Ich lebe gerne, denn sonst wäre ich tot - Willi Resetarits - E-Book

Ich lebe gerne, denn sonst wäre ich tot E-Book

Willi Resetarits

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Beschreibung

Willi Resetarits war einer der bekanntesten Musiker, Entertainer und Politaktivisten Österreichs. Mit den legendären „Schmetterlingen“ schrieb er Politrockgeschichte. Als Ostbahn-Kurti wurde er zum Megastar der österreichischen Popmusik. Als Politaktivist setzt er sich für Minderheiten und Verfolgte ein. In diesem Buch erzählt er die Geschichte seines bewegten Lebens.

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Über Buch und Autor

Willi Resetarits (1948—2022) war einer der bekanntesten Musiker, Entertainer und Politaktivisten Österreichs. Mit den legendären Schmetterlingen schrieb er Politrockgeschichte. Als Ostbahn-Kurti wurde er zum Megastar der österreichischen Popmusik. Als Politaktivist setzte er sich für Minderheiten und Verfolgte ein. In diesem Buch erzählt er die Geschichte seines bewegten Lebens.

Resetarits kam als kroatischer Burgenländer in Stinatz im Südburgenland zur Welt. Seine Kindheit verbrachte er gemeinsam mit seinem Bruder Erich Lukas, der später als Kabarettist Karriere machen sollte, in zutiefst bäuerlicher, fast vorindustrieller Gesellschaft. Als Willi und sein Bruder zur Schule kamen, übersiedelte die Familie nach Wien-Favoriten, später nach Floridsdorf. Dort erlebte Willi Resetarits die Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre, vor allem aber die Urgewalt der Rockmusik, die aus England und Amerika nach Wien schwappte. Schon als Gymnasiast gründete er erste Bands. Mit den Schmetterlingen gelang in den Siebzigerjahren der Durchbruch, als die Band zuerst die Proletenpassion herausbrachte und dann mehrere Jahre auf Tour ging.

In den frühen 1980er-Jahren schlüpfte Willi Resetarits in die Rolle des Ostbahn-Kurti, einer vom Schriftsteller Günter Brödl erfundenen Rock’-n’-Roll-Kunstfigur. Als Kurt Ostbahn – „der Mann, der an das Gute im Menschen glaubt, es aber nicht unbedingt verkörpert“ – stieg Resetarits zur Kultfigur der österreichischen Popmusik auf und spielte zahlreiche Tourneen vor ausverkauften Sälen in Deutschland und Österreich.

Parallel dazu engagierte sich Resetarits politisch. Mit André Heller war er einer der Initiatoren des Lichtermeers, als sich Hunderttausende auf dem Heldenplatz gegen Ausländerfeindlichkeit versammelten. Er ist Mitbegründer des Wiener Integrationshauses, in dem Flüchtlinge auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden.

In diesem Buch, das zu seinem 70. Geburtstag erschien, erzählt Resetarits humorvoll und ungeschminkt aus seinem Leben. Die Geschichte eines Ausnahmeentertainers, aber auch der österreichischen Popmusik und – von abseits der Teppichetagen gesehen – auch der Zweiten Republik.

Für Angela & Valentin Resetarits R. I. P.

Es stürmt die Zeit und gibt nicht Rast

und Müdigkeit hat dich erfasst

du willst die Augen schließen

und dennoch schließ die Augen nicht

dem Sturme sieh ins Angesicht

denn du sollst alles wissen.

aus dem Gedicht „Sturmzeit“ von Jura Soyfer

INHALT

1. Kapitel STINATZ

Die Welt von gestern

2. Kapitel FAVORITEN

Die Welt zwischen Humboldtplatz und Keplergasse

3. Kapitel DER BRUCKHAUFEN

Heimat, neue Heimat in Floridsdorf

4. Kapitel DER JUNGE MUSIKANT

Die erste Gitarre, die erste Band, das erste Mikrofon

5. Kapitel SCHMETTERLINGE

Der Anfang

6. Kapitel DIE „PROLETENPASSION“

Ein Stück ihrer Zeit

7. Kapitel DIE ARENA

Aufbruch in ein neues Kapitel Stadtpolitik

8. Kapitel DER HÖHEPUNKT

Die Schmetterlinge in Deutschland, beim Song Contest, gegen Zwentendorf

9. Kapitel DER ÜBERGANG

Schmetterlinge, Weltorchester, Ostbahn-Kurti

10. Kapitel DER KURTL

Günter Brödl, sein Traum und die Chefpartie

11. Kapitel OSTBAHN XI

Charts, Aufstieg, Massenkonzerte. Die Chefpartie-Jahre

12. Kapitel HELDENPLATZ

SOS Mitmensch, das Lichtermeer, Duett mit der Mutter

13. Kapitel INTEGRATIONSHAUS

Von der Idee zur Verwirklichung

14. Kapitel KURT OSTBAHN

Erwachsenwerdung und Brödls Abschied

15. Kapitel „TROST & RAT“

Die Radiojahre

16. Kapitel DIE GEGENWART

Das Ende von Ostbahn und der Anfang von unendlich viel Neuem

1. KapitelSTINATZDie Welt von gestern

Im November 1950 gewinnt der Vater im Toto. Er hat einen Elfer, der bringt 82 Schilling, die der Vater ausnahmsweise nicht spart. Für das Geld lässt er meinem Bruder Erich und mir in der Schneiderei in Litzelsdorf einen Anzug schneidern. Dann macht er im Fotostudio Isabella in Stegersbach einen Termin für ein Familienfoto aus.

Am Tag des Fotos regnet es wie aus Kübeln. Die Mutter muss ihr schönes Kleid in eine blaue Arbeiterhose hineinstecken, damit es nicht nass wird. Später am Foto wird man sehen, wie zerknittert das Kleid deshalb ist. Auf zwei ausgeborgten Fahrrädern fahren die Eltern im strömenden Regen von Stinatz nach Stegersbach zur Fotokünstlerin Isabella. Mein Bruder und ich fahren in den Kindersitzen auf der Lenkstange mit.

Es war eine Welt von gestern, in die ich in Stinatz in der Nacht vom 21. Dezember 1948 geboren wurde. Die längste Nacht des Jahres. Als die Mutter die Wehen bekam, hat irgendwer die Hebamme geholt, die zuerst noch die Tiere im Stall füttern musste. Die Hebamme hat sich im Brunnen mit eiskaltem Wasser die Hände gewaschen und mich dann herausgeholt. So erblickte ich das Petroleumlicht der Welt. Elektrisches Licht gab es bei uns noch nicht.

Einige Stinatzer hatten zwar schon Strom eingeleitet gehabt, aber wir noch nicht. Wir haben zur Untermiete in einer Einzimmerwohnung im Haus vom Pietre Šuostr gewohnt, dem Peda-Schuasta, der die „Čižme“ hergestellt hat, die berühmten Stinatzer Tanzstiefel. Es war damals üblich, zur Untermiete zu wohnen. Eine gute Hälfte der Stinatzer hatte eigene, lehmgesetzte Häuser, und wenn genug Platz war, haben sie ein Zimmer oder eine Kammer vermietet. Dann ist jemand mit seiner Familie für eine Saison eingezogen oder für zwei. Wenn die Vermieter das Zimmer wieder gebraucht haben, ist man in ein anderes Haus übersiedelt. Das war normal. Ich war mit der Agnes-Tante in meiner Kindheit auf drei Untermieten. In Stinatz war es immer schon so, dass die Männer auswärts gearbeitet haben. Der Boden ist so schlecht, dass seit Jahrhunderten nur ganz wenige Menschen von der Landwirtschaft leben konnten.

Einige betrieben Viehhandel zwischen dem Balaton und Südtirol, andere handelten mit ungarischem Wein. Wer kein eigenes Geschäft hatte, hat irgendwo geholfen. Jedenfalls waren viele Männer nur im Winter und zur Erntezeit daheim. Deshalb sind auch die Kinder immer ungefähr zur selben Jahreszeit auf die Welt gekommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten Männer Pendler. Sie sind nach Graz oder Wien gependelt und nur alle vierzehn Tage nach Hause gekommen. Später, als die Südautobahn fertig war, jedes Wochenende und vielleicht sogar einmal unter der Woche. Stinatz war immer eine Pendlerortschaft. Die Kinder wurden von den Frauen erzogen. Wenn die Mütter in den kleinen Landwirtschaften gearbeitet haben, dann kümmerten sich die Großmütter um die Kinder.

Mein Vater hieß Valentin, das sprach man so aus: „Foletín“. Im Stinatzerischen werden die Wörter immer auf der letzten Silbe betont. Der Vater war Maurer. Er hätte gern Maschinenschlosser gelernt, aber das hat sein Vater, mein Großvater, nicht erlaubt. Valentin hätte sogar eine Lehrstelle bei der Lokomotivfabrik in Floridsdorf haben können, aber das war dem Großvater zu hochtrabend. Stinatz, das war Unterschicht. Wir waren Kleinhäusler und Arbeiter, andere gab es nur wenige. Das Klassenbewusstsein saß so tief, dass nicht einmal der Gedanke an gesellschaftlichen Aufstieg zugelassen wurde. Man war stolz, Stinatzer zu sein. Es gab das geflügelte Wort: „Stinatz is a eigene Republik.“

Aber mein Vater war ehrgeizig. Er begann seine Maurerlehre bei der Firma Universale, das hat der Großvater gerade noch erlaubt. Bevor er aber ausgelernt war, musste er einrücken, zu den Pionieren der Wehrmacht. Er war 1926 geboren und wurde 1943 als Siebzehnjähriger eingezogen.

Es war so: Gearbeitet haben die Männer auswärts. Aber geheiratet haben sie zu Hause, in Stinatz. Das war das ungeschriebene Gesetz. Und sie haben auf ihre Mädels aufgepasst. Regelmäßig kamen prallhodige Oststeirer von drüber der Lafnitz nach Stinatz, weil es da sieben oder acht Gasthäuser gab, wo immer was los war. Dort konnte man beim anderen Geschlecht Eindruck machen.

Die Stinatzer Burschen wussten aber, wann die Oststeirer auftauchen würden, und fassten den Plan, sie an der Ortsgrenze abzupassen. Dort teilten sie den Auswärtigen mit, sie mögen umdrehen, aber dalli. Denn: „Mir pucken unsere Hühner selber.“

Damit war alles über Liebe und Familienplanung in Stinatz gesagt.

Meine Mutter hieß Angela, aber alle nannten sie Gela, langes „e“, Stinatzer „l“, das ein bisschen mit dem Meidlinger „l“ verwandt ist. Sie war zwei Jahre älter als mein Vater und kannte ihn von Kindheit auf. Er imponierte ihr, weil er eine auffällige Erscheinung war. So was wie der Anführer der Bande. Er konnte gut reden und brachte die Leute zum Lachen.

Die beiden waren schon gemeinsam in der Schule gewesen. Wie es auf dem Land üblich war, besuchten mehrere Jahrgänge eine Klasse. Meine Mutter war eine sehr gute Schülerin, das heißt, sie musste die Jüngeren unterrichten. Schikanen gehörten zur Schule wie das Melken zum Stall. Zum Beispiel legte der Lehrer größten Wert darauf, dass die Kinder mit geputzten Schuhen zur Schule kamen, was ein Witz war, weil viele Leute überhaupt keine Schuhe hatten. Im Winter blieben die Kinder ohne Schuhe zu Hause und waren vom Unterricht befreit.

Mein Vater hatte schon Schuhe, aber er putzte sie nicht so gern. Er polierte nur den einen Schuh, der vom Mittelgang aus als erster zu sehen war, während der andere vor Dreck und Gatsch starrte. Die Stinatzer Straßen waren ja noch nicht asphaltiert.

Der ungeputzte Schuh war eine Pointe, die mein Vater setzte, ein listiges Zeichen des Widerstands. Aber der Lehrer durchschaute ihn. Es setzte Prügel, aber irgendwie war der Trick trotzdem gelungen, weil die ganze Klasse über den Foletín lachen musste. Damals muss sich die Mutter in ihn verliebt haben.

Die Familiengeschichte meines Vaters ist sehr traurig. Aber auch typisch für Stinatz. Seine Mutter – meine Großmutter – starb an Tuberkulose, als er drei war. Die kleine Schwester vom Vater auch. Und der Urgroßvater. Sein Vater – mein Großvater Franz – heiratete dann die Schwester seiner verstorbenen Frau und hatte mit ihr noch zwei Buben. Die beiden zog die neue Mutter dem Sohn aus erster Ehe vor. Kann gut sein, dass sie sich insgeheim gewünscht hat, dass er aus dem Krieg nicht mehr zurückkommt.

Mit uns, dem Erich und mir, hat die Stiefgroßmutter nie geredet. Unsere Cousine Aca sagte auf der Straße oft: „Schaut, da geht eure Großmutter.“ Wir sahen eine Frau, die ihr Kopftuch hoodiemäßig über den Kopf gezogen hatte und angestrengt in die andere Richtung schaute. Sie setzte sogar durch, dass der Großvater uns später enterben musste.

Fast hätte es uns alle eh nicht gegeben. Denn mein Vater übernahm bei den Pionieren ein Himmelfahrtskommando. Während die Wehrmacht aus Russland abzog, musste er Brücken sprengen, möglichst wenn sich schon sowjetische Fahrzeuge darauf befanden. Das Risiko, dabei selbst in die Luft zu gehen oder vom Feind gefangen und erschossen zu werden, war gewaltig. Wenn ich jetzt an meinen Vater zurückdenke, weiß ich nicht, ob sich hinter seiner lustigen Art nicht auch eine gewisse Todessehnsucht versteckte. Er kam aus dem Krieg zurück, als er neunzehn war. Irgendwo in Ostdeutschland hatte sich seine Einheit aufgelöst, und er war zu Fuß nach Stinatz aufgebrochen. Auch das war nicht ungefährlich, die Gegend wimmelte von sowjetischen Soldaten.

In einem kleinen Wäldchen bei Oberwart begegnete er prompt einem jungen Russen, der Patrouille ging. Es war eine schicksalhafte Begegnung, bei der das Stinatzerische eine wichtige Rolle spielte. Das Stinatzerische ist mit dem Russischen gut kompatibel, und so konnte mein Vater auf den Ruf des russischen Soldaten etwas antworten, was der verstand. Das reichte aus, um den Russen zu einem kurzen Moment der Pflichtvergessenheit zu motivieren. Er schaute weg, mein Vater konnte verschwinden. Genauso gut hätte der russische Soldat durchladen und schießen können, was insofern schade gewesen wäre, als dann nicht nur mein Vater tot, sondern auch meine Brüder und ich niemals am Leben gewesen wären. Wie es mein Freund Ernst Molden in einem Lied so treffend gesagt hat.

Bald darauf kam der Vater zurück nach Stinatz. Seine Stiefmutter war nicht froh, aber meine Mutter schon. Viele andere auch, denn der Vater konnte seine neuen Fähigkeiten als Pionier gleich gut einsetzen. Die Front war mehrere Wochen direkt durch Stinatz gegangen, entlang der Hauptstraße und in der Umgebung lagen jede Menge Minen. Die musste man entfernen, damit man wieder Landwirtschaft betreiben konnte. Mein Vater hat also am Wochenende diese Minen entschärft und unter der Woche am Bau gearbeitet. Und zwischendurch muss er noch Zeit gehabt haben, meine Mutter besser kennenzulernen.

Gela arbeitete zu dieser Zeit hart in der Landwirtschaft. Meistens war sie mit dem kleinen Bauernhof der Großeltern beschäftigt, aber dreimal im Jahr ging sie im Marchfeld in den Dienst, um dort Rüben zu säen, zu vereinzeln und zu ernten. Da gab es traditionelle Verbindungen zwischen den Marchfeldern und den Stinatzern. Meine Juditha-Tante ist noch bis in die siebziger Jahre ins Marchfeld gefahren, gemeinsam mit der Mutter von der Marijana und vom Ernst Grandits.

Am 14. Oktober 1947 kam mein Bruder auf die Welt. Meine Eltern wollten ihn Erich nennen, aber die Großmutter bestand auf einem Heiligen. So kam der Patron des 14. Oktober ins Spiel, der heilige Lukas.

Mein Bruder wurde also Erich Lukas getauft. Familienname Kirisits, weil die Eltern noch nicht verheiratet waren. Das war natürlich nicht gern gesehen. Ich kenne noch aus der Vorschulzeit viele, viele Lieder, die gesungen wurden, in denen eine ledige Mutter ins Wasser geht, weil der Kindsvater sie verlassen hat.

Aber mein Vater hat die Mutter nicht verlassen. 1948, im Frühjahr, war Hochzeit. Das hat die Großmutter angeordnet, die Mutter meiner Mutter, eine kleine Frau mit dunklem Teint, die sehr streng und sehr bigott, aber auch sehr stolz war. Sie sagte, als meine Mutter mit dem Erich Lukas schwanger war: „Geheiratet wird im Fasching. Wir haben das nicht not, dass man da noch schnell, schnell heiratet, bevor das Kind auf die Welt kommt.“ So ist der Erich als Kirisits auf die Welt gekommen und erst zum Resetarits geworden, als im Fasching 1948 schließlich geheiratet wurde.

Ich habe wenige direkte Erinnerungen an die Zeit, als wir in Stinatz lebten. Es waren die ersten drei Jahre meines Lebens. Ich erinnere mich aber sehr genau an Gefühle, die von Erzählungen bestätigt werden. Diese Gefühle sind stark und echt. Sie stammen tief aus meinem Inneren. Es sind keine heiteren Gefühle, sondern eine tiefe Angst, verlassen zu werden.

Meine Eltern hatten Pläne. Sie wollten weg von Stinatz. Sie wollten, dass mein Bruder und ich eine gute Schulbildung bekommen. Das war in Stinatz nicht möglich. In Stinatz gab es eine Volksschule mit acht Klassen, in der auf Burgenlandkroatisch unterrichtet wurde. Darüber hinaus gab es keine weiterführenden Bildungsmöglichkeiten. Wer hier blieb, wurde Maurer, Zimmermann oder vielleicht Briefträger.

Für ihre Pläne brauchten die Eltern Geld. Dafür mussten sie dorthin, wo gebaut wurde. In der sowjetischen Besatzungszone – im Burgenland, in Teilen Wiens, in Niederösterreich und dem Mühlviertel – wurde nicht viel gebaut. Die Eltern beschlossen, für ein halbes Jahr nach Salzburg auf eine Baustelle zu gehen, der Vater als Maurer, die Mutter als Bauhilfsarbeiterin gleich mit.

Jetzt war das für mich ein Drama hoch zwei. Nicht nur, dass die Mutter von heute auf morgen nicht mehr da war. Ich wurde auch noch von meinem Bruder getrennt.

Mein Bruder Erich war vierzehn Monate älter als ich, und ich war symbiotisch mit ihm verbunden. Er war größer als ich, er war stärker als ich, und ich lief ihm immer hinterher. Wenn er wohin gegangen ist, bin auch ich dorthin gegangen. Das hat sich übrigens bis zu unserer ersten Beatband nicht geändert, die eigentlich seine Band war, aber in meiner Wahrnehmung eben auch unsere. Aber so weit sind wir noch nicht.

Ich wurde vom Bruder getrennt, denn die Großeltern wollten nur ein Kind in Obhut nehmen: ihn. Ich war ihnen noch zu klein. Also kam ich zu meiner Agnes-Tant – Teta Jagica. Die hatte eine Tochter, die Aca, die schon acht oder neun war und auf mich aufgepasst hat. Es gab auch einen Sohn, den Rudi, den älteren Bruder von der Aca. Aber der war in Mattersburg im Priesterseminar, weil die Teta Jagica eine Betschwester war. Das Priesterseminar war damals die einzige Möglichkeit, aufs Gymnasium zu kommen. So bekam ich eine Art Bruder, zusätzlich zu meinem eigenen Bruder.

Ich glaube, ich war trotzdem sehr unglücklich. Meine Mutter war verschwunden. Mein Bruder verstand schon, dass sie zurückkommt. Ich aber nicht. Auch der Bruder hat mir gefehlt, obwohl ich ihn sehr oft gesehen habe. Oft hat aber nicht genügt. Richtig wäre immer gewesen.

Kinder durften einem damals nicht viel Arbeit machen. Am meisten Arbeit machten aber volle Windeln. Deshalb hat mir die Mutter vor ihrer Abreise noch auf radikale Weise beigebracht, nicht mehr in die Windel zu gacken. Die Übung ist gelungen. Das Problem war: Nachdem die Mutter weg war, habe ich mich an die Vereinbarung nicht mehr gebunden gefühlt. Die Aca hat mich immer auf Stinatzerisch gefragt, ob ich Gaga muss, und ich habe immer geantwortet: „Ich brauche nicht! Ich brauche nicht!“ Und dann hab ich aus Protest in die Hose geschissen. Das hab ich dann mit dreieinhalb Jahren wiederholt, als ich in Wien in den Kindergarten musste.

Einmal in dieser Zeit ist mich dann meine Mutter besuchen gekommen, allerdings nur für eine halbe Stunde. Von Salzburg nach Stinatz war es eine Weltreise. Man musste zuerst mit dem Zug nach Wien, quer durch verschiedene Zonengrenzen, dann umständlich hinunter ins Burgenland, wieder über zwei Zonengrenzen, und dann von Neudau zu Fuß nach Stinatz. Dazu war das Wochenende zu kurz. Auf den Baustellen ist bis Samstagmittag gearbeitet worden. Die Mutter ist also irgendwann am Sonntag angekommen, und eigentlich musste sie schon wieder zurück, damit sie am Montag in der Früh wieder auf der Baustelle ist. Aber sie wollte wenigstens für einen Moment ihre Kinder sehen.

Nicht mit mir. Ich habe mich abgewendet. Gerade hatte ich mich mit der neuen Mutter, der Teta Jagica, abgefunden. Sie war kleiner als meine Mutter, deshalb habe ich immer mala mati, kleine Mutter, zu ihr gesagt. Die echte Mutter war die velika mati, die große Mutter. Aber mit ihr wollte ich nicht sprechen, als sie da war, und dann war sie schon wieder weg, um den Zug nach Wien zu erwischen. Die Mutter hat sich die halbe Stunde daheim wahrscheinlich auch anders vorgestellt.

Zurück ins Fotostudio. Als wir in Stegersbach bei der Fotokünstlerin Isabella ankommen, wird zuerst das Familienfoto gemacht. Die Mutter steigt aus der Arbeiterhose. Ihr Kleid ist ganz verdrückt. Der Vater wirft sich in Positur und stellt sich vor den gemalten Hintergrund. Ich stehe schräg hinter der Mutter und halte mich an ihrer Kittelfalte fest.

Jetzt will die Isabella noch ein Bild von den beiden Buben allein machen. Auch das noch. Die Isabella macht mir Angst. Sie ist eine Hexe. Das Fotostudio mit den antiken Hintergründen ist mir unheimlicher als wie die stockdunkle Nacht.

Zum Glück ist der Bruder da. Er ist ein Gentleman und weiß ganz genau, was ich brauche. Als wir uns in die unheimlichen Kulissen stellen müssen, gibt er mir seine Hand. Dann stellen wir uns so vor die Kamera, dass der Bruder im Vordergrund ist und ich weiter hinten, wobei er seinen Körper so dreht, dass niemand sehen kann, dass der Kleine hinter ihm seine Hand nicht loslässt. Vielleicht macht er das auch nur, weil er nicht will, dass das uncoole Händchenhalten auf ihn durchschlägt. Das ist das erste Foto, das es von mir gibt.

Stinatz heißt auf Kroatisch Stinjaki. Noch heute sind mehr als die Hälfte der 1200 Einwohner Burgenlandkroaten. Damals in den fünfziger Jahren gab es nur Burgenlandkroaten. Es wurde ausschließlich stinatzerisch gesprochen, auch wenn fast jeder Deutsch konnte. Aber deutsch gesprochen hat man nur mit Auswärtigen.

Das Dorf hat eine Geschichte, die erklärt, warum die Menschen so arm waren und unter sich blieben. Stinatz wurde im 16. Jahrhundert gegründet, als kroatische Familien in dem von den Türkenkriegen und der Pest teilweise entvölkerten Gebiet Westungarns angesiedelt wurden. Der damalige Besitzer der Region, Franz Graf Batthyány, warb aus Kroatien Menschen an, die mit Militärbegleitung umgesiedelt wurden. Sie bekamen ein Stück Land, das sie bearbeiten konnten und von dem sie an den Großgrundbesitzer Abgaben bezahlen mussten. So füllte man leer stehende Ortschaften wieder auf.

Stinatz entstand als neue Ortschaft auf einem Lehm- und Schotterriegel, als seine Bewohner aus dem Lafnitztal vertrieben wurden. Gesprochen wurde immer kroatisch. Ende des 19. Jahrhunderts verfügte die ungarische Regierung, dass Stinjaki einen neuen, magyarischen Namen bekommen soll: Pásztorháza, was aber von der Bevölkerung nicht angenommen wurde. Bei den Deutschsprachigen hieß Stinatz sowieso immer Stinatz. Das hielt sich auch dann, als Westungarn 1921 an Österreich abgetreten wurde und plötzlich das Burgenland war.

Mein Bruder und ich sprachen kein Wort Deutsch. Als wir 1953 nach Wien übersiedelten, kamen wir nicht nur in eine fremde Stadt, sondern wir mussten auch eine fremde Sprache lernen. Die Erwachsenen konnten alle Deutsch. Auch unsere Eltern sprachen von heute auf morgen nur noch deutsch mit uns, das war ziemlich verwirrend.

Zwei wichtige Sätze hatte mir schon die Aca beigebracht. „Ich muss Lulu.“ „Ich muss Gaga.“ Das war fürs Erste das Wichtigste. Dass ich mir nicht schon wieder in die Hose machte. Den Rest lernten wir auf die harte Tour.

Wir sind nach Wien gezogen, aber auch in Stinatz geblieben. Der Bruder und ich haben einen großen Teil der Vorschulzeit in Stinatz verbracht. Wir haben stinatzerisch gesprochen und wurden von den zurückgebliebenen Großeltern, Onkeln und Tanten auch regelmäßig ausgefragt: „Wo ist es schöner? Wien oder Stinatz? Wien ist schöner, oder?“

Wir waren natürlich keine Idioten und wussten genau, was wir zu sagen hatten.

„Nein. Stinatz ist viel schöner!“

Und wir meinten es auch so.

Dann haben die Stinatzer gelacht und sich gefreut, aber sofort nach derselben Methode weitergemacht.

„Aber Stinatzerisch. So eine schiache Sprache!“

Wir mussten dann sagen: „Nein. So schön. Stinatzerisch ist eine schöne Sprache.“

Dann haben sie sich noch mehr gefreut, und es ging im selben Ton weiter.

„Aber Stinatz is schiach. So viel Dreck auf der Straße …“

Da war allerdings wenig dagegen zu sagen, denn Asphalt gab es noch immer keinen. Mitten auf der Hauptstraße bist du durch den Gatsch gegangen, wenn es geregnet hat, und im Sommer hat es gestaubt wie in der Wüste.

Wieder fällt mir dieser Buchtitel von Stefan Zweig ein: „Die Welt von Gestern“. Es war altertümlich in Stinatz, eine Zeit wie aus dem Geschichtsbuch. Wenn ein Auto gefahren ist, sind die Kinder zusammengelaufen und haben Auto geschaut. Die Bauern haben gearbeitet wie ihre Großväter und deren Großväter. Keine Maschinen, nur Werkzeug und Schweiß.

Die Männer haben das Getreide mit Sensen gemäht. Die Felder waren schmal, weil im Burgenland das Erbe auf alle Kinder aufgeteilt wurde, im Gegensatz zum Erbhof, den der Älteste bekam. Oft hat es gereicht, wenn vier Männer, schräg versetzt, in einer Reihe einmal durchgegangen sind und das Getreide gemäht haben. Ein Schwung mit der Sense, eine halbe Garbe. Hinter den Männern sind die Frauen gegangen und haben mit einer Sichel das Getreide aufgenommen, die Garben gebündelt und mit einer Masche fixiert. Daraus sind dann die Mandeln zum Trocknen gebaut worden: fünf Garben mit den Ähren nach oben, eine Garbe mit den Ähren nach unten oben drauf, als Regenschutz.

Das war seit Jahrhunderten so praktiziert worden. Und das sah im Jahr 1955 nicht anders aus als im Jahr 1870.

Die Kinder wurden für Hilfsdienste eingeteilt, zum Beispiel auf der Weide. So wie es damals noch keine Psychologie gab, hatte niemand Zeit, auf die Kinder aufzupassen. Wir waren immer irgendwie dabei, und zwar in großen Horden. Das war toll. Die Kinder waren immer eine Bande. Die Familien waren groß, es gab zahlreiche Onkel und Tanten, die wiederum zahlreiche Kinder gehabt haben. Entsprechend viele Cousins und Cousinen hatten wir und konnten, ohne zu fragen, in die Häuser hineingehen, wo Verwandte gewohnt haben.

Das Brot war bei allen in der großen Tischlade. Das Messer war dort, wo das Messer hingehört. Das Schmalz war auch dort. Ich konnte fast in jedes Haus in Stinatz hineingehen, dort ein Stück Brot abschneiden, Schmalz draufschmieren und ein Schmalzbrot essen. So ist die Grundlage für mich geschaffen worden. Ich bestehe sozusagen aus Schmalzbrot.

Ich habe es auch immer gerne süß gehabt. Dafür hab ich mir Zucker aufs Schmalzbrot streuen dürfen. Kristallzucker für jeden Tag, Staubzucker für besondere Gelegenheiten.

Andere Leckerbissen waren mit besonderen Gelegenheiten verbunden. Wenn es ans Dreschen gegangen ist, gab es zum Beispiel ein besonderes Brot. Nicht das übliche, das die Frauen im Ort selbst gebacken haben, sondern eines vom Bäcker. Und eine spezielle Wurst, vom Fleischhacker.

Nachbarschaftshilfe war selbstverständlich. Es waren ja eh alle irgendwie miteinander verwandt oder verschwägert. Aber wenn nach dem Dreschen die Tenne sauber gemacht wurde und sich der Staub langsam gelegt hatte, sind alle Beteiligten blitzartig verschwunden, obwohl traditionell ein Essen für alle ausgerichtet wurde.

Das war ein kompliziertes Ritual mit historischem Hintergrund. Die Nachbarn sind weggelaufen, um nicht zum Essen eingeladen zu werden. Damit nicht der Eindruck entsteht, sie hätten es nötig, die Dreschjause zu essen, weil sie selbst nichts haben. Die Kinder im Volksschulalter mussten ihnen nachrennen und sie am Gewand zurückzerren. Die Helfer sagten dann gebetsmühlenartig, dass sie nicht hungrig sind oder schon gegessen haben. Damit gaben sie dem Gastgeber die Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn er nichts hatte, worauf er sie einladen konnte.

Schon wir Kinder sind auf dieses Verhalten dressiert worden. Es kam aus der Zeit, als Hunger herrschte. Meine Mutter erzählte mir, dass die Großmutter ihr verboten hatte, mit ihrem Stück Brot auf die Straße zu gehen. Es könnten sie ja die anderen Kinder, die nichts zu essen hatten, beim Essen sehen. Es ging nicht darum, dass man nichts abgeben wollte. Es ging darum, die nicht zu beschämen, die nichts hatten.

Natürlich wurde nach den üblichen Überredungsritualen doch gemeinsam gegessen und getrunken. Meistens gab es Most, der aus den Äpfeln und Birnen auf den Streuobstwiesen gepresst wurde. Das war der Haustrunk, und wahrscheinlich gab es auch noch Bier und Wasser. Keinen Wein.

Wein hat es dann gegeben, wenn eine Leiche im Haus gelegen ist. Das war eine große Sache. Es musste drei Tage und drei Nächte lang gebetet werden. In der Nacht übernahmen das die Betschwestern, ältere Nachbarinnen und Verwandte. Die größte Stube des Hauses – bei unseren Großeltern war es das straßenseitige Schlafzimmer – wurde mit ein paar gekonnten Griffen ausgeräumt und in eine Art Kapelle verwandelt. Dann wurde Rosenkranz gebetet, den ganzen Tag und die ganze Nacht lang. Die jungen Burschen sind oft draußen gestanden, haben ein bisschen geraucht und ein paar Achteln getrunken.

Natürlich gab es auch bei den Hochzeiten Wein. Und Schnaps. Und überhaupt alles und von allem viel zu viel. Das war Ehrensache. Es musste mehr zu essen und mehr zu trinken da sein, als auch die hungrigsten und durstigsten Gäste verzehren konnten. Dabei waren es viele Gäste, und die Hochzeiten dauerten lang, zwei bis drei Tage und natürlich auch Nächte.

Alles folgte strengen Regeln. Ich als Kind dachte natürlich, dass diese Regeln überall gelten, nicht nur in Stinatz. Dem Kummer über den Tod des Mannes oder der Frau oder der Schwester oder des Bruders wurde mit dem typischen Klagegesang Ausdruck verliehen. Der Klagegesang folgt genauen Regeln, die dann mit Improvisationen über das Leben der Verstorbenen gefüllt werden.

Als zum Beispiel der Peter-Onkel gestorben ist, mussten wir natürlich sofort von Wien nach Stinatz fahren. Mit der Eisenbahn vom Südbahnhof nach Oberwart, dann mit dem Bus von Oberwart nach Litzelsdorf, und dann von Litzelsdorf zwei Kilometer zu Fuß bergauf nach Stinatz.

Als wir ins Sterbehaus hineingegangen sind, kam uns die Resi-Tante, die jetzt Witwe war, schon entgegen, und sie hat gleichzeitig geweint und gesungen. Nacheinander ist da jeder von uns persönlich angesungen worden, zum Beispiel ich: „Oioioioi, oh Willi, oh Willi … wie du das letzte Mal da warst, weißt du eh, da hat er noch die Sense ’dangelt und jetzt liegt er da, ah-ah-ah …“ Sie hat sich sozusagen für mich daran erinnert, was beim letzten Treffen von mir mit dem Peter-Onkel passiert ist, und das wurde dann um kurze Auszüge seiner Leidensgeschichte und seines plötzlichen Todes ergänzt.

Diese Klagegesänge sind am offenen Sarg zu Hause und natürlich beim Begräbnis gesungen worden. Beim Begräbnis sind immer zwei Leute neben den weiblichen Angehörigen gestanden, damit die beim Klagegesang nicht ins Grab fallen, weil sie so nah am Grab gekniet sind, wo die Erde vom Aufgraben ganz locker war.

Die Stinatzer Klagegesänge sind später sehr berühmt geworden, als die ersten Ethnologen mit ihren Tonbandgeräten kamen und sie aufgenommen haben. Wobei das für sie keine leichte Aufgabe war, denn extra für sie gesungen hat keiner, vor allem nicht, wenn niemand gestorben war. Wenn diese Ethnologen dann nach den Klagegesängen gefragt haben, bekamen sie zur Antwort, dass es so etwas hier nicht gibt.

Natürlich kamen zu den streng geregelten Trauerzeremonien noch mindestens so strenge Bekleidungsvorschriften dazu, vor allem für die Frauen. Wenn einer Frau der Mann oder die Eltern gestorben sind, musste sie drei Jahre durchgehend Schwarz tragen. Schwarzes Kopftuch. Schwarzes Gewand. Ich glaube, auch schwarze Fingernägel.

Bei nicht so nahen Verwandten musste man nur ein oder zwei Jahre Schwarz tragen. Das bedeutete, dass du ab einem gewissen Lebensalter nicht mehr aus dem schwarzen Gewand rausgekommen bist. Überhaupt waren die Röcke, die Kikle, der einzig wirkliche Besitz der Frauen. Die schöneren Röcke waren plissiert, die machten Falten wie eine Ziehharmonika. Auf jeden Fall – ich weiß das aus eigener Anschauung von meiner Großmutter – trugen die Frauen Unmengen von Röcken übereinander.

Viele Röcke, aber keine Unterhose. Ich habe die Oma einmal beobachtet, wie sie draußen neben dem Misthaufen stand, wo der Großvater einen Kanal gemacht hatte, durch den der Regen in die Wiese fließt. Da hat sie sich fesch drübergestellt, und es hat „Schhh“ gemacht, ohne dass ich gesehen hätte, wie eine Unterflak gerichtet wurde. Das war im Sommer. Im Winter hatte sie bestimmt eine mächtige Frotteeunterflak an.

Bei den Männern war es mit der Trauerkleidung nicht so heikel. Die mussten auch nicht unbedingt am Sonntag in die Messe, was für die Frauen absolute Pflicht war. Aber weil in Stinatz 1400 Menschen lebten und nicht alle in die Pfarrkirche hineinpassten, hatten die Männer eine gute Ausrede und standen im Sonntagsanzug draußen vor dem Kirchentor und haben geraucht und ein bisschen geredet. Wenn dann die Transsubstantiation stattgefunden hat, während der sich in der Kirche alle auf die Knie werfen müssen, haben sie ihre Zigaretten hinter dem Rücken versteckt und ein bisschen das Knie gebeugt.

Nachher sind die Männer ins Wirtshaus gegangen und die Frauen nach Hause, um das Mittagessen zu kochen. Die Kinder mussten den Vater holen, wenn das Essen fertig war. Wenn der Vater noch nicht nach Hause wollte, hat er den Kindern ein Kracherl bezahlt, damit sie noch warten, und zu Hause ist das Essen kalt geworden. Aber das war nicht nur in Stinatz so, das war überall so.

Mein Vater war kein guter Kartenspieler. In der Nacht, bevor mein Bruder auf die Welt kam, hat er auswärts gespielt und getrunken, bis mehr oder weniger der ganze Wochenlohn weg war. Arbeiter haben ihr Geld ja wöchentlich bekommen, nur Angestellte monatlich.

Aber zum Glück war der Peter-Onkel auch da, sein zukünftiger Schwager, von dessen Beerdigung ich schon erzählt habe. Der Peter-Onkel war ein sehr korrekter und unauffälliger Herr. Ein gelernter Schuster, dessen Stelle wie die von tausend anderen Schustern und Schneidern nach dem Krieg obsolet geworden war. Deshalb war er jetzt Hilfsarbeiter am Bau, obwohl er wunderschöne Schuhe herstellen konnte.

Als das Geld meines Vaters schon beinahe aufgebraucht war, fasste ihn der Peter-Onkel sanft an der Achsel, zog ihn vom Tisch weg und setzte sich auf den freigewordenen Stuhl. Dann verdiente er schweigend das gesamte Geld zurück, das der Vater verspielt hatte. Als er dem Vater dann seinen Wochenlohn zusteckte, sagte er nur: „Dass du was lernst.“

Damit meinte er aber nicht das Kartenspielen.

Stinatz hatte drei Teile. Oberteil, Unterteil und Kirchenteil. Die Kirche liegt dort, wo die Ortschaft ursprünglich in den Wald geschlagen wurde. Dort war auch der Gänseteich, und später haben sie abseits des Kirchenteils die Hauptstraße angelegt und links und rechts davon das Straßendorf gebaut. Einige wenige Bauern hatten nicht nur Kühe, sondern auch Rösser. Ihre Höfe waren ein bisschen größer und hatten schöne Arkadengänge.

Die meisten Stinatzer hatten Nebenerwerbslandwirtschaften mit zwei Kühen, zwei Schweinen und ein paar Hendeln. Die Häuser hatten keine Arkadengänge, sondern nur ein vorgezogenes Dach, damit man trockenen Fußes von der Küche zum Stall kam. Klo neben dem Misthaufen. Straßenseitig das Schlafzimmer, dann die Küche und eine Kammer, die oft für Untermieter oder sonst jemanden ausgebaut war. Und die Vorratskammer mit dem Lehmboden, der immer feucht gehalten werden musste, damit es kühl bleibt und die Äpfel nicht verderben.

Die Cousine Aca hat mit uns Deutschübungen gemacht. Sie bekam ja in der Schule selbst Deutschunterricht von der Frau Biricz, die aus Ungarn stammte und mit dem entsprechenden Akzent Deutsch sprach.

Die Frau Biricz fragte zum Beispiel die Kinder:

„Kindär, wär ist där größtä Tiär där Wält?“

Die Kinder riefen zurück:

„Der Tiger, Frau Lehrer. Der Lewe.“

Diese Antwort akzeptierte die Frau Biricz aber nicht.

„Nen, Kindär“, sagte sie in angemessen belehrendem Ton. „Das ist där Oroszlán.“

Oroszlán ist das ungarische Wort für Löwe. So lernten wir in Stinatz Deutsch.

2. KapitelFAVORITENDie Welt zwischen Humboldtplatz und Keplergasse

Wir sind in Wien dorthin gezogen, wo Stinatz am nächsten war: nach Favoriten, in die Nähe des Südbahnhofs, wo der Zug nach Stinatz abfuhr. Der Südbahnhof war damals eine Ruine. Er war notdürftig mit Pfosten und Staffeln begehbar gemacht worden, damit der Verkehr einigermaßen funktionierte. Über dem Ostbahnhof und dem Frachtenbahnhof ist man schräg zur Sonnwendgasse gegangen, durch eine Gstätten voller Schutt und Gemäuer.

Unsere Adresse war Humboldtplatz 10, Zimmer, Küche, Klo am Gang. Das Haus war eines der ersten Gründerzeithäuser, die außerhalb des Gürtels gebaut wurden. Der Vater hat die Wohnung nur deshalb bekommen, weil das Haus stark beschädigt war. Das Stiegenhaus war intakt, aber vom Stiegenhaus weg hat eine Ecke gefehlt. Der Vater musste die Wohnung selbst herrichten, aber das war nicht das Problem. Das konnte er.

Die Eltern hatten es sehr eilig, nach Wien zu kommen. Sie zogen 1951 schon im September in den Rohbau ein, damit sie am Bau arbeiten und nach der Arbeit die Wohnung herrichten konnten. Wir Kinder blieben inzwischen noch in Stinatz, der Erich bei den Großeltern, ich bei der Teta Jagica.

Die Eltern wollten unbedingt schon Weihnachten am Humboldtplatz feiern, auch wenn sie mit dem Herrichten der Wohnung erst knapp davor fertig geworden waren. Als der Erich und ich nach Wien kamen, war alles frisch verputzt und ausgemalt, und die Wohnung hätte jetzt ordentlich durchtrocknen müssen, damit der Kalk im Verputz und im Mauerwerk trocknet. Dafür war aber keine Zeit.

Wir hatten nur ein Zimmer, wo alle geschlafen haben. Dort musste zwangsläufig auch das Christkind kommen. Am 24. Dezember zwangen uns die Eltern zu einem späten Nachmittagsschlaf, damit sie in der Zwischenzeit in aller Eile den Christbaum aufputzen konnten. Als Christbaumschmuck hatte die Mutter Geleeringe und Zuckerringe mit Schokoglasur besorgt. Die band sie auf einer Schnur an die Zweige.

Schönes Weihnachtsfest: brennende Kerzen, Weihnachtslieder, sogar Geschenke. Alle gehen zufrieden ins Bett.

Jetzt ist Zucker aber stark hygroskopisch. Die Zuckerringe haben die Luftfeuchtigkeit im Zimmer, die wegen des Verputzens und Ausmalens enorm war, direkt aufgenommen. In der Früh, als wir aufgewacht sind, lagen alle Zuckersachen wie kleine, feuchte Haufen am Boden. Es fiel schwer, dem Christkind das zu verzeihen.

Frühling 1952. Wir mussten ganz schnell Deutsch lernen. Als wir Bekannte am Bruckhaufen besuchten und von der Floridsdorfer Brücke die Donau entlanggegangen sind, ließ ein Schlepper ein mächtiges Tuten los.

Das blieb mir nicht verborgen. Auf Deutsch sagte ich den berühmten Satz: „Der Schiff schreit tü.“

Darüber konnten die Erwachsenen sehr herzlich lachen. Mich hat es aber gestört, dass die über mich lachen, wenn ich schlecht rede. Es hat mich sehr gekränkt, ausgelacht zu werden. Aus Notwehr habe ich begonnen, absichtlich schlecht zu reden. Die Erwachsenen sind darauf hereingefallen und haben das Gefühl gehabt, dass ich ein bisschen minderbemittelt bin. Dabei habe ich nur schon früh das Prinzip der Ironie verstanden, das bekanntlich darin besteht, das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint. Sobald ich das Prinzip begriffen hatte, habe ich es auch angewendet. Mit der Erkenntnis, dass auch Erwachsene ziemliche Deppen sein können. Sie haben einfach nicht begriffen, dass ich doppelbödig rede. Darum habe ich wieder damit aufgehört. Perlen vor die Säue.

Wir lebten jeweils einsprachig. Stinatzerisch in Stinatz. Deutsch in Wien. Ein einziges Mal im Winter wollte ich meiner Mutter sagen, dass sie mir die lange Unterhose geben soll, und rausgekommen ist: „Gibstn Gatschn?“

Weil: Gatya, ungarisch, die Unterhose. Die Grundlage für den wienerischen Ausdruck Gatte oder auch Gattehose. Etwas Ungarisch war im Stinatzerischen eben auch drinnen. Aber bald konnte ich Wienerisch, als hätte ich nie etwas anderes gesprochen. Das geht schnell bei einem Kind in der Spracherwerbsphase. Hochdeutsch lernte ich auch gleich, weil zu Hause immer das Radio lief.

Die Eltern sprachen in Wien nur noch deutsch mit uns, weil sie das berechtigte Gefühl hatten, dass die Sprache, die wir in Stinatz gesprochen haben, mehr Fluch als Segen ist. Sie wollten, dass wir akzentfrei Wienerisch sprechen, damit niemand merkt, wo wir herkommen.

Denn die Sprache stellte klar, ob man ein richtiger Wiener ist oder nicht, und in unserem Fall kam dazu, dass wir Burgenländer überhaupt erst seit 1921 Österreicher waren. Wir haben irgendwie zu den Fremdartigen gehört, einen Makel gehabt. Das verband uns mit den Ziegelböhmen, die auch noch nicht so lange in Wien waren, nämlich seit der Ringstraßen-Zeit, und über die von den echten Wienern immer ein bisschen herablassend geredet worden ist.

Als ich viel später einmal in New Orleans war und schwarze Musikerinnen und Musiker besuchte, ist mir ein Begriff untergekommen, der in diesem Zusammenhang gut passt. Die Schwarzen wurden von oben herab betrachtet: „They were looked down upon“. Genauso war es für uns in Wien: Auch auf uns wurde „looked down upon“, und das wollten uns die Eltern ersparen.

Das war vielleicht nicht ganz falsch von ihnen, wenn man die Umstände betrachtet. Aber für die Seele war es ganz schlecht.

Ich habe damals, noch als Vorschulkind, ein starkes Gefühl dafür entwickelt, dass es wohl nicht viel wert sein wird, woher wir kommen und wie wir reden, wenn wir es so geheim halten müssen. Es hat sich ein Gefühl der Inferiorität herausgebildet, wie es in Stinatz selbst auch üblich war: Was wir sind, ist nicht viel wert. Ich dachte mir aber: Ich möchte gern wo dazugehören, wo ich schon viel wert bin.

Meine Eltern haben sich am Humboldtplatz schnell mit manchen Nachbarn angefreundet, zum Beispiel mit dem Ehepaar Engel. Sie Lehrerin, er Baumeister. Wir konnten bald mit ihnen Wohnung tauschen und haben ein Kabinett dazubekommen. Die Eltern haben dann in einem großen Doppelbett geschlafen, das man in einen Kasten hochklappen konnte. Tagsüber ist dort ein Teppich ausgerollt worden, auf dem vier Sessel und ein Tisch standen. Die Möbel waren mit Nuss furniert.

Der Bruder und ich hatten jetzt ein eigenes Zimmer. Im Keller war eine Waschküche, wo große Kessel standen. Unter denen feuerte man das eigene Holz an und kochte dann die Wäsche aus. Zum Trocknen aufgehängt wurde die Wäsche am Dachboden.

Das Klo war am Gang. Wir teilten es mit zwei anderen Parteien, das war also eine Art Lebensgemeinschaft. Die Frau Krebs hatte eine aufreibend raunzige Stimme, und der Herr Pfohl war ein Reichsdeutscher. Ein Piefke.

Wir hatten in Stinatz gelernt, was ein Plumpsklo ist. Aber das Klo hier war anders. Über dem Kopf befand sich ein Wasserspeicher, aus dem eine Kette mit einem Griff herunterhing. Das war das Neue: Nach dem Gacken lässt man hinunter.

Jetzt waren wir das Herunterlassen nicht gewohnt und haben es gern einmal vergessen. Wenn dann die Frau Krebs am Klo war, ist sie erbittert zu unserer Tür gekommen, hat angeklopft und mit ihrer raunzigen Stimme gesagt: „Die Buben haben schon wieder nicht runtergelassen.“

Das zog drakonische Strafen nach sich. Denn die Mutter hat immer den Vater dazu eingeteilt, über uns zu Gericht zu sitzen. Der Vater war arm. Kaum waren wir in Wien, hat er mit Abendkursen begonnen, weil er Polier werden wollte – und als er Polier war, sofort mit der Ausbildung zum Baumeister. Er hat also den ganzen Tag schwer mit seinen Händen gearbeitet und dann noch seine Kurse gemacht und gelernt. Und wenn er erschöpft nach Hause gekommen ist, hat er erfahren, dass wir schon wieder nicht heruntergelassen hatten.

Jetzt haben meine Eltern nicht wirklich gewusst, wie sie solche Dinge handhaben sollen. Sie haben sich ein bisschen an Stinatz erinnert und ein bisschen geschaut, wie die Nachbarn mit solchen Kapitalverbrechen umgehen. Dabei kam heraus, dass, wer nicht hinuntergelassen hat, knien musste, bis er sich für seinen Fehltritt entschuldigt.