Ich denke zu viel - Christel Petitcollin - E-Book + Hörbuch

Ich denke zu viel Hörbuch

Christel Petitcollin

0,0

Beschreibung

Rettende Strategien für Menschen, die überdurchschnittlich viel wahrnehmen.

Im Kopf herrscht ein ständiges Chaos? Der Geist steht niemals still, sondern arbeitet immer auf Hochtouren? Bei bis zu 30 % der Menschen ist das der Alltag, denn sie haben eine dominante rechte Gehirnhälfte. Christel Petitcollin, Psychotherapeutin und Kommunikationstrainerin, zeigt, wie man erfolgreich die Gedankenflut kanalisieren kann und endlich Ruhe im Kopf herstellt. Ihre hochaktuellen Forschungen weisen nach, dass Menschen mit dominanter rechter Gehirnhälfte überdurchschnittlich viel wahrnehmen, so dass sie unter einer ständigen Reizüberflutung stehen. Als Folge fühlen sie sich häufig unfähig, leistungsschwach und entwickeln Depressionen und Ängste. Damit sie den Alltag meistern können, hat Petitcollin ein revolutionäres Programm entwickelt, das hilft, die umfassende Wahrnehmungsfähigkeit und das häufig damit verbundene komplexe Gefühlserleben zu beherrschen und für sich nutzbar zu machen. Praxisnah, wissenschaftlich fundiert und mit vielen Techniken und Übungen zeigt Petitcollin einen leicht gangbaren Weg aus der Reizüberflutung hin zu mehr Lebensfreude.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 32 min

Sprecher:Daniela Frauenzimmer
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Die Autorin

Christel Petitcollin ist Psychotherapeutin, Kommunikationstrainerin und Coach für zwischenmenschliche Beziehungen. Sie ist ausgebildet in NLP, Transaktionsanalyse und Hypnotherapie nach Erickson. Die Autorin mehrerer international erfolgreicher Bücher lebt und arbeitet in Montpellier, Frankreich.

Christel Petitcollin

Aus dem Französischen vonElisabeth Liebl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
© 2017 Arkana, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © Guy Trédaniel Édituer, 2010. Translation rights arranged through Agence Schweiger. Lektorat: Juliane Molitor Covergestaltung: ki 36, München Covermotiv: itskatjas/istockphoto Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-21788-4V004
www.arkana-verlag.de

Inhalt

Einführung

Teil 1Eine hoch entwickelte mentale Organisation

1. Hochempfindliche Sensoren

2. Von der Hochsensibilität zur mystischen Erfahrung

3. Anders verkabelt – Die Unterschiede zwischen linker und rechter Gehirnhälfte

Teil 2Eine durch und durch ungewöhnliche Persönlichkeit

4. Die identitäre Leerstelle

5. Die Idealisten schlechthin

6. Das komplizierte Beziehungsgeflecht

Teil 3Wie Sie mit Ihrer Hocheffizienz gut leben können

7. Der Schock der Selbsterkenntnis

8. Wie Sie Ihre Gedanken ordnen

9. Wie Sie Ihre Integrität zurückerobern

10. Wie Sie Ihre Gehirnfunktionen optimieren

11. Wie Sie als mental Hocheffizienter in der Gesellschaft leben

Zu guter Letzt: warum?

Bibliografie

Einführung

Camille ist um die zwanzig und studiert. Sie kommt zu mir in die Praxis, weil sie etwas gegen ihr »mangelndes Selbstvertrauen« unternehmen möchte. Sobald sie mir ihre Schwierigkeiten zu erklären versucht, wird sie von Emotionen überwältigt. Sie beißt sich auf die Lippen, hält die geballte Faust vor den Mund, kann die Tränen kaum zurückhalten und entschuldigt sich wieder und wieder für ihre »Überempfindlichkeit«. Gleichzeitig versucht sie ständig, sich »zusammenzureißen« und mit ihren Erklärungen fortzufahren. Schritt für Schritt entsteht das Bild einer klugen und kreativen jungen Frau, die eigentlich noch keine ernsthaften Misserfolge verarbeiten musste. Ganz im Gegenteil. Zu ihrem eigenen Erstaunen schafft sie jedes Semester problemlos ihre Prüfungen. Objektiv gesehen läuft also alles bestens. Trotzdem nagen massive Selbstzweifel an Camille. Ihre Mitstudenten scheinen mit der Zeit immer sicherer zu werden. Sie zweifeln nicht, den richtigen Studiengang gewählt zu haben, und sind fest davon überzeugt, eines Tages ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Camille hingegen fühlt sich zusehends deplatziert und fragt sich, ob sie überhaupt das richtige Fach studiert. Irgendwie hat sie ständig das Gefühl, allen etwas vorzumachen.

Auch im sozialen Umgang empfindet sie sich als vollkommen anders als ihre Freunde. Die Interessen ihrer Kommilitonen scheinen meilenweit entfernt von dem, was sie selbst umtreibt. Dementsprechend verlaufen auch die Unterhaltungen im Bekanntenkreis. Sitzt sie abends mit Freunden zusammen, stellt sich bei Camille früher oder später ein Gefühl der Entfremdung ein. Urplötzlich fragt sie sich, was sie hier eigentlich treibt und was in aller Welt die anderen an diesem oberflächlichen Geplapper so toll finden. Die ganze Fröhlichkeit kommt ihr aufgesetzt vor. Und sie will eigentlich nur noch eins: so schnell wie möglich nach Hause.

Camille versucht schon seit einiger Zeit herauszufinden, was mit ihr nicht stimmt. Ständig scheint sie in einem Meer von Zweifeln und Fragen zu versinken. Die verrücktesten Ideen schießen ihr durch den Kopf. Sie spürt, wie sie immer unsicherer und ängstlicher wird. Der Weg in die Depression ist vorgezeichnet.

Und Camille ist kein Einzelfall. Viele Menschen kommen in meine Praxis, weil sie wie Camille wissen wollen, warum sie sich in ihrem Umfeld fehl am Platz fühlen, warum sie sich selbst nicht akzeptieren können und das Chaos in ihrem Kopf erst recht nicht.

Wie alle meine Bücher hat auch dieses seine Wurzeln in meiner praktischen Arbeit als Therapeutin. Seit siebzehn Jahren ist es mein Beruf, anderen Menschen zuzuhören, sie zu beobachten und zu versuchen, sie zu verstehen. Ich habe gelernt, was Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, »marsisches Zuhören« nennt. Dabei nimmt man das Gespräch des anderen so unbefangen auf, als käme man selbst vom Mars. Wie ein Tonband registrieren die Ohren bestimmte Worte oder Satzfetzen, die ständig wiederkehren. Auf diese Weise entdeckt man die Schlüsselworte für das Erleben des anderen, die grundsätzlichen Konzepte, um die sich seine Erzählungen drehen.

Eine ganz bestimmte Art von Sätzen kehrt bei einigen Menschen regelmäßig wieder, und diese Sätze sollten mich fortan intensiv beschäftigen:

Ich denke zu viel. Meine Freunde meinen, ich sei kompliziert und stelle mir viel zu viele Fragen. Mein Kopf kommt nie zur Ruhe. Manchmal würde ich am liebsten den Stecker ziehen, damit mein Geist einfach mal aufhört, Gedanken zu produzieren.

Dazu kommen einige weitere Sätze, die das Bild vervollständigen:

Ich habe das Gefühl, von einem anderen Planeten zu stammen. Ich finde meinen Platz einfach nicht. Ich fühle mich unverstanden.

Solche kleinen Sätze haben sich in mir zum Bild eines Typus Mensch verdichtet, der zu viel denkt. Bald konnte ich die Problemfelder ausmachen, die diesen Menschen zu schaffen machen, und ihnen glücklicherweise auch Lösungen anbieten. Nachdem ich mit der Arbeit an diesem Buch angefangen hatte, bat ich meine Klienten, einzelne ihrer Geschichten verwenden zu dürfen, um dieses Bild noch deutlicher herauszuarbeiten. Natürlich bedurfte es weiterer Fragen, um die Arbeitsweise ihres Geistes noch besser zu verstehen und zu begreifen, wie sie mit ihren persönlichen Werten umgehen und was sie antreibt. Als sehr offene und zugängliche Menschen waren sie alle bereit, mir zu helfen. Dieses Buch verdankt sich daher nicht zuletzt dem Beitrag, den meine Klienten dazu geleistet haben, wofür ich ihnen an dieser Stelle von ganzem Herzen danke.

Wer würde schon annehmen, dass es unglücklich machen kann, intelligent zu sein? Doch genau darüber klagen meine Klienten. Hinzu kommt natürlich, dass sie sich nicht wirklich als intelligent empfinden. Außerdem berichten alle übereinstimmend, dass ihr Kopf nie abschaltet, nicht mal bei Nacht. Dabei sind sie der vielen Zweifel und Fragen, die sie beschäftigen, längst überdrüssig. Sie haben die Nase voll von diesem überkritischen Bewusstsein, das auch noch das kleinste Detail registriert. Am liebsten würden sie ihr Hirn einfach mal für eine Weile abstellen. Am meisten aber leiden sie darunter, dass sie sich anders fühlen, unverstanden und gekränkt von der Welt um sie herum. Aus eben diesem Grund kommen sie regelmäßig zu dem Schluss: »Ich stamme nicht von diesem Planeten.« In ihrem Kopf geht es zu wie in einem Ameisenhaufen, in dem die Gedanken durcheinanderwimmeln und ständig neue Gedanken produzieren, die sie wieder ganz woandershin entführen. Es geht alles viel zu schnell in ihrem Gehirn. Häufig stottern sie ihrem eigenen Gedankenfluss hinterher oder bleiben gleich stumm, weil die Menge an Informationen in ihrem Gehirn ihnen Angst macht. Und Worte vermögen nie ganz auszudrücken, was dahintersteckt. Sie scheitern an der Subtilität, der Komplexität ihres Denkens. Was diesen Menschen am meisten fehlt, sind Gewissheiten, auf die sie sich stützen könnten. Da sie ständig alles infrage stellen, bewegen sie sich geistig auf Treibsand. Stabilität wäre eine wunderbare Alternative! Dabei stehen sie sich selbst äußerst kritisch gegenüber: »Warum sehen die anderen nicht, was für mich auf der Hand liegt? Oder sehe ich dies alles verkehrt? Vielleicht liege ja ich komplett falsch?«

Ihre Sensibilität, ihre Emotionalität halten mit ihrer Intelligenz durchaus Schritt. Ihre Wut oder Frustration ist wie Nitroglyzerin und macht sie zu wandelnden Bomben, die bei der kleinsten Erschütterung explodieren. Mitunter fließen auch Tränen. In dieser Welt gibt es auch so gar kein Mitgefühl! Stets hin- und hergerissen zwischen ihrem uneingeschränkten Idealismus und einem extremen Klarblick haben diese hocheffizienten Denker nur die Wahl zwischen autistischem Verschließen oder leidenschaftlicher Rebellion. Aus diesem Grund schwanken sie auch ständig zwischen hochfliegenden Träumen und niederschmetternden Erkenntnissen, zwischen reinster Unschuld und völliger Verzweiflung. Sie glauben nicht, dass es Hilfe für sie gibt, weil es hier ja nicht um guten Willen geht. Die Ratschläge ihrer Umgebung verstärken das Problem eher noch, als ihnen tatsächlich zu helfen. Nicht immer alles hinterfragen wollen? Ja, das würden sie doch gerne! Fragt sich nur wie! Die Welt nehmen, wie sie ist? Ausgeschlossen!

Auch der Gang zum Psychologen ist nicht immer einfach. Schließlich haben diese Menschen durchweg Angst, dass man sie für verrückt hält, und leider ist diese Angst keineswegs unbegründet. Wie sollen auch all jene, deren Denken in geordneten Bahnen verläuft, das mentale Chaos in ihrem Kopf begreifen? Die diagnostischen Fragebögen der Psychiater zerlegen dieses subtile, machtvolle Denken in seine Einzelteile und lassen es anormal, ja krankhaft erscheinen. Auch in der Schule scheint ihre ganz spezifische Art nichts als Probleme zu bereiten. Da sind diese mental hocheffizienten Menschen, und die Schule klebt ihnen Etiketten auf, etwa »hyperaktiv« oder »mangelnde Konzentrationsfähigkeit«, nur weil ihr Multitasking-Gehirn sich langweilt, wenn es nur eine einzige Aufgabe zu lösen bekommt. Man hält ihnen vor, unkonzentriert zu sein oder ihre Aufgaben nicht gelesen zu haben, dabei waren sie nur ungeheuer schnell, weil ihr Gehirn gleichzeitig viele verschiedene Daten verarbeiten kann. Nicht zu vergessen die Litanei der mit »Dys-« beginnenden Begriffe, die man ihnen vorbetet, um sie mit der Nase draufzustoßen, dass sie im Kopf verdreht sind: Dyslexie, Dysorthografie, Dyskalkulie, Dysgraphie … Mehr dazu finden Sie in Marie Françoise Neveus Buch (Paris 2010). Im Erwachsenenalter lesen sich die Etiketten dann noch negativer: Borderline, Schizophrenie, manisch-depressiv. Gerade von den Leuten, von denen sie sich Hilfe erhofften, werden mental hocheffiziente Menschen noch weniger verstanden, weil man sie einfach als »dysfunktional« abstempelt. Das aber ist das genaue Gegenteil dessen, was sie wirklich brauchen, um sich selbst besser verstehen und annehmen zu können. Sie sind nicht dysfunktional, sondern einfach anders.

Da die mentale Hocheffizienz als Konzept immer noch nicht ausreichend erforscht und verstanden ist, gibt es keinen Begriff, der dieses Phänomen exakt beschreiben würde. Bislang behilft man sich häufig mit Bezeichnungen wie »hochbegabt«, aber auch hier gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens. Und so haftet Hochbegabten auch heute noch das Stigma des Hochmuts an, einer Haltung, die dem Wertesystem mental Hocheffizienter übrigens widersprechen würde. Allein die Aussage, dass sie von irgendetwas »mehr als andere« haben, gibt ihnen das Gefühl, gegen den Strich gebürstet zu werden. Mit »mentaler Hocheffizienz« hingegen haben sie keine Schwierigkeiten, weil diese Formulierung in ihren Augen eben dieses gedankliche Gewimmel ausdrückt, das sie in ihrem Kopf wahrnehmen. Auch mit der Idee der dominanten rechten Gehirnhälfte können sie sich anfreunden, weil sie nicht mit dem Bild des »Superhirns« verquickt ist. Dass sie über eine besondere Form der Intelligenz verfügen – den Gedanken können sie durchaus akzeptieren. »Ja, das stimmt. Ich denke wirklich nicht wie andere!«, gehört ebenfalls zu diesen verräterischen kleinen Sätzen, die ich so oft höre. Schon hier zeigt sich übrigens ein Merkmal, das mental Hocheffiziente auszeichnet: Sie haben ein enormes Bedürfnis nach Präzision. Für sie ist ein Wort nie ganz deckungsgleich mit einem anderen. Daher kann es letztlich keine Synonyme geben. Und jedes Wort hat ja auch noch eine höchstpersönliche Bedeutung. Es ist also völlig unmöglich, das Phänomen mit einem einzigen Wort zu beschreiben. Welche Möglichkeiten aber haben wir dann?

Jeanne Siaud Facchin, die Autorin von Zu intelligent, um glücklich zu sein? Was es heißt, hochbegabt zu sein, spricht gar nicht von Hochbegabung. Sie nennt die Betroffenen einfach »Zebras«. Der Begriff ist gut gewählt, denn auch Zebras sind Außenseiter in der Tierwelt. Sie lassen sich nicht zähmen, und ihr gestreiftes Fell lässt sie in der Wildnis vollkommen mit der Landschaft verschmelzen. Wenn wir aber schon Vergleiche mit der Tierwelt anstellen, dann gehört meiner Meinung nach auch der Hund hierher. Mental Hocheffiziente sind unglaublich treu, loyal, anhänglich und tun alles für die Menschen, an denen ihnen etwas liegt. Und auch ein Vergleich mit der Katze ist passend. Mental hocheffiziente Menschen sind nämlich ungeheuer feinfühlig und beeindruckbar. Außerdem haben sie ein außergewöhnliches Spektrum an Sinneswahrnehmungen. Und dann wäre da noch das Kamel. Mental Hocheffiziente halten so einiges aus. Und der Hamster. Dann nämlich, wenn ihre Gedanken unermüdlich kreisen wie ein Hamster im Rad.

Die französische Vereinigung für den Schutz mental hocheffizienter Menschen (GAPPESM) nennt sie PESM: Personen, die mit mentaler Hocheffizienz belastet sind (Personnes Encombrées de Surefficience Mentale). Das hat was, aber andererseits empfinden ja nicht alle mental Hocheffizienten ihre spezielle Art als Belastung.

Ich persönlich würde sie ja »hochbegabt« nennen, weil dies dem tatsächlichen Erleben am nächsten kommt, doch wenn ich von »Hochbegabung« spreche, wird die eine Hälfte meiner Leserschaft dieses Buch sofort zuklappen. Und die andere Hälfte wird einwenden, wenn diese Leute doch so intelligent sind, müssten sie sich ja problemlos anpassen können. Außerdem will sich niemand in dem klischeehaften Bild des Hochbegabten wiedererkennen, das die Medien ständig zeichnen: ein brillantes, hochnäsiges Kind, das stets Klassenprimus ist und die anderen Kinder schulmeistert. Tatsächlich lässt sich dieses Klischee kein bisschen auf mental Hocheffiziente anwenden.

Als ich allmählich hinter das Phänomen der mentalen Hocheffizienz kam, war ich noch von dem Ehrgeiz getrieben, einen passenden Begriff dafür zu finden. Also sprach ich von »hochbegabt« und habe meine Klienten ohne jede Vorwarnung damit konfrontiert, dass ich sie für hochbegabt hielt. In meiner Begeisterung habe ich vollkommen außer Acht gelassen, wie sensibel diese Menschen sind. Einige waren buchstäblich sprachlos, andere bekamen die Panik, manche zogen sich blitzartig in sich selbst zurück. Ich habe mit diesem Etikett eine Reihe von Klienten in die Flucht geschlagen. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei ihnen entschuldigen. Heute gehe ich das Thema etwas vorsichtiger an. Ich spreche von der grundsätzlich anderen neurologischen Verkabelung, von der dominanten rechten Gehirnhälfte. Doch auch diese Enthüllung erschreckt einige. Mental Hocheffiziente ahnen zwar, dass sie anders sind, aber objektiv möchten sie davon erst mal nichts wissen.

Ich habe lange nach einem Begriff gesucht, der dieses Profil am besten beschreibt, und auch meine Klienten in diese Suche einbezogen. Es gibt den Begriff »Hochleistungsgehirn«, der manchmal auf Kinder mit ADHS angewandt wird. Ich persönlich fand »Spidermind« ganz hübsch, weil das Wort gleichzeitig auf die Schnelligkeit und Vernetztheit des Denkens anspielt. Letztlich aber habe ich mich für »mental hocheffizient« entschieden, weil mir der Begriff ebenso nüchtern wie passend erscheint. Er ist weitgehend selbsterklärend, löst aber andererseits auch interessiertes Nachfragen aus. Und er stößt nicht sofort auf Widerstand. Schließlich geht es in diesem Buch nicht darum, Ihnen ein neues Etikett aufzukleben. Meine Zielsetzung ist vielmehr, dass Sie sich besser verstehen, sich in Ihrem So-Sein besser annehmen können und lernen, mit dem Chaos in Ihrem Kopf gelassen umzugehen.

Wenn Sie zu den Menschen gehören, die zu viel denken, werden Sie sich in der Beschreibung mental Hocheffizienter vermutlich wiedererkennen. Ihr Gehirn, das zu viel denkt, ist in Wahrheit nämlich ein echtes Juwel. Es ist faszinierend sowohl in seiner Neigung zur Komplexität als auch in seiner unglaublichen Geschwindigkeit. Das ist, als hätten Sie einen Formel-1-Motor unter der Haube! Aber ein Auto mit Formel-1-Motor stellt andere Anforderungen als ein Mittelklassewagen. In ungeschickten Händen und auf Landstraßen erweist es sich als fehleranfällig und gefährlich. Damit dieser Wagen sein ganzes Potenzial ausspielen kann, muss man ihn steuern können. Und man muss ihn auf der richtigen Strecke einsetzen. Bis jetzt war es Ihr Gehirn, das Ihr Leben ständig in den Graben gelenkt hat. Nun übernehmen Sie die Kontrolle.

Ich habe dieses Buch in drei Abschnitte aufgeteilt, um Sie mit den bemerkenswertesten Aspekten der mentalen Hocheffizienz bekannt zu machen:

der Hypersensibilität und dem mäandernden Denken;dem damit verbundenen Idealismus und den zwischenmenschlichen Problemen, die sich daraus ergeben;den Lösungsansätzen, die ich Ihnen vorschlage.

Ich weiß, dass mental Hocheffiziente dazu neigen, Bücher querzulesen. Das gibt ihnen genug Gelegenheit, die Essenz des Buches aufzunehmen. Manchmal müssen sie dann gar nicht mehr weiterlesen, weil sie die grundlegende Argumentation bereits kennen. In diesem Fall aber gebe ich Folgendes zu bedenken: Wenn Sie sofort zum letzten Teil des Buches vorblättern, fehlt es Ihnen an den nötigen Informationen, um Sinn und Zweck der vorgestellten Lösungen richtig einschätzen zu können. Daher möchte ich Sie bitten, das Buch tatsächlich von vorn bis hinten zu lesen, ohne einzelne Kapitel zu überspringen. Ich bin hier eigens für Sie einen Weg gegangen, auf dem Ihnen einige wesentliche Fakten über Ihr Gehirn aufgezeigt werden. Sie werden feststellen, dass Ihre Hochsensibilität neurologisch bedingt ist und dass Ihr sich endlos verzweigendes Denken auf eine grundlegend andere Form der Intelligenz hinweist. Ihr Idealismus ist ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal. Dies gilt auch für Ihr »falsches Selbst«, das Ihnen in Beziehungsdingen oft Steine in den Weg legt. Der Abgrund, den Sie zwischen sich und der Welt spüren, ist real. Da lohnt es sich nachzuforschen, warum das so ist. Wenn Sie alle Aspekte des Problems studiert haben, wird Ihnen auch der Sinn der einzelnen Lösungsansätze klar.

Ich habe mein Ziel erreicht, wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches mit sich selbst versöhnt sind, mit diesem wunderbaren Gehirn, das die Natur Ihnen geschenkt hat. Damit Sie es zu Ihrem Besten nutzen können, müssen Sie nur lernen, damit umzugehen. Daher finden Sie in diesem Buch Tipps für den (neurologischen) Mechaniker, eine (emotionale und beziehungstechnische) Straßenkarte und bekommen dazu noch ein paar (mentale) Fahrstunden.

Wenn Sie zu viel denken, werden Sie in diesem Buch alle nötigen Erklärungen zur Funktionsweise Ihres Gehirns finden. Und viele, viele Tipps zum Umgang damit!

Dabei stütze ich mich auch auf andere Wissenschaftler und Autoren, auf die ich an geeigneter Stelle immer wieder hinweise. Es würde den Lesefluss allerdings beträchtlich stören, wenn ich überall genaue bibliografische Angaben eingefügt hätte. Daher nenne ich im Text immer nur den jeweiligen Buchtitel. Alle zitierten Bücher werden mit bibliografischen Angaben am Ende dieses Buches aufgeführt. Ganz besonders danken möchte ich an dieser Stelle Jill Bolte Taylor, Daniel Tammet, Tony Attwood und Béatrice Millêtre, die mich in meinen Studien wirklich weitergebracht haben. Das gilt aber auch für Arielle Adda und Jeanne Siaud Facchin. Ein herzliches Dankeschön auch ihnen!

1. Hochempfindliche Sensoren

Ce mec est too much – »Der Typ ist zu viel … Zu viel, zu viel, zu viel«, sangen die Coco-Girls in den 1980er-Jahren. Dieser Refrain bringt die Problematik der mentalen Hocheffizienz genau auf den Punkt: ein Zuviel von allem. Zu viele Gedanken, zu viele Fragen, zu viele Gefühle. Hocheffiziente lassen sich nur mit Superlativen beschreiben, genauer gesagt mit »Hyperlativen«. Sie sind hyperaktiv, hypersensibel, hyperemotional und so weiter. Ihr Erleben ist außergewöhnlich intensiv. Was sie auch berührt, ob positiv oder negativ, scheint sie in Schwingungen zu versetzen wie einen Kristall. Selbst kleine Zwischenfälle können sich zu großen Dramen auswachsen, vor allem, wenn sie im Kontrast zum Wertesystem des Betroffenen stehen. Mental Hocheffiziente verfügen über eine feinere Wahrnehmung, haben intensivere Gefühle als andere und eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Ihr gesamtes System der Sinnes- und Gefühlsverarbeitung ist hochempfindlich. Diese außergewöhnlich feine Wahrnehmung ist neurologisch bedingt und beginnt beim Erfassen der Wirklichkeit.

Wir sind mit fünf Sinnen ausgestattet, die uns ermöglichen, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen. Natürlich wissen wir, dass es Leute gibt, die schlechter hören oder sehen. Trotzdem stellen wir uns vor, dass alle Menschen die Realität auf dieselbe Weise wahrnehmen. Aber weit gefehlt. Jeder von uns sieht die Welt auf subjektive und einzigartige Weise. Nehmen wir folgendes Beispiel: Zehn Personen kommen in dieselbe Wohnung und beschreiben sie danach in allen Details. Und wir haben den Eindruck, als hätte jede dieser Personen eine andere Wohnung gesehen. Denn jeder von uns hat seinen bevorzugten Sinneskanal. Ein visuell veranlagter Mensch konzentriert sich auf das, was sich dem Auge darbietet: schöne Dinge, Farben, Lichtverhältnisse, die Aussicht und so weiter. Ein auditiver Typ registriert als Erstes, ob es still oder laut ist. Ein Kinästhetiker ist von der Wärme, Geräumigkeit oder Behaglichkeit der Wohnung angetan. Manche erfassen einen Ort sogar über den Geruchssinn. Sie nehmen abgestandenen Rauch oder stickige Luft wahr. Für jeden Menschen steht also ein bestimmter Aspekt der Realität im Vordergrund. Den Rest blendet er aus. Und selbst wenn zwei Personen dieselben Dinge wahrnehmen, unterscheiden sich die jeweiligen Eindrücke doch in ihrer Intensität. Bezeichnet eine Person den Ort als »etwas laut«, ist er für eine andere schon »wirklich sehr laut«. Ein dritter hat überhaupt nicht auf die Geräusche geachtet. Jeder hat sich auf ebenjene Informationen beschränkt, die er brauchte, um sich ein Bild von dem Ort zu machen. Mental Hocheffiziente nehmen mehr Informationen auf als der Durchschnittsmensch, und ihre Eindrücke sind intensiver. Dieses Phänomen nennt man Hochsensibilität. Ist eine der zehn Personen aus unserem Beispiel mental hocheffizient, erinnert sie sich an viel mehr Details als die meisten anderen. Ihr fallen auch winzige und belanglose Kleinigkeiten auf, die allen anderen völlig entgehen.

Hochsensibilität

Nachdem François zum ersten Mal in meiner Praxis war, hat er mir folgende E-Mail geschrieben:

Damit Sie verstehen, was ich Tag für Tag erlebe, möchte ich Ihnen von meinem ersten Besuch bei Ihnen erzählen. Bitte nehmen Sie nichts, was Sie hier lesen, persönlich.

Ich fahre durch das Eingangstor und frage mich, ob Ihr Wagen drinnen oder draußen steht. Während ich parke, versuche ich zu erraten, welcher es sein könnte. Ich denke, Sie mögen Autos. Aber ich sehe kein einziges, das irgendwie auffällig wäre. Ich muss mich getäuscht haben. Dann stehe ich vor dem Hauseingang. Ihre Namensschilder auf dem Briefkasten und der Klingel unterscheiden sich von denen der Osteopathen. Sie sind also nicht gleichzeitig eingezogen. Warum? Wo hatten Sie Ihre Praxis vorher? Vielleicht weiter von Ihrem Wohnort entfernt? Oder bei Ihnen zu Hause? War es für Ihre Patienten kein Problem, als Sie die Praxis verlegt haben? Ich betrete das Haus. Die Klingel an der Praxistür funktioniert nicht. Man sollte sie reparieren. Warum wurde das noch nicht erledigt? Ich gehe ins Wartezimmer. Es ist leer. Ob die Osteopathen viele Patienten haben? Sie selbst sind wohl so gut organisiert, dass es zu keinen Wartezeiten kommt. Die Zeitschriften sind etwas älteren Datums. Größtenteils sind es Ausgaben einer Zeitschrift, die für meinen Geschmack etwas zu hip ist. Haben Sie die Zeitschrift etwa abonniert? Vielleicht sogar, weil sie so hip ist? Ach du Schreck! Ich schaue aus dem Fenster. Nicht gerade toll, der Ausblick. Die Hecke ist zu nah am Fenster und versperrt einem die Sicht. Ich fühle mich beengt. Nun höre ich Ihre Stimme und stelle mir vor, wie Sie aussehen. Groß und kräftig. Ihre Absätze klappern über den Laminatboden. Das Geräusch mag ich nicht, es strahlt Kälte aus. Ich frage mich, warum Sie Absätze tragen, obwohl Sie groß sind. Jetzt stehen Sie vor mir. Bingo. Sie sehen genau so aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Sie geben mir die Hand zur Begrüßung. Lieber hätte ich Sie auf die Wange geküsst, um mehr Infos zu bekommen, aber das geht natürlich nicht. Ich begnüge mich also mit Ihrem Händedruck. Angenehm, kräftig, aber nicht zu stark. Sie tragen nur einen Hauch von Parfüm, vielleicht auch gar keines. Das ist mir lieber, ich hasse zu starke Düfte oder zu viel davon. Ich folge Ihnen in Ihr Sprechzimmer. Wo wohl die Osteopathen in der Praxis sind? Wie sie wohl arbeiten? Gleich der erste Raum ist Ihr Arbeitszimmer. Es ist ordentlich aufgeräumt, zu ordentlich. Es wirkt kalt auf mich, es fehlt eine große Pflanze. Derselbe bedrückende Ausblick. Der Schreibtisch ist fast leer, da liegen nur eine Menge Kugelschreiber. Es sind kaum zwei gleiche darunter, warum wohl? Der zweite Raum ist schon besser. Der rote Sessel gefällt mir, er sieht älter aus als der Rest des Mobiliars. Bestimmt stand er schon in Ihrer früheren Praxis. Wir setzen uns. Ich mustere Sie. Studiere Ihr Kleid (hatte schon im Flur damit begonnen). Knallbunt, eng anliegend. Man sieht, dass Sie keine Probleme haben mit Ihrem Körper. Sie gefallen sich, das spürt man. Ich vergleiche Ihr Haar mit den Fotos in Ihren Büchern. Es gefällt mir. Sie sind braun gebrannt, bestimmt sonnen Sie sich gerne am Strand. Schmuck tragen Sie fast keinen. Das passt zu Ihnen. Und wenn, dann würden Sie wohl irgendetwas Fantasievolles tragen, nichts Prestigeträchtiges oder Protziges. Ich betrachte eingehend Ihre Hände, das mache ich bei allen. Das Resultat fällt positiv aus. Das ist sehr wichtig für mich. Trotzdem entspanne ich mich nur ein klitzekleines bisschen. Ich bleibe misstrauisch. Ich sage mir, dass es für Sie kein Problem wäre, mich zu manipulieren. Diese Unmenge von Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, ist nicht ungewöhnlich. Das ist bei mir immer so. Vor meinem Termin bei Ihnen war ich im Zeitschriftenladen an der Ecke. Ich war nur drei Minuten dort, habe mir aber bestimmt zwanzig Fragen gestellt …

Diese Mail ist typisch dafür, wie ein Hocheffizienter seinen Alltag erlebt. Unzählige Informationen brechen über ihn herein, und er registriert eine unglaubliche Fülle von Details. Anhand dieser Daten versucht er, die fehlenden Puzzleteile zu erraten, und stellt sich Tausende von Fragen. Oft ist er dabei voller Misstrauen und sehr angespannt. Vor allem, wenn er jemandem zum ersten Mal begegnet.

Gehören auch Sie zu den Menschen, die zu viel denken? Dann zählen Sie vermutlich zu den von Hochsensibilität Betroffenen. Solche Menschen haben eine außergewöhnlich scharfe Sinneswahrnehmung. Ihr Geist ist ständig wach, ständig aktiv, praktisch in permanenter Alarmbereitschaft. Wie François besitzen solche Menschen die Fähigkeit, die kleinsten Details ihrer Umgebung wahrzunehmen, die den meisten Leuten verborgen bleiben. Hochsensible fühlen sich häufig gestört von Geräuschen, Licht oder Gerüchen, aber es ist ihnen meist nicht bewusst, dass diese Schwierigkeiten auf ihre überreaktiven Sinne zurückzuführen sind. Wenn ich meine Patienten darüber aufkläre, reagieren sie erst einmal mit Erstaunen. Im Verlauf unseres Gesprächs finden sie sich aber nach und nach in meinen Erklärungen wieder. Tatsächlich ist es auch bei ihnen so, dass sie extrem viele Details wahrnehmen und ein Musikstück schon nach den ersten paar Takten erkennen oder die Zutaten eines Gerichts beim Kosten herausschmecken. Aber sie wären nie auf die Idee gekommen, dass das nicht bei allen Leuten so ist. Schließlich erleben sie solche Phänomene zigmal am Tag. Wer um seine Hochsensibilität weiß, kennt meist nur ihre negativen Auswirkungen. Er macht sich Vorwürfe, weil er so reizempfindlich ist. »In manchen Geschäften ist die Musik so laut, dass ich auf dem Absatz kehrtmache«, sagt Nelly. Pierre hingegen hat Probleme mit visuellen Reizen: »Das grelle Neonlicht im Büro tut mir in den Augen weh. Aber ich bin eben auch der Einzige, der sich darüber beklagt. Und schon stehe ich als ewiger Nörgler da.« Bei anderen Hochsensiblen sind alle fünf Sinne gleichermaßen betroffen.

Visuelle Hochsensibilität

Wie wir aus François’ E-Mail erfahren haben, bedeutet visuelle Hochsensibilität, dass eine Person über eine extrem feine optische Wahrnehmung verfügt. Einzelheiten werden oft schon registriert, bevor sich die Person ein Gesamtbild macht. Es wäre interessant, die Eindrücke von François mit denen anderer Klienten zu vergleichen. François sind eine Unmenge winziger Details aufgefallen: die verschiedenen Kugelschreiber, der Ausblick aus dem Fenster, die Zeitschriften im Wartezimmer und die Tatsache, dass der Sessel schon etwas älter war. Seine Augen gleichen einem Laserstrahl, der ununterbrochen sämtliche Daten scannt. So hat er mich von Kopf bis Fuß in allen Einzelheiten erfasst: Schmuck, Kleidung, Frisur, Hände … Die meisten Menschen mögen so einen durchdringenden Blick nicht. Sie fühlen sich damit, als stünden sie vor einer Musterungskommission. Doch darum geht es mental hocheffizienten Menschen nicht. Sie wollen nicht urteilen. Vielmehr haben sie das Bedürfnis, andere genau zu verstehen. Manchmal geht es, wie bei François, auch darum, auf diese Weise mehr Sicherheit aufzubauen. Mitunter speichert das Gedächtnis dieser Menschen völlig belanglose Einzelheiten. Visuelle Hochsensibilität kann sich aber auch auf andere Weise äußern, zum Beispiel in einer gesteigerten Lichtempfindlichkeit.

Auditive Hochsensibilität

Auditiv Hochsensible sind in der Lage, gleichzeitig mehrere Geräusche zu registrieren. Sie nehmen das Radio wahr, aber auch das Gespräch im Hintergrund. Im selben Augenblick stören sie sich am Klappern des Geschirrs, das aus der Küche kommt und alles andere zu übertönen scheint. Ein so feines Gehör zu haben ist Fluch und Segen zugleich. Welch ein Genuss, in einem Musikstück einzig der Melodie des Saxophons folgen zu können, weil man es aus allen anderen Instrumenten herausfiltern kann! Aber welch eine Qual, wenn man als Einziger den Lärm eines entfernten Rasenmähers wahrnimmt, den man einfach nicht überhören kann. Oft hören Betroffene tiefe Töne besser als hohe und Geräusche aus der Ferne deutlicher als solche in ihrer Nähe. Hintergrundmusik während eines Gesprächs empfinden sie als störend, weil sie sie nicht ausblenden können. Dasselbe gilt für die Medien. Häufig werden bei Nachrichtensendungen im Fernsehen oder Radio die Schlagzeilen musikalisch unterlegt. Vielen Hocheffizienten fällt es schwer, der Stimme des Sprechers vor diesem Hintergrund zu folgen. Wie wir gesehen haben, verfügt auch François über diese besonders feine auditive Wahrnehmung. Er versucht, meiner Stimme zu folgen, nimmt den Klang meiner Schritte auf, empfindet das Geräusch als kalt und bemerkt, dass es in der Praxis still bleibt, wenn er auf den Klingelknopf drückt.

Kinästhetische Hochsensibilität (Hyperästhesie)

Viele Hocheffiziente nehmen Reize aus der Umgebung verstärkt wahr. Die Feuchtigkeit oder Trockenheit der Luft in einem Raum, Kälte oder Wärme, das Gefühl von »rau« oder »zart« auf der Haut, derartige Informationen werden kontinuierlich registriert. François meinte ja, dass er mich schon bei unserer ersten Sitzung gern zur Begrüßung auf die Wange geküsst hätte, wie das in Frankreich üblich ist. Aber er hat sich nicht getraut. Hyperästhetiker fragen übrigens oft, ob sie mich mit einem Wangenkuss begrüßen dürfen. Sie werden auch gern umarmt, wenn sie von ihren Emotionen übermannt werden. Dabei hegen sie keinerlei Hintergedanken. Eine warmherzige Umarmung tut ihnen einfach gut. So können sie die Flut der Gefühle, der sie ausgesetzt sind, besser bewältigen. Aber nicht nur das. Wie François erklärt, erlaubt ihnen der Körperkontakt, »mehr Informationen aufzunehmen«. Die in der traditionellen Psychotherapie geltende Regel, dass man seine Patienten nicht berührt, funktioniert bei Hocheffizienten nicht. Dafür ist ihr Sinn für kinästhetische Reize viel zu ausgeprägt.

Olfaktorische Hochsensibilität

Sehr viele Menschen benutzen ihren Geruchssinn nur selten, obschon er uns eine Menge Informationen liefern kann. Der Geruchssinn ist ein höchst animalischer Sinn. Ich necke meine Patienten gerne damit, dass ich ihre Nase als Hundeschnauze bezeichne. Manche kommen mit weit geblähten Nüstern in mein Büro, erschnuppern mein Parfüm und rümpfen die Nase, wenn ein anderer Klient auch nur einen Hauch von Tabak- oder Schweißgeruch hinterlassen hat. Florence bittet mich an manchen Tagen zu lüften, weil sie riecht, dass schon andere Menschen die Luft der Praxis geatmet haben. Die olfaktorische Hochsensibilität ist ein echter Glücksfall, wenn man sich vom Bukett eines großartigen Weines oder einer duftenden Blüte betören lässt. Sie kann jedoch zum Albtraum werden, wenn ein ekelerregender Gestank in der Luft liegt oder Duftspender aus dem Drogeriemarkt die Luft mit künstlichem Brioche- oder Vanillegeruch schwängern. Auch François hasst intensiv duftende Parfüms.

Gustatorische Hochsensibilität

Der Geruchssinn geht Hand in Hand mit dem Geschmackssinn. Hochsensible sind oft ausgesprochene Gourmets. Vertrauen sie auf ihren Instinkt, sind sie in der Lage, jede noch so zarte Note von Zimt oder Paprika auszumachen. Sie erraten die geografische Herkunft einer Kaffee- oder Schokoladensorte. Dass sie auch noch den kleinsten verdächtigen Nachgeschmack einer Speise ausmachen können, schützt sie in der Regel vor Lebensmittelvergiftungen.

Die meisten Menschen nehmen höchstens einen Bruchteil der Informationen auf, die ein mental Hocheffizienter registriert. Mitunter wird dies den mental Hocheffizienten auch bewusst. Dann haben sie den Eindruck, von stumpfsinnigen oder gefühllosen Menschen umgeben zu sein. Dieser Gedanke ist ihnen dann wieder unangenehm, daher verdrängen sie ihn auf der Stelle. Auf keinen Fall möchten sie so über andere urteilen. Lieber verdrängen sie den Unterschied, der sie so verunsichert. Doch dieser Unterschied hat seine neurologischen, objektiv fassbaren Gründe. Also trauen Sie sich und akzeptieren Sie die Wirklichkeit, wie sie ist. Das ist der erste Schritt zum Verständnis Ihrer Andersartigkeit. Beobachten Sie ruhig mal Ihr Umfeld. Wie viel Aufmerksamkeit schenken andere Menschen ihrer Umgebung? Das Resultat wird Sie überraschen. François zum Beispiel wurde schlagartig klar: »Deshalb also wirken andere Leute oft wie narkotisiert auf mich!«

Fast fotografisch

Diese Hochsensibilität betrifft sowohl die Quantität als auch die Qualität der Wahrnehmung. Einerseits erfassen Hochsensible ein breiteres Spektrum, und die empfangenen Eindrücke sind sehr detailliert und vielschichtig. Andererseits ist ihre Wahrnehmung auch qualitativ subtiler. Sie registrieren jede noch so feine Nuance zwischen zwei scheinbar gleichen Farbtönen oder die einzige falsche Note in einem ganzen Musikstück. Ihre Aufmerksamkeit ist von besonderer Intensität. Auch speichern sie viel mehr Details als andere Menschen. Und dann ist da noch der »fotografische« Aspekt ihrer Wahrnehmung.

Haben Sie schon einmal ein Kind dabei beobachtet, wie es einen Marienkäfer studiert? Seine Augen werden gleichsam zum Mikroskop. Es mustert das Tier genauestens und staunt über jedes Detail. Den Glanz des roten Panzers mit den schwarzen Punkten, die Facettenaugen, die zitternden Fühler und wie der Panzer geschmeidig auseinandergleitet, damit sich die fein geäderten, durchscheinenden Flügel entfalten können. Man spricht hier von »fotografischem« oder »eidetischem« Gedächtnis, ein Begriff, den wir auch auf die Wahrnehmung erweitern können. Was für ein Vergnügen, die samtige Textur eines Apfelkompotts auf der Zunge zu spüren. Welch ein Rausch, das strahlende Grün eines Blattes, das samtige Rot einer Blüte, das Funkeln eines Tautropfens wahrzunehmen! Wie die Haut doch die Weichheit von Kaschmir und die Glätte von Seide genießen kann! Wie das Ohr trunken wird vom perlenden Klavierspiel eines begnadeten Pianisten. Hochsensibilität heißt auch, dass Sie diesen qualitativen Reichtum besitzen, diese ausgeprägte Subtilität der Wahrnehmung. Überlegen Sie nur mal, wie wenige Menschen in Ihrer Umgebung – abgesehen von kleinen Kindern – mit so feinen Sensoren ausgestattet sind! Sie haben die Gabe, sich von der Welt so bezaubern zu lassen, dass sie Poesie wird, ein Kunstwerk.

Die Synästhesie

Bei den meisten mental Hocheffizienten ist die Hochsensibilität mit dem Phänomen der Synästhesie gepaart. Darunter versteht man die Überlagerung von Sinneskanälen. Ein Synästhetiker sieht Wörter in Farben oder Zahlen plastisch. Catherine beispielsweise berichtet: »Ich höre mit der Haut. Wenn jemand die exakt richtigen Worte verwendet, läuft mir ein Schauder über den Rücken, noch bevor ich ihren Sinn erfasst habe.« François hingegen empfindet das Geräusch meiner Absätze auf dem Fußboden als kalt. Seine auditive Wahrnehmung verbindet sich also mit dem Gefühl. Der Klang meiner Stimme vermittelt ihm ein Bild von mir. Er errät, dass ich groß und kräftig bin. Menschen, die Sinnesempfindungen auf diese Weise verknüpfen, haben ein enorm leistungsfähiges Gedächtnis. Deshalb erinnern sich mental Hocheffiziente an eine Menge Details, welche die Mehrheit der Leute als unbedeutend abtun würde.

Synästhetiker sind sich ihrer Fähigkeit selten bewusst. Wenn ich einen mental Hocheffizienten frage, ob er Synästhetiker sei, lautet die Antwort meist Nein. Natürlich widerspreche ich dem. Meine Erfahrung hat mich nämlich gelehrt, dass Hochsensibilität sehr oft mit Synästhesie einhergeht. Deshalb stelle ich meinen Klienten mitten in einem Gespräch ganz unvermittelt die Frage: »Welche Farbe hat das Wort Dienstag?« Die Antwort kommt prompt: »Gelb!« (Oder grün, das tut nichts zur Sache). Selbst erstaunt über seine Antwort, wehrt mein Klient ab, er habe das nur so gesagt, ohne zu überlegen. Genau das aber will ich überprüfen. Also frage ich etwas später ebenso unvermittelt, welche Farbe das Wort Tisch habe. Und wieder kommt die Antwort ohne Zögern: »Grün!« Jetzt ist mein Klient verwirrt. Ja, tatsächlich, die Wörter haben für ihn Farben. Das ist zwar irrational, aber es ist so. Kindheitserinnerungen werden wach: Das B hatte einen dicken Bauch, die 2 ähnelte einem goldenen Schwan, die 1 einem schwarzen Haken. Das Rauschen des Wasserfalls verursachte so ein Kribbeln im Magen, und der Duft nach gebratenem Hähnchen war aus einem unerfindlichen Grund gelb. Hören Sie also auf, sich selbst zu misstrauen. Nehmen Sie sich Zeit und rufen Sie sich in Erinnerung, welche merkwürdigen Vorstellungen Sie in Ihrer Kindheit hatten. Es kann gut sein, dass Sie diese einer synästhetischen Wahrnehmung verdanken.

Charakteristika der Wahrnehmung

Hochsensibilität bringt sich also immer wieder anders zum Ausdruck, je nachdem, welcher Sinn davon betroffen ist. Jeder Hochsensible reagiert auf ganz spezielle Reize. Ein auditiver Hochsensibler nimmt nur bestimmte Laute überdeutlich wahr. Ist bei einer Person die kinästhetische Wahrnehmung oder der Geschmackssinn stark ausgeprägt, reagiert sie auf die entsprechenden Reize mit starker Anziehung oder im Gegenteil mit lebhaftem Abscheu. Mitunter führt dies sogar zu Essstörungen, wenn zum Beispiel alles Weiche als eklig oder alles Orangefarbene als ungenießbar empfunden wird.

William gehört zu den Menschen, die vom Asperger-Syndrom betroffen sind. Das Zirpen der Grillen macht ihn wahnsinnig. Andere, auch lautere Hintergrundgeräusche dagegen stören ihn kein bisschen. Merkwürdigerweise spürt er keinen Schmerz, und auch unangenehme Gerüche lassen ihn kalt. Bestimmte synthetische Kleidungsstücke erträgt er nicht auf der Haut, während er das Gefühl von Pelz und Plüschtieren unter seinen Fingern so liebt, dass er sie kaum aus der Hand geben kann.

Ungebremste Informationsflut

Bis zu einem gewissen Punkt können Sie von Glück reden, wenn Sie zu den Hochsensiblen zählen, denn so kommen Sie an überdurchschnittlich viele Informationen über Ihre Umgebung. Sie sind geistig besonders aufgeweckt und überaus neugierig in Bezug auf die Welt da draußen. Die Schärfe Ihrer Sinne eröffnet Ihnen Zugang zu ungeahnten Genüssen. Aber Hochsensibilität kann die davon Betroffenen auch auslaugen. Sie wird schnell zur Beeinträchtigung, wenn die Sensoren allzu empfindlich sind und die Wahrnehmungen zu intensiv. Zu bunte oder zu wilde Muster schmerzen in den Augen. Das Licht ist zu grell, die Geräusche sind unerträglich laut, überhaupt dieser Lärm! Die Luft ist zu heiß, zu feucht oder zu trocken, sie wirkt wie elektrisch aufgeladen. Das Etikett am Kragen kratzt auf der Haut. Und ungewaschene Leute oder starkes Parfüm verursachen Übelkeit. Mental Hocheffiziente können ihre Wahrnehmung nämlich nicht einfach ausblenden und ihr sensorisches System regulieren. Auch dafür gibt es eine neurologische Erklärung: niedrige latente Inhibition.