Ich verlasse dich, weil ich leben will - Sissel Gran - E-Book + Hörbuch

Ich verlasse dich, weil ich leben will E-Book und Hörbuch

Sissel Gran

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Beschreibung

Das Zerbrechen einer Partnerschaft hat oftmals eine lange Vorgeschichte. Dieses Buch handelt von dem langen Abschied, während dessen die Aufbrechenden jahrelang innere Qualen litten und wo die Entscheidung zu gehen über einen langen Zeitraum immer stärkere Konturen annahm. In diesem Buch erzählen die Aufbrechenden mit ihren eigenen Worten, warum sie gegangen sind. Paare gehen nicht wegen Streitigkeiten oder unterschiedlichen Persönlichkeiten auseinander; sie gehen, weil sie sich einsam, abgewiesen und in der Paarbeziehung verlassen fühlen. Sie gehen, um ihr sterbendes Ich zu retten.

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Zeit:12 Std. 24 min

Sprecher:Lisa Rauen
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Sissel Gran

Ich verlasse dich, weil ich leben will

Frei werden von Schuldgefühlen

Aus dem Norwegischen übersetzt von Jens-Uwe Kumpch

Titel der Originalausgabe: Det er slutt. Historier om løsrivelse

© Sissel Gran, First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, 2016

Published in agreement with Oslo Literary Agency

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Judith Queins

Umschlagmotiv: © Gajus / iStock / GettyImages

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN (E-Book) 978-3-451-81583-6

ISBN (Print) 978-3-451-60070-8

Inhalt

1. Die Stimme der Ausbrechenden

2. Liebe ist ein emotionales Band

Bindung: Bist du für mich da?

Identität: Siehst du mich? Erkennst du mich an?

Du in mir – über Einbeziehung und Ausschluss

3. Die verzweifelte Logik unseres Tuns

Ein Verstoß gegen den emotionalen Vertrag der Paarbeziehung

Der Fluch: Das negative Grundmuster

4. Der Knackpunkt

Ein Kampf ums Überleben

Niemals einbezogen

Wie in Einzelhaft

Ein gebrochener Mann

5. Das unruhige Herz

Hummeln im Hintern

Das Bedürfnis, etwas zu fühlen

Bekenntnisse eines Jägers

6. Das Beziehungstrauma

Noras klarer Schnitt

Männer, die verschwinden

Rechtzeitig entkommen

7. Der lange Abschied

Die Amygdala vergisst nie

Das verhängnisvolle Ja

Ein Leben am Beatmungsgerät

8. Die erloschene Erotik

Der gefühlvolle Sex

Der Fall eines Mannes

Als Frau abgewiesen

9. Immer auf Bewährung

Die Psychologie der romantischen Abhängigkeit

Immer nur »vielleicht«

Die Phantom-Methode

10. Ausweichen – die größte Sünde?

Die Macht in der Ohnmacht

Ein stiller Tod

Wenn die Antwort ausbleibt

11. Ganz normale Untreue?

Die Angst vor dem Tod

Der Zustand der Vor-Verliebtheit

12. Kinder und Trennungen – ein schmerzhaftes Thema

Gegenläufige Gefühle

Heimatlosigkeit

Eine geschwächte Bindung

13. Grabpflege

Erzählen, um zu verstehen

Unsere Geschichte

Der Abdruck eines Paares bleibt ewig

Dank

Fachliteratur und Sachbücher

Belletristik, Kyrik, Musik

Filme

Über die Autorin

1. Die Stimme der Ausbrechenden

2008 bekam ich eine E-Mail von einer Leserin. Sie war geschieden und sie hatte selbst die Initiative zur Trennung ergriffen. Obwohl die Entscheidung, die Ehe zu beenden, ihre eigene gewesen war, hatte sie weiterhin große Probleme. Sie schrieb:

Ich würde mir wünschen, Sie könnten ein Buch schreiben für alle diejenigen, die aus einer Beziehung ausbrechen und denen es schwerfällt, diesen Ausbruch schließlich als richtig anzusehen. In einer solchen Situation fühlt man sich wahnsinnig einsam und unsicher und empfindet enorme Schuldgefühle und Scham. Freunde verschwinden, die Familie distanziert sich und ergreift Partei für den Partner, der »aussortiert« wurde, und man selbst sieht überall nur Familien und Paare, die es geschafft haben. Eine Beziehung zu beenden, hat so viele brutale Seiten, es ist so eine große Verantwortung, die man auf sich nimmt, wenn Kinder betroffen sind. Und wann ist es richtig? Wie fühlt sich das an? Was soll man machen?

Die Fragen, die sie stellte, berühren ein Gebiet, mit dem ich mich schon seit langem beschäftige: Das Zerbrechen von Beziehungen, erzählt mit den Stimmen derer, die gehen. Diesem Thema wird in der Fachliteratur und in der alltagspsychologischen Literatur bisher erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Wir haben sehr viel Fachwissen über Krisenreaktionen nach dem Zusammenbrechen von Beziehungen zusammengetragen, und die Populärkultur schäumt über von Erzählungen über zerbrochene und blutende Herzen von Verlassenen. Was allerdings die Menschen bewegt, die ich im Folgenden als Ausbrechende bezeichnen möchte, darüber haben wir deutlich weniger Erkenntnisse. Wir wissen zu wenig darüber, was zu seiner oder ihrer Entscheidung, die Partnerschaft zu verlassen, geführt hat. So haben wir umfangreiche Beschreibungen darüber, wie es ist, verlassen zu werden, aber sehr wenige Schilderungen davon, wie es ist, den Partner zu verlassen. Allen, sowohl denen, die verlassen werden, als auch denen, die gehen, und ebenso Familien, Freunden und Therapeuten sollte daran gelegen sein, das Bild von der zerbrochenen Partnerschaft zu schärfen. Nicht zuletzt brauchen kleine und große Scheidungskinder eine umfassendere und verständlichere Geschichte darüber, warum Mama oder Papa aufgaben. Sie müssen wissen, dass die Trennung nicht ihr Fehler war und dass der Elternteil, dem die Verantwortung für die Auflösung der Familie zugeschrieben wurde, kein Dämon war, sondern dass die Ursache der gescheiterten Beziehung der Eltern letztendlich darin bestand, dass die Erwachsenen einander unglücklich machten.

Oft höre ich Menschen sagen, dass es so leicht sei für diejenigen, die gehen, und manchmal ist dies sicher wahr. Es gibt Menschen, die frei von Skrupeln aufbrechen und nicht zurückblicken. Dieses Buch handelt nicht von diesen, sondern von gewöhnlichen Menschen, die verlassen, und die ebenfalls ein zerbrochenes Herz haben, deren Schmerz jedoch nicht so akut ist wie bei denen, die verlassen werden. Viele, die gehen, haben diese Entscheidung nach einem langen Prozess der Trauer und des Aufgebens getroffen. Seit langem haben sie den Schmerz gespürt, in gewisser Weise sind sie ausgeblutet, und deshalb sind sie auf den Abschied emotional vorbereitet. Sie haben die Aussicht auf ein anderes Leben vor Augen, manche von ihnen haben bereits einen anderen Partner getroffen, und deshalb können sie in der Stunde des Aufbruchs so entschlossen und hart auftreten. Daraus entspringt die Vorstellung, dass es für sie leicht ist, dass sie gefasst und unberührt sind. Und das steht in deutlichem Kontrast zu dem Partner, der verlassen wird. Wer unfreiwillig und unvorbereitet die Beziehung und den Partner aufgeben muss, leidet sehr unter dem Verlust des anderen, der trotz Schwierigkeiten und Widerständen ein fester Halt im Leben war. Aus diesem Grund brauchen viele Verlassene über einen langen Zeitraum Unterstützung und Hilfe, um in ihrer neuen Situation überleben zu können, und es ist nur natürlich und notwendig, dass ihnen die Sympathie des Umfeldes zuteilwird. Eine Folge ist, dass derjenige, der verlässt, riskiert, im Schatten der Trennung zu landen. Die Trauer und Verlustgefühle des Ausbrechenden können unterschätzt werden und der Betroffene muss damit rechnen, als kalt und unsensibel betrachtet zu werden – von dem, den er verlassen hat, gegebenenfalls auch von den Kindern und von der Umgebung. Es gibt Ausnahmen. Viele kennen jemanden, der aus einer von Alkohol, Drogen, Gewalt oder psychischer Misshandlung geprägten Beziehung ausgebrochen ist. Wir ermuntern Menschen, die sich aus destruktiven Lebenssituationen herauszwängen und sich aus offenbar gefährlichen Beziehungen retten. Hier allerdings geht es um das Ausbrechen aus ganz normalen Beziehungen – wenn es denn überhaupt möglich ist, etwas so Kompliziertes wie eine Paarbeziehung als »normal« zu bezeichnen.

Wie aber kommt es, dass Menschen eine Beziehung verlassen, die vielleicht »normal gut« war? Fremdgehen ist ein Grund, den die meisten nachvollziehen können, diese Art von Untreue gilt seit ewigen Zeiten als eine berechtigte Ursache zum Ausbruch. Was aber ist mit all den Beziehungen, in denen sich der, der verlassen wird, immer so gut es geht bemüht hat? Ist derjenige, der die »unschuldige« Seite verlässt, ein Egoist, einer, dem sein eigenes Glück wichtiger als das aller anderen ist? Ist diese Person ein Psychopath, ohne Mitgefühl für den Schmerz anderer oder gegebenenfalls gemeinsamer Kinder? Oder ist diese Person blind, dumm, verführt oder verleitet von einer Schlange außerhalb des Paradieses? Wer ein Ausbrechender ist, hat das Problem, dass das Umfeld und der oder die Verlassene oftmals sehr harte Worte wählen, um eine scheinbar unverständliche Entscheidung zu verstehen. Der Versuch des Ausbrechenden, die Dinge genauer zu betrachten, wird oftmals als eine ungültige Rechtfertigung einer schlimmen Handlung betrachtet, und deshalb verschließen der oder die Verlassene und seine oder ihre engen Freunde und die Familie die Ohren vor den Erklärungsversuchen des Ausbrechenden. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen tragen auch dazu bei, dass sich der Ausbrechende zurückzieht und sich selbst, dem oder der Verlassenen und eventuellen Kindern gegenüber undeutlich wird. Viele haben das Gefühl, dass sie kein Recht haben darum zu bitten, verstanden zu werden – und viele Verlassene werden, um sich selbst vor Schmerzen zu schützen oder im schlimmsten Fall Rache zu nehmen, den Ausbrechenden aktiv daran hindern, sich mitzuteilen. Den, der ausgebrochen ist, abzuwürgen und ihm einen Maulkorb zu verpassen, kann sich für Verlassene zu einer Lebensaufgabe entwickeln. Wenn eine Geschichte auf diese Weise einseitig erzählt wird, ist die Gefahr groß, dass der Aufbruch von allen Seiten falsch verstanden wird – auch vom Ausbrechenden selbst.

Mit diesem Buch möchte ich die große Gruppe derer, die gehen, rehabilitieren. Ich habe viele solcher Menschen getroffen. Sie liebten ihren Partner, sie litten für die Liebe. Sie kämpften für ihre Paarbeziehung. Warum haben sie aufgegeben? Viele, die gegangen sind, können diese Frage auch noch Jahre später nur vage und unklar beantworten. Einige stecken in oberflächlichen Erklärungen für ihren Ausstieg fest: »Wir waren so verschieden.« »Wir haben uns auseinandergelebt.« »Er/Sie war die oder der Falsche.« Mir genügt das nicht. Viele Paare streiten, sind verschieden, haben unterschiedliche Interessen und Leidenschaften, aber sie halten zusammen und haben es gut miteinander. Ich bin überzeugt, dass die Auflösung einer Paarbeziehung nicht auf oberflächliche Symptome wie schlechte Kommunikation, eine unausgeglichene Arbeitsteilung zuhause, unterschiedliche Persönlichkeiten oder zu wenig gemeinsame Zeit zurückzuführen ist. Der Grund für Trennungen ist die Sehnsucht nach Bindung, die nicht erfüllt wird, und der Mangel an Bestätigung und Anerkennung der Person, für die man sich tief in seinem Inneren hält. Wenn wir nicht gehalten werden von dem, den wir lieben, fallen wir. Werden wir nicht gesehen, werden wir ausradiert. Viele trennen sich lieber, als dass sie bei ihrem Partner bleiben und aus Einsamkeit und Sehnsucht zugrunde gehen. Darüber sprechen die Ausbrechenden, wenn ich frage, was der eigentliche Grund für die Entscheidung war, den anderen zu verlassen. Im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen lautet meine kompakte Begründung für ihren Aufbruch: Sie taten es, um ihr sterbendes Ich zu retten.

Dieses Buch ist weder eine Strafpredigt an die Verlassenen noch an diejenigen, die gehen, doch es kann als Lektion dafür gelesen werden, wie man die Liebe nicht behandeln sollte. Sehr selten steckt ein bewusster Plan hinter den sich wiederholenden, negativen Verhaltensmustern, die Beziehungen prägen, mit denen es abwärts geht. Menschen verschließen sich nicht vor ihrem Partner, weil sie jemanden bestrafen wollen. Sie tun es, um sich selbst zu schützen, weil sie verwirrt, überwältigt und hilflos sind, und weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, um der Beziehung wieder eine gute Richtung zu geben. Sie warten ab und schauen. Hoffen auf ein Wunder. Wiederholen sich in ihrem Handeln und Tun immer wieder, denn so sind wir nun einmal. Obwohl es über Jahre nicht gewirkt hat, machen wir immer weiter. Der Ausweichende weicht in dem Glauben, dass dies die besten Aussichten auf die Erhaltung der Beziehung bietet, weiterhin aus. Der Protestierende bettelt, schimpft und droht in der Hoffnung, zum anderen vorzudringen. Es ist zum Verzweifeln, dass solche hilflosen Strategien ab und zu funktionieren. Aus reiner Erschöpfung können wir einander nachgeben, und dies hält den Glauben an das eigene Handeln aufrecht: »Wenn ich nur ganz still hier sitzen bleibe, legt sich das.« Oder: »Wenn ich nur laut und lange genug weine oder brülle, bekomme ich Kontakt.« Deshalb greift man auch beim nächsten Mal, wenn man gegen die Wand läuft, zu dem gleichen Werkzeug. Nichts ist so gewohnheitsbildend wie periodische Belohnung. Dies bindet uns noch stärker an ein schmerzhaftes Muster.

Die negative emotionale Entwicklung, die plötzlich oder schrittweise einsetzt, wird in der Forschung, die sich mit Auflösungsprozessen in Paarbeziehungen beschäftigt, als »disaffection« bezeichnet. In Ermangelung eines guten deutschen Wortes für eine solche »Entliebung« bezeichne ich das, was passiert, der Einfachheit halber als »Abbau warmer Gefühle« oder »Entprogrammierung von Hingabe«. Zu irgendeinem Zeitpunkt passiert etwas, das dazu führt, dass sich der Ton zwischen zwei Partnern ändert und beide Seiten anfangen, sich einander mit weniger Toleranz zu betrachten. Einer oder beide fühlen sich übersehen, fühlen sich nicht berücksichtigt. Arbeit, Kinder und Pflichten kommen immer zuerst. Und der Partner ist nie zufrieden, oder er oder sie ist abwesend, fern, zieht sich zurück. Die guten Gespräche sind seltener geworden, alles dreht sich nur noch um praktische Dinge oder darum, was man falsch macht. Das Negative rückt jetzt immer stärker in den Vordergrund. Man fühlt sich kontrolliert, es scheint, als warte der andere auf Fehler. Man fühlt sich außer Acht gelassen, übersehen oder bedeutungslos, oder man langweilt sich derart, dass es weh tut. Beide Seiten spüren, dass die Beziehung entgleitet, und das erfüllt beide mit Wut und Angst. Der eine schimpft und tobt. Der andere weicht aus und versucht Kontakt zu vermeiden, um sich zu schützen. Der emotionale Abstand nimmt zu. Man fängt an, sich etwas vorzumachen, dem Ganzen zu entfliehen, träumt von anderen Männern und Frauen, von einem anderen Leben. Es wird schwieriger, die guten Absichten des jeweils anderen zu sehen. Die Beziehung kann sich zu einem an Strindbergs »Totentanz« erinnernden Drama entwickeln, zu einem erschöpfenden und ewigen Kampf ohne jegliches Vorwärtskommen. Beide Seiten unterstellen dem anderen die schlimmsten Absichten, erkennen nicht ihren eigenen Beitrag zum Konflikt und sind aufrichtig der Meinung, dass sie selbst von einer reinen und unschuldigen Warte aus reden und handeln. Eine solche Beziehung kann erstaunlich stabil sein, beide Seiten halten aller Pein zum Trotz aneinander fest. Einander aufzugeben kann unmöglich erscheinen. Gleichzeitig wird es als Bedrohung empfunden, die eigenen Fehler eingestehen zu müssen, die eigene Verwundbarkeit offenzulegen und den Willen zur Empathie zu zeigen. Das ist bedrückend, denn ohne all dies geht der Liebeskampf weiter. Zu irgendeinem Zeitpunkt wird der Schmerz darüber, zu bleiben, als stärker empfunden als der Schmerz zu gehen. Man ist nicht mehr so wütend und ängstlich, vor allem erschöpft und das Ganze leid. Man hat zu hoffen aufgehört, und der Tod der Hoffnung ist das Zeichen – man ist auf dem Weg aus der Beziehung heraus.

Seit vielen Jahren werde ich als »Advokatin der Paarbeziehung« bezeichnet, da ich mich sehr viel mit Paarbeziehungen befasse – auf dem Papier wie in meiner Praxis. Dieses Engagement ist ungebrochen, und ich arbeite eifrig daran, Verstrickungen in Paarbeziehungen zu lösen, doch parallel zu meinem Glauben an die Liebe lebt die Gewissheit von deren Verwundbarkeit und Vergänglichkeit in mir. Die wunderschöne Vorstellung, dass die Liebe alles erträgt, wird weder von der therapeutischen Wirklichkeit noch von der Realität in unserer Gesellschaft gestützt. Meine eigene und die Erfahrung meiner Kolleginnen und Kollegen ist, dass es schwer ist, eine Liebe zu retten, die zu viele Schläge bekommen hat. Immer wieder müssen wir aufgeben und der Tatsache ins Auge sehen, dass die gemeinsamen Anstrengungen, die wir zusammen mit einem kämpfenden Paar unternommen haben, nicht zu einem neuen Start für sie, sondern zu einer Trennung führen. Daraus haben wir gelernt, dass eine Therapie nicht immer eine Beziehung retten soll. Eine Therapie soll klären, soll bösartige Muster aufbrechen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen Entscheidungen treffen, mit denen sie leben können. Paaren dabei zu helfen, zu dem Ergebnis zu kommen, eine Beziehung zu beenden und dies auch zu tun, kann ebenso sinnvoll sein wie Partner dabei zu unterstützen, es noch weiter miteinander auszuhalten.

Um dieses Buch schreiben zu können, habe ich mich von vielen verschiedenen Quellen inspirieren lassen – mein eigenes Leben, das meiner Freunde und meiner Eltern, Belletristik, Film und Schauspiel. Darüber hinaus haben mich meine Erfahrungen als Therapeutin die ganze Zeit begleitet. Die wichtigsten Informanden waren allerdings Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die aus ihrer Beziehung ausgebrochen sind. Alle haben in heterosexuellen Beziehungen gelebt. Ich habe sie alle nach dem gleichen Muster interviewt und mit allen persönlich, von Angesicht zu Angesicht, gesprochen. Ihre Geschichten sind natürlich nicht repräsentativ für alle Menschen, die ihre Beziehung beendet haben, und deshalb werden viele Leser den Zusammenbruch ihrer Beziehung nicht genau so in diesem Buch beschrieben finden. Es war schwierig, jede Geschichte einer Überschrift zuzuordnen, denn es gibt viele Überlappungen zwischen den Geschichten. Dennoch habe ich mich entschieden, die Geschichten thematisch zu sortieren, indem ich einzelnen Aspekten ein stärkeres Gewicht gegeben habe als anderen. Die Geschichten meiner Gesprächspartner sind gemäß ihren jeweiligen Wünschen anonymisiert. Allen gemeinsam ist, dass sie eine langjährige Beziehung geführt hatten – die meisten länger als zehn Jahre, viele noch viel länger. Fast alle haben Kinder mit ihrem Ex-Partner. Für die meisten der Interviewten war die Ehe oder Partnerschaft schon lange, bevor ich mit ihnen sprach, abgeschlossen. Viele haben eine neue Partnerschaft. Keiner von ihnen war mein Patient.

2. Liebe ist ein emotionales Band

In meiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit galt Liebe als selbstverständliche Voraussetzung für eine Paarbeziehung. Vernunftsehe, die Schande der Scheidung und die Pflicht, es notfalls mit geballten Fäusten miteinander auszuhalten, hatten an Bedeutung verloren. Zum Schrecken der Traditionalisten und zur Freude der Liberalen hatte sich die Ehe ohne Trauschein als Symbol für die wirklich wahre und authentische Beziehung etabliert. Noch heute kann ich mich an das körperliche Gefühl der Befreiung erinnern, als ich von zu Hause auszog und nicht mehr tagein, tagaus der angestrengten Beziehung zwischen meinen Eltern zuschauen musste. In meiner Studentenbude spielte ich Joni Mitchells tief empfundene Lieder von verlorener und gewonnener Liebe, bis ich die Texte auswendig konnte.

My old man. He’s a singer in the park. He’s a walker in the rain. He’s a dancer in the dark. We don’t need no piece of paper from the city hall, keepin’ us tried and true. My old man keepin’ away my blues.

Mein alter Herr. Er singt im Park. Er spaziert im Regen. Er tanzt in der Dunkelheit. Wir brauchen kein Stück Papier vom Standesamt, das uns bei der Stange und zusammenhält. Mein alter Herr hält den Trübsinn von mir fern.

Zwei Dinge versprach ich mir damals: dass ich niemals in einer so schmerzhaften Beziehung verharren wollte wie meine Eltern, und dass ich alles tun musste, was in meiner Macht stand, um die Dynamik von Beziehungen zu verstehen, auch meiner eigenen. Ich habe diese Versprechen eingehalten, und ich habe auch in meinem tiefsten Inneren verstanden, warum Menschen sich entscheiden, schmerzhafte Beziehungen aufrechtzuerhalten. Es ist so schwer, aufzubrechen, denn auch Schmerz bindet, da er selten konstant ist. Sobald er für ein paar Augenblicke aufhört, erwacht die Hoffnung aufs Neue, dass alles gut wird.

Heute wird in der westlichen Welt in der Regel die Auffassung vertreten, dass eine Paarbeziehung oder Ehe ein freiwilliges, gewünschtes Liebesprojekt sein sollte. Durch die gegenseitige Entscheidung und die Fürsorge füreinander, durch die Anziehung und die gemeinsame sexuelle Freude werden zwei Menschen miteinander verbunden; die Psychologin Sue Johnson bezeichnet es als »emotionales Band«. Dieses Band ist ein unsichtbares Phänomen, aber wer liebt oder einen anderen geliebt hat, beschreibt dieses Band als ein körperliches Empfinden von Zusammengehörigkeit mit dem anderen. Die Verbundenheit zwischen beiden entwickelt sich schrittweise, und mit der Zeit wird es so empfunden, dass der andere in das eigene Selbst integriert worden ist: Der andere ist ein Teil von ihm oder ihr selbst geworden. In gewisser Weise zieht die andere Person in uns ein, als Darstellung oder mentales Bild, sagt der Psychologieprofessor Mario Miculincer, und das gibt uns Sicherheit und Kraft, das Leben zu ertragen. Doch es dauert eine Zeit, bis ein Paar ein solches Band entwickelt, eine heftige Verliebtheit ist nicht genug. Es muss bewiesen werden, dass wir über längere Zeit füreinander da sind – nicht nur in Augenblicken der Freude und Leidenschaft, sondern auch, wenn das Leben schwierig ist und wir unsere Schwächen und Schattenseiten offenbaren. Wenn wir erfahren haben, dass der andere auch tatsächlich da ist, und wenn wir beim Gedanken an den anderen nicht nur euphorisch werden – was ja ein typisches Merkmal der Verliebtheit ist –, sondern uns ganz im Gegenteil von der Gegenwart des anderen oder beim Gedanken an den oder die andere beruhigt fühlen, kann man davon sprechen, dass zwischen uns ein emotionales Band entstanden ist. Das Gefühl, dass der andere in uns integriert ist, führt dazu, dass wir uns in der Begegnung mit den Herausforderungen des Lebens gestärkt fühlen. Das ist es, was als Liebe bezeichnet wird und was der Zweck einer modernen Paarbeziehung ist – dass wir den anderen stützen, einander halten und dazu beitragen, dem Leben Richtung und Sinn zu geben.

Bindung: Bist du für mich da?

Kinder werden mit einem bindungsorientierten Verhaltenssystem geboren, das ihnen den Kontakt mit und die Nähe zu einer beschützenden Fürsorgeperson sichert. Wenn ein Kind unruhig ist, weint und sich der Mama oder dem Papa entgegenstreckt, ist das Bindungssystem aktiviert. Wenn sich das Kind beruhigt, nachdem es hochgenommen wurde und Trost und Zärtlichkeit bekommen hat, ist dies ein Zeichen dafür, dass das Bindungssystem deaktiviert wurde. Für das Kind ist die Fürsorgeperson ein sicherer Hafen, in dem es Zuflucht sucht, wenn es etwas als bedrohlich empfindet, und ein sicherer Stützpunkt, von dem aus es die Welt erforscht, wenn da draußen etwas Interessantes ist. Diese grundlegenden und später bestätigten Annahmen wurden erstmals vom Psychiater John Bowlby aufgestellt. Er ist der Urheber der Bindungstheorie und revolutionierte schon früh unser Verständnis von den kindlichen Bedürfnissen.

Bowlby wurde 1907 geboren und wuchs in einer englischen Oberschichtfamilie auf, seine Kindheit war von dem damals üblichen minimalen Kontakt zwischen Eltern und Kindern geprägt. Kinderpflegerinnen, Ammen, Gouvernanten und Kindermädchen kümmerten sich um seine Erziehung und um die seiner vielen Geschwister. Als Siebenjähriger wurde er auf ein Internat geschickt, was für ihn derart traumatisch war, dass er später sagte, er würde nicht einmal einen Hund dorthin schicken. Er warnte deutlich davor, Kinder einer – wie er es nannte – »mütterlichen Beraubung« auszusetzen, was in der britischen Oberschichtkultur eher die Regel als die Ausnahme war. Doch auch in weniger nach Klassen geteilten Gesellschaften als der britischen war ein emotionaler Abstand zwischen Eltern und Kindern weit verbreitet, und es war eingängige Meinung, Kinder nicht zu »verhätscheln«, weil sie dadurch verwöhnt, anhänglich und abhängig würden. Kinder sollten auf rationale, unsentimentale Art und Weise mit einer gesunden Distanz erzogen werden, und die Eltern wurden aufgefordert, den Kindern gegenüber auch dann neutral aufzutreten, wenn sie traurig oder krank waren. Dass Kinder sich in den Schlaf weinten, würde sie abhärten, es würde ihre Selbstkontrolle und Toleranz gegenüber Unbehagen stärken. Von den damaligen Erziehungsfachleuten wurden die Mütter gewarnt, die Kinder zu umarmen oder zu küssen, denn die Mutterliebe wurde als gefährliches Instrument betrachtet.

Da ich selbst in den 1950er-Jahren Kind und in den 60er-Jahren eine Jugendliche war, kann ich mich noch gut erinnern, wie diese Einstellung in meiner nächsten Umgebung zum Ausdruck kam. Kleinkinder, die jammerten oder sich am Rockzipfel der Mama festhielten, waren Mamakindchen, und kleine Jungs, die viel weinten, wurden als Jammerlappen bezeichnet. Das Bedürfnis nach Nähe und Trost war mit Scham behaftet. Die Eltern durften nicht dazu ermuntern, taten sie es doch, wurden sie dafür von anderen Müttern und Vätern kritisiert. Ich erinnere mich, dass viele Mütter ihre Kinder fast abschüttelten. Wegschieben, Ermahnen und deutliches Rügen waren üblich, und alles wurde in dem guten Glauben gemacht, dass sich die Söhne und Töchter dadurch zu kompetenten, selbständigen Erwachsenen entwickelten.

Erst als ich mit dem Psychologiestudium begann, hörte ich von diesem ungewöhnlichen Psychiater, der seit jeher sehr starke Einwände gegen die Idee des Abhärtens von Kindern hatte. Schon früh griff Bowlby die herrschende Erziehungsideologie und die Praxis an, Kinder ohne die Eltern im Krankenhaus zu lassen. Er beobachtete, wie sich die Reaktion der Kinder auf eine langanhaltende Trennung in einem allgemeingültigen Drei-Phasen-Muster äußerte: Protest/Panik – Trauer/Apathie – Ablehnung/Loslösung. Bowlby war überzeugt, dass dieses Reaktionsmuster normal und Ausdruck einer Trennungsangst und kein störrisches Verhalten war – und dass die Traurigkeit und Loslösung, die zu beobachten war, wenn das Kind aufhörte, gegen die Trennung zu protestieren, keinesfalls ein gutes Zeichen war, wie man fälschlicherweise annahm, weil das Kind umgänglich und lieb schien. Jahrzehntelang versuchte Bowlby seine Fachkollegen davon zu überzeugen, dass das Kind bei einer unnachsichtigen Trennung von seinen Fürsorgepersonen Schaden davontrug und dass dies zu berücksichtigen sei. Erst in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich diese Erkenntnis im Gesundheitswesen durch. Auch dank der Forschungen und Aufklärungsarbeit von John Bowlby und seinen Kollegen behauptete sich eine andere Sicht auf die grundlegenden Bedürfnisse der Kinder nach emotionaler und stabiler Nähe zu ihren Fürsorgepersonen. Außerdem konnten die Eltern fortan die Rute im Schrank lassen und ihren Kindern Wärme und Liebe zeigen, ohne sich für ihre zärtlichen Gefühle schämen zu müssen.

Vieles formt uns bereits im Mutterleib, und die Gene unserer Eltern spiegeln sich für immer in uns wider. Nichts übertrifft jedoch die Prägung durch Hunderttausende von Interaktionen, die Jahr für Jahr zwischen Eltern und Kindern stattfinden. Bowlby war der Auffassung, dass das Kind durch das tägliche Miteinander mit den Fürsorgenden ein stabiles, mentales Modell von sich selbst und anderen entwickelte, eine Art Glaubens- und Erwartungssystem, das das Kind in die Erwachsenenwelt mitnimmt. In welchem Umfang bin ich eine Person, die der Fürsorge und Aufmerksamkeit anderer Menschen wert ist? Und in welchem Umfang kann ich darauf vertrauen, dass andere zuverlässig und fürsorglich sind? Dieses Glaubens- und Erwartungssystem nannte Bowlby ein inneres Arbeitsmodell, und er glaubte, dass dieses mentale Arbeitsmodell das ganze Leben hindurch das Verständnis eines Menschen von sich selbst und anderen prägt. Spätere Forschungen haben gezeigt, dass dies eine sehr fruchtbare Idee ist. Kinder, die von emotional verfügbaren und entgegenkommenden Erwachsenen erzogen werden, tendieren dazu, ein positives Modell von sich selbst zu entwickeln (ich bin wertvoll und bedeute etwas) und auch ein positives Modell von anderen (ich kann anderen Menschen vertrauen). Man kann sagen, dass das Selbstgefühlskonto eines Kindes aufgefüllt wird, wenn ihm mit Empathie begegnet wird. Kinder, die allerdings von disharmonischen und unberechenbaren Erwachsenen oder von Erwachsenen erzogen werden, die bestrafen oder das Bedürfnis nach Trost und Unterstützung ignorieren, entwickeln ein negatives Modell von sich selbst (ich bin wertlos und inkompetent) oder von anderen (ich kann nicht mit anderen rechnen, sie sind unzuverlässig und abweisend). Problematisch an einem negativen inneren Modell ist, dass es zu einem übersensiblen Radar werden kann, der Signale falsch deutet und Gefahren auch dann meldet, wenn das Umfeld positiv und entgegenkommend ist. Ich habe mehrmals erlebt, dass eine Person, die in ihrer Kindheit in ihrem Verlangen nach Kontakt verletzt wurde, ihr negatives Selbstbild und ihre negativen Erfahrungen unbewusst in eine Liebesbeziehung mitgenommen hat. Dann kann es passieren, dass dem Partner seine Hingabe oder sein guter Wille nicht geglaubt wird. Es ist in einem solchen Fall fast egal, was der Partner sagt oder macht, denn Aussagen oder Handlungen werden leicht als Abweisung oder Desinteresse aufgefasst. Für beide Seiten wird die Beziehung instabil und von Stress geprägt, weil der negative Radar auf Seiten des verletzten Partners ständig arbeitet. Haben wir allerdings ein positives Bild von uns selbst und anderen in unserem ganz persönlichen Gepäck, weil unsere Eltern für uns da waren, unsere Gefühle ernst nahmen und warmherzige und zugewandte Fürsorgepersonen waren, haben wir in der Lotterie des Lebens gewonnen und können damit rechnen, neben einer guten Gesundheit, guten Schulergebnissen und einer guten Arbeit auch mit glücklichen Paarbeziehungen gesegnet zu sein. Mit anderen Worten: Lebensglück wird mitnichten gerecht verteilt, und meiner Meinung nach ist es absolut unwahr, dass wir in dieser Welt frei wählen können und alle die gleichen Möglichkeiten haben, wenn nur der Wille stark genug ist. Für manche ist das Leben von Anfang an ein Kampf, für andere ein Tanz auf Rosen.

Bowlby wich niemals von seiner Überzeugung ab, dass uns das Bedürfnis nach Bindung von der Wiege bis zum Grab begleitet und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit auch bei erwachsenen Menschen sehr stark ausgeprägt ist. Auch Erwachsene wollen gehalten und bestätigt werden, und in vielerlei Hinsicht ist es das Kind in uns, das alarmiert ist, wenn wir spüren, dass die Bindung zum Partner bedroht ist. Wir werden klein und ängstlich und verlieren oftmals die »erwachsene« Rationalität, die wir nutzen, wenn wir das Dasein als gesichert empfinden.

Um scheinbar irrationale Reaktionen verstehen zu können – zum Beispiel, dass wir unseren Partner anbrüllen, wenn wir eigentlich Trost brauchen, oder dass wir uns zurückziehen, wenn wir uns eigentlich nach Nähe sehnen –, widme ich mich ein wenig Bowlbys langjähriger Kollegin, der Psychologin Mary Ainsworth (1913–1999). Sie leistete wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Bindungstheorie und erarbeitete eine standardisierte Methode, die als »Fremde-Situations-Test« bezeichnet wurde. Damit erforschte sie die Bindung zwischen dem Kind und der Fürsorgeperson, also normalerweise der Mutter. In der Fremde-Situation werden das Kind und die Mutter in einen Raum mit Spielen geführt, und eine unbekannte Person tritt ein. Dann finden zwei »Mikro-Trennungen«, kurzzeitige Trennungen statt: die Mutter verlässt den Raum und kehrt nach kurzer Zeit wieder zurück. In einer fremden Situation verlassen zu werden, reizt das Bindungssystem des Kindes. Es ist anzunehmen, dass sich die meisten sehr anstrengen, um diese Trennung zu verhindern, dass sie weinen und sich an die Fürsorgeperson klammern und verzweifelt nach dem Erwachsenen suchen, der verschwunden ist.

Ainsworths Experimentsituation zeigt allerdings, dass die Kinder unterschiedlich reagieren. Bei den Kindern kristallisierten sich drei ziemlich unterschiedliche Bindungsmuster heraus, und diese unterteilte sie in »sichere Bindung«, »unsicher-ambivalente Bindung« und »unsicher-vermeidende Bindung«.

Die sicheren Kinder ertrugen die kurze Trennung am besten. Sie weinten und protestierten, als die Mutter den Raum verließ, ließen sich jedoch schnell trösten, als sie zurückkam. Sie setzten das unterbrochene Spiel wieder fort und schienen sich sicher, dass die Mutter verfügbar sein würde. Anders gesagt wurde das Bindungssystem des Kindes schnell deaktiviert, sobald die Situation als sicher empfunden wurde. Rund 60 Prozent der Kinder gehörten zu dieser Gruppe.

Die ängstlichen, sogenannten unsicher-ambivalenten Kinder waren von vornherein unruhig, zeigten eine starke Trennungsangst und weinten mehr als die sicheren Kinder, als die Mutter den Raum verließ. Sie ließen sich nicht trösten, als die Mutter zurückkam, sondern wechselten in ihren Reaktionen zwischen Protest, Klammern und aufdringlichem Verhalten im ersten und Wut und Abweisung im nächsten Augenblick. Sie schienen sich unsicher zu sein, ob sie mit der Verfügbarkeit und Reaktion der Mutter rechnen konnten. Ihr Bindungssystem war hyperaktiviert und ließ sich nur schwer abstellen. Dies stimmt gut mit unzähligen Beobachtungen aus Lernstudien überein – Unvorhersehbarkeit oder die sogenannte periodische Belohnung provoziert beharrendes Verhalten. Etwa 20 Prozent der Kinder zeigten dieses Reaktionsmuster.

Die ausweichenden, von Ainsworth als unsicher-vermeidende bezeichneten Kinder zeigten wenig Gefühle, als die Mutter den Raum verließ, und viele suchten auch nicht den Kontakt, als sie wieder zurückkam – als ob sie weder Trost noch Aufmerksamkeit gewohnt waren. Ihr Bindungssystem war mit anderen Worten dauerhaft abgestellt oder deaktiviert. Zwischen 10 und 20 Prozent der Kinder verhielten sich nach diesem Muster.

Spätere Studien haben übrigens gezeigt, dass das innere Stressniveau der unsicher-vermeidenden Kinder nicht niedriger ist als bei den unsicher-ambivalenten Kindern. Sie haben nur hart dafür trainiert, ihre Gefühle zu verbergen. Dies wiederum stimmt mit dem überein, was wir über die Überlebensstrategien von Kindern wissen. Leben Kinder in einem Umfeld, das Gefühle und das Sicherheitsbedürfnis negiert, muss das Kind lernen, selbst mit der Furcht umzugehen, da es nicht mit der Unterstützung anderer rechnen kann. Darüber hinaus haben die Lerntheoretiker hinreichend erforscht, dass konsequent negative Reaktionen Verhalten »löscht«. Wenn also die Suche nach Kontakt nicht anerkannt, sondern übersehen oder bestraft wird, wird die Suche allmählich aufhören.

Beobachtungen im häuslichen Umfeld untermauerten die Ergebnisse der Fremde-Situations-Tests. Kinder mit einem sicheren Bindungsverhalten hatten Mütter, die verfügbar und empfindsam waren. Kinder mit einem ängstlichen, unsicher-ambivalenten Bindungsverhalten hatten Mütter, die in ihrem Kontakt mit dem Kind unberechenbar und disharmonisch waren. Kinder mit einem ausweichenden, unsicher-ausweichenden Bindungsverhalten hatten Mütter, die sie verscheuchten und die wütend und abweisend sein konnten, wenn das Kind Nähe suchte. Auch spätere Forschungen unterstützen Bowlbys und Ainsworths Theorie, dass die individuellen Unterschiede im Bindungsstil eng damit zusammenhängen, in welchem Maß die Fürsorgeperson als emotional verfügbar, warm, berechenbar und entgegenkommend empfunden wird.

John Bowlby starb 1991 und erlebte somit nicht mehr, welch große Bedeutung seine Bindungstheorie für unser Verständnis der Dynamik in einer Paarbeziehung bekam. 1987 jedoch wurden Bowlbys und Ainsworths Forschungsergebnisse von den Sozialpsychologen Cindy Hazan und Phil Shaver wieder aufgegriffen, und seitdem sind sie fester Bestandteil der Psychologie. Unzählige Studien haben bestätigt, dass unsere persönliche Bindungsgeschichte zur Ausbildung unseres erwachsenen Bindungsstils eine Rolle spielt, der wiederum wesentlich dazu beiträgt, wie wir uns in der Paarbeziehung verhalten.

Haben wir von Kindesbeinen an gelernt, dass andere für uns da sind, wagen wir es, uns selbst und dem anderen zu vertrauen, und legen einen sicheren Bindungsstil mit einem hohen Maß an Vertrauen an den Tag.

Wurden wir dagegen von unberechenbaren Fürsorgepersonen erzogen, die nur ab und zu emotional verfügbar waren, riskieren wir, hyperempfindlich auf die Abweisungssignale des Partners zu reagieren. Wir vertrauen nicht darauf, dass der andere wirklich für uns da ist, und wir zeigen einen ängstlichen,unsicher-ambivalenten Bindungsstil. Bei einigen äußert sich das in dem, was ich als »Trippeln« und Überangepasstheit bezeichnen möchte. Bei anderen sehen wir das Gegenteil: ein offensives, protestierendes und anspruchsvolles Verhalten. Eine solche Person bemüht sich intensiv um eine emotionale Reaktion.

Sind wir in einem Umfeld erzogen worden, das Gefühle abweist, halten wir uns zurück, wenn die Situation in der Paarbeziehung unklar und bedrohlich wird. Wir ziehen uns zurück, werden still, ergreifen selten die Initiative, um über schwierige Dinge zu reden. Wir nutzen einen unsicher-ausweichenden Bindungsstil, weil unser inneres Arbeitsmodell uns erzählt, dass wir nicht darauf vertrauen können, dass die Situation unter Kontrolle ist. Einige Menschen mit einem ausweichenden Bindungsstil wechseln zwischen Schweigen und verbaler Verteidigung. Sie können argumentativ und laut werden, um Gefühlen aus dem Weg zu gehen und sich gegen eine emotionale Überforderung zu schützen. Ihr Verhalten kann mit dem ängstlichen Bindungsstil des Aufdringlichen verwechselt werden, und man muss ein erfahrener Therapeut sein, um den Unterschied zu erkennen.

Einer meiner männlichen Interviewpartner, er ist Anfang 60, blickt auf eine Kindheit und auf ein Zuhause zurück, in dem Gefühle keinen Platz hatten. Das hat ihn geformt und ihm im späteren Leben wenig Spielraum gegeben, wenn etwas schwierig wurde. Er meint, dass er sich daran abarbeitete, seine Ehe in richtige Bahnen zu lenken, es ihm aber nicht gelang. Er war eigentlich »tüchtig«, aber ausweichend, da dies die Anweisungen aus der Kindheit waren:

Ich weine ja nie, bin sehr rational. Greife auf Wörter, Argumente zurück. In meiner Ursprungsfamilie habe ich nichts anderes gelernt. Es gab ja niemanden in der Familie, der fragte, wie es mir als Kind ging. Vater war streng, autoritär. Und immer davon besessen, uns Arbeitsaufträge zuzuteilen. Ständige Forderungen und Zurechtweisungen, wenig Anerkennung. Mama hielt nie dagegen, sie überspielte die Unstimmigkeiten und kochte Kakao.

Ein Kind, das in einem Zuhause aufwächst, in dem Gefühle nicht angenommen oder regelrecht abgewiesen werden, kann kein vertrautes Verhältnis zu seinen schmerzhaften Gefühlen und denen eines späteren Partners entwickeln. Normale emotionale Reaktionen wie Tränen, Wut, Traurigkeit oder Angst werden zu etwas Unangenehmem und Abschreckendem, zu etwas, das man zu vermeiden versucht. So wird es schwierig, sich selbst zu verstehen und das, was als Irrationalität des Anderen empfunden wird. Und es wird schwierig, beruhigend und tröstend zu reagieren. Wenn der Partner ebenfalls ein derart verletztes Kind ist, wie es die Frau dieses Mannes war – er erzählt, dass sie sich nie von den Eltern geliebt fühlte –, endet man ganz schnell in einem schmerzhaften Muster. So passierte es diesen beiden. Sie weinte, klagte an und tobte, während er sich entweder zurückzog oder verteidigte. Jahrelang arbeiteten sie sich aneinander ab und letztendlich entschied er sich, auszubrechen. Nach mehreren missglückten Liebesbeziehungen nahm sein Leben eine Wendung. Er traf eine Frau, die sowohl ihre eigenen als auch seine Gefühle verträgt und versteht:

Das Leben ist jetzt viel besser. Ich habe eine Lebensgefährtin, die mich sieht und hört. Das hat keine der anderen getan. Das ist unglaublich befreiend. Ich habe das starke Gefühl, in meinem Leben angekommen zu sein. Ich brauche nicht so vorsichtig zu sein. Ich merke, dass ich mehr Temperament habe, als ich glaubte! Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich etwas hätte anders machen können – nein! Ich habe mich mit dem, was passiert ist, abgefunden.

Die Bindungstheorie darf nicht deterministisch angewandt werden. John Bowlby hat immer wieder betont, dass unsere inneren Arbeitsmodelle nicht in Stein gemeißelt sind und dass wir uns deshalb verändern können, wie es bei diesem Mann offensichtlich der Fall war. Es ist nicht alles vorbei, obwohl wir vielleicht Pech hatten mit unseren Eltern und bezüglich unseres Selbstbildes und unseres Vertrauens in andere unsicher wurden. Andere Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen können uns verändern, und deshalb können wir auch von einer »erworbenen Sicherheit« sprechen. Durch Wissen und korrigierende Lebenserfahrungen – beispielsweise im Beruf oder Studium, durch treue Freunde oder Therapie, die Selbstgefühl und Selbsteinschätzung aufbauen, vor allem aber durch die Hilfe und Unterstützung eines wohlmeinenden und sicheren Partners – kann eine unsichere Person vertrauensvoller werden, ihr mentales Glaubens- und Erwartungssystem auffrischen und ändern und damit ein besseres Leben bekommen.

Identität: Siehst du mich? Erkennst du mich an?

Ich habe an einem Seminar mit dem Psychologen John Gottman teilgenommen, der sein Leben lang untersucht hat, was in einer Paarbeziehung wirkt und nicht wirkt. Er wies auf seine Frau Julie, die ebenfalls Psychologin ist, und sagte: »Wenn sie traurig oder unzufrieden ist, hält die Welt an.« Die Seminarteilnehmer lachten, doch Gottman erklärte ernst, was er damit meinte: »Ich lege weg, womit ich mich gerade beschäftige, und schenke ihr meine volle Aufmerksamkeit. Aktiv auf die Körpersprache und kleinen Einladungen des Partners einzugehen, signalisiert, dass wir den anderen sehen und anerkennen, dass das, was der Partner denkt, fühlt oder macht, für uns von Bedeutung ist.« Im Folgenden gebe ich ein Beispiel für eine solche »Die-Welt-hält-an-Reaktion«:

Sie: (seufzt tief, fasst sich an den Kiefer)

Er: (blickt vom iPad auf, hört auf zu tippen) Ist es wieder der alte Weisheitszahn?

Sie: Ja, ich glaube. Es tut richtig weh.

Er: Du Arme, ich glaube, du musst in den sauren Apfel beißen und das endlich mal machen lassen.

Sie: Ja, mir graut davor. Das gibt eine Wurzelfüllung.

Er: (steht auf) Paracetamol? Rotwein? Eine Umarmung?

Sie: Alles, danke. (lächelt müde)

Dieser Dialog kann oberflächlich und unbedeutend scheinen, aber er ist es nicht. Der Mann in diesem Beispiel zeigt das, was John Gottman als ein einander zugewandtes Verhalten bezeichnet, das – wie viele seiner Untersuchungen belegt haben – lebensfähige Beziehungen auszeichnet. Der Mann hat die Einladung der Frau gehört, sein Eingehen darauf ist die Antwort auf ihr Bindungssignal, aber auch ein Zeichen von Identitätsbestätigung: Ich sehe dich. Er erinnert sich, dass sie Schmerzen in einem Weisheitszahn hat, also teilt er ihr mit, dass er ihre Krankheitsgeschichte und kleinen Leiden kennt.

In vielen Beziehungen verschwindet ein solcher gegenseitiger Austausch im Laufe der Jahre. Viele geraten in einen Trott der Unaufmerksamkeit. Einer oder beide hören auf, richtig hinzuhören, reagieren auf kleine Einladungen zum Kontakt nicht mehr, nehmen kleine Winke nicht mehr wahr, stehen auf und gehen, obwohl der oder die andere gerade mitten im Redefluss ist, und so weiter. Dahinter muss gar nichts Bösartiges oder Gewolltes stecken, sondern es baut sich in unserem Alltagsleben auf, in dem tausende Dinge um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren und das von digitalen Ablenkungen geprägt ist. In Beziehungen, in denen die Beteiligten die Gefühle und kleinen Zuwendungen des anderen unbeachtet lassen, wird der Kontakt Schritt für Schritt schlechter, und die Verbindung wird geschwächt. »Ent-Lieben« – der Abbau von Zuneigung – fängt oftmals mit einem Mangel an Reaktionen an. Mit negativen Vorzeichen sieht das oben geschilderte Beispiel so aus:

Sie: (seufzt schwer, hält ihren Kiefer)

Er: (tippt auf seinem iPad)

Sie: Ich habe schon wieder Zahnschmerzen. Es tut richtig weh.

Er: Mmm, ziemlich blöd. (schreibt weiter)

Sie: Ich muss wohl zum Zahnarzt.

Er: Mmm. (schreibt weiter)

Sie: Mir graut davor. Das gibt eine Wurzelfüllung.

Er: Was muss, das muss. (schreibt)

Sie: (geht ins Badezimmer und schaut in den Spiegel, sieht traurig aus)

Solch ein Dialog muss nicht den Anfang vom Ende einer Beziehung bedeuten, aber es ist ein schlechtes Zeichen, wenn dies die Standard­reaktion des Mannes auf die Bitte der Frau um Fürsorge ist. Sie denkt vielleicht, dass sie nicht so viel von ihm erwarten kann, er ist so beschäftigt. Nächstes Mal, wenn sie irgendwelche Probleme hat oder an etwas denkt, worüber sie gern mit ihrem Mann reden würde, hält sie sich zurück. Vielleicht trifft sie sich mit einer anderen Person, um über ihre Sorgen zu sprechen, eine Freundin, die Mutter oder eine Therapeutin. So kann es zwischen der Frau und dem Mann immer stiller werden, bis Wetterberichte, Einkaufszettel und die Aufteilung des Fahrdienstes für die Kinder, die hierhin und dorthin gefahren werden müssen, das Einzige sind, worüber sie reden.

In dem Film »Darf ich bitten« von 2004, einer Neuverfilmung eines japanischen Films von 1996, beginnt John (Richard Gere), ein erfolgreicher Anwalt in Chicago, verheiratet mit einer ebenso erfolgreichen Frau, zu spüren, dass in seinem Leben etwas fehlt. Die Arbeit ist Routine. Die Ehe mit Beverly (Susan Sarandon) ist eigentlich gut, aber er hat das Gefühl, das Leben steht still und er und seine Frau haben sich voneinander entfernt. Sie hat ihren hektischen Berufsalltag, ist für ihn unerreichbar geworden und die Vertrautheit zwischen ihnen gibt es nicht mehr. Er fühlt sich einsam. Jeden Tag, wenn er mit dem Zug von der Arbeit nach Hause fährt, blickt er in die Fenster eines Tanzstudios, wo oft eine schöne Frau (Jennifer Lopez) steht und verloren nach draußen blickt. Eines Tages und auf einen plötzlichen Impuls hin steigt er an der nächsten Haltestelle aus, geht die Treppen zum Studio hinauf und meldet sich zu einem Kurs an, weil er hofft, diese Frau kennenzulernen. Die Frau ist professionelle Tänzerin und weist Johns romantisches Interesse deutlich von sich, aber sie bringt ihm das Tanzen bei, und John erlebt sich dadurch als ein anderer Mensch. Seine Ehefrau ist unruhig, weil er immer öfter sehr spät nach Hause kommt, denn John hat ihr nichts von seiner neuen Beschäftigung erzählt. Sie beauftragt einen Privatdetektiv, um herauszufinden, ob John untreu ist. Der Privatdetektiv findet heraus, dass der Mann sie nicht betrügt, sondern zum Tanzen geht. Sie ist erleichtert, aber überrascht. Der Privatdetektiv antwortet auf ihre Frage, was er glaube, warum Menschen heiraten: »Aus Leidenschaft.« Sie erwidert: »Nein, nicht deshalb. Wir heiraten, weil wir für unser Leben einen Zeugen brauchen. Es gibt so viele Milliarden Menschen, wer kann da schon auf ein kleines Leben achten? Ist man aber verheiratet, dann hat man jemanden, der alles mit einem teilt: die guten Dinge, die schlimmen und die furchtbaren Dinge, die normalen Alltagsdinge. Einfach alles, immer, jeden Tag. Ich verspreche dir: Dein Leben verläuft nicht, ohne gesehen zu werden, weil ich dir zuschaue, und du lebst nicht unbemerkt, weil ich Zeuge deines Lebens bin.«

Dieser Dialog enthält eine große Wahrheit. Ohne gesehen und anerkannt zu werden, ist es schwierig, eine Identität zu entwickeln und sie zu bewahren, eine Kontinuität im Erleben dessen, was man im tiefsten Inneren ist – für sich selbst und für andere. Wenn wir einen Partner suchen, wünschen wir uns jemanden, der unsere Einzigartigkeit sieht und uns durch alle unsere Lebensphasen hindurch begleiten will. Die Eltern und die Ursprungsfamilie formen unser frühes Empfinden dafür, wer wir sind. Später sind es unsere Ausbildung, unsere Arbeit, unsere Interessen, der Freundeskreis, unser Zuhause, was wir lesen, was wir hören und was wir essen – alles Dinge, die ständig zur Rekonstruktion und Bestätigung unseres Identitätsgefühls beitragen. Hier spielen Kinder eine ganz besondere Rolle. Wenn wir Kinder bekommen, trägt dies im allerhöchsten Maße mit dazu bei, uns selbst und der Welt zu erzählen, wer und was wir sind. Bekommen wir keine, ist auch dies Teil der Definition unserer selbst. Sind wir erwachsen, ist es allerdings der Partner, an den wir die größten Erwartungen als identitätsbestätigender Faktor in unserem Leben haben. Die Person, zu der wir eine tiefe Vertrautheit spüren, hat großen Einfluss auf unser Empfinden davon, wer wir sind und was wir taugen. Ein Partner, der uns wirklich kennt, wird auch wissen, welches Gefühl wir von uns selbst und davon haben, wer wir sein möchten, und er oder sie wird darauf achten können, dies zu bestätigen. Er oder sie wird uns helfen können, Selbstzweifeln und Selbstaufgabe zu widerstehen und die Lebenslust zu bewahren, wenn Widerstände und Krisen auftreten, denn das Gefühl, wer wir in unserem tiefsten Inneren sind, kann auf vielerlei Art und Weise bedroht werden. Wir können beruflich Pech haben, wir können Kritik ausgesetzt sein, wir können bei einer Prüfung durchfallen, einen Freund oder eine Freundin verlieren, und wir können krank werden. Das Gefühl, wertvoll zu sein, kann erschüttert werden. Das ganze Leben arbeiten wir daran, Menschen und Situationen zu finden, die uns bestätigen und manchmal auffordern, uns anzupassen, die uns dabei helfen können, eine bessere Ausgabe unserer selbst zu werden. Nichts anderes bestätigt uns, keine anderen Menschen beeinflussen uns stärker als der Partner. Unsere Identität durch Aufmunterung zu bekräftigen, uns in unseren Anstrengungen zu unterstützen, damit wir unsere Ziele erreichen, uns anzuerkennen und zu respektieren – das ist, neben der Funktion als Stützpunkt, als unser sicherer Ort und unser Bindungspunkt in Not und Freude, die zweite Hauptaufgabe einer Paarbeziehung.

Carl Frode Tillers Roman »Kennen Sie diesen Mann?« handelt von David, einem jungen Mann, der sein Gedächtnis verloren hat und nicht mehr weiß, wer er ist. In einer Anzeige werden alle, die David kennen, aufgefordert, ihm einen Brief zu schreiben, um ihm zu helfen, sich zu erinnern. Davids Stiefvater Arvid erzählt in seinem Brief, wie er sich veränderte, als er Berit, die Mutter von David, kennenlernte:

Berit verstand es überhaupt ganz gut, mich zu nehmen, sie scherzte und lachte über mich, wenn ich schwierig und merkwürdig war, aber ihr Lachen hatte nie etwas Höhnisches oder Niederträchtiges an sich, und ehe ich’s mich versah, erwachte die Selbstironie in mir, und ich konnte zusammen mit ihr lachen. Und nachdem ich festgestellt hatte, dass ich es schöner fand, selbst­ironisch zu sein als verärgert und beleidigt, änderte ich mich und wurde umgänglicher. Ich begann meine Fehler und Schwächen zu akzeptieren, und somit fiel es mir auch leichter, die Fehler und Schwächen anderer zu akzeptieren. Ach, David, Mama hat aus mir einen Mann gemacht, nach dem ich mich, ohne es zu wissen, gesehnt hatte, mit Liebe hat sie das erreicht.1

Unsere Identität ist nicht statisch, sie wird aus den Fäden unserer Vergangenheit und Gegenwart und aus dem, wonach wir uns sehnen, gewoben. Durch Berit wird Arvid ein besserer Mann, aber als Berit in einem Schuhgeschäft umfällt und stirbt, verliert Arvid nicht nur seinen wichtigen Bindungspunkt, sondern auch seine bedeutendste Quelle der Identitätsbestätigung. Er hat das Gefühl, dass er ohne Berit nicht mehr in der Lage ist, in der Welt der Lebenden zu sein, es kommt ihm vor, er würde verschwinden. Viele, die ihren Ehepartner verlieren, erzählen von dem gleichen Gefühl, und es gibt gute Gründe dafür, dass Menschen, die verlassen werden – weil der Partner sie verlässt oder stirbt – ein hohes Risiko für Depressionen oder somatische Leiden haben. Wenn der emotionale Anker verschwindet, der Mensch, der unsere Gegenwart in der Welt bestätigt, sind wir verletzbar. Im Brief an David beschreibt Arvid dies wie folgt:

An diesem Augusttag 1989 verließ nicht nur Mama diese Welt, sondern auch jener Mann, der ich gewesen war, seit sie und du und ich uns kannten. Es mag banal klingen, aber es ist wahr: Wenn es niemanden mehr gibt, der unser Leben dokumentieren kann, wenn es niemanden mehr gibt, der lustige Geschichten darüber erzählen kann, wie stur und morgenmuffelig wir sein konnten, wenn wir niemanden mehr haben, mit dem wir zusammen lachen oder mit dem wir wütend werden, wenn wir niemanden mehr haben, der uns daran erinnert, wer wir sind, und wenn wir niemanden mehr haben, der uns ermuntert, der zu sein, der wir sein könnten, lösen wir uns auf und verschwinden.2

Wir müssen den Partner nicht körperlich verlieren, um zu erleben, was Arvid beschreibt. In unzähligen Paarbeziehungen klagen Menschen darüber, dass sie nicht gesehen werden, dass sie für den Partner unsichtbar sind. Sie klagen über das Gefühl, für ihn oder sie Luft zu sein, oder darüber, dass ihnen so viele schlechte Absichten unterstellt werden, dass es fast unerträglich ist. Einige erzählen, wie sie über Jahre »ausgeschimpft« wurden, dass sie sich von Anklagen fast zerstört fühlten, dass sie sich letztendlich für so untauglich hielten, dass sie nur noch wegwollten – raus aus der Beziehung, um ein völlig ramponiertes Selbstgefühl zu retten und eine angegriffene Identität zu reparieren.

Unsichtbar gemacht und beschimpft zu werden, kann für die Position in einer Beziehung und in der Familie als herabwürdigend empfunden werden und als Angriff auf die Person, für die man sich im tiefsten Inneren selbst hält. Bei vielen löst dies Wut und manchmal eine extrem rational argumentierende Haltung aus, sagt der Psychologe Les Greenberg. Er ist einer von vielen Wissenschaftlern und Therapeuten, die Bindungstheorie und Emotionsforschung in ihr Verständnis von der Psychologie naher Erwachsenenbeziehungen integriert haben. Offene Verachtung ist auch keine ungewöhnliche Reaktion, doch die dahinter verborgenen Gefühle sind, meint Greenberg, Scham und Ohnmacht. Dies sind starke Gefühle, und nicht selten führt die Kombination aus Wut, Scham und starkem Ohnmachtsgefühl zu Gewaltäußerungen in Form von Schubsen, an den Haaren ziehen, Ohrfeigen und Schlägen. Und dann bewegt sich ein Paar auf einem gefährlichen Pfad.

Dazu muss gesagt werden, dass manche ein zerbrechlicheres Selbstbild haben als andere. Sie vertragen weniger Druck, brauchen mehr Bestätigung und fühlen sich leichter angegriffen als Menschen mit einem solideren Identitätsgefühl. Doch egal ob zerbrechlich oder solide – wenn ein Mensch das Gefühl hat zu verschwinden, seinen Charakter verändert und anfängt, sich selbst in einer Paarbeziehung fremd zu werden, bedeutet dies sehr oft, dass das Identitätsgefühl dieser Person bedroht ist.

Wenn Menschen sagen, sie fühlen sich, als ob sie verschwinden würden, als ob sie in der Paarbeziehung ausradiert würden, ist dies weder übertrieben noch merkwürdig. Wir sind soziale Wesen. Wenn die Anerkennung oder identitätsbestätigenden Zeichen über längere Zeit ausbleiben, wird dies bei vielen das unheimliche, schleichende Gefühl auslösen, ausgelöscht zu werden – wie die kleine Ninni in Tove Janssens Mummi-Geschichte vom unsichtbaren Kind. Ninni ist ein Kind, das so viel Ironie und Kälte erlebt hat, dass es nach und nach immer bleicher und schließlich unsichtbar geworden ist – eine Metapher für die Konsequenzen fehlender Fürsorge. In der freundlichen Umgebung der Mummi-Familie wird sie wieder sie selbst. Erwachsene Männer und Frauen können ebenfalls erbleichen und verschwinden, denn in einer Paarbeziehung sind wir ziemlich klein und verletzlich dem gegenüber, der uns am besten kennt und weiß, wo es wehtut, und ihm ausgeliefert. Das Gefühl, vom Partner abgewiesen zu werden, kann daher am Identitätsgefühl vieler Menschen kratzen und eine große Furcht auslösen.

Eine Interviewpartnerin, die Ende 40 ist, hat einen schmerzhaften Ausdruck im Gesicht, als sie von ihrer Trennung erzählt, obwohl es lange her ist, dass sie ausbrach, und obwohl sie seit vielen Jahren mit einem anderen Mann glücklich ist. Während sie spricht, starrt sie auf die Tischplatte und hält die Hände vor der Brust gefaltet, als ob sie hier und jetzt erleben müsste, was sie erzählt:

Es war wie ein Klumpen, etwas Schmerzendes, wie ein Unglück, etwas, das immer größer wurde, mit dem ich umgehen musste. Ich konnte ihn nicht um das bitten, was ich brauchte, ich veranstaltete keine Dramen, ich erklärte, zeigte ebenbürtige Stärke, weinte nicht. Es entwickelte sich ein permanentes Gefühl von Stress. Nach einer Zeit dachte ich: Ich muss mich um mich selbst kümmern, mit anderen reden. Es war eine Art Resignation. Das Hauptgefühl war »Ich sterbe«. In mir herrschte Stillstand. Es tat so weh. Dann wurde ich härter und härter. Ich fing an, aufzugeben. Ich hab ja auch meinen Stolz.

Wenn wir in einer Paarbeziehung leben, verändert sich vieles. Wir verändern uns äußerlich, bekommen vielleicht mehr Verantwortung in unserem Beruf, die gegenseitige Aufmerksamkeit lässt zeitweise nach. Wir befassen uns mehr mit den Kindern als mit dem Partner, sprechen weniger über uns selbst, fragen den anderen seltener, wie es ihm oder ihr geht. Das ist normal. Das passierte auch mit diesem Paar, aber sie meinten lange, dass sie das hinbekommen würden, dass sie zusammen stark waren. Sie hatten immer noch Freude beim Sex miteinander, doch das Problem war, dass der emotionale Kontakt abnahm, obwohl sie tat, was sie konnte, um für ihren Mann da zu sein. Ihr erschien es fast unfassbar, dass er nicht mehr so bei ihr war wie früher, sondern sie mit einer Art Feindlichkeit ansah, als ob er es nicht mochte, wie sie geworden war. Wenn sie von dem Gefühl eines wachsenden Klumpens, von dem sich nähernden Unglück spricht, das sie nicht aufhalten konnte, drückt sie natürlich eine Mischung aus Furcht und Trauer darüber aus, sich isoliert zu fühlen. Die anderen emotionalen Bilder handeln von der Furcht, ausradiert zu werden. Sie erlebte, dass der Mann all das ablehnte, worum sie ihn bat, und damit lehnte er die Person ab, die sie war. Heute glaubt sie nicht, dass er böse Absichten hatte, er wollte sie nicht verletzen. Er war ratlos, doch damals hatte sie Angst, sich aus Verzweiflung zu verzehren. Die Lösung war die Scheidung, die er nicht wollte. Er liebte sie noch immer und trauerte über die Trennung.

Die Emotionsforschung zeigt, dass das Gefühl, verletzt zu sein, mit dem Erleben verbunden sein kann, abgewertet und emotional geschädigt zu werden, sich in einer gefährlichen Situation zu befinden, gequält zu werden. Wenn das Verhalten des Partners, seine Handlungen und Aussagen immer wieder das Gefühl provozieren, dass man wertlos oder in Gefahr ist, werden in dem, der sich verletzt fühlt, die Überlebensinstinkte geweckt. An der Oberfläche kann die Person mit Wut und aktivem Protest, mit ausweichendem Verhalten oder Rückzug reagieren, doch das darunter verborgene Gefühl – das selten erkannt wird – ist die Angst, zerstört zu werden. Und was machen wir, um zu verhindern, dass wir zerstört werden? Viele von uns werden sich dem entziehen, was den quälenden, schmerzhaften Zustand in uns aktiviert – also dem Partner. In einer Beziehung brauchen wir regelmäßig Hilfe bei der Feineinstellung der Gefühle und der Bestätigung unserer Identität, sagt Greenberg, und einige der wichtigsten Aufgaben in einer Paarbeziehung sind der Schutz, die Anerkennung, positive Kritik und konstruktiver Widerstand. Wenn die Reaktion des Partners oder der Mangel an Reaktion unserem Selbstgefühl schaden, wird dies dazu führen, dass wir uns langsam zurückziehen und uns von der Quelle des Schmerzes entfernen.

Du in mir – über Einbeziehung und Ausschluss

Liebe ist Wachstum. Wer den Widerhall der Liebe erlebt, wächst. Deshalb hat ein verliebtes Paar das buchstäbliche Gefühl, dass es wächst. Die Gewissheit von der liebevollen Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit des anderen lockt bei beiden unbekannte Seiten hervor. Sie fühlen sich schöner und klüger als vorher. Sie werden mutiger und nachsichtiger. Außerdem nehmen beide Eigenschaften des anderen in sich auf, und so wird ihr Repertoire und ihr Empfinden davon, wer sie selbst sind, erweitert. Sie kam früher nicht aus den eigenen vier Wänden heraus, jetzt findet sie es plötzlich toll, mit Campinggeschirr und Angelrute in die Natur aufzubrechen. Er spricht eigentlich selten über Gefühle und ist plötzlich introspektiv geworden und lotet die Tiefen seiner Seele aus. Solche Veränderungen gehören zur Verliebtheit und decken sich mit unserem grundlegenden Bedürfnis, herausgefordert zu werden und neue Horizonte zu entdecken. Andere wertvolle Beziehungen wie Freundschaften oder Arbeitskollegen tragen ebenfalls dazu bei, dass wir uns als Menschen weiterentwickeln, doch die Liebesbeziehung ist die zentrale Arena für persönliches Wachstum. Wenn wir den anderen in unser eigenes Selbst einbeziehen, dehnen wir uns aus. Dieser Prozess wird nicht durch unseren Willen gesteuert. Er ist nicht bewusst, es passiert einfach. Es ist ein Gefühl, aber auch eine körperliche Erfahrung. Die Welt erneuert sich, und man selbst wird neu. Das Gedicht »Du in mir« des Norwegers Jan-Magnus Bruheim illustriert auf zärtlichste Art und Weise ein solches Gefühl, dass etwas in einem wächst:

Am Morgen, als ich erwachtewar alles so wunderlich.Selbst spürte ich, es lebteein Du in mir.

Wie grad erschaffen schien mir alles,und glücklich und stillkam die Freude zu mir und erzählte,dass es dich gibt.3