Ich seh dich, Annabelle - Maike Johnke - E-Book

Ich seh dich, Annabelle E-Book

Maike Johnke

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Beschreibung

Annabelle glaubte, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Doch hinter jedem Traum lauert oft ein Albtraum. Als Annabelle sich Hals über Kopf verliebt, öffnet sie ihr Herz ohne Vorbehalt. Ihre anfängliche Euphorie verwandelt sich jedoch bald in blankes Entsetzen. Sie erkennt zu spät, dass die Person, der sie vertraut, eine dunkle Facette verbirgt. Was als romantische Liebesgeschichte beginnt, kippt nach ihrer Trennung in einen Schrecken ohne Ende. Annabelle wird nicht nur gestalkt - sie wird entführt und findet sich in einem Kampf um Leben und Tod wieder. Jeder Moment, den sie in Gefangenschaft verbringt, bringt sie näher an den Abgrund. Kann sie entkommen, bevor es zu spät ist?

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Ich seh Dich, Annabelle

 

Maike Johnke

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage

August 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by Maike Johnke / www.agentinuhu.de

1. Lektorat & Korrektorat: Roland Blümel

2. Korrektorat: Barbara Madeddu

Cover & Buchsatz: V.Valmont @valmontbooks

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

 

Kapitel 1

 

Sonntag

 

„Wie würden Sie sich mit einem Wort beschreiben?“ Ich sah ratlos den Bildschirm meines Laptops an. Seit einer Stunde studierte ich den Fragebogen eines Dating-Portals, das mir eine Freundin empfohlen hatte. Die Fragen dort fand ich jedoch wenig originell. Wie sollte ich hier bloß einen passenden Partner finden?

„Außergewöhnlich“, trug ich in die offene Zeile ein und scrollte weiter nach unten.

Ich kratzte mich an der Nase, indem ich den Rahmen meiner Hornbrille etwas nach oben schob. Meine Nase ist mit vielen kleinen Sommersprossen bedeckt, die allesamt zu lächeln scheinen. Zum Glück war ich am Ende des Fragebogens angekommen und musste nur noch meine Eckdaten in die noch offenen Felder eintragen.

 

Username:             Lady Belle

(Annabelle wollteich lieber nicht benutzen.)

Größe:             1,75 cm

Figur:             sportlich

Haarfarbe:             rot-blond

Alter:             27 Jahre

Beruf:             Bürokauffrau

Wohnort:             Köln-Weiden

In den letzten zwei Jahren hatte ich so gut wie keine Verabredungen gehabt. Zum einen lag dies an der schweren und dramatischen Trennung von meinem Ex-Freund Fabian, zum anderen an meiner ausgeprägten Schüchternheit. Um diesem Zustand nun endlich ein Ende zu bereiten, hatte Bine, meine beste Freundin, vorgeschlagen, dass ich einmal ein Online-Dating-Portal ausprobieren sollte. Frustriert nahm ich mein Festnetztelefon zur Hand und wählte die Nummer meiner Freundin, um mich zu beschweren.

„Sabine Erdmann“, schallte es nach dreimaligem Klingeln fröhlich an mein Ohr.

„Mmmmpfffff“, schnaubte ich anstelle einer Begrüßung in den Hörer.

„Ich wünsche dir auch einen wunderschönen guten Tag, geliebte Anna.“ Bine erkannte meine Stimme sofort.

„Du bist schuld an dem Mist!“, knurrte ich angesäuert in den Hörer.

„Aber immer doch gerne“, trällerte Bine gutgelaunt zurück. „An welchem Mist denn genau?“, fragte sie aber dann dennoch nach.

„Ich habe mich gerade in dem Online-Portal angemeldet und es war grauenvoll!“, jammerte ich theatralisch.

„Oh nein, wie grausam, und ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes“, konterte meine Freundin trocken.

„Du hast ja keine Ahnung, du unwissender Mensch, wie sehr man mit diesen doofen Fragen entblößt wird, die man ohnehin nicht vernünftig beantworten kann.“

„Ach was, so schlimm kann das doch nicht sein. Man schreibt ein wenig bla bla hier und etwas bla bla dort und der Rest ergibt sich doch von selbst. Den Männern kommt es meistens ohnehin nur auf das Foto an und der Rest fällt hinten runter.“

Bine lachte herzlich über ihre eigene Bemerkung und trank geräuschvoll einen Schluck Kaffee.

Bine war eine selbsternannte Power-Lesbe, die das Leben bei den Hörnern packte. Dabei ließ sie nichts anbrennen. Mit ihren 30 Jahren hatte sie sich erfolgreich als Fotografin selbstständig gemacht und dabei dutzende Frauenherzen gebrochen. Das Interesse an einer festen Beziehung lag ihr fern. Sie war mit ihrer Arbeit und dem schönen Leben verheiratet. So unterschiedlich wir beide auch waren, verband uns doch eine innige Freundschaft. Kennengelernt hatten wir uns vor gut zehn Jahren in einem gemeinsamen Yoga-Kurs. Durch das gemeinsame Chanten und schweißtreibende Dehnen hatten wir uns verbunden gefühlt.

„Hast du denn wenigstens ein heißes, sexy Foto eingestellt?“, wollte sie noch wissen, bevor sie wieder einen Schluck aus ihrer Tasse nahm.

„Ganz bestimmt nicht!“ Ich war über so viel Oberflächlichkeit entrüstet.

„Ich meine ja kein Oben-ohne-Bild, sondern etwas, auf dem du etwas Nettes anhast und ein wenig hergerichtet bist“, argumentierte Bine, „also kein Bild aus deinem Alltag.“

„Was ist denn gegen meine Kleidung einzuwenden? Sie ist praktisch und gemütlich, und ich trage sie schon seit Jahren!“

„Genau das ist das Problem. Du könntest ein Porsche Carrera sein, zeigst dich aber in der Regel als Fiat Panda. Kein Mann will einen Fiat Panda fahren.“

„Du vergleichst mich jetzt gerade nicht wirklich mit einem Auto?!“

„Ich wollte es dir nur einmal bildlich veranschaulichen. Wer verkaufen will, muss Werbung machen, und das geht nicht in Jogginghose.“

„Dann verzichte ich lieber auf das gekauft werden, wenn Männer sowieso nur die Mogelpackung haben wollen und sie der Rest nicht interessiert.“

Mein Groll kochte, und deshalb versuchte Bine das Gespräch schnell wieder in sichere Bahnen zu lenken.

„Wie sieht es denn bei dir die Tage wieder mal mit einem Kaffeetrinken oder Essengehen aus? Ich kann dir Mittwoch und Samstag anbieten, da haben Kunden aus fadenscheinigen Gründen abgesagt, und ich stehe zur freien Verfügung.“

Bine hörte, wie ich mit dem Taschenbuchkalender raschelte, den ich immer mit mir herumschleppte, denn ich konnte mir einfach weder Termine noch Uhrzeiten merken.

„Mittwoch ist schlecht, da muss ich länger im Büro bleiben, weil die Herrschaften noch ein spätes Meeting einberufen haben und ich selbstverständlich den Deppen vom Dienst spielen muss, damit ihre Heiligkeit nicht selbst einen Finger krumm machen muss.“

Ich arbeitete als Sekretärin und Assistentin für ein Webdesign-Unternehmen, und mein Chef spielte sich ganz gern mal als Riesenmogul auf. Er ignorierte dabei geflissentlich, dass er nur ein Team von fünf IT-Begeisterten unter sich und sich sein Wirken noch nicht weltweit herumgesprochen hatte. Diese Truppe von Nerds war zwar in ihren Fachgebieten hervorragend ausgebildet, doch in allen weltlichen und organisatorischen Dingen hilflos wie kleine Kinder.

„Meine großen Babys werden wohl bis in den Abend fachsimpeln, und ich darf wie wild Kaffee kochen, Snacks reichen und Büromaterial auffüllen, da natürlich niemand weiß, wo sich diese Sachen befinden oder wie man den Kaffeeautomaten bedient“, lästerte ich weiter. „Samstag sollte aber gehen. Da habe ich nichts geplant und die Wahrscheinlichkeit, von einem Asteroiden bis dahin erschlagen worden zu sein, ist gering.“

„Ein Asteroid wahrscheinlich nicht, aber so wie die in Köln Auto fahren, schafft es ja vielleicht ein Bus- oder Lkw-Fahrer?“, schlug Bine alternativ vor.

„Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, dann stehen die Chancen gut.“ Jetzt konnte ich endlich mal wieder lachen.

„Was hältst du vom Starbucks am Friesenplatz gegen 15 Uhr?“, versuchte Bine, sich festzulegen.

„Ohhhh, kritische Zeit. Dann dürfte es rappelvoll sein. Lieber eine Stunde früher, und wer zuerst da ist, kapert zwei Sitzplätze und verteidigt sie mit seinem Leben.“

„Es ist egal, um welche Uhrzeit man dorthin kommt, es ist immer zu voll, geht aber in Ordnung. Also gut, dann bis Samstag“, beendete Bine das Gespräch, bevor es zu weiteren Analysen und Krisengesprächen kommen konnte.

Ein wenig verärgert registrierte ich das Knacken in der Leitung und stellte das Telefon zurück in die Ladestation. Das Telefonat hatte gerade mal eine Viertelstunde gedauert, und jetzt lagen noch ein langer, langweiliger Nachmittag und Abend vor mir, bis ich endlich ins Bett gehen konnte. Bine und ich hatten eigens dafür einen Begriff kreiert, und zwar den mieseligen Smontag. Das war die Zeit vor dem Montag, an dem sich die miese Stimmung vor der androhenden Arbeitswoche anschlich und als Countdown langsam runterratterte. Zu spät, um noch etwas zu unternehmen, aber zu früh, um sich schon vergrämt in die Kissen zu graben.

Ich griff nach meinem Liebesroman, der auf dem Couchtisch lag und schlug ihn auf. Nachdem ich zwei Zeilen gelesen hatte, legte ich ihn genervt wieder zurück und schaltete den Fernseher ein. Ich zappte durch die Kanäle, ohne mich für deren Inhalte wirklich zu interessieren. Ein leiser Ping meines Laptops ließ mich aufhorchen und den Fernseher ausschalten.

Nach gerade mal einer Stunde waren bereits zwei Männer auf mich aufmerksam geworden und hatten eine Kontaktanfrage gesendet.

Bommelbär und Mr Nice …

Oh, mein Gott … ernsthaft?

Neugierig öffnete ich als Erstes das Profil von Bommelbär (das klang nicht ganz so prollig) und begann zu lesen. Laut Profil war der Mann, der mich kontaktiert hatte, 30 Jahre alt und Lehrer für Geschichte und Sozialwissenschaften. Das Bild zeigte einen bärtigen Mann mit braunem, kurzem Haar und Brille. Es war ein Porträt-Foto, das nicht viel mehr als den Kopf und den Halsbereich preisgab und dieser wirkte sehr kräftig. Mein Blick wanderte zu den Interessen. Dort standen Schach und Wandern.

Nein, danke, entschied ich und klickte auf Ablehnen

Mit etwas Besorgnis in der Magengegend rief ich den anderen auf und wartete gespannt ab.

Ganz wie es zu erwarten war, zeigte die Seite einen blonden Surfer-Typen mit freiem Oberkörper in Badeshorts am Rheinufer. Der Körper war sportlich, aber das Lächeln schmierig. Er war erst 25 Jahre alt und studierte Sport. Na, was für eine Überraschung! Bei seinen Interessen stand in erster Linie feiern, mit Freunden abhängen und Surfen. Prima, auch alles Dinge, die mich so überhaupt nicht interessierten. Bevor ich die Möglichkeit hatte, auf Ablehnen zu klicken, öffnete sich in der unteren Ecke des Rechners ein Fenster, das eine Chatfunktion enthielt.

Hallo, schöne Frau, wie geht es dir? Was machst du so?Ich sah den Text an, als wäre die Schrift Gift für die Augen. Was war das denn für eine lahme Anrede? Zur Höflichkeit erzogen konnte ich es aber auch nicht über mich bringen, auf die Nachricht nicht zu reagieren.

Danke gut. Ich vertreibe mir zu Hause die Zeit. Wie geht es dir?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Blendend, ich war kurz mal hier drin, die Neuzugänge überprüfen, bevor ich mit meinen Kumpels auf die Pirsch gehe, und da habe ich dein Profil gesichtet. Hast du auch Body Pictures oder machst du einen auf heimlich?

Ich glaubte meinen Augen kaum. War das sein Ernst? Wollte er mich auf diese Art und Weise näher kennenlernen?

Nein, von mir gibt es zunächst nur dieses eine Foto zur Ansicht. Ich wünsche dir viel Spaß mit deinen Freunden.

Du bist wohl fett, haha, war seine Antwort.

Vor Empörung blies ich die Wangen auf und rang nach Luft. Was für eine Unverschämtheit. Dieser Flegel. Na, warte …

Nur weil eine Frau sich im Internet nicht bildlich prostituiert, ist sie noch lange nicht fett, und dein Verhalten ist mehr als unreif und unangebracht.

Sofort kam die Antwort: Oh Mann, mach dich locker. Verklemmt bist du auch noch. Mach besser eine Flatter von hier.

Lieber bin ich verklemmt und dick als ein Mensch mit einem geistigen Defizit und einer Gesichtsfünf.

Wutentbrannt drückte ich auf Senden und danach auf „Person blockieren“.

Voller Adrenalin und mit geballten Fäusten sprang ich vom Stuhl auf und begann durch die Wohnung zu laufen. Dabei schimpfte ich die ganze Zeit laut vor mich hin. „Ich habe es ja gewusst. Nur hirnrissige Idioten online unterwegs. Wozu mache ich das hier? Das kann doch wohl nicht wahr sein.“ Als ich mich gerade richtig in Rage geredet hatte, klingelte es Sturm an der Wohnungstür.

Davor stand Kurt Voss in Kittel und Gummistiefel. Kurt Voss war der hiesige Hausmeister und Pedant vom Dienst. Er war ein großer, drahtiger Mann mit Stirnglatze und dominanter Nase. Ein wenig erinnerte er mich an Gargamel von den Schlümpfen, aber das würde ich ihm nie auf die Nase binden. Heute wirkte er besonders ungehalten. Er schwenkte wütend eine prall gefüllte Plastiktüte mit Müll vor meiner Nase hin und her. Ein unangenehmer Geruch von verdorbener Milch und Verwesung drang mir in die Nase.

„Frau Schilling, diesen Beutel Müll, habe ich in der Biotonne gefunden. In der Biotonne, Frau Schilling. Das ist ein Plastikbeutel! Im Bio-Müll!“

Das Gesicht von Herrn Voss hatte mittlerweile eine ungesunde, rote Verfärbung angenommen, und die Halsschlagadern traten deutlich hervor.

„Und das ist noch nicht genug. Nein! In diesem Beutel haben Sie auch noch einen Milchkarton gesteckt. Zum Bio-Müll! Das ist der Gipfel der Unverschämtheit.“

Wieder schwenkte er den Beutel wie eine Fahne vor meinem Gesicht hin und her.

„Herr Voss, das ist ja alles gut und schön, aber woher wollen Sie wissen, dass dies mein Müll ist und …“

„Ha! “ Triumphierend reckte er einen Zeigefinger in die Höhe. „Darauf habe ich nur gewartet. Ich kann Ihnen sagen, woher ich das weiß. Jawohl, das weiß ich. Ich habe alles schwarz auf weiß. Ich habe Beweise! Na, da schauen Sie dumm aus der Wäsche, nicht wahr? Nachdem es hier permanent zugeht wie bei Sodom und Gomorrha. Jawohl, wie bei Sodom und Gomorrha! Jeder meint hier, mit seinem Müll machen zu können, was er will. Da habe ich, jawohl ich! Ich habe eine Kamera im Müll-Raum deponiert und alle Müllsünder aufgezeichnet. Allesamt, alle! Schwarz auf weiß. Und dieser Beutel! Dieser Beutel aus dem Biomüll hier ist Ihrer.“ Wieder ein Schwenken mit dem Beutel und begeistertes Kopfnicken zur Unterstreichung seiner Worte.

„Sind Sie jetzt komplett durchgedreht, Herr Voss? Müllspionage? Ernsthaft? Wo gibt’s denn so etwas?“ Fassungslos schüttelte ich den Kopf.

„Frau Schilling, alles muss seine Zucht und Ordnung haben, auch in diesem Hause hier, wenn hier …“

Mit einer jähen Handbewegung schnitt ich ihm kurzerhand das Wort ab.

„Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich hier an einem Sonntagspätnachmittag zu Hause zu behelligen und ein riesiges Fass aufzumachen. Sie werden schließlich dafür bezahlt, dass Sie sich um die Ordnung und Sauberkeit im Hause kümmern und nicht dafür, ihre Bewohner auszuspionieren.“

Meine Überraschung über seinen plötzlichen, verbalen Angriff hatte ich mittlerweile überwunden.

„Außerdem habe ich jetzt weder Zeit noch Lust, mich mit Ihnen und Ihren Lappalien auseinanderzusetzen. Und jetzt lassen Sie mich verdammt noch mal in Ruhe mit Ihrem Scheiß.“

Ich trat einen Schritt zurück und knallte dem verdutzten Hausmeister die Tür vor der Nase zu.

„Das wird ein Nachspiel haben, Frau Schilling!“, brüllte dieser durch die geschlossene Wohnungstür. „Ein Nachspiel, hören Sie mich?“

Doch ich hatte mich bereits umgedreht und war wieder zurück ins Wohnzimmer gegangen.

Aus der Vitrine neben dem Esstisch entnahm ich ein Weinglas und holte eine angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. Ich füllte das Glas mehr als es schicklich war und nahm einen großen Schluck. Danach goss ich das Glas erneut voll und ließ die Flasche offen auf dem Tisch stehen, falls ich Nachschub benötigen würde. Dann nahm ich den Platz auf dem Sofa wieder ein. Ich bemühte mich, die Meditationsübungen, die ich mal gelernt hatte, wieder in Erinnerung zu rufen, doch es gelang mir nicht. Also trank ich erneut von dem Wein. Es war erst halb sieben Uhr am frühen Abend. Was würde denn noch passieren, um mir den restlichen Tag zu verderben? Das Schicksal hatte noch einen Joker bereit, den es ziehen konnte und das war …das Klingeln des Telefons … meine Mutter. Nein, dachte ich aufstöhnend, nicht dieses Drama auch noch. Ich lugte vorsichtig auf die Anzeige und umklammerte dabei mein Weinglas.

Mit hell erleuchtetem Hintergrund stand dort in dicken Lettern MAMA.

Ich zögerte. Hatte ich jetzt noch die Nerven und die Kraft, mit meiner Mutter zu sprechen? Ich könnte das Klingeln einfach ignorieren und so tun, als wäre ich nicht da. Das würde Mutter aber nicht davon abhalten, es wieder und wieder zu versuchen. Sie konnte unglaublich hartnäckig sein, und da Rose Schilling ihre Tochter kannte, würde sie mir nicht abkaufen, dass ich nicht dagewesen war, und das Theater, das mir dann blühte, war vorprogrammiert. Also atmete ich tief durch und hob ab.

„Das hat ja ewig gedauert“, wurde ich auch prompt unwirsch begrüßt.

„Hallo Mutter“, antwortete ich ergeben und richtete mich auf ein längeres Gespräch mit meiner Mutter ein. Dazu ging ich ins Schlafzimmer und legte mich aufs Bett, schön bequem mit einem dicken Kissen im Rücken.

Prinzipiell hatten wir ein ausgewogenes, gutes Verhältnis zueinander. Manchmal jedoch vereinnahmte Rose ihr einziges Kind viel zu sehr und mischte sich permanent in mein Privatleben ein. Ich war meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen roten Haare, die gleiche blasse Haut, der gleiche energische Zug um den Mund, wenn uns etwas nicht passte. Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt und diesbezüglich vermisste ich auch nichts. Es hatte immer nur mich und Rose gegeben, wir beide gegen den Rest der Welt. Nur in einer Sache waren wir beide uns nicht einig und das war mein Singlezustand.

Rose hielt sich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf.

„Ich habe gehört, dass Fabian wieder Single sein soll“, eröffnete sie das Gespräch ohne Vorwarnung direkt mit einem Paukenschlag.

Ich war wie erstarrt und musste mich erst einmal mit einem Schluck des Inhalts meines halbvollen Weinglases beruhigen.

„Okay“, brachte ich, wie ich annahm, halbwegs souverän dann doch über die Lippen.

Fabian Hart war meine erste große Jugendliebe gewesen. Er hatte im Nachbarhaus gewohnt, und wir waren zusammen auf das Gymnasium gegangen. Zum Studieren war er dann für ein paar Jahre nach Aachen gezogen, um später als gehypter Diplom-Ingenieur für Maschinenbau wieder nach Köln zurückzukommen.

In den knapp zehn Jahren unserer Beziehung hatten wir uns immer mal wieder getrennt und dann wieder zusammengefunden. Wir konnten nicht miteinander, aber auch nicht ohne den anderen. Das ging so lange, bis zu dem Tag, an dem ich einen Überraschungsbesuch bei Fabian zu Hause an seinem 25. Geburtstag machte. Bine regte sich heute noch über so viel Idiotie bei Männern auf, wenn sie nicht mit dem Besuch der Freundin zum Geburtstag rechnen. Auf jeden Fall war ich freudestrahlend in die Wohnung geplatzt und hatte ihn in flagranti mit einer anderen Frau im Bett erwischt. Der Klassiker halt, den man sonst nur aus Romanen oder Filmen kannte. Die Trennung verlief dramatisch und tränenreich. Hauptsächlich auf meiner Seite und seitdem hatte ich es vorgezogen, mein Leben allein zu verbringen. Dies war jetzt sechs Monate her. Die Aussage meiner Mutter rief direkt ein Bild meiner alten Liebe vor meinem inneren Auge hervor.

Er sah damals dem jungen Brad Pitt unglaublich ähnlich, und leider war ihm das auch bewusst gewesen. Deswegen gab es auch die häufigen Trennungen. Fabian wusste seine Gelegenheiten beim anderen Geschlecht zu nutzen. Mit einer Kopfbewegung schüttelte ich die Erinnerungen ab und widmete mich wieder ganz meiner Mutter.

„Das ist aber schade für ihn“, versuchte ich so wenig boshaft wie möglich zu erwidern.

Meine Mutter ging nicht weiter auf diese Spitze ein. Sie hatte sich vorgenommen, mich mit allen unerwünschten Informationen über die Einzelheiten zu versorgen, und das tat sie dann auch ausführlich. Als aktives Mitglied in der Dorfgemeinschaft von Königsdorf, einem kleinen Vorort von Köln, hatte sie sich ein überdimensionales Netzwerk an Informationsquellen aufgebaut. Den Herrscherinnen über Gut und Böse entging nichts, und ich hatte die Vermutung, dass die Damen besser informiert über Dorfaktivitäten waren als die hiesige Polizei.

„Nun ja, man kann gespannt sein, welches Mädchen er als Nächstes in ihr Unglück stürzen wird“, schloss sie ihren Bericht zehn Minuten später. Ich hatte kaum zugehört und gedanklich auf Stand-by geschaltet. Ein Mhh und Aha zwischendurch reichten aus, um nicht aufzufallen.

„Dann ist ja noch die Sache mit Richard, die ich dir mitteilen wollte.“ Meine Mutter hatte kurz Atem geschöpft, um den nächsten verbalen Angriff zu starten.

Ich horchte auf. Der Name Richard war neu, sodass ich eine ungute Ahnung in Bezug auf ihn hatte.

„Was denn für eine Sache mit Richard?“, fragte ich besorgt nach. „Wer ist das denn überhaupt?“ Kaum, dass ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass dies ein Fehler war. Nun hatte meine Mutter mich da, wo sie mich haben wollte.

„Na, der erfolgreiche Sohn der Emily. Sag bloß, du kannst dich nicht an die Familie Kammermann erinnern. Der Richard war in der Grundschule zwei Klassen über dir, dass du das nicht mehr weißt. Das war ein richtig Hübscher und Schlauer. Ist er immer noch. Deswegen ist er Rechtsanwalt geworden. Stell dir vor, ein Rechtsanwalt.“

Meine Mutter machte eine bedeutungsschwangere Pause, in der ich versuchte, die erhaltenen Informationen zu speichern und zu sortieren.

„Ja, gut und was hat das mit mir zu tun?“, fragte ich naiv nach, aufgrund des Redeflusses meiner Mutter und der wachsenden Verwirrung völlig überrumpelt. Den Namen Kammermann konnte ich nach wie vor nicht zuordnen.

„Nun, ich habe Emily gestern bei uns im Supermarkt getroffen, und wir sind dort ein wenig ins Plaudern gekommen.“ Ich konnte es mir bildlich vorstellen. „Nun stell dir mal vor, der Richard ist bei einer Kanzlei in der Nähe vom Neumarkt angestellt. Das ist nicht so weit weg von deiner Arbeit.“

Wenn sie wollte, konnte Rose ein überraschend klares Verständnis von Geografie entwickeln. Mein Arbeitgeber, Sigis Webdesign, lag in einer kleinen Seitenstraße, die vom Rudolph Platz abging und damit in direkter Nähe zum Neumarkt.

„Ja, das stimmt wohl“, reagierte ich zögerlich auf die weitere Information.

„Nun, und da du dich ja scheinbar aufgegeben hast und dich nicht um einen Mann kümmerst, habe ich das jetzt in die Hand genommen!“

„Mama!“

„Ich habe Emily von dir erzählt und wie schrecklich das alles mit dem Fabian war …“

„Mama!“

„Sie hat mir da beigepflichtet, dass das ja überhaupt nicht geht mit diesem sich hängen lassen und dass man da in den Aktionismus wechseln muss“, redete Rose unbeirrt weiter.

„Mama!“ Ich kam einfach nicht zu Wort.

„Der Richard ist ein richtig netter Kerl, wusstest du das, mein Schatz? Nun wir haben beschlossen, dass ihr euch am Mittwoch in der Mittagspause trefft und euch einfach mal wieder neu kennenlernt. Ihr müsst das nur auffrischen. Das wird so eine abgeschwächte Blind Date Sache.“ Meine Mutter kicherte über ihre eigene Bemerkung wie ein Teenager. „Da Richard ja als richtiger Anwalt ständig mit Terminen blockiert ist, hat Emily jetzt, schlau wie sie ist, einen Termin für dich am Mittwoch um 13 Uhr bei dem Starbucks am Neumarkt gemacht. Sei bitte pünktlich dort, so ein Anwalt hat ja nicht ewig Zeit zu warten, nicht wahr? Sie hat ihm erzählt, dass es um eine Familiensache für die Tochter einer Freundin geht. Deswegen war das auch so unproblematisch. Ansonsten kriegt man erst in ein paar Wochen ein Zeitfenster eingeräumt. Du kannst dir da bestimmt etwas Passendes ausdenken, sodass es nicht allzu seltsam wirkt.“ Rose hielt erschöpft aufgrund des Redeflusses inne.

„Mama“, versuchte ich es erneut verzweifelt, die Aufmerksamkeit meiner Mutter zu bekommen.

„Ja bitte, mein Schatz“, säuselte sie jetzt ganz handzahm.

„Das ist nicht dein Ernst! Bitte sag mir, dass das nur ein Scherz ist!“ Bei meiner Hand, die den Hörer umklammert hielt, stachen weiß und bleich die Knochen hervor.

„Mein liebes Kind“, antwortete meine Mutter streng, „dir sollte doch wohl klar sein, dass, wenn es um dein Liebesleben geht, ich ganz bestimmt nicht scherze. Wenn du, weder Zeit noch Mühe investiert, dich in geordnete Verhältnisse zu begeben, an Enkelkinder traue ich gar nicht zu denken, dann muss das halt jemand anders in die Hand nehmen. Du gehst immerhin auf die 30 zu. Was glaubst du, wie viele großartige, unverheiratete Männer wollen ein übriggebliebenes altes Mädchen heiraten?

---ENDE DER LESEPROBE---