Ich hole mir mein Leben zurück - Ingrid Dautel - E-Book

Ich hole mir mein Leben zurück E-Book

Ingrid Dautel

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Beschreibung

Mehrgenerationale Gruppengespräche mit dem Ziel, die übernommenen Traumata aufzulösen. Die Übertragung auf Flüchtlinge ist möglich.

Das E-Book Ich hole mir mein Leben zurück wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Mehrgenerationale Übernahmen, Traumaaufarbeitungen, Rückgabeübungen, Gruppengespräche, Historische Hintergründe

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Für all die Menschen, die mir durch ihre vielen Formen von Liebe gezeigt haben, dass ein selbstbestimmtes, liebendes Leben möglich ist.

Liebe Leserinnen und Leser,

ich bitte die nicht perfekte Umwandlung der Seiten in die aktuelle Form des Selbstverlags zu entschuldigen. Vielleicht mögen Sie die halb vollen Seiten für Ihre Anmerkungen nutzen? Danke für ihr Verständnis! I.D.

Inhalt

Interview statt eines Vorworts

Einleitung

I Puzzleteile mehrgenerationaler Selbsterfahrungsgruppen: Kriegskinder, Nachkriegskinder, Kriegsenkel

1 »Ich hole mir mein Leben zurück!« Ein Kriegskind entdeckt die eigene Bedürftigkeit

2 »Ich helfe lieber euch als mir selbst . . .« Beispiele von Parentifizierungen über die Generationen hinweg

3 »Was einem in den Schoß fällt, ist gar nichts wert«

Die Absolutheit der Leistungsethik auflösen

4 »Ich habe Angst vor dieser Bewegung zwischen den Generationen«

Wie der Krieg weitergeht und befriedet wird

5 »Dabei könnt ihr Frauen mir nicht helfen!«

Die Suche der Männer nach dem abwesenden Vater

6»Wozu habe ich diese Gefühle?«

Den Nebel aus Schuld- und Schamgefühlen lichten

7. Liebe den/die andere(n) wie dich selbst

Zurück zur Selbstliebe

8

»Und bist du nicht willig«

Traumatransmissionen unterschiedlichster Gewalterfahrungen

9 »Das hat mich gestärkt – trotz alledem!«

Resilienzentwicklung und »Traumatic Growth«

10

»Da ist mir keine Hornhaut gewachsen – im Gegenteil!

Bei jedem Heimatfilm fange ich an zu weinen!«

Vertreibung und Flucht und ihre Auswirkungen im Alter

II Von den »Puzzleteilen« zur möglichen Ganzheit

1. Wie nützt uns der erweiterte Traumabegriff zum Verstehen der drei Generationen?

2. Vom Schocktrauma zum Entwicklungs- oder Bindungstrauma

3. Traumaspezifische Phänomene verstehen

4. Generationsübergreifende Traumatransmissionen

5 Es beginnt schon im Mutterleib – seelisches Leben vor der Geburt

6 Epigenetik: Die Bedeutung der Gene für die Regulierung des Stresssystems

7 Neurobiologische Erkenntnisse

8 Die Spiegelneuronen

9 Der Einfluss auf die Bindungskompetenz

10 Die Eltern-Kind-Psychodynamik: Die Bedeutung der Interaktion

III. Bausteine mehrgenerationaler Selbsterfahrungsgruppen

1 Humanistische Ethik

2 Sicherheitsgebendes Setting

3 Ermöglichung von Wahlfreiheit statt Gehorsam

4 Schonende, Distanz lernende Bewusstwerdung durch Psychoedukation und Imagination statt Retraumatisierung

5

Hilfe zur Selbsthilfe

6 Traumaverarbeitung durch Resilienzstärkung

7 Die Grenzen einer Selbsterfahrung Wegweiser in eine (Trauma-) therapie

IV. Was hat sich für diese drei Generationen bisher verändert?

1 Gewaltfreie Kommunikation und neue Sensibilität

2 Wertewandel im gesellschaftlichen Spannungsfeld – veränderte Sozialisation

3 Neue Begegnungs- und Handlungsmöglichkeiten der Generationen: Wie das Puzzle weiter gelegt werden kann

V. Persönliche Lebensläufe aus verschiedenen Generationen

Einführung in die biografische Selbstreflexion durch Schreiben

Exemplarische Beispiele von Gruppenteilnehmerinnen aus verschiedenen Generationen

1 Flucht und Vertreibung

2 Auswirkungen der Nazierziehung auf mein Leben

3 Mir darf es gut gehen – auch wenn ich nicht funktioniere - Mein Weg zur Selbstakzeptanz

Danksagung

Bildnachweise/Textnachweis

Literatur nach Themenfeldern geordnet

Neue Buchvorstellung

Statt eines Vorworts

Gespräch des Psychologischen Psychotherapeuten Johann Linnemann (J. L.) mit Ingrid Dautel (I. D.)

J. L.: Liebe Ingrid, es gibt so viele Bücher auf der Welt, die man gar nicht alle schaffen kann zu lesen, auch zum Thema Traumatisierung ist eine so große Anzahl erschienen. Welchen Sinn macht es, hier noch ein Buch dazuzulegen?

I. D.: Das verstehe ich gut – ich wollte auch kein neues Theorie-Buch schreiben, auch wenn ich ein Kapitel Theorie in meinem Buch drin habe, das den Hintergrund ein bisschen erläutert, sodass eben auch nicht Eingeführte das Thema besser verstehen. Es ist aber vor allem ein Buch aus der Praxis, das zeigt, wie das sein kann, wenn drei Generationen neu miteinander in Kontakt, in Kommunikation treten. Es ist also gedacht für Menschen, die bisher noch nicht viel mit der Frage zu tun hatten, wie Traumata an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Da will ich einen leicht verständlichen Einstieg schaffen für Menschen, die ihren Familienhintergrund und sich selbst darin besser verstehen wollen. Und es ist interessant für Fachleute, die sich für mehrgenerationale Gruppenarbeit interessieren und für mehrgenerationale Themen überhaupt. J. L.: Also ein Buch aus der Praxis für die Praxis?

I. D.: Ja, das könnte man so sagen. Es ist wohl auch einzigartig, dass in diesem Buch drei Generationen zusammen ins Gespräch kommen: die Kriegskinder, die Nachkriegskinder und die Kriegsenkel.

J. L.: Ist das ein Mutmach-Buch?

I. D.: Ja, genau! Denn diese Generationen haben ja oft in der Ur -sprungsfamilie nicht miteinander reden können oder wollen. Ich denke da auch an die Nachkriegsgeneration, die dieses Schweigen erlebt hatte und die sich dann zum Teil in der 68er-Bewegung ja auch scharf abgegrenzt hat von ihren Eltern, nachdem sie enttäuscht war über die mangelnde Kommunikation.

Jetzt sitzen da Teilnehmerinnen in den Selbsterfahrungsgruppen, die könnten ihre Eltern sein oder ihre Söhne oder Töchter, und da gibt es heute eine andere Redebereitschaft und auch Redefähigkeit miteinander. Deshalb würde ich schon zustimmen, dass das auch eine Art Mutmach-Buch ist, das zeigt, dass die mangelnde Kommunikation von damals auch verändert werden kann.

J. L.: Das heißt, es hat sehr lange gedauert, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung betrachtet.

I. D.: Ja, das hat sehr lange gedauert, und die Bewusstwerdungsphasen sind auch unterschiedlich intensiv gelaufen: Die Jüngeren waren da zum Teil schneller. Sie haben rascher gemerkt, da ist eine Art Fremdkörper in mir – ich verstehe gar nicht, wie ich manchmal reagiere. Sie haben schnell erkannt, wenn sie sich ihre Eltern vergegenwärtigt haben, dass sie oft so reagieren, wie ihre Eltern hätten reagieren müssen. Zum Beispiel trauert ein Kriegskind-Vater nicht um seine verstorbene Frau und hat Angst vor dem Alleinsein. Seine Tochter erspürt dieses Unbewusste des Vaters, verhält sich entsprechend und hilft ihm, seine Angst zu bewältigen. Das ist alles ein Akt der Liebe der Kinder ihren Eltern gegenüber.

Die Älteren kamen erst später darauf, dass sie doch manches gerne anders gemacht hätten mit ihren Kindern.

J. L.: Kann man davon ausgehen, dass die Traumatisierungen so gravierend sind, dass sie lange Zeit nicht gespürt und auch nicht darüber geredet werden konnte?

I. D.: Ja, es gab lange Zeit dieses »beredte Schweigen«. Die Kinder haben gespürt, da wird irgendetwas totgeschwiegen, aber ich darf da nicht nachfragen. Und das Interessante ist ja auch, dass diese Kinder dann oft eine sogenannte »Stellvertreterposition« einnehmen z. B. für totgeschwiegene Verwandte, eine Art Energieübertragung, durch die ein Kind sich dann mit diesen Ausgestoßenen oder Verstorbenen identifiziert, d. h. deren Rolle einnimmt, da es unbewusst diese wieder zum Leben erwecken möchte.

J. L.: Also gibt es in manchen Familien auch eine Art Dynamik, die versucht, alles wieder »heil« zu machen? Die Toten, die nicht geachtet oder nicht betrauert wurden, stehen ein, zwei Generationen später sozusagen wieder auf?

I. D.: Ja, das könnte man so sagen. Die Kinder machen das ja nicht bewusst, dieses Schwere zu übernehmen, diese Last. Doch sie erspüren den Menschen, über den/die nicht geredet wird, und öffnen ihr Herz für diesen Teil aus der Familie und »übernehmen« das.

J. L.: Weil die Last nur für eine Generation zu schwer war?

I. D.: Ja. Und die Eltern, die Kriegskinder, hatten ja erst einmal diese materielle Aufbauarbeit zu bewerkstelligen und mussten für alles, was vorher war, Bewältigungsmechanismen entwickeln. So hatten sie gar keine Zeit und keine Energie mehr für etwas anderes, zum Beispiel, sich auch noch dem Inneren zu zuwenden.

J. L.: Und die nächste Generation war überhaupt erst in der Lage, weil diese Aufbauarbeit dann abgeschlossen war, da anzusetzen, wo es für die Vorgeneration schon gut gewesen wäre an zusetzen?

I. D.: Ja, die Nachkriegskinder haben das dann »geliefert«, sie haben das ausgedrückt, was bislang im »Nebel« geblieben ist.

J. L.: Jetzt kommt ja noch eine Generation, die der Kriegsenkel, mit ins Spiel? Was passiert da?

I. D.: Wenn bis dahin in der Familie nicht alles gelöst wurde – und die Bibel spricht ja davon, dass das Ungelöste bis ins vierte »Glied« weitergetragen werden kann –, dann tragen auch die Kriegsenkel diese familiäre Last weiter. Zwar mit etwas mehr Abstand, zum Beispiel zum Krieg, aber sie fühlen sich oft nicht frei, beruflich wie privat, und wissen oft gar nicht, was sie wirklich wollen, weil sie noch so loyal an die Familiennormen und -themen gebunden sind.

J. L.: Das heißt, dieses Dunkle, Ungelöste geht weiter? Und da es noch eine Generation später ist, erscheint es noch unklarer, ist es noch schwieriger zu erfassen, was mit ihnen los ist? Und man fühlt gar nicht mehr so leicht den Zusammenhang mit früher?

I. D.: Ja, zum Beispiel fühlen sich manche Kriegsenkel in meinen Gruppen den Großeltern gegenüber noch sehr verpflichtet, etwa in dem Punkt, sich nur über Arbeit zu definieren. Sie merken aber auch gleichzeitig, dass das nicht die eigenen Normen sind, und fühlen sich in einer Zwickmühle, die Erwartungen der Eltern und Großeltern nicht mehr erfüllen zu können.

J. L.: Das ist ja ein weites Feld, in dem man sich auch leicht verlieren kann. Gibt es eine Leitlinie durch dieses weite Feld über die Generationen hinweg?

I. D.: Ich nenne meine Gruppen ganz allgemein »mehrgenerationale Selbsterfahrungsgruppe«. Das Ziel ist, dass alle Generationen es im jetzigen Leben ein bisschen leichter haben, es sich ein biss chen schöner gestalten, das Leben auch genießen können, und sich nicht mehr so sehr belastet fühlen von einer nebulösen Vergangenheit, die wir ja versuchen aufzuhellen. Das würde ich schon als Leitlinie für alle drei Generationen bezeichnen. Sie kommen, um manches besser zu verstehen, aber sie kommen auch, um es im familiären Kontext ein bisschen leichter miteinander zu haben.

J. L.: Das heißt, diese Leitlinie ist auch in dem Buch selbst immer wieder das Thema »Praxis«?

I. D.: Ja, die Teilnehmerinnen kommen ja in die Gruppen und berich-ten erst einmal über ihre aktuellen Themen, und wir versuchen dann immer wieder, wo dies gewünscht wird, auch einen Rückbezug herzustellen, ob es ähnlich zu dem ist, was die El tern oder Großeltern gemacht hätten, ob es in Opposition dazu steht oder wirklich frei ist. Es wird also oft wichtig zu erkennen, was hat sich für mich verändert, wo möchte und kann ich es auch anders machen, anders leben?

J. L.: Woran kann man sich da festhalten?

I. D.: Die Linie ist schon die, dass wir in die Zukunft schauen und diese leichter hinbekommen möchten. Einiges, was man von den Eltern, Großeltern kennt, taucht auf, und man überlegt, wie kann ich jetzt den Weg freibekommen. Was möchte ich wirklich?

J. L.: Das klingt ein bisschen wie »Aufräumarbeiten«

. . .

. . . die Hindernisse der Vorgeneration aus dem Weg zu räumen, vor allem durch bessere Kommunikation miteinander, der Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch nach Unterschieden.

I. D.: Ja, das ist ein gutes Bild für diese seelische Arbeit! Bettina Al bert i spricht ja auch in diesem Zusammenhang davon, »seelische Trümmer« wegzuräumen, nachdem die Kriegskinder die anderen Trümmer beiseitegeräumt haben, um zu dem eigenen, wirklich eigenen Leben zu finden. Freiräumen würde ich es auch nennen.

J. L.: Was haben dann die Kriegsenkel noch zu tun, wenn die materiellen und die seelischen Trümmer weggeräumt sind?

I. D.: Ja, was wollen sie mit dieser neuen Freiheit wirklich anfangen? Da kommt oft die Angst vor dieser sicherlich etwas größeren Freiheit mit ins Spiel. Und es gibt noch genügend alte Loyalitäten, unsichtbare Bindungen zu dem, was vorher als »tüchtig« angesehen wurde. Viele Kriegsenkel sind auch mit der heutigen »Multioptionsgesellschaft« überfordert.

J. L.: Das heißt, die ganze Geschichte ist wirklich ein großes Werk, ein großes Projekt dieser drei Generationen, das sich dann praktisch in diesen Gruppen widerspiegelt?

I. D.: Ja, natürlich finden sich hier diese gesellschaftlichen Prozesse wieder, diese Verunsicherungen auch durch die Veränderungen wie Globalisierung, Digitalisierung. Aber man hat auch in der Gruppe solch einen Rückhalt, man sieht, wie gehen die anderen damit um, sodass es dann auch wiederum rückenstärkend ist. Man ist nicht allein mit diesen Angst machenden Phänomenen . . .

J. L.: Also, sowohl das Buch wie auch diese Gruppen wirken der Angst entgegen?

I. D.: Ja, weil wir eben überwiegend mit dem arbeiten, was schon als positive Fähigkeit da ist, als Ausgleich sozusagen, als Gegenkraft, als Ressourcen.

J. L.: Da fallen mir noch die Ängste der Vorgeneration ein, vor Bombennächten usw.

I. D.: Ja, da waren die Ängste ja Realängste, klar zu fassen. Bei den jetzigen Kriegsenkeln und auch schon bei deren Kindern sind das eher diffuse Ängste, nicht klar zu fassen, die wissen ja oft gar nicht, wo die Angst hingehört in dieser hochkomplexen Welt.

J. L.: Nun gehört zu jeder Praxis ja auch immer Theorie. Gehört zu diesem Praxisbuch auch etwas Theorie?

I. D.: Ja! Es gibt sicher auch Menschen, die das Weitergeben von Trau-mata an die nächste Generation als Fantasien von Psychologen abtun wollen und erst mal sagen, das könne man alles gar nicht beweisen. Deshalb ist im Buch auch ein Teil enthalten, der in verständlichen Worten erklärt, wie weit diese Traumaübergaben eben inzwischen auch biologisch und medizinisch nachgewiesen werden können.

Auch in den Gruppen wird sehr interessiert zugehört, wenn ich einen Teil mit sogenannter Psychoedukation einschiebe, bei dem ich erkläre, was macht ein Trauma aus, was können Traumafolgen sein? Manche sind hinterher ganz erleichtert, weil sie sich selbst dann einfach besser verstehen in manchen Phänomenen, die sie vorher als »Verrücktheiten« von sich abgetan haben.

Diese rationalen Erklärungen haben also oft eine ganz beruhigende Wirkung, die Menschen schauen freundlicher, milder auf sich selbst.

J. L.: Es gibt also verschiedene Aspekte: Das, was ich erlebe, ist et -was, das mir selbst manchmal fremd ist, und ich erfahre: Ah! Das ist etwas, das ich übernommen habe, etwas Fremdes so zusagen aus der Vorgeneration. Ich bin aber normal, weil ich ja auf dieses »Fremde« in mir reagiere. Und wenn ich eine Generation zurückgehe, kann man sagen, auch die Traumatisierung der Kriegs kinder war eine normale Reaktion auf eine furchtbare Kriegssituation mit all ihren Folgen, den sogenannten Traumafolgestörungen, und diese wiederum können Teil eines großen »Lösungswerks« sein aus mehreren Generationen, sich wieder aufzulösen.

I. D.: Ja, lieber Johann, da hast du die Antwort schon selbst vorweg-genommen, danke!

J. L.: Krieg ist immer immens zerstörerisch, bis auf die Grund-mauern, und die Auswirkungen lassen sich nicht einfach mal schnell »beiseiteräumen«?

I. D.: Ja, genau! Insofern ist es auch nur realistisch, dass sich viele Phänomene so hartnäckig halten über viele Generationen hinweg und auch in den Gruppen nicht sofort aufgelöst werden können, manches bleibt einfach auch so und muss akzeptiert werden.

Aber die Menschen haben durch die Selbsterfahrung und durch andere gemeinschaftliche Projekte, die im vierten Teil des Buches angedeutet werden, auch viel Rückhalt.

Und es gibt neue Ressourcen und Fähigkeiten, die ganzen Hilfsbewegungen wie zum Beispiel die Unterstützung der Flüchtlinge oder die Bewegungen zum Erhalt unserer Erde zeigen auch, dass eine neue, gewaltfreie Art der Kommunikation entstanden ist.

J. L.: Das ist ja immens – es beginnt bei der Zerstörung von Krieg, Verfolgung und all das und endet bei heutiger großer Komplexität auf globaler Ebene und bei Bewegungen, diesen Planeten wieder in Ordnung zu bringen.

I. D.: Ja – da schließt sich der Kreis wieder. Und das kann nur von mehreren Generationen geleistet werden.

Gespräch in Frankfurt am Main am 17. 2. 2019

Einleitung

»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«

Christa Wolf, Kindheitsmuster

Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches sind fünf Jahre vergangen- fünf Jahre mit einer großen Zahl von Kriegen, die leider noch andauern, Krisen und daraus resultierend Bewegungen von Menschen zu uns hin, deren Traumatisierungen erst dann schreien werden, wenn diese Menschen sich hier bei uns sicher fühlen werden. Doch schon jetzt ist gewiss, dass hier etwas Großes auf uns zukommt und auch schon da ist, das alle Einrichtungen der psychosozialen Versorgung, der Medizin und der psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten herausfordert. Wir sollten uns jetzt schon darauf einstellen und auch politisch Möglichkeiten mit schaffen, diese Grundpflichten der Menschlichkeit miteinander anzugehen!

Auch wenn es oftmals lange dauert, bis sich verschlossene, verletzte Seelenkammern wieder öffnen und Licht und Wärme hereinlassen, so ist es nie zu spät, alle Zimmer des »inneren Hauses« kennenzulernen, Verletzungen zu heilen und mit dem gewonnenen Abstand das Leben neu zu gestalten – für die Gegenwart und auch für die Zukunft.

Zehn ausgewählte Themenfelder aus vielen Jahren Erfahrung mit mehrgenerationalen Selbsterfahrungsgruppen verdeutlichen im ersten Teil, wie lohnenswert diese Generationen-Begegnungen von Kriegskindern, Nachkriegskindern und Kriegsenkeln für einen veränderten Umgang mit sich selbst und miteinander sind und wie sehr sie uns auch den Weg weisen können im Umgang mit heutigen Kriegserfahrungen Geflüchteter.

Hier werden typische Themen aus dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext besprochen von den Auswirkungen der Nazierziehung, Krieg und Vertreibung über Trauma-Übernahmen, Resilienzentwicklung bis hin zu neuer Selbstliebe.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass sich viele hier wiederfinden können und vielleicht auch eine neue Sichtweise kennenlernen. Vor allem die kleinen, realistischen Schritte der Veränderungen, ob es um die Kontakt-, die Liebes-, die Friedens- und auch um die Konfliktfähigkeit geht, zeigen, wie sehr alle Generationen aufeinander angewiesen sind. Ich wünsche uns allen auch Empathie auch für das Fremde, das uns begegnetund das wir verstehen lernen dürfen.

Diese gehbaren Schritte geben mir ein großes Gefühl von Dankbarkeit und Demut für die Möglichkeiten, zu einem Seelenfrieden zu kommen, für den es keine Altersgrenze gibt.

Im zweiten Teil wird mit Beispielen aus allen drei Generationen aufgezeigt, wie sich Traumata »fortpflanzen« können in die nächsten Generationen hinein. Vor allem deren Transfer in den Körper wird auf eine verständliche Weise durch neuere pränatale, epigenetische und neurobiologische Forschungen belegt, sodass die unterschiedlichen Traumafolgen bei den Generationen besser verstanden werden können.

Welche Anforderungen sich daraus für angeleitete, generationsübergreifende Selbsterfahrungsgruppen ergeben, wird im dritten Teil erläutert. Mir ist vor dem Hintergrund einer meist autoritären Erziehung besonders wichtig aufzuzeigen, wie Selbstbestimmung und Wahlfreiheit ermöglicht und eingeübt werden können. Selbstverständlich gelten die beschriebenen ethischen Prinzipien auch für andere gesellschaftliche Gruppen, in denen sich Menschen aus allen Generationen für Frieden, Demokratie, Umweltschutz, gesellschaftlich am Rand Stehende und durch einen Beistand für Hinzuziehende (»Flüchtlinge«) engagieren.

Deshalb ist die Entwicklung einer gewaltfreien Kommunikation, die im vierten Teil exemplarisch an den Beginn gestellt wird, nicht nur individuell, sondern für alle diese Bewegungen auch gesellschaftlich von Bedeutung, sollen doch nach wie vor neue – neben alten – Werte im gelebten Leben umgesetzt werden.

Bahnbrechende Veränderungen seit 1945 in Gesellschaft, Politik und Sozialisation werden kurz skizziert, um sie auf ihre Auswirkungen auf die genannten drei Generationen hin abzuklopfen und sie auf den menschlichen Umgang mit „Fremden“ vorzubereiten..

Diese »Puzzlelegung« für die Zukunft schließt damit ab, wo sich diese drei Generationen sowie weiter auch die Kinder und Kindeskinder der Kriegsenkel schon jetzt neu begegnen: Es erfüllt mich mit Stolz und mit einem wohltuenden Gefühl von Zugehörigkeit zu dieser mehrgenerationalen Menschengemeinschaft! Die »Menschenpflichten«, die von Aleida Assmann, der Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2018, angemahnt werden, sehe ich hier schon in berührenden Formen des Miteinanders umgesetzt: mit einem gewaltfreien Einsatz für Demokratie, Frieden, Umweltschutz und Mitmenschlichkeit für zu uns Kommende in Not. Ja – wir schaffen das!

Mit biografischen Selbstreflexionen, die weiterhin genährt werden wollen, schließt der fünfte Teil dieses Buch ab: Gruppenteilnehmerinnen aus drei Generationen nutzen die heilsamen Wirkungen des Schreibens auf das Innere: Wie sehen sie die in Teil eins geschilderten Themen nun aus zeitlicher Distanz? Wie haben sie die »Schattenanteile« verarbeitet, wie auch mehr Licht in ihr Leben gelassen? In ihren Ausblicken auf die Zukunft ist das Vergangene als Teil von ihnen mit enthalten, sie trennen es nicht mehr von sich ab, sie stellen sich nicht mehr fremd. Sie sind kompetente, vielseitig resiliente und bewusst lebende Erwachsene geworden. Sie haben gelernt zu trauern und auch wieder mehr Freude zu empfinden.

Viele ihrer vernachlässigten oder misshandelten »inneren Kinder« werden dabei mit an die Hand genommen. Von ihnen selbst.

Auch das können Erfahrungswerte sein, die übertragbar sind auf den Umgang mit Menschen, die bei uns Zuflucht oder ihre neue Heimat suchen.

Ich habe die weibliche Form in der Schreibweise bewusst gewählt.

Die männlichen Leser sind mit gemeint.

KAPITEL I

Puzzleteile mehrgenerationaler Selbsterfahrungsgruppen: Kriegskinder, Nachkriegskinder, Kriegsenkel

Das aus dem Englischen stammende Legespiel eines Puzzles lässt sich mit Rätsel oder noch besser mit Geduldsspiel übersetzen, da die einzelnen Puzzleteile oftmals sehr langwierig zu einem Ganzen zusammengesetzt werden.

Bei heutigen, sehr differenzierten Spielen dieser Art kann zum Beispiel unterschieden werden, welche der beiden Seiten der Puzzleteile verwendet oder ob überflüssige Puzzleteile aussortiert werden müssen.

Als größte Herausforderung für fortgeschrittene Puzzlelegerinnen gelten leere silbergraue oder bronzegetönte Flächen ohne Motive, ganz zu schweigen von 3-D-Puzzles oder Happy Cubes.

Ein Puzzle kann man beginnen und jederzeit unvollendet liegen lassen.

Es besitzt klar konturierte Grenzen zwischen den einzelnen Teilen, sodass manche Teilbereiche auch abgekapselt erscheinen von den anderen.

Diese Spiele-Metapher, meinen exemplarischen Gruppensituationen vorausgeschickt, soll die LeserInnen durch den nächsten Teil begleiten.

Inwieweit diese Form ein angemessener und vielleicht sogar typischer Ausdruck für einen Gruppenprozess mit unterschiedlich traumatisierten Menschen verschiedener Generationen sein kann, soll nach der Darstellung einzelner Puzzleteile aus mehreren Gruppen diskutiert werden.

Leserinnen und Leser mögen also bitte keinen kontinuierlich erzählten Gruppenprozess nach den bekannten unterscheidbaren Gruppenphasen erwarten, sondern sich beim Lesen des nächsten Teils auf das gedankliche Experiment einer erst einmal fragmentarisch bleibenden Puzzle-Legung einlassen.

1. »Ich hole mir mein Leben zurück!«Ein Kriegskind entdeckt die eigene Bedürftigkeit

Dagmar erstaunte mich schon bei den Vorgesprächen zur Gruppe sehr positiv: Damals 79-jährig, schien sie mir in ihrer Vitalität, ihrer positiven Ausstrahlung und mit ihren ungewöhnlichen Aktivitäten ein gänzlich untypisches Beispiel für ein Kriegskind zu sein.

Neben ihrer Mitarbeit in einer »Stolpersteingruppe« (bei der mit Gedenksteinen in der Erde an die verschleppten jüdischen Besitzerinnen erinnert wird), die sie damit begründete, »etwas anders als ihre Eltern machen zu wollen«, hatte sie studiert und ihr Geld immer selbstständig verdient – auch das noch sehr ungewöhnlich für eine junge Frau der damaligen Zeit!

Außerdem betreute sie zu dieser Zeit regelmäßig eine Flüchtlingsfamilie, sagte dazu aber gleich, dass es ihr selbst im Gegenzug schwerfalle, sich helfen zu lassen. Dies zu ändern war denn auch eines der Ziele für die als Jahresgruppe anberaumte Selbsterfahrungsgruppe, die sie zusammen mit mir festlegte.

Weitere Motive für ihre Teilnahme waren Symptome wie Schlaflosigkeit und verschiedene Ängste, was sie vermuten ließ, dass sie »ihre Vergangenheit noch nicht genügend aufgearbeitet habe«, ohne dies damals genauer fassen zu können.

Doch danach gefragt, was denn wohl anders sein könne, wenn sie die Vergangenheit aus ihrer Sicht genügend erhellt hätte, erhoffte sie sich, von den anderen Generationen besser verstanden zu werden als bislang von ihrer eigenen.

Ich ließ das so stehen, ahnte aber schon, dass sie mit ihrer Offenheit und Bewusstheit eine Herausforderung für Gleichaltrige sein musste, zu der auch die von ihr benannte Einsamkeit gehörte. Sie hatte nie in einer festen Partnerschaft gelebt.

Jedenfalls wurde schon vor dem eigentlichen Gruppenbeginn deutlich, dass sie sich auf die Erfahrungen mit den anderen Generationen nahezu freute – auch dies erst einmal eher untypisch für die angeblichen Kommunikationsprobleme ihrer Generation.

Meine damalige erste Hypothese, bei ihr von einem sehr resilienten Menschen sprechen zu können, sollte sich bewahrheiten, doch davon später mehr.

In der sich noch findenden offenen Gruppe mit ihrer Anfangsfluktuation und den entsprechenden Unsicherheiten – wer geht, wer bleibt? – nahm sie zuerst eine großmütterliche »sichere« Position ein und erzählte – wenn überhaupt etwas von sich – schon abgeklärte, geschlossene Handlungen, worin sie weder von der Gruppe noch von mir wirklich Hilfestellungen bedurfte, doch ihr wurde respektvoll zugehört ohne Bewertungen, alles bekam seinen Raum und diente dem anfänglichen Vertrauensaufbau.

Ich bezog mich öfter auf ihren großen Erfahrungsschatz aus Gruppen, die sie selbst geleitet hatte, und dass ich dankbar sei, dass sie dies als Ressource mit einbringe. Auch dieser – eigentlich selbstverständliche! – Umgang »auf Augenhöhe miteinander« schuf Vertrau en. Dass sie dadurch anfangs in der ihr vertrauten, gebenden Rolle blieb, wurde akzeptiert . . .

. . . bis eine Kriegsenkelin das Thema ihrer eigenen großen Bedürftigkeit direkt und gefühlvoll zur Sprache brachte: Nach einer OP war Sigrid längere Zeit als erwartet gehbehindert. »Ich bin dadurch jetzt aber in der Lage, meine Bedürfnisse nach Kontakt mehr zu spüren, und möchte dies nicht gleich wieder relativieren«, widersprach sie einem anderen Kriegskind, das dieses Thema als lediglich temporären Einschnitt abwiegeln wollte.

Sie wohnte in einem der oberen Stockwerke, und neben der Schwierigkeit, die Alltagsdinge mit Rucksack zu meistern, vermisste sie vor allem schmerzlich die gewohnten Kontakte zu Freundinnen und Freunden, die – allesamt noch wie sie selbst berufstätig – ihr nicht immer in der gewünschten Art und Weise beistehen konnten.

»Ich dachte, du seiest ganz allein, jetzt höre ich, dass du ja doch einige Helfer hattest, dann ist das doch alles nicht so schlimm«, hörten wir dann die ungewohnt harte, schneidende Stimme von Dagmar.

Dem Wutanfall Sigrids, sie verbiete sich solch eine herzlose Reaktion, folgten noch mehrere sehr kühl vorgebrachten Sätze von Dagmar nach dem Motto, stell’ dich nicht so an, dieses Thema (der körperlichen Einschränkungen) habe ich schon mein ganzes Leben lang (was ja auch stimmte) – und ICH stelle mich nicht so an, ich trage dies wortlos . . . (und heldinnenhaft, dachte ich!).

Dann folgte ein längeres, betretenes Schweigen in der Gruppe, nach dem ein Nachkriegskind sehr berührt die Frage stellte, was denn eigentlich gerade wirklich gelaufen sei?

Ich bat alle Gruppenteilnehmerinnen, ihre Stühle etwa einen Meter zurück zu rücken, um noch leichter auf die Situation von eben zurückblicken zu können.

Sigrid versuchte als Erstes einen Rückzieher zu machen (»So schlecht wie Dagmar geht es mir ja auch wirklich nicht.«) und wurde von mehreren Gruppenteilnehmerinnen dabei gestoppt. Diese hatten sie während der ersten Krankheitsphase zu Hause besucht und es als wohltuend erlebt, dass die sonst sehr zurückhaltende Sigrid diese Vertiefung der Kontakte und die Hilfsbereitschaft der anderen sichtlich genießen konnte und dies am Anfang dieser Gruppensitzung auch positiv herausgestellt hatte.

Ein anderes Kriegskind mit Vertreibungshintergrund weinte – tief und bitterlich. »Das kann ich einfach nicht, so direkt meine Gefühle wie Wut zeigen wie die Jüngeren.« Hier ging es im Folgenden dann darum, sich nicht zu vergleichen und sich erst einmal mit den eigenen Bewältigungsmustern der frühen Flucht als kleines Kind »schnell durchkommen zu müssen, ohne sich groß Gefühle erlauben zu können« so anzunehmen.

»Außerdem«, so steuerte ein anderes Kriegskind bei, »zeigen WIR unsere Gefühle einfach anders . . .« Dagmar selbst sagte lange nichts, schien aber sehr unruhig zu sein.

Ich wiederholte an dieser Stelle einen unserer Gruppenleitsätze, dass dieser geschützte Raum unserer Gruppe immer wieder neu eine Chance sei, das Land der Wertungen zu verlassen und uns selbst etwas besser zu verstehen.

Da brach es aus Dagmar heraus, zuerst in angriffslustigem Ton: »Ich habe das ganze erste Jahr in der Gruppe nichts gesagt, obwohl mir die Treppe in den 1. Stock viel zu steil und die Toilette viel zu eng war. Und Sie als Gruppenleiterin nehmen einfach nicht genug Rücksicht!«

Es wurde anerkannt, dass das erste Gruppenjahr in dieser Hinsicht schwer für sie gewesen sei – Gruppenteilnehmerinnen erinnerten sie aber auch daran, dass wir deshalb im zweiten Jahr den Raum gewechselt und jetzt zum neuen Raum hin einen Aufzug und »be hindertengerechte“ Toiletten hätten . . .

Ich fragte sie, ob sie das Gefühl habe, von mir nicht wirklich gehört zu werden in ihren spezifischen Bedürfnissen.

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor! Wenn du wieder normal bist, kannst du wiederkommen«, antwortete sie traurig mit einem Satz ihres Vaters, der sie in den Keller oder auf den Dachboden ge sperrt hatte, wenn sie aus seiner Sicht nicht »lieb« war. Es folgten Beispiele aus dem bekannten »Pakt des Schweigens« dieser Generation.

Weder durfte über den frühen Tod der Schwester gesprochen werden, die an den Kriegsfolgen gestorben war, geschweige denn durfte darüber getrauert werden. Dagmar blieb als 4-Jährige einsam zurück, ohne seelische Resonanz, ohne Empathie für ihre versteckt bleibende Trauer.