dem Südfriedhof war er fast der einzige Besucher, wie immer um diese Uhrzeit. Ein Mütterlein schlurfte, eine Plastikgießkanne in der Hand, vom Brunnen am Hauptweg fort in den hinteren Teil, Sauer ging in die entgegengesetzte Richtung.
Als er sein Ziel an der südlichen Mauer erreicht hatte, ging er in die Hocke und entfernte einen Strauß verwelkter Rosen. Dann legte er einen frischen Strauß auf das Grab und außerdem eine Tafel Schokolade und einen kleinen Plüschhasen. Er sah ein bisschen aus wie der, den sie damals so gern gehabt hatte.
Dann stand er auf und sagte: »Alles Liebe zum Geburtstag, moja saika, wir vermissen dich. Wir …«
Weiter kam er nicht.
Ja, dachte Sauer später, es war gut, dass Oxana nicht mitgekommen war. Es war schwer, den Anblick des Stoffhasen auf dem kleinen Grab zu ertragen. Ihren Namen auf dem kalten Stein zu lesen. Die Jahreszahlen, die so absurd nah beieinanderlagen. Das war vielleicht das Schlimmste.
Sein Telefon klingelte.
Sauer räusperte sich und ging ran.
»Sauer.«
Das Zittern in seiner Stimme war kaum noch zu hören. Zumindest hoffte er das.
Der Befund sei da, sagte der Mann am anderen Ende, und er könne ihn abholen.
Er sei unterwegs, sagte Sauer.
Noch 28 Tage
Inzwischen war die zweite Flasche Wodka leer und Jan Chernik war ein bisschen weiter mit »Neues Buch« (Arbeitstitel). Ein ganzes Stück sogar, um die 40 Seiten. Auch wenn der Großteil dieser 40 Seiten inzwischen im virtuellen Papierkorb seines MacBooks gelandet war. Aller Anfang war bekanntlich schwer.
Aber stimmte das wirklich? Hatte er es damals als schwer empfunden, damals, als er »Herzeland ist abgebrannt« geschrieben hatte (Gott, das war mal ein beschissener Titel)? Als er nicht an Verleger oder Verträge gedacht hatte oder an so etwas wie Stammleser. Als er nur von der Wut befeuert worden war und der Sehnsucht? War es damals nicht förmlich aus ihm rausgesprudelt und hatten damals nicht ein paar Bier und eine Tiefkühlpizza genügt? Hatte es ihn nicht förmlich an den Bildschirm gezogen (kein schickes, neues MacBook damals, sondern ein uralter Laptop, der ständig abstürzte)?
Schon möglich.
Aber mittlerweile hatte sich sein Stil eben raffiniert, seine Schreibe war erwachsener geworden, was immer das bedeuten sollte. Jedenfalls hieß es, dass eben alles etwas länger dauerte. Auch der Kampf mit dem weißen Bildschirm, das ganz besonders. Aber er kam voran. Er kam voran.
Wenn nur Katrina endlich anrufen würde.
Eine SMS.
Irgendwas.
Es kam ohne Vorwarnung. Plötzlich erinnerte er sich an den Traum, den er letzte Nacht gehabt hatte. Einfach so, und er hatte ihn noch nicht einmal notiert. Hatte ihn ganz und gar vergessen geglaubt, doch plötzlich war alles wieder da.
Es hatte wieder vor der Tür gestanden. Aber diesmal hatte er genauer hingesehen, oder die Umgebung hatte sich ihm weiter offenbart wie ein fauliger Schlund, der sich umso mehr öffnete, je weiter man hineinkroch.
Die Eisentür gehörte nicht zu einem Haus.
Da war eine grob behauene Felswand, eine Höhle. Etwas, das man in einem Bergwerk vermuten würde, am Ende eines Stollens. Bloß, wer baute Eisentüren in einen Bergwerksstollen? Traumlogik. Dr. Freud hätte seinen Spaß mit ihm.
Der Tunnel: lichtlos, unterirdisch. Fernab von … allem. Düster, und das hatte nicht nur mit der Abwesenheit von Licht zu tun. Böse, das war das Wort. Böse auf eine gewaltige, erdrückende Weise.
Scheiße, er sollte sich die Sache mit dem Horrorschinken noch mal durch den Kopf gehen lassen. Das hier wäre Material und vielleicht sogar gutes. Er kritzelte
Böse
in sein Notizbuch und kringelte es ein.
Lächerlich. Das Wort nahm sich auf diese Weise selbst den Schrecken, eingekringelt wie ein wichtiger Arzttermin. Aber das würde er später noch hinbiegen. Es gab schließlich immer ein Lektorat.
Weiter mit dem Traum. Da war noch etwas Neues gewesen außer dem Stollen und der Tür.
Etwas war hinter der Tür. Eingesperrt.
Böse?
Und diesmal war er hineingegangen.
Er hatte sich an dem Schloss der schweren Metalltür zu schaffen gemacht und schließlich mit ungeschickten Fingern einen Schlüssel in ein Schloss gefummelt. Irgendwas mit einer Mickymaus, ja. Einer der Schlüssel. Der sah aus wie eine Mickymaus. Verrückte Sache, das.
Plötzlich hatte die Klinke dem Druck seiner Hand nachgegeben. Die Tür hatte sich geöffnet und …
Etwas in Jans Brust zog sich schmerzhaft zusammen.
Die Mädchen.
Zwei Mädchen – schmutzverkrustet kauern sie in einer Ecke, pressen ihre ausgezehrten kleinen Körper aneinander. Sie tragen lange Nachthemden, die so schmutzbedeckt sind wie ihre Gesichter. Die beiden Kinder pressen sich aneinander, halten sich umklammert und starren ihn an – aus ihren dunklen, weit aufgerissenen Augen. Ihre Hände – da ist etwas mit ihren Händen. Schwere Ketten um ihre Handgelenke, die sie am Fortlaufen hindern. Sie sind gefangen, man hat sie angekettet wie tollwütige Hunde.
Aber da ist noch etwas. Etwas, das sie in ihren Händen halten, ihm entgegenstrecken. Etwas kleines rotes weißes …
Dann ist es vorbei.
Plötzlich waren die Kopfschmerzen wieder da, ohne Ankündigung, aber dafür umso heftiger. Der Schmerz explodierte in Jans Kopf. Er presste die Lider aufeinander, massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger seiner Hand, bis es ein wenig erträglicher wurde.
Als er die Finger zurückzog, bemerkte er, dass er geweint hatte. Das hatte er seit Jahren nicht mehr. Nicht einmal, als Katrina ihn verlassen hatte.
Noch 26 Tage
Jan machte sich keine allzu großen Hoffnungen, als er den Rest des Wodkas in die Spüle kippte. Er tat es nicht einmal mit einem besonderen Vorsatz. Nie wieder, sagte der Alkoholiker.
Er tat es einfach, weil es in dem Moment das Richtige zu sein schien. Vielleicht auch, weil er inzwischen zwanzig Seiten tief in »Neues Buch« steckte. Zwanzig richtige Seiten, außer den etwa fünfzig im virtuellen Papierkorb. Zwanzig Seiten, die vielleicht nicht großartig waren, aber doch definitiv Material, vielleicht sogar gutes.
Da war Lisbeth, das verwöhnte Hipstermädchen, das sich selbst Lizzy nannte und einen auf Rebellin machte, indem sie sich das Geld ihrer reichen Eltern in die Venen schoss. Die bekamen das natürlich irgendwann mit und schickten sie auf Entzug. Und zwar in eine dieser schweineteuren Kurkliniken an der Ostsee. Dort trifft Lizzy auf den heruntergekommenen Exrocker und Exkommunisten und Exsonstwas Bernd, der sich passenderweise immer nur »Ex« nennt, weil er das cool findet, und dabei an Deus ex Machina denkt, was außer ihm keiner kapiert. Es ist Herbst, natürlich, und irgendwie war es ein schönes Bild, wie die beiden da so einsam-gemeinsam auf die beschissen graue See hinausstarren und sich gegenseitig Lügen über das Leben erzählen. Gutes Material, wie gesagt. Chernik-Stoff.
Jan lächelte.
Irgendwann im Laufe dieses Morgens war er mit dem Laptop runter in den Wohnbereich gezogen, die letzten Zeilen hatte er am Küchentisch getippt. An Katrinas Platz, wenn sie in der Küche saß und rauchte. Geraucht hatte.
Jan streckte sich und dabei fiel sein Blick auf den Anrufbeantworter.
Die Anzeige blinkte.
Jan blinzelte. Sie blinkte immer noch.
Er stand auf und ging hin und fragte sich, wie es sein konnte, dass er das Telefon nicht hatte läuten hören. Er musste das Ding versehentlich auf lautlos gestellt haben, die einzig mögliche Erklärung. Natürlich hatte er keine Ahnung, wie man diesen Zustand wieder ändern konnte. Katrina hätte es gewusst, sie war der Technikfreak in ihrer Beziehung.
Als er das Mobilteil aus der Schale nahm, zitterte seine Hand. Er widerstand dem plötzlichen Impuls, einfach auf Löschen zu drücken, ohne die Nachricht angehört zu haben. Es offen zu lassen. Nein, dachte er, Leser hassen offene Enden. Jeder tut das. Wenn man nicht erfährt, wie die Sache ausgeht, verspürt man augenblicklich den überwältigenden Drang, sein Geld zurückzufordern und dem Autor eins auf die Fresse zu geben. Zu Recht. Er drückte den Abspielknopf.
»Sie haben eine neue Nachricht. Biep.«
Es war Katrina.
Jan taumelte.
Sie schluchzte.
Jan stellte mit einigem Erschrecken fest, dass er sie sofort erkannt hatte, schon am Schluchzen. Ihre Stimme klang leise, irgendwie weit weg, beinahe unwirklich. Jan hatte Mühe, sie durch das statische Rauschen hindurch überhaupt zu verstehen.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
Das war alles.
Noch ein bisschen Rauschen, dann Klack, Biep und aus.
Ihre Stimme hatte gezittert, soweit sich das in dieser Flut von Nebengeräuschen überhaupt sagen ließ. Es klang, als hätte sie in einem Autobahntunnel zur Rushhour gestanden. Und geweint. Eine neue Nachricht, hatte die neutrale weibliche Stimme des Anrufbeantworters gesagt. Kein Datum, keine Uhrzeit. Wann hatte er das eigentlich ausgestellt?
Jan spielte die Nachricht nochmals ab. Eine perfekte Wiederholung. »Es tut mir leid«, Rauschen. Knack. Biep. Schluss.
Noch mal. Dasselbe.
Jan wurde auch beim vierten und fünften Mal nicht schlauer aus der Sache und auch bei den folgenden Versuchen nicht.
Es tat ihr leid, okay. Das war gut, wenn auch unverhofft.
Es war schließlich Jans Schuld gewesen, voll und ganz. Das war nie Gegenstand irgendeiner Diskussion gewesen. Er hatte es verbockt, nicht sie. Es war an ihm, sich zu entschuldigen, und das hätte er getan, wenn sie ihm nur Gelegenheit dazu gegeben hätte. Stattdessen: »Arschloch.« Und weg war sie und das war’s.
Und jetzt tat es ihr leid.
Aber wieso sagte sie dann nicht, wann sie zurückkommen würde aus dem Atelier? Wieso schluchzte sie dann und legte einfach auf, wo war da der Sinn?
Ihn zu bestrafen, auszuziehen, sich von ihm zu trennen und bei all ihren Freundinnen anzuschwärzen, das hätte Sinn ergeben. Wenn das auch nur im Entferntesten ihr Stil gewesen wäre. Wenn sie irgendwelche Freundinnen gehabt hätte.
Jan drückte nochmals auf die Abspieltaste, und während der Anrufbeantworter die mysteriöse Botschaft ein weiteres Mal abspielte, ging er zur Küchenzeile hinüber, um sich einen Kaffee zu machen. All das würde sich klären, sobald er ihren Schlüssel im Schloss hören würde.
Was ihn daran erinnerte, wie sie ihre Riesentasche auf das Parkett gewuchtet und ihn mit diesem Blick angesehen hatte, dieser seltsamen Mischung aus kindlichem Trotz und … Hilflosigkeit?
Nein, das traf es nicht ganz.
Da war Schmerz in ihrem Blick gewesen, das wurde Jan in diesem Moment mit überraschender Deutlichkeit klar. Da war immer ein Schmerz gewesen, und der war nie ganz aus ihren Augen gewichen, nicht für eine Sekunde.
»Ich liebe dich, Katrina«, flüsterte er. »Ich liebe dich so sehr«, und meinte: Komm zurück, komm zurück und geh nie wieder fort, denn ich brauche dich. Mehr als alles andere.
Verflucht, er heulte schon wieder, während er das Pulver in die Maschine kippte und vergaß, der wievielte verdammte Löffel das war. Da saß er, das Telefon in der Hand und erzählte dem Loft geflüsterte Liebesschwüre, und ihm fiel nicht mal auf, wie dämlich das war oder wie nutzlos.
Diese Erkenntnis kam erst viel später.
Noch 24 Tage
Jan starrte in seinen Kaffee. Inzwischen schrieb er wieder oben in seinem Zimmer. Er war ein bisschen stolz auf sich, weil er bis jetzt noch keinen Wodka reingetan hatte in den Kaffee, außer dem zum Wachwerden.
Er hatte fast gar nicht an Katrina denken müssen.
Und er war mit dem Buch vorangekommen.
Lizzy hatte inzwischen einen jungen Russen kennengelernt, der in der Klinik als Pfleger arbeitete. Sie ließ sich von ihm Stoff in die Klinik schmuggeln, im Austausch gegen körperliche Zuwendung. Wobei körperlich hier wörtlich zu nehmen war, denn eigentlich war Lizzy lesbisch, schon mal aus Feminismusgründen. Dann war da natürlich noch »Deus Ex« Bernd, den die Russen mal böse vermöbelt hatten und der natürlich auch in Lizzy verschossen war.
Prima.
Jede Menge Drama. Und aus dem Leben gegriffen, denn eine Lizzy, wenn auch unter anderem Namen und in einer anderen Entzugsklinik (und ganz und gar nicht lesbisch) hatte Jan tatsächlich einmal kennengelernt. Auch für sie hatte es nicht gut geendet im echten Leben.
Leichenfledderei mochten die einen sagen. Eine gute Story, sagte Jan. Alle guten Storys waren schließlich aus dem Leben gegriffen. Zumindest die, die zu erzählen es sich lohnte.
Inzwischen gab es sogar einen richtigen Arbeitstitel zu »neues Buch«.
NACHTODYSSEE
Okay, vielleicht noch nicht das Gelbe vom Ei, aber die Richtung stimmte.
Es klingelte.
Jan fuhr herum und war sofort raus. Sprang auf, hüpfte in Rekordzeit die Treppe runter und drosch seinen Daumen auf die Gegensprechanlage.
Katrina.
Sie musste es sein, sie war zurück. Und was immer es kostete, er würde sie nie wieder gehen lassen.
Selbst wenn es bedeutet, dass du niemals …?, fragte die Stimme in seinem Kopf. Ach, halt die Klappe, antwortete Jan und die Stimme gab auf, für den Moment.
Es war nicht Katrina.
Natürlich nicht. Denn Katrina hatte ja den Schlüssel, nicht wahr? Wieso sollte sie klingeln? Verdammter Idiot. Es war auch niemand an der Gegensprechanlage. Das Klingeln kam von oben.
Jan öffnete die Tür.
»Hi«, sagte Ildikó und strahlte ihn an.
»Hey«, antwortete Jan und erschrak ein bisschen, als er bemerkte, wie enttäuscht sich das anhörte.
»Ähm, alles klar?«, fragte Ildikó.
»Klar, ich … na ja, ich war in Gedanken.«
»Oh. Ich hab dich unterbrochen, beim …?«, fragte sie und grinste zweideutig genug, um Jan ein kleines Lächeln zu entlocken.
»Beim Schreiben, ja. Beziehungsweise beim Kaffeetrinken. Auch einen?«
»Nee, ich hab Hunger.«
Jan musste unwillkürlich grinsen. Das war wieder so ein typisches Ildy-Ding. »Okay«, sagte er. »Und?«
»Wollte mir grade einen Auflauf machen. Aber nachdem ich eine Viertelstunde nach der blöden Form gesucht habe, fiel mir ein …«
»Oh Scheiße. Katrina.«
»Jep. Ich habe sie ihr geliehen. Vor zwei Wochen oder so.«
»Verstehe. Und jetzt hält sie sie als Geisel.«
»Sozusagen.«
»Hm. Glaube nicht, dass ich dir da von Nutzen sein kann. Ich benutze die Küche eigentlich nur zum …«
»Kaffeekochen?«
»Hauptsächlich. Willst du reinkommen und selbst danach suchen?«
Ildikó kam rein, und sie suchte. Beziehungsweise ging sie zielgerichtet auf einen Schrank zu, öffnete ihn und zog die Form heraus.
»Na so was. Da ist sie«, sagte Jan.
»Da ist sie. Und schau mal, hier ist ein Zettel drangeklebt, da steht ›Ildikó‹ drauf. Seltsam, oder?«
»Sorry. Muss es wohl irgendwie übersehen haben.«
»Künstler.«
»Kein Grund für Beleidigungen.«
Ildikó klemmte sich die Form unter den Arm und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um. »Willst du auch was? Von dem Auflauf, meine ich. Wie ich mich kenne, mache ich eh wieder zu viel.«
»Essen«, murmelte Jan. Gute Idee. Wann hatte er zum letzten Mal etwas anderes als Kaffee (oder Wodka) zu sich genommen?
»Okay. In einer halben Stunde oder so bin ich wieder hier«, sagte Ildikó und ging zurück ins Treppenhaus. »Du besorgst den Wein.«
»Wein? Ist grade mal …« Jan sah sich suchend nach einer Uhr um.
»Beinahe vier«, sagte Ildikó kopfschüttelnd. »Und irgendwo auf dieser Welt ist die Sonne bestimmt längst untergegangen.«
»Vermutlich.«
Eine halbe Stunde später klingelte es erneut. Als Jan die Tür öffnete, schwappte der Duft des Nudelauflaufs förmlich in die Wohnung. Jans Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
»Vegan?« Jan rümpfte die Nase.
»Jawohl, Herr Schriftsteller. Wirst schon nicht dran sterben.«
Jan zuckte mit den Schultern und nahm ihr die Form ab, mitsamt den Topflappen, und trug das Ganze in die Küche, wo er den Tisch gedeckt und eine Weinflasche dazugestellt hatte.
»Hatte nur noch Weißen«, sagte er.
»Perfekt.«
Ildikó setzte sich, Jan schenkte ihr und sich von dem Wein ein, dann begann er zu essen.
»Ist gut«, nuschelte Jan mit vollem Mund.
Ildikó nickte lächelnd, während Jan Auflauf in sich hineinschaufelte.
»Okay«, sagte sie dann. »Erzählst du’s freiwillig oder brauche ich die Daumenschrauben?«
Jan blickte von seinem Teller auf. Seine Gabel mit einem Bissen Auflauf hing in der Luft zwischen dem Teller und seinem Mund.
»Sie ist weg«, sagte Ildikó. »Katrina. Seit über einer Woche, stimmt’s? Da habe ich euch gehört und es klang nicht gerade nach trauter Zweisamkeit. Eher nach einem ausgewachsenen Krach. Sorry, aber die Wände sind ziemlich dünn hier oben. Und dann – nichts mehr, seit einer Woche. Nur noch dein Geschlurfe die Treppe rauf und runter. Bis spät in die Nacht.«
»Ich …«, begann Jan, »wir …«
»Und, wenn ich mir das mal erlauben darf, du siehst aus wie ausgekotzt und in den Rinnstein gespuckt.«
»Na danke schön.«
Ildikó nickte. »Also, was ist los? Zumindest habe ich dich keinen zusammengerollten Teppich nach unten tragen sehen, daher nehme ich an, dass sie noch lebt. Also, was ist passiert?«
»Sie ist für ein paar Tage in ihr Atelier gezogen.«
»Shit. So schlimm?«
»So schlimm.«
»Willst du drüber reden?«
»Ich hab schon drüber geredet. Das heißt, ich hab’s versucht. Mit ihr.«
»Böser Fehler.«
»Kann man sagen, ja. Aber …«
»Aber es musste raus, oder?«
»Vermutlich. Muss es wohl immer noch.«
»Dann lass es raus«, sagte Ildikó. »Und reich mir mal die Flasche rüber, Geizkragen.«
Jan reichte ihr die Flasche, und dann begann er zu erzählen.
»Es war wegen der Kinder. Das habe ich mir zumindest eingeredet. Dass das der Grund war für alles. Katrina, also – sie wollte keine. Kinder, meine ich. Unter keinen Umständen, hat sie gesagt. Du weißt ja, wie sie sein kann.
Sie hatte kaum Freunde, ich meine keine richtigen. Hat es sogar geschafft, den Spinnern aus dem Weg zu gehen, mit denen man abhängen muss, um sich in ihrem Geschäft einen Namen zu machen.