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Der Killer kam immer nachts: Von 1976 bis 1986 ereignete sich in beschaulichen Vororten in Kalifornien eine Vergewaltigungs- und Mordserie, die das ganze Land erschütterte. Plötzlich stand der Mörder im Schlafzimmer und weckte seine Opfer mit dem grellen Schein seiner Taschenlampe. Immer wieder entkam er unerkannt in die Dunkelheit. Michelle McNamara war noch ein Kind, als dieser Killer umging. Als Erwachsene hat sie sich auf seine Spur begeben und über acht Jahre auf eigene Faust ermittelt. Um dem Mörder zu folgen, musste sie sich selbst in die Dunkelheit begeben: in den Kopf eines geisteskranken Menschen, der der Polizei auf unerklärliche Weise immer einen Schritt voraus blieb. Michelle McNamara kam dem Monster immer näher – und starb, kurz bevor sie ihr Buch fertigstellen konnte. Zwei Freunde beendeten es für sie. Nach Erscheinen wurde es zum Bestseller. Als der Killer kurz darauf endlich gefasst wurde, gab es schließlich auch eine letzte entsetzliche Antwort auf die Frage, wie es ihm gelungen war, so lange unerkannt zu bleiben.
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Seitenzahl: 475
Michelle McNamara
Ich ging in die Dunkelheit
Eine wahre Geschichte von der Suche nach einem Mörder
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper
© Atrium Verlag AG, Zürich, 2019
Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel I’ll Be Gone in the Dark bei HarperCollins Publishers, New York, im Imprint Tell Me Productions
© 2018 Tell Me Productions, Inc.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper
Lektorat: Heiko Arntz, Wedel
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Folio Images/Ivan Brodey
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03792-141-8
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Weder Butler noch Dienstmagd noch Blut auf der Treppe.
Weder exzentrische Tante noch Gärtner noch Freund der Familie
Lächeln zwischen all dem Krimskrams und Mord.
Nur ein Haus in der Vorstadt mit offener Tür
Und ein Hund, der Eichhörnchen verbellt, und die Autos
Auf der Straße. Die Leiche schon kalt. Die Ehefrau in Florida.
Dazu folgende Spuren: der Kartoffelstampfer in der Vase,
Das Foto des Basketballteams der Wesleyan University
Zerfetzt verstreut im Flur mit Scheckbelegen;
Der nicht abgeschickte Fan-Brief an Shirley Temple,
Der Hoover-Anstecker am Aufschlag der Toten,
Der Zettel: »So getötet zu werden, macht mir nichts aus.«
Kein Wunder, dass der Fall nie gelöst wurde
Oder dass der Schnüffler Le Roux unheilbar verrückt
Allein in einem weißen Hemd in einem weißen Raum hockt
Und schreit, die Welt sei verrückt, die Spuren
Führten ins Nichts oder zu Mauern, so hoch, dass man ihre Kronen nicht sieht;
Immerzu schreit er, es herrsche Krieg, schreit, nichts ließe sich lösen.
Weldon Kees, »Krimi-Club«
Eine 23-jährige Frau (in diesem Buch »Sheila« genannt) wird in ihrem Bett von einem maskierten Eindringling vergewaltigt. Es sollte der erste von Dutzenden Überfällen eines Mannes werden, den Presse und Polizei später als den »East Area Rapist« bezeichneten.
Der East Area Rapist (EAR) schlägt ein fünftes Mal zu und überfällt die 30-jährige Hausfrau Julie Miller.[1] Der Vergewaltiger wartet, bis der Ehemann des Opfers zur Arbeit geht, und dringt Minuten später ins Haus ein. Während der gesamten Tortur befindet sich der dreijährige Sohn des Opfers im Schlafzimmer.
Die 28-jährige Fiona Williams[2] und ihr Mann Phillip sehen sich dem EAR bei seinem 22. bekannten Überfall gegenüber – dem siebten, bei dem der Mann anwesend ist.
Die offizielle Anzahl der Fälle erreicht 40, als der EAR ein weiteres Paar überfällt: die 23-jährige Kathy[3] und ihren Mann David[4].
Die 32-jährige Esther McDonald[5] wird nachts geweckt, gefesselt und vergewaltigt, was sie zum 43. Opfer des EAR macht.
Eine mögliche Verbindung zu mehreren Einbrüchen und dem Mord an Claude Snelling wird untersucht.
Der Original Night Stalker (ONS) will ein Paar in seinem Haus angreifen; das Paar kann fliehen.
Der ONS ermordet Dr. Robert Offerman und Debra Alexandria Manning.
Der ONS ermordet Charlene und Lyman Smith.
Der ONS ermordet Patrice und Keith Harrington.
Der ONS ermordet Manuela Witthuhn.
Der ONS ermordet Cheri Domingo und Gregory Sanchez.
Der ONS ermordet Janelle Cruz.
Sheila* (Sacramento, 1976)
Jane Carson (Sacramento, 1976)
Fiona Williams* (South Sacramento, 1977)
Kathy* (San Ramon, 1978)
Esther McDonald* (Danville, 1978)
Claude Snelling (Visalia, 1978)†
Katie und Brian Maggiore (Sacramento, 1978)†
Debra Alexandria Manning und Robert Offerman (Goleta, 1979)
Charlene und Lyman Smith (Ventura, 1980)
Patrice und Keith Harrington (Dana Point, 1980)
Manuela Witthuhn (Irvine, 1981)
Cheri Domingo und Gregory Sanchez (Goleta, 1981)
Janelle Cruz (Irvine, 1986)
Jim Bevins – Ermittler, Sacramento County Sheriff’s Department
Ken Clark – Detective, Sacramento Sheriff’s Office
Carol Daly – Detective, Sacramento County Sheriff’s Department
Richard Shelby – Detective, Sacramento County Sheriff’s Department
Larry Crompton – Detective, Contra Costa County Sheriff’s Office
Paul Holes – Forensiker, Contra Costa County Sheriff’s Office
John Murdock – Leiter des kriminaltechnischen Labors des Contra Costa County Sheriff’s Office
Bill McGowen – Detective, Visalia Police Department
Mary Hong – Kriminaltechnikerin, kriminaltechnisches Labor Orange County
Erika Hutchcraft – Ermittlerin, Büro des Staatsanwalts von Orange County
Larry Pool – Ermittler, Countrywide Law Enforcement Unsolved Element (CLUE), Orange County Sheriff’s Department
Jim White – Kriminaltechniker, Orange County Sheriff’s Department
Fred Ray – Detective, Santa Barbara County Sheriff’s Office
* Pseudonym
† Nicht eindeutig dem Golden State Killer zugeordnet.
Vor dem »Golden State Killer« gab es das Mädchen. Michelle wird Ihnen von ihr erzählen. Die junge Frau Anfang zwanzig wurde in eine Gasse an der Pleasant Street gezerrt, ermordet und wie Unrat liegen gelassen. Das geschah in Oak Park, Illinois, wenige Straßen von Michelles trubeligem, irisch-katholischem Elternhaus entfernt.
Michelle, das jüngste von sechs Kindern, unterzeichnete ihre Tagebucheinträge mit »Michelle, Schriftstellerin«. Sie sagte, dieser Mord habe ihr Interesse an Kriminalfällen geweckt.
Wir hätten ein gutes (wenn vielleicht auch seltsames) Paar abgegeben. Zur gleichen Zeit fühlte ich mich als Teenager in Kansas City, Missouri, ebenfalls als aufstrebende Autorin, nur verpasste ich mir in meinem Tagebuch einen hochtrabenderen Namen: »Gillian die Große«. Wie Michelle wuchs ich in einer großen irischen Familie auf, besuchte eine katholische Schule, hegte eine Faszination für das Dunkle. Mit zwölf las ich eine gebraucht erstandene Ausgabe von Truman Capotes Kaltblütig und bin seitdem dem Genre »True Crime« treu geblieben.
Ich verschlinge Bücher über reale Kriminalfälle, aber dabei vergesse ich nie, dass ich damit die wahren Tragödien anderer Menschen als Literatur konsumiere. Und wie jede verantwortungsbewusste Konsumentin versuche ich, kritisch auszuwählen. Ich lese nur gute Autoren, das heißt solche, die anspruchsvoll, tiefgründig und voller Menschlichkeit schreiben.
An Michelle führte also kein Weg vorbei.
Ich hatte immer den Eindruck, dass bei den guten True-Crime-Autoren die menschliche Seite deutlich unterschätzt wird. Michelle McNamara versetzte sich mit erstaunlichem Talent nicht nur in die Gedankenwelten von Mördern, sondern auch in die der Polizisten, der Opfer und der trauernden Angehörigen. Als Erwachsene las ich regelmäßig ihren beeindruckenden Blog True Crime Diary. »Schreib ihr doch mal«, drängte mich mein Mann immer wieder. Sie stammte aus Chicago, ich lebte in Chicago, wir beide waren Mütter, die einen ungesund großen Teil ihrer Zeit damit verbrachten, die dunklen Seiten der Menschheit zu betrachten.
Ich widerstand dem Drängen meines Mannes. Ansatzweise nahe kam ich ihr allenfalls, als ich einmal ihre Tante auf einer meiner Lesungen kennenlernte. Sie lieh mir ihr Handy, und ich schrieb Michelle eine Kurznachricht, die eindeutig nicht zu einer Schriftstellerin passte, so etwas wie: »Sie sind total cool!!!«
Ehrlich gesagt war ich nicht ganz sicher, ob ich diese Autorin kennenlernen wollte. Ich fühlte mich ihr unterlegen. Als Romanautorin erfinde ich meine Figuren einfach. Michelle dagegen musste sich mit realen Tatsachen befassen und der Chronologie der Ereignisse folgen. Sie musste das Vertrauen argwöhnischer, abgespannter Ermittler gewinnen, sich durch Berge von Unterlagen wühlen, die vielleicht die entscheidende Information enthielten, musste bei Angehörigen und Freunden der Opfer um Verständnis bitten, wenn sie mit ihren Fragen alte Wunden aufriss.
All das tat sie mit einer gewissen Größe. Sie schrieb nachts, wenn ihre Familie schlief, in einem Zimmer, dessen Boden mit dem Bastelpapier ihrer Tochter übersät war, und notierte sich mit Buntstift Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch Kaliforniens.
Als True-Crime-Leserin kenne ich einen Haufen übler Verbrecher, aber den Mann, den Michelle später den Golden State Killer nannte, lernte ich erst kennen, als Michelle über diesen albtraumhaften Täter schrieb. Er war für fünfzig Vergewaltigungen und mindestens zehn Morde in Kalifornien in den Siebzigern und Achtzigern verantwortlich. Der Fall war Jahrzehnte alt. Zeugen und Opfer waren weggezogen oder verstorben oder hatten mit ihm abgeschlossen. Er erstreckte sich über mehrere Zuständigkeitsbereiche im südlichen und auch nördlichen Teil Kaliforniens und füllte unzählige Akten, die noch nicht von den Segnungen der DNA-Analyse profitiert hatten. Nur sehr wenige Autoren würden sich eines solchen Falls annehmen, noch weniger wären dabei erfolgreich.
Michelle arbeitete dabei mit einer unglaublichen Hartnäckigkeit. Ein typisches Beispiel waren die Manschettenknöpfe, die 1977 an einem Tatort in Stockton gestohlen worden waren und die sie auf der Website eines Retro-Ladens in Oregon auftrieb. Und nicht nur das, sie konnte einem auch sagen, dass »Jungennamen mit dem Anfangsbuchstaben N recht selten vorkamen; in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, in denen der ursprüngliche Besitzer wahrscheinlich geboren wurde, tauchte in den Listen der hundert beliebtesten nur einmal ein solcher Name auf«. Das war wohlgemerkt kein Hinweis, der zum Mörder führte, der Hinweis führte zu den Manschettenknöpfen, die der Mörder gestohlen hatte. Diese Akribie, wenn es um Einzelheiten ging, war typisch für sie. Wie Michelle schrieb: »Einmal habe ich einen ganzen Nachmittag lang so viele Details wie möglich über einen Spieler der Wasserpolomannschaft von 1972 der Rio Americano High School herausgefunden, weil er auf seinem Jahrbuchfoto aussah, als wäre er schlank und hätte kräftige Waden« – ein mögliches körperliches Merkmal des Golden State Killer.
Wenn Autoren bei ihren Recherchen so viel Blut und Wasser schwitzen, neigen sie dazu, sich in Details zu verlieren. Ihre Fokussierung auf nackte Daten und Fakten trübt leicht ihren Blick für die Zwischentöne des Lebens.
Ich ging in die Dunkelheit dagegen ist nicht nur ein großartiger Tatsachenbericht, sondern auch eine Momentaufnahme der Zeit, des Ortes und der Menschen. Michelle erweckt die kalifornischen Wohnsiedlungen neben den Orangenhainen zum Leben, die gläsernen Neubauten, in denen die Opfer zu den Hauptfiguren ihrer eigenen Horrorgeschichten wurden, die Städte am Fuß der Berge, die jedes Jahr von Tausenden paarungsbereiten Vogelspinnen heimgesucht wurden. Und die Menschen, guter Gott, die Menschen – entspannte Exhippies; frisch verheiratete, hoffnungsvolle Paare; eine Mutter und ihre Teenagertochter, die über Freiheit und Verantwortung und Badeanzüge stritten, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde …
Ich war von Anfang an gefesselt. Und Michelle ging es offenbar genauso. Doch ihre jahrelange Jagd nach dem Golden State Killer forderte einen hohen Tribut: »In meiner Kehle steckt fortwährend ein Schrei.«
Michelle starb überraschend mit sechsundvierzig Jahren, bevor sie dieses bemerkenswerte Buch beenden konnte. Sie werden von ihren Kollegen alles Weitere über den Fall lesen, aber die Identität des Golden State Killer zu ermitteln – die Auflösung des Krimis zu liefern –, blieb ihr versagt.
Mir war seine Identität vollkommen egal. Ich wollte, dass er geschnappt wird. Wer er ist, interessierte mich nicht. Es ist immer ernüchternd, einem solchen Mann ins Gesicht zu blicken, und noch mehr, ihm einen Namen zuzuordnen. Wir wissen, was er getan hat. Jede Information darüber hinaus wirkt unweigerlich banal, in gewisser Weise klischeehaft: »Meine Mutter war grausam. Ich hasse Frauen. Ich hatte nie eine Familie …« Und so weiter. Ich will etwas über echte normale Menschen erfahren und nicht über kaputte Typen lesen. Auch über Michelle wollte ich mehr erfahren. Während sie ihre Suche nach dieser Schattengestalt ausführlich beschrieb, hielt ich unwillkürlich Ausschau nach Hinweisen zu dieser Autorin, die ich bewunderte. Wer war die Frau, der ich so sehr vertraute, dass ich ihr in diesen Albtraum folgte? Wie war sie? Wodurch war sie so geworden? Was hatte ihr diese Größe verliehen? An einem Sommertag fuhr ich die zwanzig Minuten von meinem Haus in Chicago nach Oak Park, zu der Gasse, in der man »das Mädchen« gefunden hatte – und wo sich Michelle ihrer Berufung als Schriftstellerin bewusst geworden war. Erst vor Ort begriff ich, warum ich dort war. Ich war dorthin gefahren, weil ich mich selbst auf der Suche befand, weil ich diese bemerkenswerte Jägerin der Dunkelheit jagte.
Gillian Flynn
In diesem Sommer habe ich den Serienkiller nachts vom Spielzimmer meiner Tochter aus gejagt. Zuerst befolgte ich die abendlichen Rituale aller normalen Menschen. Putzte mir die Zähne. Zog einen Pyjama an. Aber wenn mein Mann und meine Tochter eingeschlafen waren, schlich ich mich in mein provisorisches Büro und öffnete mein Laptop – ein fünfzehn Zoll großes Fenster in eine Welt der unendlichen Möglichkeiten. In unserem Wohnviertel nordwestlich der Innenstadt von Los Angeles ist es nachts überraschend still. Manchmal hörte ich als einziges Geräusch das Tippen auf dem Touchpad, wenn ich mich per Google Street View den Auffahrten von Männern näherte, die ich nicht kannte. Ich saß fast reglos da und sprang doch mit wenigen Klicks Jahrzehnte in die Vergangenheit. Jahrbücher. Hochzeitsurkunden. Verbrecherfotos. Ich ging Tausende Seiten Polizeiakten aus den Siebzigern durch. Ich studierte Autopsieberichte. Dabei war ich umgeben von Dutzenden von Stofftieren und rosa Minibongos, aber das störte mich nicht. Ich hatte den richtigen Platz für meine Suche gefunden, einen Rückzugsort, wie ihn jede Obsession braucht. Meiner war übersät mit Malpapier, auf dem ich mit Buntstiften kalifornische Strafrechtsparagrafen notierte.
Gegen Mitternacht des 3. Juli 2012 öffnete ich ein Dokument mit einer Liste aller Wertgegenstände, die er im Laufe der Jahre gestohlen hatte. Etwas mehr als die Hälfte hatte ich fett markiert – allesamt Sackgassen. Meine nächste Suche galt Manschettenknöpfen, die im September 1977 in Stockton entwendet wurden. Zu diesem Zeitpunkt war der Golden State Killer, wie ich ihn mittlerweile getauft hatte, noch nicht zum Mörder geworden. Er war ein Serienvergewaltiger, den man den »East Area Rapist« nannte. Er überfiel Frauen und Mädchen in ihren Schlafzimmern, anfangs im Osten von Sacramento County, dann drang er in die Orte im Central Valley und in der East Bay von San Francisco vor. Er war jung – zwischen achtzehn und dreißig –, weiß und sportlich. Auf der Flucht konnte er hohe Zäune überspringen. Als Ziel bevorzugte er einstöckige Häuser (möglichst das vorletzte vor der nächsten Straßenkreuzung), in Wohnvierteln der Mittelklasse. Er trug immer eine Maske.
Präzision und ein starker Selbsterhaltungstrieb gehörten zu seinen charakteristischen Merkmalen. Wenn er ein Opfer ins Visier nahm, drang er oft vorher ins Haus ein, wenn niemand dort war, betrachtete Familienfotos, machte sich mit der Raumaufteilung vertraut. Er setzte Verandalampen außer Betrieb und entriegelte Schiebetüren. Aus Waffen entfernte er die Munition. Arglose Hausbesitzer ließen ihre vorher verschlossenen Tore geöffnet, und wenn er Bilderrahmen verrückt hatte, stellten die Bewohner sie wieder an ihren Platz und dachten sich nichts dabei. Die Opfer schliefen sorglos, bis sie im grellen Licht seiner Taschenlampe erwachten. Sie waren geblendet und desorientiert. Schlaftrunkene Gedanken begannen zu rasen. Eine Gestalt, die sie nicht sehen konnten, richtete die Lampe auf sie, aber wer und warum? Ihre Angst konzentrierte sich auf die Stimme, die sie hörten, auf das kehlige Flüstern durch zusammengebissene Zähne, schroff und bedrohlich. Einige Opfer berichteten, er habe manchmal gestottert und zittrig oder mit höherer Stimme gesprochen, als habe der maskierte Fremde in der Dunkelheit nicht nur sein Gesicht verbergen wollen, sondern auch eine tiefe Unsicherheit.
Der Fall in Stockton im September 1977, bei dem er die Manschettenknöpfe stahl, war sein dreiundzwanzigster Überfall nach einer exakt eingehaltenen Sommerpause. Das Scharren der Haken an der Gardinenstange weckte eine neunundzwanzigjährige Frau um halb zwei Uhr morgens in ihrem Schlafzimmer im Nordwesten von Stockton. Sie setzte sich leicht auf. Im Licht der Verandalampe zeichnete sich eine Silhouette in der Tür ab. Das Bild verschwand, als der Strahl der Taschenlampe ihr Gesicht fand und sie blendete. Als ungebremste Macht stürmte er auf ihr Bett zu. Den letzten Überfall hatte er Ende Mai am Memorial-Day-Wochenende begangen. Nun war es Anfang September, der Dienstag nach Labor Day. Der Sommer war vorbei. Er war wieder da.
Jetzt hatte er es auf Paare abgesehen. Das weibliche Opfer versuchte dem Polizisten, der den Fall aufnahm, den üblen Körpergeruch ihres Angreifers zu beschreiben. Es fiel ihr schwer, ihn zu benennen. Er stammte nicht von mangelnder Hygiene, sagte sie. Der Geruch kam weder aus den Achseln noch aus dem Mund. Laut Polizeibericht konnte das Opfer ihn nur als einen Geruch der Nervosität beschreiben, der von keinem bestimmten Körperteil ausging, sondern aus jeder Pore strömte. Der Polizist fragte, ob sie es genauer schildern könne. Sie konnte es nicht. Weil sie so etwas vorher noch nie gerochen hatte.
Wie bei anderen Taten in Stockton behauptete er, er sei auf Geld aus, ignorierte es dann aber, als er es vor sich hatte. Er wollte Gegenstände, die für seine Opfer persönlichen Wert besaßen: gravierte Eheringe, Führerscheine, Souvenirmünzen. Die Manschettenknöpfe waren ein Familienerbstück, in den Fünfzigerjahren gefertigte Unikate, auf denen die Initialen N. R. eingraviert waren. Am Seitenrand seines Berichts hatte der Polizist die Schmuckstücke grob skizziert. Ich wollte recherchieren, ob sie mit ihren Initialen vielleicht ungewöhnlich waren. Bei einer Internetsuche fand ich heraus, dass Jungennamen mit dem Anfangsbuchstaben N recht selten waren. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren, in denen der ursprüngliche Besitzer wahrscheinlich geboren wurde, tauchte in den Listen der hundert beliebtesten Namen sogar nur ein solcher Name auf. Ich gab eine Beschreibung der Manschettenknöpfe bei Google ein und drückte die Eingabetaste.
Es ist recht vermessen zu glauben, man könne einen verwickelten Serienmörderfall aufklären, den eine Sondereinheit aus fünf kalifornischen Gerichtsbezirken mit Unterstützung des FBI nicht hatte lösen können, vor allem, wenn die Ermittlungsarbeit wie bei mir Marke Eigenbau ist. Mein Interesse an Verbrechen wurzelt in einem persönlichen Erlebnis. Als ich vierzehn war, weckte der ungelöste Mord an einer Nachbarin in mir eine Faszination für ungeklärte Fälle. Mit dem Aufkommen des Internets wuchs sich mein bloßes Interesse zu einer aktiven Beschäftigung aus. Als immer mehr offizielle Dokumente online gestellt und die Suchmaschinen weiterentwickelt wurden, erkannte ich die Möglichkeiten, die sich einem neugierigen, an Kriminalfällen interessierten Menschen boten, und schuf 2006 die Website True Crime Diary. Wenn meine Familie schlafen geht, reise ich durch die Zeit und füge mithilfe der Technologie des 21. Jahrhunderts alte Ermittlungsergebnisse neu zusammen. Ich klicke mich durchs Internet auf der Suche nach digitalen Spuren, die öffentliche Stellen übersehen haben könnten, kombiniere digitalisierte Telefonbücher, Jahrbücher und Google-Earth-Ansichten von Tatorten – ein unerschöpfliches Reservoir möglicher Hinweise für die Laptop-Ermittlerin. Und meine Theorien teile ich mit den treuen Leserinnen und Lesern meines Blogs.
Ich habe über zahllose ungelöste Verbrechen geschrieben, von Chloroform-Mördern bis zu Killer-Priestern. Der Golden State Killer allerdings hat mich am stärksten in seinen Bann geschlagen. Neben fünfzig sexuellen Gewalttaten im Norden Kaliforniens war er für zehn sadistische Morde in Südkalifornien verantwortlich. Dieser Fall erstreckte sich über ein Jahrzehnt und brachte den Staat dazu, die Gesetze über den Umgang mit DNA-Beweisen zu ändern. Weder der Zodiac-Killer, der San Francisco Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre terrorisierte, noch der Night Stalker, wegen dem die Menschen in Südkalifornien in den Achtzigern ihre Fenster verriegelten, war so aktiv. Trotzdem wurde der Golden State Killer kaum zur Kenntnis genommen. Er besaß keinen einprägsamen Namen, bis ich einen erfand. Er schlug in verschiedenen Gerichtsbezirken Kaliforniens zu, die nicht immer ihre Informationen austauschten. Als DNA-Tests enthüllten, dass Verbrechen, zwischen denen man keinen Zusammenhang vermutet hatte, einem einzigen Mann zuzuschreiben waren, lag sein letzter bekannter Mord mehr als zehn Jahre zurück, und seine Ergreifung galt nicht als dringlich. Er lebte weiter auf freiem Fuß, offensichtlich unauffällig und nicht identifiziert.
Doch er quälte immer noch seine Opfer. 2001 nahm eine Frau in Sacramento in dem Haus, in dem sie vierundzwanzig Jahre zuvor überfallen worden war, das Telefon ab. »Weißt du noch, wie wir gespielt haben?«, flüsterte ein Mann. Sie erkannte die Stimme sofort. Mit seinen Worten spielte er darauf an, was er in Stockton gesagt hatte, als die sechsjährige Tochter des Paares aufgestanden und ihm auf dem Weg ins Bad begegnet war. Etwa sieben Meter vor ihr hatte er gestanden, mit einer braunen Skimaske und schwarzen Strickhandschuhen und ohne Hose. Er hatte einen Gürtel mit einer Art Schwert darin getragen. »Ich spiele mit Mama und Papa«, hatte er gesagt. »Komm und schau zu.«
Ich verbiss mich in den Fall, weil ich das Gefühl hatte, man müsste ihn lösen können. Das Trümmerfeld, das er hinterlassen hatte, war gleichzeitig zu groß und zu klein, es gab so viele Opfer, so viele Spuren, aber in einem relativ überschaubaren Gebiet. Dadurch wurde es leichter, Daten über potenzielle Verdächtige zu sammeln. Der Fall nahm mich bald ganz gefangen. Ich befand mich auf der Jagd, klickte fieberhaft von Seite zu Seite und tippte mich in einen Dopaminrausch. Dabei war ich nicht allein. Ich fand eine Gruppe von Fanatikern, die in einem Online-Forum zusammenkamen und Hinweise und Theorien über den Fall austauschten. Ich schob sämtliche Vorurteile beiseite und verfolgte ihre Diskussion, las alle zwanzigtausend Posts, zu denen immer neue hinzukamen. Die unheimlichen Typen mit fragwürdigen Motiven ignorierte ich und konzentrierte mich auf die echten Jäger. Gelegentlich tauchte ein neuer Hinweis im Forum auf – etwa ein Foto von einem Aufkleber auf einem verdächtigen Fahrzeug, das jemand in der Nähe eines Tatorts gesehen hatte: der Versuch von Crowdsourcing von überlasteten Ermittlern, die immer noch an dem Fall saßen.
Für mich war er kein Geist. Ich baute auf menschliches Versagen. Irgendwann hatte er einen Fehler gemacht, davon war ich überzeugt.
In der Sommernacht, in der ich den Manschettenknöpfen nachspürte, war ich seit fast einem Jahr von dem Fall besessen. Ich benutze gerne gelbe linierte Schreibblöcke, vor allem die ersten zehn Seiten, wenn alles noch ordentlich und hoffnungsvoll wirkt. Das Spielzimmer meiner Tochter war mit nur teilweise vollgeschriebenen Blöcken übersät – eine verschwenderische Angewohnheit, die meine Geistesverfassung widerspiegelte. Jeder Block war eine Spur, die ich verfolgt hatte, bei der ich aber nicht weiterkam. Rat suchte ich bei den pensionierten Ermittlern, die an dem Fall gearbeitet hatten und von denen ich viele mittlerweile als Freunde betrachtete. Sie hatten irgendwann die Hoffnung verloren, aber das hielt sie nicht davon ab, mich zu ermutigen. Die Jagd nach dem Golden State Killer, die beinahe vier Jahrzehnte andauerte, kam mir weniger wie ein Staffellauf vor, eher wie eine sonderbare Seilschaft, die versucht, einen Berg zu besteigen. Die betagten Jungs mussten aufgeben, bestanden aber darauf, dass ich weiterging. Bei einem beklagte ich mich, es käme mir vor, als würde ich nach Strohhalmen greifen.
»Soll ich dir was raten? Schnapp dir den Strohhalm«, sagte er. »Klammere dich an allem fest, was du in die Hände bekommst.«
Die gestohlenen Wertgegenstände waren mein letzter Strohhalm. Und ich war wenig optimistisch. Am Wochenende des 4. Juli wollten meine Familie und ich nach Santa Monica fahren. Ich hatte noch nicht gepackt. Die Wettervorhersage klang wenig vielversprechend. Dann sah ich es, ein einzelnes Foto unter Hunderten, die mein Laptop auf den Bildschirm geladen hatte: Manschettenknöpfe, die zur Zeichnung in der Polizeiakte passten, mit den dazugehörigen Initialen. Immer wieder verglich ich die grobe Skizze des Polizisten mit dem Bild auf meinem Monitor. Die Schmuckstücke wurden für acht Dollar in einem Retro-Laden in einer Kleinstadt in Oregon angeboten. Sofort bestellte ich sie und zahlte vierzig Dollar für eine Lieferung per Nachtexpress. Ich ging durch den Flur zu unserem Schlafzimmer. Mein Mann lag auf der Seite und schlief. Ich setzte mich neben ihn auf die Bettkante und wartete, bis er die Augen öffnete.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden«, sagte ich.
Mein Mann musste nicht fragen, wer »er« war.
Als die Polizisten mit der Spurensicherung im Haus fertig waren, sagten sie zu Drew Witthuhn: »Es gehört Ihnen.« Das gelbe Flatterband wurde abgenommen, die Haustür geschlossen. Die nüchterne, präzise Arbeit der Dienstmarkenträger hatte geholfen, von dem Fleck abzulenken. Jetzt konnte er ihm nicht mehr ausweichen. Das Schlafzimmer seines Bruders und seiner Schwägerin lag gleich neben der Haustür, gegenüber von der Küche. Als Drew an der Spüle stand, musste er nur den Kopf nach links drehen, um die dunklen Spritzer an der weißen Wand über Davids und Manuelas Bett zu sehen.
Drew war stolz darauf, dass ihn so schnell nichts aus der Fassung brachte. An der Polizeischule wurde man darauf trainiert, mit schlimmen Situationen fertigzuwerden. Wer seinen Abschluss machen wollte, musste Nerven wie Drahtseile haben. Aber bis zum Abend des 6. Februar 1981, einem Freitag, als die Schwester seiner Verlobten an seinem Tisch im Rathskeller Pub in Huntington Beach auftauchte und atemlos sagte: »Drew, ruf deine Mom an«, hätte er nicht gedacht, dass er diese Fähigkeit – die Ruhe zu bewahren, wenn alle anderen durchdrehten und schrien – so bald oder im persönlichen Umfeld brauchen würde.
David und Manuela wohnten in der Columbus Nr. 35, einem einstöckigen Haus inmitten einer Reihensiedlung in Northwood, einem Neubaugebiet in Irvine. Ihr Wohnviertel drang als Ausläufer der Vorstadt auf das Gebiet der alten Irvine-Ranch vor, das immer noch von Orangenhainen geprägt war. Neben dem Beton und Asphalt fanden sich noch schnurgerade Baumreihen, ein Verpackungsbetrieb und ein Lager für die Pflücker. Die Zukunft der sich wandelnden Landschaft war jedoch besiegelt: Das Dröhnen der Zementlaster übertönte längst die schwindende Zahl der Traktoren.
Obwohl Northwood am Reißbrett entworfen wurde, bemühte man sich um einen Anstrich von Vornehmheit. Hoch aufragende Eukalyptusbäume, die Bauern in den Vierzigerjahren als Schutz vor den unerbittlichen Santa-Ana-Winden gepflanzt hatten, wurden nicht gefällt, sondern versetzt. Die Bauunternehmen bepflanzten mit ihnen die Mittelstreifen der Hauptstraßen und die Grünanlagen der Wohnviertel. Davids und Manuelas Wohnsiedlung Shady Hollow umfasste 137 Häuser mit vier verschiedenen Grundrissen. Sie hatten sich für den Grundriss 6014 entschieden – The Willow –, drei Schlafzimmer, 142 Quadratmeter. Als das Haus Ende 1979 fertiggestellt war, zogen sie ein.
Auf Drew machte das Haus einen sonderbar erwachsenen Eindruck – obwohl David und Manuela nur fünf Jahre älter als er waren. Zum einen war es nagelneu. Die ganze Küche glänzte noch. Das Innere des Kühlschranks roch nach Kunststoff. Und es war geräumig. Drew und David waren in einem fast ebenso großen Haus aufgewachsen, aber dort hatten sich sieben Menschen zusammengedrängt. Sie hatten ungeduldig gewartet, bis die Dusche frei wurde, und sich am Esstisch mit den Ellbogen angestoßen. David und Manuela stellten in einem der drei Schlafzimmer ihre Fahrräder unter, in dem anderen freien Zimmer bewahrte David seine Gitarre auf.
Drew gestand es sich nicht gerne ein, aber er beneidete seinen großen Bruder. David und Manuela waren seit fünf Jahren verheiratet, beide waren fest angestellt. Sie arbeitete als Kreditbearbeiterin bei der California First Bank, er war Verkäufer bei einem Mercedes-Benz-Händler. Zusammen träumten sie den Traum der Mittelschicht. Sie diskutierten oft darüber, ob sie vor dem Haus pflastern lassen sollten und wo man gute orientalische Teppiche herbekam. Das Haus Nr. 35 in der Columbus war eine Kontur, die ausgefüllt werden wollte. Es steckte voller Verheißungen. Verglichen damit fühlte Drew sich unreif und unzulänglich.
Manuela Witthuhn, ermordet am 6. Februar 1981 in Irvine, Kalifornien.
Nach der ersten Hausbesichtigung besuchte Drew sie nur selten. Es herrschte kein offener Groll zwischen ihnen, aber doch eine gewisse Missstimmung. Manuela, das einzige Kind deutscher Einwanderer, konnte überraschend schroff sein. Wenn sie fand, einer ihrer Kollegen müsse zum Friseur, sagte sie es unverblümt. In einem Notizbuch hielt sie – auf Deutsch – fest, was ihre Kollegen falsch machten. Sie war schlank und hübsch und hatte markante Wangenknochen und Brustimplantate. Nach der Hochzeit hatte sie sich operieren lassen, weil sie kleine Brüste hatte und David, wie sie einer Kollegin mit einem abfälligen Schulterzucken erzählte, offenbar große bevorzugte. Ihre neue Figur stellte sie nicht gern zur Schau. Im Gegenteil, sie trug am liebsten Rollkragenpullover und verschränkte die Arme vor der Brust, als würde sie mit abfälligen Kommentaren rechnen.
Drew sah, dass die Beziehung seinem eher verschlossenen, zurückhaltenden Bruder guttat. Er selbst fühlte sich nach Treffen mit den beiden allerdings oft geknickt, weil ihm Manuelas Krittelei aufs Gemüt schlug.
Anfang Februar 1981 erfuhr Drew, dass es David nicht gut ging und er im Krankenhaus lag. Er hatte seinen Bruder schon länger nicht gesehen und plante auch nicht, ihn zu besuchen. Manuela hatte David am Montag, dem 2. Februar, ins Santa Ana-Tustin Community Hospital gebracht, wo er mit einer schweren Magen-Darm-Infektion aufgenommen wurde. An den folgenden Tagen aß sie bei ihren Eltern zu Abend und besuchte dann David in Zimmer 320 des Krankenhauses. Tagsüber und abends telefonierten sie. Freitagvormittag versuchte David, Manuela in der Bank zu erreichen, doch ihre Kollegen sagten, sie sei nicht zur Arbeit erschienen. Er rief zu Hause an, aber es nahm niemand ab, was ihn wunderte. Nach dem dritten Klingeln sprang jeweils der Anrufbeantworter an. Manuela konnte das Gerät nicht bedienen. Als Nächstes rief er ihre Mutter Ruth an, die sich bereit erklärte, zum Haus zu fahren und nach ihrer Tochter zu sehen. Als die Tür nicht geöffnet wurde, schloss sie mit ihrem eigenen Schlüssel auf. Wenige Minuten später erhielt Ron Sharpe[6], ein enger Freund der Familie, einen Anruf der hysterischen Ruth und fuhr sofort zum Haus.
»Ich habe nur nach links geschaut und das ganze Blut gesehen, das überall an der Wand klebte«, sagte Sharpe den Detectives. »Ich begreife nicht, wie es von da, wo sie lag, an die Wand gekommen ist.«
Nach diesem einen Blick wandte er sich ab und sah nie wieder in das Zimmer.
Manuela lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett. Sie trug einen Bademantel aus braunem Velours und war zum Teil in einen Schlafsack gewickelt, in den sie sich manchmal gehüllt hatte, wenn ihr kalt war. An ihren Hand- und Fußgelenken fanden sich rote Striemen, Hinweise auf Fesseln, die entfernt worden waren. Ein großer Schraubenzieher lag auf der betonierten Terrasse einen halben Meter neben der gläsernen Schiebetür. Das Schloss der Tür war aufgebrochen worden. Der 19-Zoll-Fernseher stand in der südwestlichen Ecke des Gartens vor dem hohen Holzzaun. Die Ecke des Zauns klaffte auseinander, als hätte jemand gegen ihn getreten oder wäre mit Schwung über ihn hinweggeklettert. Die Ermittler entdeckten Schuhabdrücke mit kleinen kreisförmigen Mustern im Garten vor und hinter dem Haus und auf dem Gaszähler an der Ostseite.
Als eine der ersten Auffälligkeiten bemerkten die Ermittler, dass es im Schlafzimmer keine eigene Lichtquelle gab, es wurde nur durch das Bad erhellt. Sie fragten David danach. Er war bei Manuelas Eltern, wo sich Angehörige und Freunde nach der Nachricht versammelt hatten, um einander in ihrer Trauer beizustehen. Laut den Ermittlern war David am Boden zerstört und wirkte benommen, er konnte sich kaum auf ihre Fragen konzentrieren. Seine Antworten liefen ins Leere. Er wechselte abrupt das Thema. Die Frage nach dem Licht verwirrte ihn.
»Wo ist die Lampe?«, fragte er.
Eine Lampe mit quadratischem Fuß und einem kugelförmigen Schirm aus verchromtem Metall, die auf der Stereoanlage links neben dem Bett gestanden hatte, fehlte. Das ließ die Polizei schon vermuten, mit welchem schweren Gegenstand Manuela erschlagen worden war.
David wurde gefragt, ob er wisse, warum das Band aus dem Anrufbeantworter fehle. Verdutzt schüttelte er den Kopf. Er könne es sich nur so erklären, sagte er, dass Manuelas Mörder auf das Band gesprochen hatte.
Der Vorfall war äußerst ungewöhnlich für Irvine, in dem kaum je Verbrechen begangen wurden. Einige Polizisten witterten einen inszenierten Tatort. Mehrere Schmuckstücke fehlten, und der Fernseher war in den Garten geschleppt worden. Aber welcher Einbrecher ließ seinen Schraubenzieher zurück? Sie fragten sich, ob Manuela den Mörder gekannt hatte: Ihr Mann verbringt die Nacht im Krankenhaus. Sie lädt einen Bekannten ein. Es kommt zu Gewalt, er schnappt sich die Kassette aus dem Anrufbeantworter, weil er weiß, dass seine Stimme darauf ist, dann stemmt er die Schiebetür auf, und um die Inszenierung abzurunden, lässt er den Schraubenzieher dort.
Andere bezweifelten allerdings, dass Manuela ihren Mörder gekannt hatte. Einen Tag nach dem Fund der Leiche wurde David im Polizeirevier von Irvine befragt. Unter anderem ging es darum, ob ihnen in letzter Zeit verdächtige Personen aufgefallen waren. Er überlegte und erzählte schließlich, dass sie drei oder vier Monate zuvor, entweder im Oktober oder November 1980, Schuhabdrücke gefunden hatten, die er sich nicht hatte erklären können. Für David hatten sie nach Abdrücken von Tennisschuhen ausgesehen, und sie hatten von einer Seite des Hauses bis zur anderen und in den Garten dahinter geführt. Die Ermittler gaben David ein Blatt Papier und baten ihn, das Muster der Abdrücke so genau wie möglich aufzuzeichnen. Erschöpft skizzierte er sie. Er wusste nicht, dass die Polizei einen Gipsabguss von den Spuren genommen hatte, die Manuelas Mörder in der Tatnacht am Haus zurückgelassen hatte. Er schob das Blatt zurück, auf das er die Sohle eines rechten Tennisschuhs mit einer Anordnung von kleinen Kreisen gezeichnet hatte.
Die Ermittler bedankten sich bei David und ließen ihn nach Hause gehen. Seine Zeichnung verglichen sie mit dem Gipsabguss, den sie am Tatort gemacht hatten. Sie passten zusammen.
Die meisten Gewaltverbrecher gehen impulsiv und planlos vor und werden leicht geschnappt. Die überwiegende Mehrheit der Tötungsdelikte wird von Menschen begangen, die das Opfer kennt. Auch wenn sie nach Kräften versuchen, die Polizei von ihrer Spur abzubringen, werden sie in der Regel identifiziert und verhaftet. Eine größere Herausforderung stellt eine kleine Minderheit von Kriminellen dar, es sind vielleicht fünf Prozent – ihre Verbrechen verraten Planung und eine unbarmherzige Wut. Der Mord an Manuela trug alle Kennzeichen dieses zweiten Typus. Die Fesseln, die wieder entfernt worden waren. Die Schwere ihrer Kopfwunden. Der zeitliche Abstand zwischen den frühen Fußabdrücken und der Tat wies auf einen planenden, wachsamen Beobachter hin, dessen Brutalität und Beharrlichkeit niemand einschätzen konnte.
Nachdem die Polizei alle Spuren gesichert hatte, machte sie vierundzwanzig Stunden später, am Samstag, dem 7. Februar, gegen Mittag einen letzten Durchgang und gab das Haus dann frei. Damals gab es noch keine professionellen Tatortreiniger. An den Türknäufen klebte rußiges Fingerabdruckpulver. In Davids und Manuelas breiter Matratze klafften Löcher, wo Forensiker Stücke herausgeschnitten und als Beweise eingetütet hatten. Das Bett und die Wand an dieser Seite waren noch von Blutspritzern überzogen. Drew war klar, dass er als Polizeischüler das Säubern übernehmen sollte, und bot sich an. Außerdem hatte er das Gefühl, dass er es seinem Bruder schuldig war.
Zehn Jahre zuvor hatte sich ihr Vater Max Witthuhn nach einem Streit mit seiner Frau in einem Zimmer ihres Elternhauses eingeschlossen. Drew ging in die achte Klasse und besuchte an diesem Abend einen Schulball. David war achtzehn, das älteste Kind, und er war derjenige, der die Tür aufbrach, nachdem ein Gewehrschuss das Haus erschüttert hatte. Er bewahrte die Familie vor dem Anblick, der sich ihm bot, und sah als Einziger den zerfetzten Schädel seines Vaters. Ihr Vater hatte sich zwei Wochen vor Weihnachten das Leben genommen. Diese Erfahrung hatte David seiner Sicherheit beraubt. Seitdem wirkte er zaghaft und zögerlich. Sein Mund lächelte manchmal, aber seine Augen nie.
Dann lernte er Manuela kennen, und er spürte wieder festen Boden unter den Füßen.
Ihr Brautschleier hing an der Innenseite der Schlafzimmertür. Weil die Polizei vermutete, es könnte ein Hinweis sein, fragte sie David danach. Er erklärte, es sei einer ihrer seltenen sentimentalen Züge gewesen, ihn immer dort aufzubewahren. Der Schleier offenbarte Manuelas sanfte Seite, die nur wenige Menschen gekannt hatten – und die jetzt niemand mehr kennenlernen würde.
Drews Verlobte machte eine Ausbildung zur Pflegerin. Sie bot an, ihm beim Aufräumen und Säubern des Hauses zu helfen. Später bekamen sie zwei Söhne und waren achtundzwanzig Jahre lang verheiratet, bevor sie sich scheiden ließen. Selbst während ihrer Ehekrise konnte er sich bei jedem Streit bremsen, wenn er an diesen Tag dachte. Diese selbstlose Hilfe vergaß er nie.
Sie schleppten Flaschen mit Bleichmittel und eimerweise Wasser heran und zogen gelbe Handschuhe über. Es war eine scheußliche Aufgabe, aber Drew erledigte sie mit stoischer Konzentration und ohne Tränen. Er versuchte, selbst aus dieser schlimmen Erfahrung zu lernen. Polizeiarbeit erforderte kühle Überlegung. Man musste hart sein, selbst wenn man das Blut seiner Schwägerin von einem Messingbettgestell wischte. In knappen drei Stunden beseitigten sie alle Spuren des Gewaltverbrechens im Haus und richteten es für Davids Rückkehr her.
Nach getaner Arbeit stellte Drew die restlichen Putzsachen in den Kofferraum seines Wagens und setzte sich hinter das Lenkrad. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, doch dann hielt er inne. Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf. Vielleicht lag es an der Erschöpfung. Weinen würde er nicht. Er wusste nicht mehr, wann er zuletzt geweint hatte. War nicht seine Art. Er drehte sich zur Seite und starrte das Haus Nummer 35 an. Plötzlich fühlte er sich in den Moment zurückversetzt, als er zum ersten Mal vor dem Haus gehalten hatte. Er erinnerte sich daran, was er gedacht hatte, als er im Auto gesessen und einen Moment gezögert hatte, hineinzugehen.
Mein Bruder hat es geschafft.
Das unterdrückte Schluchzen brach sich Bahn, er kämpfte nicht mehr dagegen an. Drew presste die Stirn auf das Lenkrad und weinte. Hemmungslos. Von tiefer Trauer geschüttelt. Es war reinigend. Sein Auto roch nach Ammoniak. Das Blut sollte noch tagelang unter seinen Fingernägeln kleben.
Irgendwann sagte er sich, er müsse sich zusammenreißen. In seinem Besitz befand sich ein kleiner Gegenstand, den er der Spurensicherung übergeben musste. Den er unter dem Bett gefunden hatte. Den sie übersehen hatten.
Es war ein Teil von Manuelas Schädel.
Samstagabend klingelten Ron Veach und Paul Jessup, Ermittler der Polizei von Irvine, auf der Suche nach weiteren Informationen aus Manuelas näherem Umfeld am Haus ihrer Eltern in der Loma Street im Viertel Greentree. Horst Rohrbeck, ihr Vater, öffnete ihnen die Tür. Am Tag zuvor, kurz nachdem die Polizei das Haus der Witthuhns abgesperrt und zu einem Tatort erklärt hatte, waren Horst und seine Frau Ruth aufs Revier gebracht und getrennt voneinander von Kollegen befragt worden. Jessup und Veach, der die Leitung des Falls übernommen hatte, begegneten den Rohrbecks zum ersten Mal. Horst lebte seit zwanzig Jahren in Amerika, war aber noch immer durch und durch Deutscher. Er war Mitbesitzer einer Autowerkstatt in der Nähe, und es hieß, er könne einen Mercedes-Benz mit einem einzigen Schraubenschlüssel auseinandernehmen.
Manuela war das einzige Kind der Rohrbecks gewesen. Jeden Tag hatte sie mit ihnen zu Abend gegessen. In ihrem Kalender waren für den Januar nur zwei Termine vermerkt, die sie an die Geburtstage ihrer Eltern erinnern sollten. Mama. Papa.
»Jemand hat sie ermordet«, hatte Horst während der ersten Befragung gesagt. »Ich bringe ihn um.«
Horst öffnete die Tür mit einem Kognakschwenker in der Hand. Veach und Jessup betraten das Haus. Im Wohnzimmer hatte sich eine kleine Gruppe erschütterte Freunde und Angehörige versammelt. Als die Ermittler sich vorstellten, löste sich Horsts steinerne Miene, und er explodierte. Er war kein großer Mann, aber in seinem Zorn schien er zu wachsen. Er schimpfte auf Englisch mit starkem Akzent, die Polizei sei eine Schande, sie müsse mehr tun … Nachdem Veach und Jessup sich die Tirade eine Weile angehört hatten, begriffen sie, dass sie in dem Haus nichts ausrichten konnten. An den verzweifelten Mann war nicht heranzukommen. Seine Wut glich einem Geschoss, das gerade zerbarst. Die Polizisten konnten nicht mehr tun, als ihre Visitenkarte auf den Flurtisch zu legen und ihm aus den Augen zu gehen.
Eine Sache bereute Horst in seiner Trauer besonders. Die Rohrbecks besaßen einen großen abgerichteten Deutschen Schäferhund mit Namen Possum. Horst hatte vorgeschlagen, Manuela solle Possum zu ihrem Schutz mit nach Hause nehmen und bei sich behalten, solange David im Krankenhaus war, aber sie hatte abgelehnt. Man malt sich unwillkürlich aus, was geschehen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte, und stellt sich vor, wie Possum sich mit messerscharfen Zähnen und tropfendem Geifer dem Eindringling, der sich am Schloss zu schaffen machte, entgegenstürzte und ihn vertrieb.
Manuela wurde am Mittwoch, dem 11. Februar, auf dem Friedhof der Saddleback Chapel in Tustin beigesetzt. Drew entdeckte Polizisten, die von der anderen Straßenseite aus Fotos schossen. Danach kehrte er mit David in die Columbus zurück. Die Brüder saßen bis spät in die Nacht im Wohnzimmer und redeten. David betrank sich.
»Sie glauben, ich hätte sie getötet«, sagte David unvermittelt. Er meinte die Polizei. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Drew machte sich innerlich auf ein Geständnis gefasst. Er glaubte nicht, dass David körperlich in der Lage gewesen wäre, Manuela zu ermorden, die Frage lautete, ob er möglicherweise jemanden angeheuert hatte. Drews Polizeiausbildung machte sich bemerkbar. In diesem Moment nahm er nur noch seinen Bruder wahr. Er hatte eine einzige Chance.
»Und – hast du?«, fragte Drew.
Die ganze Situation hatte David den Boden unter den Füßen weggerissen. Er fühlte sich schuldig, weil er noch lebte. David war mit einem Loch im Herzen zur Welt gekommen. Wenn jemand hätte sterben sollen, dann er. Die Trauer von Manuelas Eltern brauchte ein Ziel. Wenn ihre Blicke ihn gestreift hatten, hatten sie sich wie Schläge angefühlt. Aber als er Drews Frage beantwortete, war seine typische Unsicherheit für einen Moment verschwunden.
»Nein«, sagte er. »Ich habe meine Frau nicht umgebracht, Drew.«
Zum ersten Mal seit Manuelas Mord hatte Drew nicht mehr das Gefühl, er würde die Luft anhalten. Er hatte diese Worte von David hören müssen. Als er den verletzten, aber unbeirrbaren Blick seines Bruders erwiderte, wusste Drew, dass er die Wahrheit sagte.
Nicht nur er hatte den Eindruck, dass David unschuldig war. Der Forensiker Jim White von der Polizei von Orange County hatte bei der Untersuchung des Tatorts geholfen. Gute Forensiker sind menschliche Scanner. Sie betreten ihnen unbekannte, chaotisch verwüstete Räume, grenzen wichtige Spuren ein und alles andere aus. Sie arbeiten unter Druck. Bei Tatorten ist Zeit ein wichtiger Faktor, es besteht immer die Gefahr, dass sie zerstört werden. Jede neue Person kann sie kontaminieren. Forensiker sind bestens ausgestattet mit Werkzeugen zum Sammeln und Sichern von Spuren – Asservatentaschen aus Kunststoff und Papier, Siegel, Maßbänder, Abstrichtupfer, Klebebänder, Gips … Beim Witthuhn-Tatort arbeitete White mit dem Ermittler Veach zusammen, der ihn einwies, auf was sie sich konzentrierten. Er asservierte bröckeligen Lehm neben dem Bett und nahm einen Abstrich von einem verdünnten Blutfleck auf der Toilette. Als Manuelas Leiche umgedreht wurde, stand er neben Veach. Sie bemerkten die schwere Schädelverletzung, die Fesselspuren und mehrere Prellungen an ihrer rechten Hand. Auf ihrer linken Gesäßhälfte zeichnete sich ein Mal ab, bei dem der Rechtsmediziner später davon ausging, dass es von einem Faustschlag stammte.
Den zweiten Teil ihrer Arbeit erledigen Forensiker im Labor, wenn sie die gesicherten Spuren analysieren. White verglich die braune Farbe auf dem Schraubenzieher des Mörders mit gängigen Marken und fand die größte Übereinstimmung bei der im Laden angemischten Farbe »Oxford Brown« der Firma Behr. Mit der Laborarbeit endet ihre Beteiligung am Fall normalerweise. Forensiker sind keine Ermittler. Sie führen keine Befragungen durch oder jagen Spuren hinterher. Allerdings befand sich White in einer besonderen Lage. Die einzelnen Polizeibehörden von Orange County untersuchten die Verbrechen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen, doch die meisten benutzten das Kriminallabor des Sheriff’s Department. Deshalb kannten die Witthuhn-Ermittler nur die Fälle aus Irvine, aber White hatte an Tatorten im ganzen County gearbeitet, von Santa Ana bis San Clemente.
Für die Polizei von Irvine war der Mord an Manuela Witthuhn außergewöhnlich.
Jim White kam er bekannt vor.
Roger Harrington las den handgeschriebenen Zettel, der unter der Klingel klemmte. Er war auf den 20. 8. 80 datiert, den Vortag.
Liebe Patty, lieber Keith,
wir haben um 7 vorbeigeschaut,
aber es war niemand zu Hause. Ruft Ihr
an, wenn sich die Planung geändert hat?
Unterschrieben war er mit »Merideth und Jay«, Namen, die Roger als Freunde seiner Schwiegertochter erkannte. Er wollte die Haustür öffnen und merkte überrascht, dass sie verschlossen war. Keith und Patty schlossen selten ab, wenn sie zu Hause waren, vor allem nicht, wenn sie ihn zum Abendessen erwarteten. Als Roger in die Auffahrt gebogen war, hatte er den Garagentoröffner gedrückt, und sowohl Keiths als auch Pattys Auto hatten dort gestanden, sein MG und ihr VW. Wenn sie nicht im Haus waren, dann bestimmt beim Joggen, dachte Roger. Mit dem Schlüssel, der über dem Terrassenspalier versteckt war, betrat er das Haus und nahm die Post, einen ungewöhnlich dicken Packen, mit hinein.
Das Haus Nummer 33381 am Cockleshell Drive steht in Niguel Shores, einer weitläufigen, umzäunten Wohnanlage in Dana Point, einer Küstenstadt im Süden von Orange County. Es gehörte Roger, der allerdings in eine Eigentumswohnung im nahe gelegenen Lakewood gezogen war, das näher an seinem Büro in Long Beach lag. Im Moment wohnte in dem Haus am Cockleshell Drive sein vierundzwanzigjähriger Sohn Keith – Medizinstudent im dritten Jahr an der University of California-Irvine – mit seiner Frau Patty, einer staatlich geprüften Krankenschwester, worüber Roger sich freute, weil sie sich so öfter sahen.
Keith und Patrice Harrington, ermordet in Dana Point, Kalifornien, am 19. August 1980. Das Paar war seit drei Jahren verheiratet, als Keiths Vater die Leichen in seinem Haus fand, in dem sie wohnten.
Das Haus war im Stil der späten Siebziger eingerichtet. Schwertfisch an der Wand. Kronleuchter von Tiffany. Blumenampeln aus Makramee. Roger machte sich in der Küche einen Drink. Obwohl es noch nicht dämmerte, war es im Haus schummrig. Durch die nach Süden zeigenden Fenster und gläsernen Schiebetüren sah man in der Ferne das blau glitzernde Meer. Auf der Spüle stand eine Einkaufstasche von Alpha Beta mit zwei Konservendosen. Neben einem Laib Brot lagen auf der Anrichte drei abgeschnittene, altbackene Scheiben. Allmählich beschlich Roger Angst.
Er ging über den ockerfarbenen Teppichboden im Flur zu den Schlafzimmern. Die Tür zum Gästezimmer, in dem Keith und Patty schliefen, stand offen. Wegen der geschlossenen Rollläden konnte er nicht viel sehen. Das Bett war gemacht, die Decke bis zum dunklen, hölzernen Kopfteil hochgezogen. Als Roger die Tür wieder schließen wollte, fiel ihm die seltsame Wölbung der Tagesdecke auf. Er ging zum Bett, drückte darauf und spürte etwas Hartes. Er schlug die Decke zurück.
Der Kontrast zwischen dem ordentlich gemachten Bett und dem, was sich unter der Decke fand, war in seiner Absurdität kaum zu begreifen. Keith und Patty lagen auf dem Bauch. Ihre Arme waren seltsam verdreht, die Handflächen zeigten nach oben. Ihre Körper wirkten zerschmettert, als wären sie aus großer Höhe herabgestürzt. Blut hatte sich auf dem ganzen Bett ausgebreitet.
Keith war der jüngste von Rogers vier Söhnen. Hervorragender Student. In der High School einer der besten Baseballspieler der Region. Vor Patty war Keith längere Zeit mit einer Medizinstudentin zusammen gewesen, die alle schon als seine zukünftige Frau betrachtet hatten. Irgendwann hatte sie an eine andere Hochschule gewechselt, was Roger sich nie erklären konnte, und das Paar hatte sich getrennt. Wenig später hatten sich Keith und Patty am UCI Medical Center kennengelernt, ein Jahr danach hatten sie geheiratet. Roger hatte sich insgeheim gesorgt, Keith habe sich zu schnell auf diese neue Beziehung eingelassen, aber Patty war eine ebenso warmherzige, liebenswerte Person wie Keith. Von ihrem letzten Freund hatte sie sich wegen seines Marihuanakonsums getrennt. Und sie schienen sich aufrichtig zu lieben. Roger hatte viel Zeit mit den »Kindern«, wie er sie nannte, verbracht. Er hatte ihnen geholfen, im Garten einen neuen Rasensprinkler zu installieren. Am vergangenen Samstag hatten sie zu dritt im Garten Pflanzen zurückgeschnitten. Später am Abend hatten sie eine Grillparty zum Geburtstag von Pattys Vater gegeben.
Wenn im Film jemand eine Leiche findet, schüttelt er sie ungläubig. Roger tat das nicht. Das war nicht nötig. Selbst im Dämmerlicht konnte er sehen, dass die helle Haut seines Sohnes violett angelaufen war.
Es gab kein Anzeichen für einen Kampf, keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen, nur eine der Schiebetüren war möglicherweise nicht verschlossen gewesen. Patty hatte Dienstagabend um 21.48 Uhr Lebensmittel gekauft, das zeigte die Quittung von Alpha Beta. Später, gegen 23 Uhr, hatte ihre Schwester Sue angerufen. Keith hatte sich schlaftrunken gemeldet und das Telefon an Patty weitergereicht. Sie hatte Sue gesagt, sie seien schon im Bett, am nächsten Morgen werde die Pflegeagentur früh anrufen. In Pattys Kopfwunde wurde ein Metallfragment aus Messing gefunden. Das legte nahe, dass jemand nach Pattys Gespräch mit ihrer Schwester und vor Mittwochmorgen, als sie nicht bei der Arbeit erschienen war, einen der metallenen Kreisregner der Sprinkleranlage aus dem Rasen gezogen hatte und damit ins Haus geschlichen war. In einer Wohnsiedlung mit einem bewachten Tor. Und niemand hatte etwas gehört.
Als er sechs Monate später die Beweise im Fall Witthuhn durchging, hatte Forensiker Jim White vom Orange County Sheriff’s Department das deutliche Gefühl, dass er mit dem Mord an den Harringtons zusammenhing. Es gab zahlreiche Übereinstimmungen. In beiden Fällen wurden Opfer aus der Mittelschicht im Bett mit Gegenständen erschlagen, die der Täter im oder am Haus gefunden hatte. Beide Male nahm der Mörder die Tatwaffe mit, als er ging. Die weiblichen Opfer wurden vergewaltigt. An den Leichen von Keith und Patty Harrington wurden Fesselspuren gefunden – auf und neben ihrem Bett lagen Makrameekordeln. Im Witthuhn-Fall sechs Monate später wies die Leiche ebenfalls Fesselspuren auf, aber das verwendete Material war vom Tatort entfernt worden. Der Täter schien dazugelernt zu haben.
Eine weitere interessante Verbindung zwischen den Fällen war der medizinische Hintergrund. Keith Harrington hatte an der UC-Irvine Medizin studiert, und Patty hatte als Krankenschwester manchmal im Mercy Hospital in Santa Ana Schichtdienst geleistet. David Witthuhn, Manuelas Mann, hatte als Patient im Santa Ana-Tustin Community Hospital gelegen, als seine Frau ermordet worden war.
Auf dem Küchenboden der Harringtons wurde ein nur wenig abgebranntes Streichholz gefunden. Beide Opfer hatten nicht geraucht, deshalb gingen die Ermittler davon aus, dass der Mörder es verwendet hatte.
Im Blumenbeet neben dem Haus der Witthuhns hatte die Polizei vier Streichhölzer gesichert.
Im Witthuhn-Fall war die Polizei von Irvine zuständig, bei den Harringtons das Orange County Sheriff’s Department. Ermittler beider Gruppen besprachen die mögliche Verbindung. Zwei Menschen zu überfallen, wie es der Mörder der Harringtons getan hatte, galt als ungewöhnlich. Es war sehr riskant. Das wies darauf hin, dass die erhöhte Gefahr einen zusätzlichen Reiz darstellte. Würde derselbe Mörder sechs Monate später ein einzelnes Opfer auswählen, so wie bei Manuela Witthuhn? Allerdings war Davids Krankenhausaufenthalt nicht vorhersehbar gewesen. Vielleicht hatte der Mörder nicht damit gerechnet, Manuela in dieser Nacht allein anzutreffen.
Hier Diebstahl (Manuelas Schmuck), dort nicht. Hier gewaltsames Eindringen, dort nicht. Es gab keine Fingerabdrücke, die man hätte vergleichen können, und DNA-Beweise waren noch Zukunftsmusik. Der Mörder hatte an den Tatorten auch kein Pik-Ass als Visitenkarte hinterlassen. Doch die Details blieben. Der tödliche Schlag, der Keith Harrington traf, hatte das hölzerne Kopfteil des Betts beschädigt. Durch die Lage eines Holzsplitters, den sie zwischen Pattys Beinen gefunden hatten, schlossen die Ermittler, dass zuerst Keith ermordet und danach Patty vergewaltigt worden war. Auf diese Weise sollte ihr Leiden noch verstärkt werden. Manuelas Mörder hatte so viel Zeit mit ihr verbracht, dass sie sich irgendwann übergeben musste. Auf ihrem Bett fanden sich Spuren des Erbrochenen.
Der Begriff »Übertötung« wird gerne bei polizeilichen Untersuchungen und in Krimis benutzt, manchmal allerdings zu Unrecht. Selbst erfahrene Mordermittler bewerten das Verhalten von Tätern, die brutale Gewalt ausüben, gelegentlich falsch. Wenn es bei einem Mord zur Übertötung kommt, geht man häufig davon aus, dass zwischen Täter und Opfer eine Beziehung bestand, dass sich eine durch Vertrautheit aufgestaute Wut Bahn gebrochen hat. Das war etwas Persönliches, lautet das Klischee.[7]
Allerdings werden bei dieser Annahme keine äußeren Ursachen für solches Verhalten berücksichtigt. Das Maß an Gewalt hängt möglicherweise davon ab, wie stark sich das Opfer wehrt. Massive Verletzungen, die nach einem furchtbar entgleisten Beziehungsstreit aussehen, können auch von einem längeren Kampf zwischen Fremden stammen.
Die meisten Gewaltverbrecher prügeln sich förmlich durchs Leben. Sie haben Fäuste statt Hände und denken nicht weiter, als ihr Blick geht. Dadurch werden sie schnell geschnappt. Sie reden zu viel. Sie kehren an den Tatort zurück und sind dabei so auffällig wie klappernde Blechdosen am Auto. Doch von Zeit zu Zeit betritt ein seltenes Exemplar die Bildfläche. Ein Schneeleopard schleicht vorbei.
Manchmal begegnet den Ermittlern ein Fall, bei dem ein fremder Täter Opfer übertötet, die sich nicht wehren.
Wenn man bedenkt, dass Manuela und Patty gefesselt waren und gar keinen Widerstand leisten konnten, offenbart das Maß der Gewalt eine extreme Wut auf die weiblichen Opfer. Derart ausufernde Aggressionen treten selten zusammen mit besonnener Planung auf. Es gab keine forensischen Übereinstimmungen zwischen den Fällen, aber ein Gefühl, eine Ahnung, dass derselbe Geist hinter beiden steckte, jemand, der weder viele Spuren hinterließ noch redete noch sein Gesicht zeigte, der sich unentdeckt in der Mittelschicht bewegte, ein unauffälliger Mann mit gestörtem Ruhepuls.
Eine mögliche Verbindung zwischen Harrington und Witthuhn wurde nie direkt verworfen, aber auch nicht offiziell untersucht. Im August 1981 warfen mehrere Zeitungsartikel die Frage auf, ob der Harrington-Fall mit anderen Doppelmorden der letzten Zeit in Südkalifornien zusammenhing. Ermordet ein geistesgestörter Night Stalker in Südkalifornien Paare in ihren Betten?, eröffnete die Los Angeles Times einen Artikel.
Die Idee, es könne eine Verbindung geben, stammte aus dem Santa Barbara Sheriff’s Department. Dort lagen zwei Doppelmorde und ein Messerangriff vor, bei dem das Paar fliehen konnte. Doch die anderen Countys mit ähnlichen Fällen, Ventura und Orange, spielten mögliche Zusammenhänge herunter. In Ventura County hatten die Verantwortlichen noch nicht verschmerzt, dass die Untersuchung gegen den Verdächtigen im dortigen Doppelmord bei einer vorbereitenden Anhörung unter großem Medieninteresse geplatzt war. Sie wurden mit der Aussage zitiert, Santa Barbara habe voreilige Schlüsse gezogen. Auch in Orange County war man skeptisch. »Wir sehen das anders«, sagte Ermittler Darryl Coder.
Und das wars. Fünf Jahre vergingen. Zehn Jahre. Der Anruf mit dem entscheidenden Hinweis kam nie. Die Akten wurden regelmäßig überprüft, gaben aber nie die nötigen Informationen preis. Roger Harrington ließ nicht locker und versuchte, eine Erklärung für den Mord an Keith und Patty zu finden. Er heuerte einen Privatdetektiv an. Er setzte eine hohe Belohnung aus. Freunde und Kollegen wurden noch einmal befragt. All das führte zu nichts. Roger, ein zäher Selfmademan, brach zusammen und konsultierte eine Wahrsagerin. Sie konnte den Nebel nicht lichten. Roger ging jeden Moment durch, den er mit Keith und Patty vor ihrem Tod verbracht hatte, bedachte jedes Detail. So viele Puzzlesteine lagen vor ihm ausgebreitet, ohne sich je zusammenzufügen.
Paparazzi drängten sich in Viererreihen vor dem roten Teppich. Mein Mann Patton posierte in seinem schicken blauen Nadelstreifenanzug für die Kameras. Blitzlichter flackerten. Hinter der Metallabsperrung streckte ein Dutzend Hände Mikrofone hervor. Adam Sandler tauchte auf. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich. Der Lärmpegel stieg. Dann Judd Apatow. Jonah Hill. Chris Rock. Es war Montag, der 20. Juli 2009, kurz nach 18 Uhr. Wir besuchten in den ArcLight Cinemas in Hollywood die Premiere des Films Wie das Leben so spielt. Irgendwo existiert wahrscheinlich ein nicht verwendetes Foto von einem Promi, auf dem im Hintergrund eine Frau mit einem schwarzen Etuikleid und bequemen Schuhen steht. Während sich weltbekannte Stars an mir vorbeischieben, starre ich völlig gebannt und kribbelig auf mein iPhone, weil ich gerade erfahre, dass ein Verbrecher, nach dem ich lange gesucht habe und der mir keine Ruhe ließ, ein Doppelmörder im Westen und Nordwesten, nach siebenunddreißig Jahren auf der Flucht gestellt wurde.
Ich verdrückte mich hinter eine Betonsäule und rief den einzigen Menschen an, von dem ich wusste, dass ihn diese Neuigkeiten genauso interessieren würden wie mich: Pete King, einen langjährigen Reporter der Los Angeles Times, der jetzt für die University of California Pressearbeit machte. Er meldete sich sofort.
»Pete, hast du es schon gehört?«, fragte ich. Ich bekam die Worte kaum schnell genug heraus.
»Was denn?«
»Ich habe gerade eine Mail mit einem Link zu einem Nachrichtenartikel bekommen. Irgendwo in den Bergen von New Mexico gab es eine Schießerei. Zwei Menschen sind tot. Ein Polizist. Und der Typ, hinter dem sie her waren. Ein geheimnisvoller Mann aus den Bergen, der in mehrere Hütten eingebrochen ist.«
»Nein«, sagte Pete.
»Doch«, entgegnete ich. »Sie haben die Fingerabdrücke von dem Mann genommen.«
Ich muss gestehen, dass ich an dieser Stelle eine dramatische Pause einlegte.
»Joseph Henry Burgess«, fuhr ich fort. »Pete, wir hatten recht. Er war die ganze Zeit da draußen.«
Einen Moment lang verschlug es uns die Sprache. Mir war klar, dass Pete so schnell wie möglich an seinen Computer wollte. Ich blickte mich um. Die Premierenveranstalter scheuchten die Leute hinein. Ich sah, dass Patton nach mir Ausschau hielt.
»Find mehr heraus«, bat ich Pete. »Ich kann nicht. Ich bin bei einer Premiere und muss rein.«
Dabei waren solche Veranstaltungen nichts für mich. Die meisten Menschen können das nicht verstehen und quittieren meine kritischen Bemerkungen für gewöhnlich mit einem abfälligen »Also ich stelle mir das schön vor«. Ich verstehe das. Aber betrachten Sie es mal von meiner Warte aus. Ich habe noch keine Veranstaltung in Hollywood erlebt, bei der mir nicht jemand ein Wäscheschildchen eingeklappt, einen Knopf gerichtet oder zu mir gesagt hätte, an meinen Zähnen klebe Lippenstift. Einmal hat mir ein Eventveranstalter auf die Finger gehauen, als ich an den Nägeln knabbern wollte. Auf dem roten Teppich wirke ich meist wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Aber mein Mann ist Schauspieler. Ich liebe ihn und bewundere seine Arbeit und die unserer Freunde, und solche Veranstaltungen zu besuchen gehört manchmal dazu. Also wirft man sich in Schale und lässt sich von einem Profi herrichten. Man wird von einem Fahrer in einer Limousine abgeholt, wobei man sich seltsam vorkommt, als müsse man sich entschuldigen. Ein quirliger PR-Mensch, den man nicht kennt, führt einen zu einem roten Teppich, an dem unzählige Blitzlichter flackern und Menschen rufen: »Sehen Sie hierher!«, und: »Hierher!« Und dann, nach diesem kurzen glamourösen Moment, sitzt man in einem ganz normalen knarrenden Kinosessel, nippt Cola light aus einem feucht beschlagenen Plastikbecher und bekommt salzige Finger von dem warmen Popcorn. Das Licht geht aus. Die übliche künstliche Begeisterung macht sich breit.
Gleich zu Beginn der anschließenden Premierenfeier wurde Patton den Regisseuren von Crank vorgestellt, einem Actionfilm mit Jason Statham, für den er schwärmt. Er unterhielt sie mit seinen Lieblingsstellen aus dem Film. »Bei Statham bin ich hin und weg«, gestand er. Nach dem Gespräch mit den Regisseuren begutachteten wir das Gedränge im Ballsaal des Hollywood & Highland Center. Uns erwarteten Drinks, winzige Gourmet-Cheeseburger und vielleicht sogar Garry Shandling, ein Idol von Patton. Doch Patton konnte meine Gedanken lesen.
»Kein Problem«, sagte er.