Ich und die Heartbreakers - Make my heart sing - Ali Novak - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich und die Heartbreakers - Make my heart sing E-Book

Ali Novak

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Manchmal ist das Leben eine Wundertüte

Büffeln, Sparen, und dann aufs College – so lautet Felicitys Plan. So, wie ihre ehrgeizige Mutter es von ihr erwartet, seit Fels Schwester Rose vor Jahren spurlos verschwunden ist. Doch als Felicity auf einem Maskenball den heißen Alec kennenlernt, der sich als Mitglied der legendären Boyband Heartbreakers entpuppt, erscheint vieles in neuem Licht. Auch was damals zwischen ihrer Mutter und Rose wirklich geschah. Zusammen mit Alec begibt sich Felicity auf einen aufregenden Roadtrip, um endlich Rose zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 473

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE AUTORIN

Foto: © Privat

Ali Novak, geb. 1991, stammt aus Wisconsin und hat vor Kurzem ihr Creative-Writing-Studium an der University of Wisconsin-Madison abgeschlossen. Ihren ersten Roman, Ich und die Walter Boys, begann sie im Alter von 15 zu schreiben und stellte den Text 2010 als Selbstpublisher online. Inzwischen haben ihre Geschichten über 150 Millionen Leser. Wenn sie nicht gerade schreibt oder Fantasyromane liest, ist Ali gern auf Reisen oder veranstaltet Netflix-Marathons mit ihrem Mann Jared.

 

 

 

Mehr über cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

Aus dem Englischen

von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Juli 2018

© 2017 by Ali Novak

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Paper Hearts« bei Sourcebooks, Inc.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Michaela Link

Covergestaltung: buxdesign | Lisa Höfner, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (sivilla)

(LADO, Africastudio, kiuikson)

ml · Herstellung: ER

Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22461-5V003

www.cbj-verlag.de

Für Jared, den besten besten Freund aller besten Freunde,

seit es Freunde gibt, und – noch wichtiger –

die Liebe meines Lebens.

Danke, dass du bei jedem Schritt des Weges bei mir gewesen bist!

KAPITEL 1

Heute war der Geburtstag meiner Schwester. Ich habe gebetet, dass meine Mutter dieses Jahr durch irgendein Wunder nicht daran denken würde. Heute Morgen hatte sie auch tatsächlich nichts gesagt, während ich mir mein Müsli zubereitete – kein Wort darüber, dass wir uns Rose’ Lieblingsfilme anschauen oder bei Vine & Dine zu Abend essen sollten, worauf sie für gewöhnlich bestand –, und ich hatte das als ein Zeichen dafür gedeutet, dass meine Gebete erhört worden waren.

Das waren sie nicht.

Stattdessen stand, als ich von meiner gemeinnützigen Arbeit nach Hause kam, ein roter Cupcake auf dem Tisch und daneben eine Karte, die Rose nie lesen würde. Ich bin kein gläubiger Mensch, also war es nur logisch, dass meine Bitte von wem auch immer da oben ignoriert worden war. Trotzdem grummelte ich vor mich hin, als ich meinen Rucksack auf den nächstbesten Stuhl stellte.

Ich atmete tief durch. »MOM!«

Für einen Moment war es still, aber dann hörte ich in dem kleinen Schlafzimmer, das an die Küche angrenzt, eine Schublade zuknallen. Zwei Sekunden später ging die Tür auf.

»Hallo, Schätzchen!« Mom hatte sich ein Handtuch um ihr blondes Haar gewickelt, trug eine Gesichtsmaske und den Bademantel, den ich ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Mit Zehentrennern aus Schaumstoff an den Füßen kam sie in die Küche gehumpelt. Meine Augenbrauen gingen in die Höhe. Mom lackierte sich die Zehennägel nur, wenn sie ein Date mit ihrem Freund Dave hatte.

Okay, vielleicht ist das mit dem Geburtstag doch nicht so schlimm, wie ich dachte.

»Wie war es im Diner? Hast du viel Trinkgeld bekommen?«

»Mom, ich hatte meine Schicht für dieses Wochenende doch abgesagt. Das habe ich dir gestern schon erzählt.« Samstags und sonntags bekam ich am meisten Trinkgeld – sie musste also viel an Rose gedacht haben, wenn sie bei unserem Gespräch so völlig abgeschaltet hatte. Oder sie war von der Vorfreude auf ihre Verabredung mit Dave abgelenkt gewesen. Hoffentlich Letzteres. »Die Kinderkrebshilfe veranstaltet heute Abend einen großen Wohltätigkeits-Ball, das weißt du doch. Heute Morgen habe ich beim Aufbau geholfen.«

»Ich weiß nicht, warum du deine Zeit mit unbezahlter Arbeit verschwendest«, sagte sie. »Du brauchst Geld, kein gutes Karma.« Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich ihrer Meinung nach einen schweren Fehler machte. Sie war immer sehr besorgt, wenn es um Geld ging. Ein entfernter Verwandter könnte ihr ein beträchtliches Vermögen vermachen, ja, sie könnte sogar im Lotto gewinnen und bliebe doch immer eine Pfennigfuchserin. Aber dafür machte ich ihr keinen Vorwurf. Dad hatte sie schließlich ohne einen Cent sitzen lassen, da war das irgendwie verständlich.

»Um ein Stipendium zu bekommen, muss ich in meiner College-Bewerbung gemeinnützige Arbeitsstunden vorweisen können«, entgegnete ich mit gepresster Stimme. Ich musste gezielt meine Kiefermuskeln entspannen, um nicht mit den Zähnen zu knirschen und Mom anzufahren. Wir hatten das schon tausend Mal durchgekaut, aber sie begriff immer noch nicht, dass diese jetzt geopferten Stunden sich später bezahlt machen würden.

Seit vier Jahren war es mein größter Wunsch, nach Harvard zu gehen. Aber Mom konnte schon unseren Haushalt nur mit knapper Not über Wasser halten. Also war klar, dass ich das Geld fürs College allein aufbringen musste. Das bedeutete, ich war auf Stipendien angewiesen – und zwar auf viele. Und was macht sich besser in einer Bewerbung als freiwillige Arbeit bei einer Wohltätigkeitsorganisation? Mom dachte, ich könnte mein Studium mit der Arbeit im Diner bezahlen, aber egal wie viele Schichten ich auch schob, es würden dabei nie die happigen 45 Riesen herumkommen, die ich jährlich für die Studiengebühren aufbringen müsste. Und dazu kam ja noch die Miete.

Immer wenn wir über Studiengebühren diskutierten, sprach Mom die Treuhandfonds an, die sie und mein Dad vor ihrer Trennung für uns eingerichtet hatten. Einen für Rose, einen für mich. Sie tat so, als würde mein Fonds all meine Probleme lösen, aber das Geld darin würde nur für ein einziges Semester reichen, nicht für die acht, die bis zum Abschluss erforderlich waren. Ich war wirklich nicht undankbar, aber da ich selbst dafür verantwortlich war, mein Studium zu finanzieren, musste ich das große Ganze im Auge behalten. Denn ich wollte keinesfalls den Rest meines Lebens auf einem Berg Studienschulden sitzen.

Du hast sie nicht gerufen, um mit ihr über Geld zu streiten, rief ich mir ins Gedächtnis. Das Studium – genauer gesagt dessen Finanzierung – war ein ständiger Streitpunkt zwischen uns, also war es nicht überraschend, dass ich mich hatte ablenken lassen.

»Aber ich denke trotzdem …«

»Was soll der Cupcake?«, fragte ich und wechselte damit das Thema.

»Felicity, nicht das schon wieder.« Mom verschränkte die Arme und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Die grüne Crememaske auf ihrem Gesicht gab ihrem Versuch, eine grimmige Miene aufzusetzen, etwas Lächerliches. Sie war nie gut darin gewesen, mich und Rose zu maßregeln. Nicht, dass ich eine strenge Hand gebraucht hätte. Ich war das, was sie das perfekte Kind nannte, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen und immer gehorsam. Rose war das genaue Gegenteil, ein rebellisches Kind, das wie Taz von den Looney Tunes durch einen Raum fegen und ein Chaos aus Spielzeug und Saftflecken hinterlassen konnte.

Als wir älter wurden, hatte sich daran nichts geändert. Ich hatte die Hausregeln befolgt, Rose dagegen hatte Mom mit frechen Widerworten einfach niedergewalzt. Sie war nachts aus dem Haus geschlichen, um im Auto ihres gerade aktuellen Freundes rumzuknutschen – und das auch noch mitten in der Woche.

»Nur weil du dich weigerst, zu feiern, Felicity, bedeutet das nicht, dass ich es nicht tun sollte.«

»Eine Person muss anwesend sein, damit man ihren Geburtstag feiern kann.« Genau diese Unterhaltung hatte immer eine sehr ermüdende Wirkung auf mich, als würde mich jedes Wort Kraft kosten. Einen Moment lang ließ ich die Erinnerung an den letzten 23. Juli zu, auf den ich mich wirklich gefreut hatte. Wie ich am Vorabend Rose’ Geschenk – ein über Monate von mir zusammengestelltes Erinnerungsalbum mit Bildern von uns – sorgfältig eingepackt und es mit stolzgeschwellter Brust neben Moms Geschenk auf den Küchentisch gestellt hatte. Dann kehrte das kalte, übelkeitserregende Gefühl zurück, wie damals, als ich ihr Bett am nächsten Morgen leer vorgefunden hatte. »Rose ist weg, Mom. Seit vier Jahren.«

Das Gesicht meiner Mutter wurde traurig.

Sie sah so todunglücklich aus. Als hätten wir die Rollen getauscht, fühlte mich in diesem Moment wie die Mutter, die ihr leidendes Kind trösten musste. Aber dann warf ich wieder einen Blick auf den Cupcake. Es war einer von denen, die teuer aussahen – mit geschwungener Glasur und roten Streuseln – und die es nur bei der schicken, vornehmen Konditorei gegenüber von Moms Büro gab. Das dumme Ding hatte wahrscheinlich über fünf Dollar gekostet und würde am nächsten Morgen ungegessen in den Müll wandern.

»Felicity«, begann sie und blinzelte aufsteigende Tränen weg.

Ich wandte mich ihr wieder zu; meine Nasenflügel bebten. »Bitte nicht«, entgegnete ich und hielt eine Hand hoch. Ich hätte wissen sollen, dass es eine schlechte Idee war, den verdammten Cupcake anzusprechen. Mom trauerte gern so, als wäre Rose gestorben, aber ich würde bestimmt nicht um jemanden trauern, der mich im Stich gelassen hat. »Vergiss, dass ich es angesprochen habe, okay?«

Moms Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie sah mich an, als hätte ich unsere Familie betrogen. Dabei war ich nicht diejenige, die entschieden hatte, dass sie uns nicht mehr brauchte. Ich war nicht diejenige, die weggerannt und für immer verschwunden war.

»Asha holt mich um vier ab«, sagte ich schließlich und beendete damit das angespannte Schweigen zwischen uns. »Ich muss mich fertig machen. Bestell Dave schöne Grüße von mir.«

Als ich in Richtung meines Schlafzimmers ging, spürte ich, wie sie mich mit ihrem Blick verfolgte. Also richtete ich mich etwas gerader auf und tat, als wäre alles in Ordnung. In Wahrheit brannten meine Augenlider, und mir war schwer ums Herz, aber ich wartete, bis meine Tür geschlossen war, bevor ich mich aufs Bett warf und den Tränen freien Lauf ließ.

Später am Abend, nachdem ich meine gerötete Haut und die verheulten Augen mit einer Schicht Foundation abgedeckt hatte, war von meinem kleinen Zusammenbruch nichts mehr zu sehen. Außerdem tat es auch gut, aus dem Haus zu kommen. West Hollywood war farbenfroh und lebhaft; das half mir zu vergessen, wie sehr ich den Geburtstag meiner Schwester hasste. Ich nannte ihn auch den Tag des Verlassens.

»Es ist sinnlos«, sagte Asha. Sie lehnte an der Theke der Garderobe und stützte das Kinn in die Hand. Als sie einen missmutigen Seufzer ausstieß, wirbelten ihre Ponysträhnen wie Federn im Aufwärtswind. »Wir verschwenden unsere Zeit.«

Viele Jahre Freundschaft mit Asha hatten mich ihr konstantes Gejammer zu ignorieren gelehrt. Sich zu beschweren war für Asha so etwas wie ein Hobby, eine Art Zeitvertreib, wenn sie Langeweile hatte. Dennoch hob ich fragend eine Augenbraue.

Wie konnte sie nicht aufgeregt sein?

Selbst nach allem, was vorhin mit meiner Mom geschehen war, sprudelte ich vor Vorfreude geradezu über. Heute Abend fand das größte Fundraising-Event des Jahres statt – der Maskenball der Kinderkrebshilfe KKH. Die reichsten Menschen aus Kalifornien würden kommen, von Geschäftsführern bis hin zu Hollywoodstars. Gerüchten zufolge sollte sogar Beyoncé auftauchen. Das bezweifelte ich zwar, aber mit einigen Promis durften wir wohl tatsächlich rechnen.

Seit letztem Monat machten Asha und ich bei der KKHein Praktikum. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, potenzielle Spender anzurufen, Rundschreiben zu verfassen und alle möglichen Dinge zu besorgen, aber heute hatten wir Dienst an der Garderobe. Unsere Schicht endete bald, und nach so vielen Stunden der Vorbereitung für diese Veranstaltung konnte ich es kaum abwarten, eine Maske aufzusetzen und mich selbst ins Partytreiben zu stürzen.

»Niemand hat überhaupt eine Jacke dabei«, fuhr Asha fort. »Es ist elendig heiß draußen.«

Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Los Angeles wurde gerade von einer Hitzewelle geplagt. Morgens, während ich mein Müsli verschlang, hatte ich auf Kanal 7 im Wetterbericht gehört, dass es in der Stadt seit den Neunzigern nicht mehr so heiß gewesen sei. Infolgedessen war unser Einsatz an der Garderobe, wie Asha erkannt hatte, absolut sinnlos. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Die Garderobe lag neben der Lobby, also konnte ich, wenn ich mich nach links lehnte und den Hals reckte, die Gäste auf dem roten Teppich hereinkommen sehen. Ich hatte vorgehabt, die freie Zeit zum Lernen zu nutzen, aber das zu diesem Zweck mitgebrachte Buch lag unbeachtet vor mir auf dem Tresen.

»Entspann dich doch mal«, ergriff ich das Wort. »Das hier soll Spaß machen.«

»Spaß?«, erwiderte Asha und deutete auf den leeren Raum. »Deine Vorstellung von Spaß ist ziemlich verdreht.«

Bevor ich antworten konnte, registrierte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung – ein weiterer Gast! Ich drehte mich so schnell um, dass ich mir fast den Nacken verknackste, dennoch konnte ich nur einen Smoking und etwas blondes Haar erhaschen. Nach dem wachsenden Getuschel in der Lobby zu urteilen, war der Neuankömmling eine wichtige Person, aber zu viele Menschen versperrten mir die Sicht, als dass ich etwas erkennen konnte. Gerade als ich mich wieder Asha zuwenden wollte, erkannte ich eine hochgewachsene Frau mit Kurzhaarschnitt, die aus der Menge trat und auf uns zukam. Selbst durch die Maske vor ihrem Gesicht erkannte ich, dass es Sandra Hogan war, unsere Chefin.

»Sieh mal«, sagte ich. »Vielleicht lässt Sandra uns früher gehen. Wir könnten noch den Rest des Sektempfangs erwischen!« Ich spürte, dass sich unwillkürlich ein Lächeln auf meine Lippen stahl, aber ich zügelte es, bevor meine Aufregung die Überhand gewann. Es gab keine Garantie dafür, dass Sandra uns nach unserer Schicht am Ball teilnehmen lassen würde.

Mit einem Finger drehte Asha ihr Handy auf dem Tresen im Kreis. »Du sagst das so, als wolltest du hierbleiben.«

Ich sah sie überrascht an. »Du etwa nicht?«

»Definitiv nicht«, antwortete sie und rümpfte die Nase. »Sobald wir hier fertig sind, mache ich mich auf den Weg nach Hause.«

»Ach, komm schon«, nörgelte ich, den Blick noch immer auf unsere Chefin gerichtet. Sandra hielt in der Lobby inne, um mit einem der Gäste zu sprechen, und meine Schultern sackten herab. Vielleicht würde sie uns doch nicht früher gehen lassen. Trotzdem sagte ich: »Du kannst nicht einfach gehen. Du bist doch meine Mitfahrgelegenheit.«

»Sorry, Felicity.« Asha zuckte halbherzig die Schultern. »Ich habe ein Date mit meinem Computer. Wir werden einen langen, romantischen Abend auf Tumblr verbringen.«

Das war keine Überraschung. Asha war von Tumblr nahezu besessen, seit ihr Fan-Blog über die erfolgreiche Fernsehsendung Immortal Nights sich wie ein Virus verbreitet hatte. Nun verbrachte sie mehr Zeit damit, Memes zu erstellen und Enthüllungen über die Schauspieler zu publizieren, als mit echten Menschen zu sprechen. Tatsächlich war das auch der Grund, weshalb sie jetzt bei der KKH arbeitete. Ashas Mom hatte die Nase voll vom unsozialen Verhalten ihrer Tochter und hatte sie dazu gezwungen, sich einen Sommerjob zu suchen. Weil Asha nicht am Drive-in-Schalter unseres örtlichen Fast-Food-Restaurants arbeiten oder Bowlingschuhe sortieren wollte, entschloss sie sich, gemeinsam mit mir ehrenamtlich zu arbeiten. Und solange es sie aus dem Haus brachte, war es Mrs Van de Berg vollkommen egal, was Asha tat.

»Ernsthaft?«, wollte ich wissen. »Willst du gar nicht wissen, wie die Party ist?«

»Ich habe nicht die Absicht, meinen Abend mit einem Haufen spießiger Promis zu verbringen«, spottete Asha.

»Aber es ist ein Maskenball«, sagte ich stirnrunzelnd. Schöne Menschen, umwerfende Kleider, Musik und Tanz – wie konnte man das nicht gut finden?

»Und?«, entgegnete Asha und griff nach ihrem Handy. Sie tippte kurz darauf herum und legte es wieder hin. Drei Sekunden später ertönte eine leise Melodie. Die Musik war nicht laut – alles andere hätte uns Ärger eingebracht –, aber es reichte, dass ich den Beginn von »Astrophil« ausmachen konnte, dem jüngsten Hit der Heartbreakers, der weltberühmten Boygroup. Und wenn es etwas gab, wovon Asha noch besessener war als von Immortal Nights oder Tumblr, dann war es diese Band.

Nachdem ich mir die ersten paar Takte angehört hatte, seufzte ich und antwortete auf ihre Frage. »Und es wird natürlich alles wahnsinnig glamourös sein.«

Sie verdrehte die Augen. »Ja, und ich bin der Inbegriff von Glamour.«

Gut, vielleicht war meine beste Freundin nicht gerade ein Modemensch. Ihr gewöhnliches Schuloutfit bestand aus Schlabberleggings und T-Shirts. Und da alle Helfer der KKH sich an den Dresscode der Abendgarderobe zu halten hatten, hatte sie drei Tage lang panisch versucht, ein passendes Outfit zu finden. Bis sie sich schließlich für den seidenen Sari ihrer Mutter entschieden hatte, der viel besser aussah als das, was ich für sie zusammengeworfen hatte.

Ich trug zwar gern Kleider, hatte aber nur blumengemusterte Flatterdinger aus Secondhandläden im Kleiderschrank, keine Ballkleider. Ich besaß nichts für feierliche Anlässe. Selbst das Kleid für den Schulball hatte ich mir von meiner Nachbarin geliehen, um Geld zu sparen.

Also war ich gestern Morgen, da ich immer noch ohne Outfit für die Benefizveranstaltung dastand, mit dem Bus zum Einkaufszentrum gefahren und hatte mich bei Macy’s durch das Regal mit den heruntergesetzten Sachen gekämpft. Bis ich schließlich ein pinkes, bodenlanges Kleid mit schmaler Taille und ausgestelltem Rock fand, dessen Farbe sich nicht mit dem Rot meines Haars biss und das zum Glück nur ein paar Rüschen hatte. Der Preis lag bei unter hundert Dollar, aber ich musste trotzdem an das Geld gehen, das ich fürs College gespart hatte, um es zu kaufen. Das bedeutete auch, dass keine neuen High Heels mehr drin waren und dass ich meine Füße in die Pumps zwängen musste, die ich schon zum Abschlussball der achten Klasse getragen hatte.

»Richtig angezogen sind wir ja schon«, sagte ich. »Willst du denn gar nicht wissen, ob vielleicht jemand Berühmtes kommt? Was, wenn Gabe Grant auftaucht?«

Damit erregte ich Ashas Aufmerksamkeit.

»Der kommt nicht«, antwortete sie, aber an ihrem Gesicht konnte ich ablesen, dass sie ihre Entscheidung noch einmal überdachte. Gabe Grant, Ashas größter Schwarm unter den Stars, spielte bei Immortal Nights den sexy Werwolfkrieger Luca. Sie hatte mindestens fünfzig Poster von ihm mit nacktem Oberkörper, mit denen sie ihr Schlafzimmer tapeziert hatte.

»Wer weiß«, trällerte ich leise und zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Stell dir nur vor, wie sehr du dich ärgern würdest, wenn du jetzt gehst, und er taucht doch noch auf.« Asha schürzte nachdenklich die Lippen, also machte ich sofort meinen besten Schmollmund. »Bitte.«

»Okay, okay. Du hast gewonnen«, gab sie nach. »Aber wir bleiben nur kurz. Lang genug, um uns auf der Tanzfläche umzusehen und rauszufinden, wer da ist. Dann verschwinden wir.« Sie wandte sich ab. Und die Tatsache, dass sie meinen Blick mied, war der einzige Hinweis, den ich brauchte, um zu merken, dass sie nicht wegen Gabe blieb.

Asha wusste, dass heute der Tag des Verlassens war und, wichtiger noch, wie sehr ich ihn hasste. Dass sie bleiben wollte, damit ich nicht an Rose denken musste, brachte mich fast zum Weinen, aber auf gute Art und Weise, denn, mal ehrlich: die Chance, dass Gabe Grant sich auf dem Ball blicken ließ, standen gleich null. Sie tat es einzig und allein für mich. Mehr Mädchen brauchten allerbeste Freundinnen, die so toll waren wie Asha.

»Ja!« Ich gab ihr einen Wangenkuss. »Habe ich in letzter Zeit erwähnt, dass du die beste der besten Freundinnen in der gesamten Geschichte der Freundschaft bist?«

»Das kannst du laut sagen. Du schuldest mir was.«

»Wie läuft es hier, meine Damen?«, erkundigte sich Sandra. Ich schreckte beim Klang ihrer Stimme auf. Irgendwie war sie während unseres Gesprächs zu unserer Garderobe gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

»Wundervoll.« Ashas Stimme troff vor Sarkasmus. »Wir haben insgesamt eine Anzahl von null Mänteln zu verzeichnen, aber einigen Gästen haben wir den Weg zu den Toiletten gezeigt.«

Sandra lachte und zog ihre Maske hoch, sodass wir ihr Gesicht sehen konnten. »Nun, da die meisten unserer Gäste inzwischen da sind und nichts abgegeben wurde, dürft ihr nach Hause gehen.«

»Miss Hogan?«, begann ich, und Sandra richtete ihren einschüchternden Blick auf mich. »Ich habe mich gefragt, ob … Ich meine, Sie hatten erwähnt, dass wir vielleicht bleiben könnten?«

»Ich freue mich über deine Hilfsbereitschaft, Felicity«, antwortete sie, »aber es gibt hier keine Aufgaben mehr für euch.«

Mein Lächeln verblasste. »Eigentlich meinte ich bleiben, um an dem Ball teilzunehmen.«

Bitte, bitte, bettelte ich gedanklich.

Sandra sah mich scharf an, während sie über meine Worte nachdachte. »Ja, wieso nicht«, lautete schließlich ihre Antwort. »Aber ihr müsst Masken tragen und ich kann die von der Kinderkrebshilfe nicht verschenken. Ihr werdet euch welche kaufen müssen.«

»Kein Problem. Das habe ich bedacht.« Ich zückte meinen Leinenbeutel, der unter der Theke der Garderobe verstaut war. »Die hier habe ich gestern Nacht gemacht«, fügte ich hinzu, brachte zwei selbst gemachte Masken zum Vorschein und zeigte sie ihr. »Sie wissen schon, für den Fall, dass Sie uns erlauben würden, zu bleiben.«

Nach meinem Besuch im Einkaufszentrum war ich tags zuvor noch im Heimwerkerladen gewesen. Weil ich noch Coupons gehabt und mich an die reduzierte Ware gehalten hatte, war es mir gelungen, ziemlich günstig alles zu bekommen, was ich brauchte. Die Masken, die die Kinderkrebshilfe für den Ball geordert hatte, stellten alle unterschiedliche Tiere dar; deshalb hatte ich ebenfalls zwei Tiermasken gebastelt. Für Asha einen Vogel mit weißen und kobaltblauen Federn, die perfekt zu ihren Augen passten, und für mich einen Schmetterling mit pinkem Glitter und Strasssteinen.

»Ich sollte Nein sagen, denn alle anderen tragen unsere Masken«, warf Sandra ein und nahm eine meiner Kreationen in die Hand. »Aber die hier sind wirklich atemberaubend.«

Ich strahlte. »Also dürfen wir sie tragen?«

Sie nickte langsam. »Ja, meinetwegen.«

»Ja!«, sagte ich und konnte mein Glück kaum fassen. »Vielen Dank, Miss Hogan. Das bedeutet mir sehr viel.«

Sandra lief schon zurück zur Lobby und winkte mit einer Hand über dem Kopf, ohne sich umzusehen. »Amüsiert euch, meine Damen«, rief sie zum Abschied.

Genau das hatte ich vor.

KAPITEL 2

Der Ballsaal war prunkvoll. Fünf schwere, kristallene Kronleuchter spendeten warmes Licht, das von den deckenhohen Wandspiegeln ringsum zurückgeworfen wurde. Auf dem Balkon spielte ein Orchester, zu dessen Musik wunderschöne Paare über die Tanzfläche schwebten.

Es war unfassbar, wie viel Reichtum in diesem Saal versammelt war. Eine Frau trug eine Halskette mit einem faustgroßen Smaragd. Ohne Übertreibung. In meinem Kaufhauskleid und mit meinem unechten Schmuck fühlte ich mich fehl am Platz.

»Wo zur Hölle steckst du, Asha?«, murmelte ich, während ich auf mein Handgelenk schaute. Aber meine Armbanduhr, mein liebstes Accessoire, hatte ich vor dem Ball abgelegt, um sie durch ein pinkes Armband zu ersetzen, das zu meiner Maske passte. Gestern war ich noch stolz darauf gewesen – ich hatte es extra für diesen Anlass entworfen. Aber nachdem ich einige der Schmuckstücke gesehen hatte, die die Gäste trugen, schienen die falschen Kristalle an meinem Handgelenk nichts Besonderes mehr zu sein.

Mit einem Seufzer wandte ich mich wieder dem Gewimmel der Gäste zu. Asha war vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden, um an der Bar Limo für uns zu besorgen, weil wir nichts von dem Champagner haben durften, den die Kellner herumreichten. Allmählich wurde es mir peinlich, allein herumzustehen. Außer ihr kannte ich niemanden hier, mal abgesehen von den Mitgliedern der Kinderkrebshilfe, aber die waren alle so sehr damit beschäftigt, wichtige Gäste zu unterhalten, dass sie mir keine Gesellschaft leisten konnten.

Ich hatte inzwischen einen Stehtisch unter dem Balkon für mich ergattert. Dort war ich niemandem im Weg und hatte die beste Aussicht auf das ganze Geschehen. Ein süßes, älteres Paar bewegte sich langsam, im eigenen Takt, am Rand der Tanzfläche. Es fiel mir auch nicht schwer, Steven Gibbins zu entdecken, den Geschäftsführer der Kinderkrebshilfe. Er trug einen lächerlichen Zylinder. Ich ließ meinen Blick weiter über die Menge schweifen und hoffte, jemand Berühmtes zu erspähen, aber wegen der Masken war es natürlich schwer, überhaupt jemanden zu erkennen.

Doch dann bemerkte ich ihn.

Im Kontrast zu den meist farbenfrohen und verzierten Masken, die die Gäste zu Beginn der Veranstaltung aufgesetzt hatten, hatte er sich für die eines schlichten, aber eleganten schwarzen Wolfs entschieden, die seine grauen Augen betonte. Ich konnte dieses erstaunliche Grau so gut erkennen, obwohl er ein paar Meter entfernt von mir stand, weil er mich unverhohlen anstarrte.

Er wirkte jünger als die meisten anderen Gäste. Vielleicht war er der Sohn eines erfolgreichen Geschäftsmannes oder Filmregisseurs? Es war schwer einzuschätzen, wie alt er genau war, da die obere Hälfte seines Gesichts verdeckt war. Achtzehn oder neunzehn, schätzte ich. Vielleicht Anfang zwanzig.

Dass er unglaublich gut aussah, war das Einzige, was ich mit absoluter Gewissheit sagen konnte. Nicht heiß auf die Art wie Eddie Marks, der Kapitän der Fußballmannschaft, auf den ich seit der Unterstufe stand. Eddie wusste, wie er auf die Mädels wirkte, und machte es sich zunutze. Dieser Junge, wer immer er sein mochte, tat dies nicht. Keine Ahnung, woher ich das wusste – vielleicht lag es an seiner Körperhaltung. Er war groß, stand sehr aufrecht, strahlte aber keine Überheblichkeit aus. Oder vielleicht an seinem Blick, einsam, aber hoffnungsvoll. Warum auch immer, ich wusste einfach, dass er anders tickte als alle Eddies dieser Welt.

Wir hatten uns noch nie zuvor gesehen, und doch … hatte er etwas an sich, das ich mir nicht genau erklären konnte. Seinen Blick zu erwidern, löste in mir das Gefühl aus, als sei mein Innerstes nach außen gekehrt worden. Nach zwei weiteren Sekunden direkten Blickkontakts schaute ich zu Boden.

Ich wollte beschäftigt wirken und zog deshalb mein Handy hervor, um nachzusehen, ob Asha mir geschrieben hatte. Vielleicht war Gabe Grant hier und sie flirtete in einer dunklen Ecke des Saals mit ihm. Aber als ich nachsah, hatte ich keine neuen Nachrichten erhalten. Ich klickte Ashas Namen an und schrieb ihr eine kurze Nachricht.

Felicity: Bist du entführt worden oder so?

Dann steckte ich mein Handy wieder ein und blickte in der Hoffnung auf, Asha mit zwei Getränken in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen auf mich zukommen zu sehen. Aber sie tauchte nicht auf; deswegen riskierte ich einen weiteren schnellen Blick zu dem Typ mit den durchdringenden Augen. Er hatte sich wieder den Leuten zugewandt, mit denen er zusammenstand: ein großer Mann mit einem Hauch Silber im dunklen Haar und denselben grauen Augen wie der Junge, eine Frau in einem grünen, hautengen Kleid, das mich an die Haut eines Alligators erinnerte, und Judy Perkins, ein Aufsichtsratsmitglied der Kinderkrebshilfe. Der Wolfsjunge hörte dem Gespräch höflich zu, aber während ich hinsah, öffnete er den Mund kein einziges Mal, um selbst etwas zu sagen.

Auch einige Minuten später, in denen ich mit den Fingern ungeduldig auf den Cocktailtisch trommelte, hatte ich noch immer kein Lebenszeichen von Asha bekommen. Selbst der Junge, zu dem ich immer wieder rübergesehen hatte, war verschwunden, verschluckt von den Wogen der Menschenmenge. Wenn ich jetzt nicht nach Asha suchte, würde ich vermutlich den Rest des Abends damit verbringen, hier bescheuert allein herumzustehen. Ich löste mich von dem Stehtisch und machte mich auf die Suche.

Am anderen Ende des Saals gab es eine große Bar – das wusste ich, weil ich beim Aufbau geholfen hatte –, und ich begab mich grob in deren Richtung. Auf dem Weg schlängelte ich mich durch verschiedene Gästegrüppchen. Ich bekam Bruchstücke von Gesprächen mit und immer wieder lachten die Gäste. So mitten im Getümmel der Party fühlte ich mich gleich viel wohler.

Es dauerte einige Minuten, bis ich den großen Ballsaal durchquert hatte, und als ich schließlich den hölzernen Tresen der Bar erblickte, glaubte ich, von einer mir vertrauten Stimme gerufen zu werden. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, in der Hoffnung, Ashas hellblauen Sari zu entdecken. Doch ich konnte sie nirgendwo sehen, schürzte die Lippen und drehte mich wieder um. Genau in diesem Augenblick rempelte mich jemand von der Seite an. Ich geriet auf meinen High Heels ins Wanken, und die halbe Sekunde, die verging, ehe ich endgültig das Gleichgewicht verlieren würde, schien eine Ewigkeit zu dauern. Aber bevor ich fallen konnte, griff eine starke Hand nach mir und hielt mich fest.

»Vielen, vielen Dank …«, begann ich, aber dann sah ich auf, erblickte meinen Retter und erstarrte. Vor mir stand der Typ mit der Wolfsmaske. Aus nächster Nähe war er noch atemberaubender. Er sagte etwas zu mir, aber ich war zu verblüfft, um seine Worte zu verstehen.

Als ich nicht antwortete, legte er den Kopf schräg. »Miss?«

Ich blinzelte. »Hm?«

»Soll ich ein feuchtes Tuch und ein Glas Wasser bringen lassen?«, erkundigte er sich leise, als wolle er von niemandem gehört werden. Seine Stimme war tief. Tief auf eine sanfte, sexy Art.

»Warum?«

Er deutete auf mein Kleid. Braune Flüssigkeit war vorne über den Rock gelaufen und hatte einen großen Fleck auf dem pinken Stoff hinterlassen. Und da fiel mir auch das leere Glas in seiner anderen Hand auf.

»Mist!«, rief ich und wischte ein paar schmelzende Eisklumpen weg. Die braunen Flecken blieben. »Mist, Mist, Mist!«

»Ich komme gerne für die Reinigungskosten auf, wenn …«

»Nein«, unterbrach ich ihn.

Bevor er die Chance hatte, zu reagieren, wirbelte ich herum und tauchte in die Menschenmenge ein. Die nächsten Toiletten waren unter dem Balkon. Ich eilte doppelt so schnell durch den Ballsaal wie auf dem Weg zur Theke. Es war mir egal, ob ich in meinem Wahn jemanden anrempelte. Ich lief so schnell in die Damentoilette, wie meine hochhackigen Schuhe es zuließen, und peilte den kürzesten Weg zu den Waschbecken an. Nachdem ich den Wasserhahn ruckartig aufgedreht hatte, riss ich ein Papierhandtuch nach dem anderen aus dem Spender.

»Bitte geh raus, bitte geh raus«, flehte ich verzweifelt, während ich mit den nassen Tüchern auf dem Fleck rumtupfte. Etwas von den dunklen Klecksen verschwand, aber der Stoff war nach wie vor verfärbt. »Verdammt!«

Ich warf die nutzlosen Tücher in den Mülleimer, beugte mich über das Waschbecken und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie wegen etwas so Banalem wie einem ruinierten Outfit derart am Boden zerstört gewesen. Ich legte keinen großen Wert auf materielle Dinge. Das konnte ich mir gar nicht leisten. Meine Familie war nie wirklich reich gewesen, aber als Partner in einer Anwaltskanzlei hatte mein Vater genug Geld verdient, um uns ein sorgloses Leben zu ermöglichen. Nicht, dass ich mich daran erinnerte. Mein Vater hatte uns verlassen, bevor ich in die erste Klasse kam.

Mom hatte ihren Lebensstil als Orange-County-Hausfrau so lange wie möglich beibehalten, aber der Ehevertrag, den sie unterschrieben hatte, sprach ihr nicht sehr viel Geld zu. Als ich neun wurde, war das Geld weg, und sie begann, unser Hab und Gut zu verkaufen – das Speedboat, das Dad zurückgelassen hatte, einige ihrer wertvollen Schmuckstücke, den Kicker und den Flachbildfernseher aus dem Keller –, um nicht die wichtigen Statussymbole wie das Haus und den BMW zu verlieren. Aber irgendwann mussten auch die verkauft werden.

Als ich in die Mittelstufe kam, akzeptierte meine Mutter endlich die Tatsache, dass unser Lebensstil sich ändern musste. Sie, Rose und ich schauten eines späten Abends Natürlich blond (mein absoluter Lieblingsfilm). Gerade als die Hauptfigur Elle kurz davor stand, im Gerichtssaal einen Sieg davonzutragen, fiel der Strom aus. Aber es lag nicht an einem Sturm. Der Stromversorger hatte uns den Saft abgedreht, weil Mom die Rechnungen nicht bezahlt hatte. Ich musste ihr jedoch zugutehalten, dass sie damals gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat. Nachdem der Schock der plötzlichen Dunkelheit verdaut war, kramte sie genügend Kerzen aus der Garage zusammen, um das ganze Wohnzimmer zu beleuchten.

Für mich war diese Nacht ein lustiges Abenteuer. Schließlich durfte ich mit meiner Familie in einem Schlafsack auf dem Wohnzimmerboden campen. Erst als ich davon wach wurde, wie meine Mom weinte, wurde mir der Ernst der Lage langsam bewusst. Sie schluchzte nur ganz leise, aber ich konnte ihre unregelmäßige Atmung und ab und zu auch einen Schluckauf hören. Als ich sie leise ansprach und sie fragte, was denn los sei, tat sie so, als schliefe sie. Am nächsten Tag stellte sie das Haus zum Verkauf und sah sich nach einem Job um.

Seufzend widmete ich mich wieder meinem Kleid. Leider ging es um mehr als nur einen dummen Fleck. Denn ich hatte es einfach nicht fertiggebracht, einen Haufen Geld für ein Kleidungsstück zum Fenster hinauszuwerfen, das ich nur einmal tragen würde. Ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass ich jeden Cent fürs College brauchte … Also hatte ich den unschönen Plan gefasst, das Preisschild des Kleides nicht zu entfernen und es einfach nach dem Ball wieder in den Laden zurückzubringen.

Aber mit diesem Fleck ging das natürlich nicht mehr. Und mit dem Versuch, die Limonade herauszuwaschen, war es nur noch schlimmer geworden. Ich spürte, wie Tränen in meine Augen stiegen.

Willst du jetzt wirklich wegen eines Kleides heulen?, tadelte ich mich selbst. Reiß dich zusammen, Felicity!

Ich schob meine Maske hoch und wischte mir die Tränen aus den Augen. Ich wusste, dass es schwer werden würde, das Geld fürs College zusammenzusparen. Und wenn ich ehrlich war, war der Fleck vielleicht sogar ganz gut. Ich hatte mich davon zu überzeugen versucht, dass es niemandem schaden würde, das Kleid zurückzugeben, aber ich konnte das Preisschild zwischen meinen Schultern hängen spüren. Es erinnerte mich permanent an meine Unehrlichkeit.

Ich schüttelte mein Haar aus und straffte die Schultern. Was ich jetzt dringend brauchte, war frische Luft, also rückte ich meine Maske wieder zurecht, verließ die Toilette und machte mich auf den Weg zu den Doppeltüren hinten im Ballsaal. Eine stand offen und das Licht aus dem Saal fiel hinaus auf die Terrasse und wirkte dort wie ein Swimmingpool aus goldenem Wasser. Sobald ich hinaustrat, atmete ich die warme Luft tief ein. Inzwischen war die Sonne untergegangen, aber die sengende Hitze des Tages hing immer noch beharrlich in der nächtlichen Luft.

Ich atmete ein weiteres Mal tief ein und ging hinüber zum steinernen Geländer. Hinter mir verschwammen das Treiben und die Musik der Party zu einem leisen Summen. Von der Terrasse aus schaute man auf einen weitläufigen Garten. Das einzig passende Wort, um diesen zu beschreiben, war ›magisch‹. Wie aus einem Märchen. Ich stellte mir vor, wie kleine Feen dort in der nächtlichen Dunkelheit funkelten.

Zwei weit geschwungene Treppen führten zu einem riesigen, runden Brunnen hinab, und der Weg aus Kopfsteinpflaster, der ihn umgab, verlor sich dahinter in einem Labyrinth aus hohem Grün. In zahlreichen Rosenbeeten hingen weiße Lichterketten, an den Ästen aller Bäume in der Umgebung pastellfarbene Lampions. Während ich die schöne Szenerie auf mich wirken ließ, wurde mir klar, wie viel Zeit und Mühe die Dekoration in Anspruch genommen haben musste und wie schade es war, dass niemand außer mir hier draußen war und den Anblick genoss. Die Kinderkrebshilfe war davon ausgegangen, dass die Partygäste auch die Terrasse benutzen würden, aber angesichts der Hitze schien kaum jemand den klimatisierten Saal verlassen zu wollen.

Ich setzte mich auf die oberste Stufe einer der Treppen, stützte das Kinn in die Hände und seufzte aus tiefster Seele. So hatte ich mir den Abend ganz und gar nicht vorgestellt. Hatte ich etwa erwartet, dass es mir ergehen würde wie Aschenputtel? Nein, aber verdammt, die hatte doch echt alles gehabt: ein kostenloses, wunderschönes Kleid, einen Abend voller Lachen und Tanzen und einen gut aussehenden Prinzen, der sie aus ihrer traurigen Welt rettete. Wäre auch nur eines dieser Dinge zu viel verlangt gewesen? Ein Abend voller Spaß statt Stress? Ohne mir über Geld, Arbeit oder meine Zukunft Sorgen zu machen? Nach dem Vorfall mit der Limonade auf meinem Kleid und dem damit verbundenen Durchdrehen war stressfrei leider keine zutreffende Beschreibung mehr für meine Maskenballerfahrung.

Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar. Es hatte über eine Stunde gedauert, jede Strähne zu glätten, und nachdem ich nun nicht einmal fünf Minuten draußen gewesen war, spürte ich schon, wie meine Locken langsam zurückkehrten. Aber inzwischen war es mir egal. Das Einzige, das mein ganzes Pech wieder wettmachen würde, wäre, wenn zumindest Asha sich gut amüsierte, hoffentlich mit Gabe Grant.

Dieser Gedanke brachte mich zum Lächeln.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort draußen war, aber irgendwann spazierte ich hinab zum Brunnen. Aus der Nähe war er noch viel schöner. Sein Boden war mit buntem Glas gekachelt und sah aus wie ein versunkenes Kaleidoskop. Ich stieg auf den glatten Betonrand des Beckens. Während ich einmal ganz darauf herumlief, summte ich den Song von den Heartbreakers, der mir dank Asha nicht mehr aus dem Kopf ging.

»Miss?«

Beim Klang seiner Stimme schreckte ich auf und musste mit den Armen rudern, um nicht ins Wasser zu fallen. Ich fand mein Gleichgewicht wieder, aber mein Herz pochte heftig. Ich legte mir eine Hand auf die Brust und setzte mich schnell, bevor ich am Ende tatsächlich noch im Wasser landete.

Ohne hinzusehen, wusste ich, dass es wieder dieser Junge war. Ich wandte mich ihm zu und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Heilige Mutter Gottes, warder groß! Nicht so groß wie mein guter Freund Boomer, aber trotzdem … Das hatte ich gar nicht bemerkt, als wir auf der Tanzfläche zusammengestoßen waren, weil ich von meinem besudelten Kleid derart abgelenkt gewesen war. Als könne er meine Gedanken lesen, trat er ein paar Schritte zurück, um mich nicht mehr so weit zu überragen.

»Wolltest du mich erschrecken?«, fragte ich, während mir der Puls in den Ohren pochte. »Denn das ist dir gelungen.«

»Tut mir leid«, erwiderte er mit neutralem Gesichtsausdruck. »Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.«

Ich seufzte. »Ja, mir geht es gut.«

Okay, mir ging es nicht gut. Auch nicht unbedingt schlecht, aber nachdem meine Emotionen unerwarteterweise so hochgekocht waren, fühlte ich mich nun etwas durcheinander und ausgebrannt. Wie ein völlig entladener Akku. Meine Freude über den Ball war zwar schon lange verflogen, dennoch war ich noch nicht bereit zu gehen. Nicht, wenn mich daheim nur ein dunkles Haus erwartete. Aber unter keinen Umständen würde ich das alles einem Fremden anvertrauen, selbst wenn er auf mysteriöse Art und Weise attraktiv war.

Er musste gemerkt haben, dass ich nicht ganz ehrlich war, denn als ich wieder aufschaute, musterte er mein Gesicht eingehend. Dabei hatte er die Augen konzentriert zusammengekniffen. Es fühlte sich an, als würde eine ganze Stunde vergehen, bis er endlich sprach.

»Ist dein Kleid in Ordnung?«

Ich lief rot an. »Das wird schon wieder. Ich muss es nur in die Reinigung bringen.«

»Tut mir leid, dass ich meinen Drink auf deinem Kleid verschüttet habe«, betonte er erneut. »Ich habe dir ein Mineralwasser und ein Handtuch geholt.« Er hielt mir beides als Friedensangebot hin.

»Das wäre nicht nötig gewesen«, antwortete ich und war kaum in der Lage, seinen Blick zu erwidern. Mein Gesicht brannte, und ich betete im Stillen, dass man in der Dunkelheit meine roten Wangen nicht erkennen konnte. Anders als Mom und Rose, die immer kalifornientypisch braun waren, hatte ich, was das anging, die irischen Gene meiner Großmutter geerbt. Und als wäre es nicht schon genug, dass ich mir mit meiner komplett blassen, bleichen Haut sogar an bewölkten Tagen einen Sonnenbrand einfing, lief ich auch noch rot an wie ein Stoppschild, wenn mir etwas peinlich war.

Der Junge hielt mir die Flasche und das Handtuch noch immer hin, aber ich war zu nervös, um danach zu greifen. Drei lange Sekunden vergingen, bevor er auf mich zukam und die Sachen neben mir abstellte. Dann stand er einfach da, mit den Händen in den Taschen. Ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich ihn bat, sich zu mir zu setzen, oder ob er darauf hoffte, dass ich ihm einen Grund gab, zu verschwinden. Ich war zu abgelenkt, um irgendetwas davon zu tun. Meine Gedanken drehten sich immer noch um unseren Zusammenstoß und mit jeder detaillierten Wiederholung der Szene in meinem Kopf zog sich mein Magen weiter zusammen. Ich hatte mich total bescheuert aufgeführt. Richtig zickig.

»Ich komme mir so blöd vor«, gestand ich und vergrub das Gesicht in den Händen. »Tut mir leid, dass ich so ausgeflippt bin. Du musst mich für eine von diesen total verwöhnten, anstrengenden Barbies halten.«

Der Junge interpretierte meine Entschuldigung offensichtlich als Zeichen, sich zu mir zu setzen. Er nahm Platz und zog etwas aus seiner Tasche: ein Handy und Kopfhörer. »Deine Haare sind nicht blond«, sagte er. Ich sah ihn an und war von dem abrupten Themenwechsel verwirrt, also ergänzte er zur Erklärung: »Barbies haben blonde Haare.«

Oh. Er hat einen Scherz gemacht. Meine Güte … bei seinem ernsten Tonfall und dem steinernen Gesichtsausdruck war es unmöglich, das zu merken. »Richtig«, antwortete ich. »Du aber auch.«

Sein Haar war flachsblond – ein so heller Ton, dass er beinahe wie Sonnenlicht auf frischem Schnee wirkte. Und es war perfekt gestylt, mit ein paar lässigen Strähnen in der Stirn. Ich musste beinahe lachen. Er war der Ken zu meiner Barbie. Statt zu antworten, strich er sich übers Haar, wie um sicherzugehen, dass jede nach hinten gekämmte Strähne noch an ihrem Platz lag. Dann richtete er den Blick wieder auf mich. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, irgendetwas, aber er schien zufrieden mit der Stille.

Ich war es jedoch nicht.

»Ich bin übrigens Felicity Lyon.« Li-ohn, wie die französische Stadt.

Ich hatte gehofft, das Gespräch so in Gang zu halten, aber aus irgendeinem Grund zuckte er zusammen und wandte den Blick ab. Er sah auf seine Hände und konzentrierte sich darauf, das weiße Kabel seiner Kopfhörer um einen seiner Finger zu wickeln.

Okay, komisch. War er zu schüchtern, um sich mit mir zu unterhalten, oder wollte er mir seinen Namen nicht verraten?

»Egal«, entschied ich. »Tu einfach so, als hätte ich nichts gesagt.«

Nach einigen Augenblicken legte er sich seine Kopfhörer um den Hals und räusperte sich. »Ich bin Aaron.« Er verriet seinen Nachnamen nicht, aber mit dem Vornamen konnte ich schon mal etwas anfangen.

»Also Aaron«, antwortete ich und versuchte, nicht die Nase zu rümpfen. Es fühlte sich irgendwie falsch an, ihn Aaron zu nennen, aber vielleicht lag das nur daran, dass ich mal Babysitterin für einen kleinen Jungen namens Aaron gewesen war. Er hatte das ganze Jahr über sein Halloween-Kostüm getragen und sich einen Spaß daraus gemacht, aus Schränken zu springen, um die Leute zu erschrecken.

»Warum bist du hier?« Sobald mir diese Worte über die Lippen kamen, wurde mir klar, dass es so klang, als wolle ich wissen, warum er hier bei mir saß, und fügte rasch hinzu: »Ich meine, warum du hier auf dem Ball bist.«

»Mein Dad war eingeladen«, antwortete er ohne weitere Erklärungen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er finster dreinblickte, obwohl das durch seine Maske schwer zu erkennen war. Ich wollte am liebsten danach greifen und sie herunterziehen, um sein Gesicht zu sehen, aber stattdessen faltete ich die Hände auf dem Schoß.

Gott, Felicity. Kannst du dich noch peinlicher benehmen?

Anscheinend konnte ich das.

»Ist das der Mann mit dem dunklen Haar, mit dem du dich vorhin unterhalten hast?«, Die Frage stellte ich, ohne vorher darüber nachzudenken. Ich versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und Aaron, der eher der stille Typ zu sein schien, steuerte seinerseits nicht viel dazu bei. Sein Mund zuckte, und ich meinte, einen Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschen zu sehen.

»Also hast du mich doch gesehen.«

Oh. Mein. Gott.

Viel peinlicher konnte es ja wohl nicht mehr werden. Ich wäre am liebsten sofort zurück zur Damentoilette gerannt, um mich dort zu verstecken. Meine Frage klang total stalkermäßig und seltsam! Aber dann fiel mir auf, dass Aaron mit seiner Antwort zugegeben hatte, mich auch bemerkt zu haben.

»Na ja, schon«, gestand ich. Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lächeln. »Es war schwer, dich zu übersehen, so wie du mich angestarrt hast.«

Meine Antwort brachte ihn dazu, den Blick abzuwenden, als wäre er angesichts der Situation auch verlegen. Dabei berührte er seine Kopfhörer, als wolle er sichergehen, dass sie noch da waren.

»Als ich dich da drinnen gesehen habe«, begann er, »dachte ich zuerst, du wärst jemand anderes.«

Natürlich, dachte ich mir. Jetzt geht das wieder los. Ich wusste schon, was er sagen würde, aber fragte trotzdem: »Echt? Für wen hast du mich denn gehalten?«

»Lach jetzt nicht, aber ich dachte, du wärst Violet James. Sie ist die Schauspielerin aus …«

Obwohl er mich gebeten hatte, es nicht zu tun, musste ich lachen.

»Ja, ich weiß, wer sie ist.«

Violet James, auch bekannt als die Vampirprinzessin Lilliana LaCroix aus Immortal Nights. In der Serie war sie zum ersten Mal aufgetreten, und seitdem die erste Folge ausgestrahlt worden war, bestanden die Leute darauf, dass wir Zwillingsschwestern sein mussten. Ich fand nicht, dass wir uns ähnlich sahen. Violets Haar war blassblond und ihre Augen hellbraun, fast golden. Das bildete zu meiner roten Mähne und meinen grünen Augen doch einen starken Kontrast. Dennoch wurde ich jedes Mal, wenn ich mich in die Touri-Gebiete von Los Angeles begab, um Autogramme gebeten.

Nicht dass ich wirklich etwas dagegen hatte, mit Violet verglichen zu werden. Schließlich war sie mehr als umwerfend, aber es kam einfach immer zur Sprache, wenn ich neue Leute kennenlernte. Ich könnte vermutlich auch den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oder die kleine Meerjungfrau treffen und früher oder später würden sie mich auf die Ähnlichkeit zu Violet James ansprechen. Tatsächlich habe ich es schon so oft gehört, dass ich genau wusste, wie dieses Gespräch ablaufen würde. Normalerweise wurde ich persönliche Sachen über Violet gefragt (als könnte man die Gedanken der Leute lesen, denen man ähnelt), oder wann die neue Staffel erscheinen würde (hatte ich etwa plötzlich Insider-Informationen?), und bat mich, dieses eine beliebte Zitat von Lilliana nachzusprechen. (Nein, ich spreche keine Sexszene nach!)

Aber heute Nacht geschah etwas vollkommen anderes. Aaron fiel komplett aus dem Schema.

»Sobald du in meine Richtung geschaut hast, wusste ich aber, dass du nicht Violet bist.« Er sagte das, als wäre es amüsant.

»Echt? Wie das denn?«

»Unter Violets Blick fühlt man sich, als wäre man klitzeklein, auch wenn man 1,83 groß ist.« So, wie Aaron über Violet sprach, fragte ich mich, ob sie sich kannten. Doch da wechselte er schon das Thema. »Aber du hast noch gar nicht gesagt, wieso du heute Abend hier bist.«

»Oh, ich arbeite ehrenamtlich für die Kinderkrebshilfe.«

Zum ersten Mal, seit ich ihn entdeckt hatte, lächelte Aaron. Es war ein langsames, halbseitiges Lächeln und veränderte sein maskiertes Gesicht auf eine Weise, die mir auch ein Lächeln entlockte. »Normalerweise muss mein Dad mich auf diese sozialen Veranstaltungen schleifen, aber ich habe einen Freund, der …« Er zögerte und sein Lächeln verblasste. »Der eine enge Verbindung zum Hintergrund dieser Veranstaltung hat.«

Das bedeutete, sein Freund hatte Krebs. Oder jemand aus dessen Familie. In jedem Fall war es schrecklich. Mein erster Gedanke war es, ihm mein Beileid auszusprechen, aber ich wusste nichts über die Situation seines Freundes, und Aaron wollte ganz offensichtlich nicht über die Einzelheiten sprechen. Also war das Beste, was ich tun konnte, freundlich zu sein und zu versuchen, ihm noch ein Lächeln abzugewinnen.

»Nun, dann wirst du dich bestimmt freuen, zu hören, dass mein Job hier für den Zweck dieser Veranstaltung elementar ist«, sagte ich und breitete die Hände auf der Brust aus. »Meine Aufgabe war es, die Garderobe zu betreuen.«

Das brachte ihn zum Lachen. Es war kein lautes oder langes Lachen, aber es reichte, um meinen Bauch glücklich kribbeln zu lassen.

»Bei der Hitze?« Und als wolle er seine Worte damit untermauern, knöpfte er sein Jackett auf und zog es aus. Nachdem er es sorgfältig gefaltet und zwischen uns gelegt hatte, griff er nach seiner Fliege. »Würde es dich stören, wenn ich …?«

»Natürlich nicht.« Ich grinste und streifte meine High Heels ab. »Oh, Gott sei Dank. Diese blöden Dinger erinnern mich immer wieder daran, wieso ich mich nicht gerne so schick mache.« So schön es auch sein mochte, sich in ein Ballkleid zu werfen, der Schmerz in meinen Füßen war alles andere als begehrenswert.

»Abgesehen von deinem Kleid«, bemerkte er. Ich wusste nicht, ob er mich damit aufzog oder es als Frage meinte.

Verdammt, sind wir jetzt wieder bei dem Thema?

»Das Kleid ist mir ehrlich gesagt egal.« Ich sah auf den Fleck hinab. Jetzt, da er trocken war, bemerkte man ihn kaum noch. »Es ist nur so, dass …« Ich wusste nicht, wie ich mein Vorhaben, das Kleid zurückzugeben, erklären sollte, ohne es schrecklich klingen zu lassen. Aaron drängte mich nicht weiterzureden. Er saß einfach da und sah mich an. Er ließ mich stottern und stammeln, bis ich meine Worte schließlich wiederfand. »Okay. Ich werde dir verraten, weshalb ich ausgeflippt bin«, brachte ich endlich über die Lippen. »Aber wenn ich das tue, wirst du bestimmt enttäuscht von mir sein.«

Aaron sah mir jetzt direkt in die Augen. »Das bezweifele ich in höchstem Maße.«

»Ich habe das Preisschild drangelassen.«

Er war einen Moment lang still und ließ meine Worte auf sich wirken. »Und das macht dich zu einem schlechten Menschen?«

»Ja, weil ich es tragen und dann zurückgeben wollte. Weißt du, so etwas habe ich noch nie getan, aber alle Helfer mussten sich für den Ball schick machen, und ich besitze kein Ballkleid. Das hier war das billigste, was ich finden konnte, aber die Studiengebühren in Harvard sind unglaublich hoch und …«

Bevor ich zu Ende sprechen konnte, hob er die Hand, um mich davon abzuhalten, noch weiter abzuschweifen.

»Nein«, antwortete Aaron und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass du das wirklich getan hättest.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe eine gute Menschenkenntnis«, erwiderte er, als wäre es eine Tatsache und nicht seine Selbsteinschätzung.

»Und wie funktioniert das? Warte, sag’s mir nicht … Intuition? Superkräfte?«

Aaron schüttelte den Kopf.

»Was dann?«, beharrte ich und runzelte angesichts seiner Antwort die Stirn. Ich musste wissen, wie er etwas über mich wissen konnte, bevor ich es selbst wusste, insbesondere wenn man bedenkt, dass wir uns gerade erst kennengelernt hatten. Denn sobald Aaron gesagt hatte, dass ich das Kleid nicht zurückgeben würde, wusste ich, dass er recht hatte. Ich hatte nicht den nötigen Mumm, um es durchzuziehen.

»Weil«, sagte er sehr bestimmt, »ich noch nie jemanden gesehen habe, dem wegen etwas, das er noch nicht mal getan hat, das schlechte Gewissen so ins Gesicht geschrieben steht wie dir.«

Er stand auf und klopfte sich die Hose ab. Ich war mir sicher, dass er mich jetzt sitzen ließ – was, wie mir klar wurde, etwas Gutes war, denn diese ganze Sache war bislang ziemlich demütigend. Aber dann tat er etwas, das mich überraschte. Er atmete scharf ein und streckte die Hand aus.

»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«, fragte er und deutete auf die Gärten.

Er schien gleichzeitig ungeduldig und vorsichtig zu sein. Das vertrieb jeden Gedanken an die Peinlichkeiten dieses Abends aus meinem Kopf. Ich warf einen Blick auf seine ausgestreckte Hand und ein langsames Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Na gut, Süßer. Warum nicht?

Ich legte meine Hand in seine und ließ mich von ihm in die Gärten führen.

KAPITEL 3

Die Gärten waren riesig, viel größer, als ich anfangs angenommen hatte, und es wäre ein Leichtes gewesen, sich auf den verschlungenen Wegen zu verlaufen. Wir hatten den lichtergeschmückten Bereich rings um den Brunnen bereits hinter uns gelassen, aber das Licht aus dem Ballsaal, das auf den gegenüberliegenden Hügel fiel, half mir, nicht die Orientierung zu verlieren.

Aaron hatte nichts mehr gesagt, seit er mir die Hand hingehalten hatte. Während der ersten Minuten des Spaziergangs versuchte ich, mir irgendetwas Intelligentes einfallen zu lassen, um ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Aaron lief, als hätte er ein Ziel, als wäre er zutiefst konzentriert. Also hielt ich den Mund. Je tiefer wir uns in die Gärten vorwagten, desto weniger störte es mich, dass wir uns nicht unterhielten.

Zu Beginn hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich sein Schweigen durch mein Reden ausgleichen müsste, aber je länger wir unterwegs waren, desto deutlicher wurde es, dass Aaron sich in dieser Stille wohlfühlte, sogar selbstsicher. Mir wurde klar, dass er von mir nicht erwartete, etwas zu sagen, und die Anspannung zwischen meinen Schultern löste sich endlich auf. Erst danach war ich imstande, die kleineren Dinge zu bemerken. Zum Beispiel, dass wir so nah nebeneinanderliefen, dass sich unsere Ellbogen ab und zu berührten, und dass Aaron mir alle paar Sekunden von der Seite einen Blick zuwarf.

Bald weitete sich der Weg und die Rosenbeete endeten. Aaron machte am Rand eines kleinen Karrees halt, in dessen Mitte sich ein Koiteich befand. Seerosen schwammen auf dem Wasser und eine winzige Brücke führte über den Teich.

»Hübsch«, bemerkte ich und brach die Stille zwischen uns. Der Mond schien so hell, dass ich im Wasser erkennen konnte, wie sich etwas Weißes und Orangefarbenes bewegte.

Aaron nickte. »Vor langer Zeit war ich mal mit meiner Mutter hier. Wir haben die Fische mit Tortillachips gefüttert.«

Meine Augen weiteten sich. »Ihr habt den Fischen Chips gegeben?«

»Die fressen fast alles«, antwortete er und zuckte die Schultern.

»Nein, ich meine, warum habt ihr freiwillig etwas so Köstliches wie Tortillachips weggeworfen? Waren es etwa die mit Sour-Cream-Geschmack? Falls ja, weiß ich nicht, ob wir Freunde werden können.« Chips, egal ob Tortilla- oder Kartoffelchips, waren mein Lieblingsessen unter den Snacks. Und die Tortillachips mit Sour-Cream-Geschmack waren meine persönliche Droge. Ich war in der Lage, eine komplette Familienpackung auf einmal aufzufuttern. Aber solange sie schön knusprig waren, aß ich eigentlich alle Sorten.

»Es waren Sweet Chilis«, versicherte er mir.

»Dann ist es okay, denke ich«, entgegnete ich. »Aber du musst mir schwören, nie wieder Chips zu verschwenden.«

»Ich schwöre!«, gelobte er.

Wir verfielen wieder in Schweigen. Schließlich setzte ich mich auf eine Steinbank am Ufer des Teiches. Aaron folgte meinem Beispiel. Auch diesmal war er offensichtlich sehr darauf bedacht, sich nicht zu dicht neben mich zu setzen. Gemeinsam genossen wir den Anblick des Teiches und die friedliche, nächtliche Ruhe des Gartens. Nach ein paar Minuten wandte ich mich ihm zu. Er hielt immer noch sein Handy in der Hand und drehte es hin und her.

»Hast du gute Musik darauf?«, erkundigte ich mich.

Unsere Blicke trafen sich und Aaron schenkte mir das umwerfendste Lächeln überhaupt. Ich wusste nicht, welche Reaktion ich von ihm erwartet hatte, aber mit diesem Strahlen hatte ich nicht gerechnet. Zum zweiten Mal an diesem Abend war ich für einen Moment lang überwältigt von seiner Schönheit. Natürlich war es ungewöhnlich, einen Mann als schön zu beschreiben, aber ein treffenderes Wort fiel mir nicht ein.

Aaron schien nicht zu bemerken, welche Auswirkungen sein Lächeln auf mich hatte, denn er war schon dabei, durch seine Musiklisten zu scrollen. Nach einigen Augenblicken fand er den Song, den er suchte, und steckte sich einen der Ohrstöpsel seiner Kopfhörer ins Ohr. Den anderen bot er mir an, aber wir saßen zu weit auseinander, sodass ich ihm seinen aus Versehen herauszog, als ich mir meinen ins Ohr steckte.

»Sorry«, murmelte ich. Aus Gründen, die ich nicht erklären konnte, fühlte es sich irgendwie intim an, sich die Kopfhörer mit ihm zu teilen und seine Musik zu hören.

»Kein Problem.« Er fischte nach dem herunterbaumelnden Ohrstöpsel und betrachtete dann den Abstand zwischen uns. Nach kurzer Überlegung rutschte er zu mir herüber und steckte sich den Hörer wieder ins Ohr.

Ich zwang mich dazu, mich auf die Musik zu konzentrieren, die in meinem Ohr ertönte. Der Song war langsam, manchmal leise und manchmal laut. Er erinnerte mich an eine Kombination aus »These Beautiful Lies« und »Sunday’s Calling«, meine beiden Lieblingsbands. Aaron ließ mich den ganzen Song hören, bevor er auf Pause drückte.

»Gefällt dir das?«, wollte er wissen. Mit leicht geöffneten Lippen und angehaltenem Atem wartete er auf meine Antwort.

»Es war wunderschön«, sagte ich. Es gab noch so vieles mehr, was ich sagen wollte. Beispielsweise, dass es genau die Art Song war, bei denen mir das Herz aufging. Obwohl ich den Text und die Melodie nicht kannte, hieß ein Teil von mir den Song unwillkürlich wie einen alten Freund willkommen, als habe der Künstler sich von meiner Seele inspirieren lassen, als er den Song geschrieben hat. »Wie heißt das Lied?«

»›Flying Free‹ von den Silver Souls«, antwortete er und ließ mich dabei nicht aus den Augen.

»Von denen habe ich noch nie gehört.« Aber den Song würde ich sofort herunterladen, sobald ich zu Hause war.

»Das liegt daran, dass sie bisher noch nichts herausgebracht haben.«

Ich hielt inne. Wenn die Silver Souls noch kein Album veröffentlicht hatten, wie zum Kuckuck war er dann an ihre Musik gekommen?

»Oh?«, hakte ich nach und wollte, dass er es erklärte, aber meine Neugierde führte nur dazu, dass Aaron die Lippen zusammenpresste. Ich konnte an der Versteifung seiner Schultern erkennen, dass ich ihn mit meiner Frage in eine unangenehme Lage gebracht hatte.

Schon wieder ziemlich merkwürdig.

Ich zupfte an einer Strähne meines Haares und versuchte, die Situation zu retten. »Also«, sagte ich zögerlich. »Hättest du etwas dagegen, wenn wir uns noch mehr anhören?«

Er atmete durch die Nase aus und nickte. »Hier.« Er gab mir sein Handy. »Such dir etwas aus.«

Ich nahm es vorsichtig entgegen. Einige Sekunden verstrichen, während ich darüber nachdachte, wie unerwartet sich der Abend entwickelte, bis Aaron sich räusperte.

»Ähm, Felicity?«

»Ja?«

Er deutete auf das Handy. »Du musst auf Play drücken, damit es funktioniert.«