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Sophia kennt "Mars" nur übers Internet, und doch lassen seine Nachrichten ihr Herz schneller schlagen. Ihn jemals zu treffen hält sie allerdings für unmöglich. Aber dann gibt es ein Schimmelproblem in ihrem Internat, und für die nächsten Wochen müssen die Schülerinnen umziehen - und zwar in das Jungsinternat, auf das auch "Mars" geht. Aber wer ist er nur? Und hat Sophia überhaupt eine Chance bei ihm, wenn doch alle Jungs auf ihre zickige Stiefschwester Amelie zu stehen scheinen? Zum Glück hat Sophia Freundinnen, die ihr dabei helfen, ihren "Mars" zu finden - wenn auch nicht immer ganz so unauffällig, wie Sophia es sich wünschen würde …
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Seitenzahl: 268
Nora Miedler
ICH WÄR DANN BEREIT FÜRS HAPPY END
Weitere Bücher von Nora Miedler im Arena Verlag: Zuckerwatteträume. Warum kann man Fettnäpfchen nicht einfach aufessen Kühlschrank-Chroniken Funkentanz Lügenprinzessin
Nora Miedler, geboren 1977, studierte Schauspiel am Konservatorium Wien und war auf zahlreichen Bühnen zu sehen. Ihr Krimidebüt Warten auf Poirot war der Überraschungserfolg des Jahres 2009 und wurde für den Leo-Perutz-Preis der Stadt Wien für Kriminalliteratur nominiert und außerdem für das ZDF verfilmt. Neben ihren Krimis und Thrillern hat sie auch erfolgreich Frauenromane veröffentlicht.
1. Auflage 2018 © 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: zero MEDIA GmbH, München ISBN 978-3-401-80790-4
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Erstes Kapitel
Seelenverwandt?, schrieb er.
Maybe …
Wie kommst du denn gerade jetzt darauf?, tippte ich.
Weil ich dir soeben schreiben wollte. Und genau in dem Moment kam deine Nachricht. ^^
Ich grinste. Und war wieder mal froh, dass Mars mich nicht sehen konnte. So tomatenrot und verwirrt glücklich, wie ich auf seine Nachrichten reagierte, musste ich ja wirken, als wäre er der erste Junge, zu dem ich intimeren Kontakt hatte. Was ja eigentlich auch stimmte. Ähm, sofern man mailen überhaupt als intim bezeichnen konnte.
»Sophia!«
»Komme!« Ich beeilte mich, mein Handy unter meiner Trainingsjacke auf der ersten Bank der Zuschauertribüne zu verstauen, und rannte aufs Spielfeld.
Seelenverwandt … ja, irgendwie fühlte es sich schon so an.
»Wieso grinst du wie ein Honigkuchenpferd?«, murrte mich Miri schlecht gelaunt an.
»Ich liebe dich auch«, konterte ich immer noch fröhlich, was Miris Laune sichtlich ins Bodenlose sacken ließ. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie ihrer BFF einen Blick zuwarf. Wie die reagierte, wollte ich lieber gar nicht wissen. Da würde meine momentane Hochstimmung garantiert bis runter zum Erdkern rauschen. Schließlich war das derzeit größte Problem in meinem Leben nicht Mimimi-Miri, sondern eben ihre BFF Amelie. Und bezüglich der reichte es mir schon, dass unsere Trainerin, die Kampfnuss, es sich anscheinend in den Kopf gesetzt hatte, aus Amelie und mir eine Art Dreamteam zu machen, das bei künftigen Wettkämpfen gegen andere Schulen so unbesiegbar aufläuft wie Frodo und Sam oder Harry und Ron oder von mir aus auch wie Bibi und Tina.
Oh no, nun war es doch passiert. Schlechte-Laune-Alarm bei mir. Da fuhr ich gern mit miesen Vergleichen auf.
Die Kampfnuss teilte die Teams und unsere jeweiligen Positionen ein. Na, ganz, ganz toll … Ich und Amelie auf den Positionen zwei und drei, also gemeinsam vorn am Netz. Dabei würde eine von uns dringend auch hinten fürs Baggern gebraucht werden. Was hatte die Kampfnuss sich dabei nur gedacht?
Als Kapitänin der Volleyball-Mannschaft war es durchaus meine Pflicht, diese Sache anzusprechen, fand ich. Dass ich außerdem so weit weg wie möglich von meiner Kontrahentin stehen wollte, musste ich ja nicht sagen.
»Frau Kampernuss, sollten Amelie und ich uns nicht lieber aufteilen? Ich könnte nach hinten auf die Fünf gehen –«
Die Kampfnuss hob den Zeigefinger.
»Ah, ah, ah, Sophia. Ich hab es doch bei der letzten Besprechung erklärt. Das Training heute legt den Grundstein für unseren Sieg gegen die Rosenheimer am Donnerstag. Du und Amelie müsst endlich anfangen miteinander zu spielen. Ihr müsst das gegenseitige Zuspielen am Netz trainieren. Wenn ich heute sehe, dass es mehr Sinn macht, euch weiter auseinanderzupositionieren, dann werden wir das machen. Klar?«
»Klar«, grummelte ich.
Die Kampfnuss zog eine Augenbraue hoch: »Klaaar?«, fragte sie noch einmal fordernd.
Erst als ich: »Klar, Boss«, murmelte, schien sie zufrieden. Ich zwang mich, nicht in Amelies Richtung zu schauen. Dennoch spürte ich ihren Blick auf mir. Und den Spott darin. So deutlich, dass es sich anfühlte, als würden ihre Augen zwei tiefe Löcher in meinen Rücken brennen. Wusste sie nicht, wie intensiv ich ihre Aufmerksamkeit wahrnahm? Erkannte sie an meinen angespannten Schultern nicht, dass ich gleich explodieren würde?
Aber nicht mit mir. Schluss. Aus. Genug. Der würde ich ordentlich Konter geben! Mit einer heftigen Bewegung drehte ich mich zu ihr um – und stellte fest, dass sie nicht mal annähernd in meine Richtung sah.
Als ich mich wieder abwandte, machte ich mich extra klein. Ähmm, jaa … jegliche Berufswahl, die etwas mit Intuition zu tun hatte, sollte ich wohl eher knicken.
Sobald die Kampfnuss das Trainingsmatch anpfiff, blendete ich alles andere in meinem Kopf aus. Darum brauchte ich meinen Sport so dringend. Ab dem Anpfiff gab es nur noch diesen festen Lederball für mich, dessen noch so flüchtige Berührung ich liebte. Selbst das Geräusch, das ein gut gebaggerter Volleyball von sich gab, erfüllte mich mit einer Art Genugtuung.
Zugegeben, das war sogar für die meisten meiner Teamkolleginnen schräg, daher hielt ich mich mit Schwärmereien in diese Richtung mittlerweile zurück. Ich brauchte es nicht unbedingt, dass man mir eine Affäre mit einem grün-rot gemusterten Lederball andichtete.
Das Zuspiel zwischen Amelie und mir klappte erstaunlich gut, dafür, dass wir uns so hassten. Sie spielte aber auch verdammt gut – was mich natürlich ärgerte. Auch wenn ich mir in den letzten Jahren immer jemanden gewünscht hatte, der diesen Sport so liebte wie ich und dementsprechend ehrgeizig trainieren wollte.
Aber ehrlich, wenn jemand ohnehin schon alles hatte, was man sich nur wünschen konnte – ein perfektes Gesicht mit makelloser Haut, blonde Engelslocken, die sich stets in optimaler Position befanden, dazu natürlich noch grandiose Noten –, musste dieser jemand sich dann auch noch ausgerechnet in meiner Sportart so sensationell hervortun?
Egal. Volle Konzentration aufs Spiel. Amelie nahm den Ball von drüben gekonnt an und pritschte ihn mir zu. Ich pritschte ihn an sie zurück – schließlich war es das, was wir laut Kampfnuss trainieren sollten, das Zupass-Spiel zwischen uns beiden.
Doch jetzt? Was machte Amelie da? Sie gab den Ball noch mal an mich zurück, dabei musste man spätestens beim dritten Ballkontakt in der eigenen Mannschaft übers Netz spielen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn ich den Ball nicht annahm, würde er natürlich zu Boden fallen. Wenn ich ihn jedoch annahm, würden wir den Punkt ebenso verlieren – es sei denn, niemand hatte aufgepasst, wie oft Amelie und ich bereits Ballkontakt hatten. Ich riskierte also die zweite Variante und nahm den Ball an, um ihn ins andere Feld zu pritschen. In dem Moment checkte ich erst, dass Amelie den Ball zwar ungewöhnlich seitlich gelenkt hatte, aber womöglich doch weit genug Richtung Netz, um ihn auf die andere Seite zu bringen.
Der Witz an der Sache war, dass nicht etwa die Kampfnuss oder die gegnerische Mannschaft meinen verbotenen Ballkontakt rausposaunte, sondern Amelie. Die ja in meinem Team spielte!
»Was machst du da, Sophia?«, rief sie.
Die Kampfnuss pfiff ab.
»Was soll das heißen, was ich da mache?«, wehrte ich mich gegen Amelie. »Warum hast du mir den Ball zugespielt?«
»Hab ich nicht. Der wäre locker rübergegangen.«
»Locker? Mit verdammt viel Glück vielleicht. Aber höchstwahrscheinlich wäre er ins Netz gegangen. Wieso hast du den so krass seitlich gespielt?«
Amelie stemmte die Hände in die Hüften. »Vielleicht um den Gegner zu überrumpeln?«, fragte sie höhnisch. »Ich weiß schon, dir liegt nicht viel an Raffinesse, was typisch ist für Leute, die nur eine einzige Sportart betreiben. Aber ich komme ursprünglich vom Tennis. Du würdest dich wundern, wie viel man da über Taktik lernt.«
Ehrlich, ich wäre in dem Moment gern ein paar Jahre jünger gewesen, einfach nur, um ihr die Zunge rauszustrecken, ohne dabei albern zu erscheinen. Eine bessere Entgegnung fiel mir nämlich leider nicht ein, vor allem weil ich wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem war ich mir sicher, dass sie den Ball absichtlich so grenzwertig in Richtung Netz gepritscht hatte, um mich in die Bredouille zu bringen.
Ein neuerlicher schriller Pfiff aus Kampfnuss-Richtung ließ Amelie und mich kurzzeitig verstummen. Dafür machte Miri schon wieder ihre Klappe auf. Jene Miri, die seit sechs Jahren in eine Klasse mit mir ging und dabei sicher nie meine beste Freundin, doch immerhin bis vor Kurzem annähernd erträglich gewesen war. Bis Amelie vor zweieinhalb Wochen in Mondsee aufgetaucht war. Miri hatte sich vom ersten Tag an sie geklettet. Und war wegen ihr lachhafterweise sogar dem Volleyballteam beigetreten. Nachdem sie sechs Jahre lang nichts als Naserümpfen für uns schwitzende Sportlerinnen übriggehabt hatte. Oho, und die Regeln hatte sie scheinbar auch schon brav gepaukt.
»Frau Kampernuss«, rief sie eifrig vom gegnerischen Feld, »Sophia hat den Ball ein viertes Mal berührt!«
Uffza, wenn es jemals auf dieser schönen weiten Welt einen Tonfall gegeben hatte, den man als »verpfeifend« bezeichnen konnte, dann Miris, als sie versuchte, mich an die Kampfnuss auszuliefern.
Die Kampfnuss sah mich fragend an. Ich schwieg. Egal, was ich jetzt sagte, es würde doch nur nach Ausrede klingen.
Boah, war ich froh, als das Training vorbei war. Als die Kampfnuss das Spiel abpfiff, beschloss ich, aufs Duschen im Turngebäude zu verzichten, und machte mich stattdessen auf die Suche nach Kaja und Molly. Ich brauchte dringendst Freundinnenzuspruch.
Beide waren keine Mitglieder des Volleyballteams, was ihnen um einiges mehr Freizeit verschaffte als mir. Darum beneidete ich sie aber nicht wirklich, dafür war ich viel zu ballverrückt. Allerdings nur, wenn es um Volleyball ging. Beim Fußball konnte ich weder für Tore sorgen noch sie verhindern und beim Basketball stellte ich mich so dämlich an, dass ich mir schon zweimal den Ringfinger geprellt hatte. Etwas, das beim Volleyball kaum passieren konnte. Der Ball war angenehm, fast weich, und fühlte sich während des Spiels regelrecht an wie ein Teil von mir selbst.
Ich fand Molly und Kaja hinterm Hauptgebäude. Die Regenwolken von gestern hatten sich verzogen und meine Freundinnen lagen in Shirts und kurzen Hosen auf einer Picknickdecke, die sie im Gras ausgebreitet hatten, um die letzten Sonnenstrahlen an diesem Septembertag abzukriegen.
Trotz meiner Wut auf Amelie musste ich grinsen. Während Molly immer noch die tiefe Bräune besaß, die sie aus dem Sommerurlaub auf Ibiza mitgenommen hatte, sahen Kajas Arme und Beine aus, als wären sie mit schneeweißer Zuckerglasur überzogen. Molly sagte immer, Kaja wäre das perfekte Schneewittchen, wenn sie ihre langen schwarzen Haare bloß nicht ständig zu zwei Zöpfen geflochten hätte. Mir gefielen die Zöpfe. Ich fand, Kaja sah damit aus wie eine Indianerin. Na ja, wie eine Indianerin mit dem Teint des Weißen Hais.
Ich ließ mich neben Kaja auf einen freien Zipfel der Decke sinken. »Uff, uff, uff.«
Molly setzte sich auf. »Klingt ja nicht so toll. Stress mit Fräulein Diva?«
Ich zog eine Grimasse. »Und wie. Sie hat mich vorm ganzen Team lächerlich gemacht.«
Kaja blinzelte in die Sonne. »Was war denn los?«
Ich erzählte ihnen, dass ich wie eine Vollidiotin dagestanden hatte, die die simpelsten Regeln nicht beherrschte.
»Hat die Kampfnuss nicht gesehen, dass Amelie den Ball absichtlich zu dir gespielt hat?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß auch nicht, wo die ihre Augen hatte. Den Rest der Mannschaft kann man sowieso vergessen. Anscheinend hat echt niemand aufgepasst, aber im Nachhinein beschweren sie sich dann. Grrr.«
»Howgh«, machte Molly und hob ihre Hand wie ein Kind, das Indianer spielt, »unsere gestrenge Sophia hat gesprochen.«
Ich warf ihr einen Blick zu, der alles aussagte, aber auch wirklich alles. Ähm, ja, zumindest in meiner Fantasie. Molly grinste unbekümmert.
Kaja tätschelte mir die Schulter. »Komm. Leg dich hin, entspann dich.« Sie rutschte näher an Molly heran, sodass ich mich ebenfalls auf der Decke ausstrecken konnte. Ich legte mich auf den Bauch, bohrte mein Gesicht in die Decke und hätte die Welt um mich herum am liebsten für ein paar Stunden ausgeknipst.
»Warum gibt’s eigentlich keinen Schalter, mit dem man die Welt ausschalten kann?«, brummte ich, vermutlich ziemlich unverständlich.
Kaja hatte mich trotzdem verstanden. »Das wäre doch schrecklich«, sagte sie. »Einmal knipsen und alles um dich herum ist schwarz und stumm?«
»Aber ich hab ja den Schalter, kann die Welt also jederzeit wieder anstellen«, erklärte ich.
»Irrtum«, korrigierte mich Molly, »in der unendlichen stummen Finsternis hast du null Chancen, deinen Anknips-Schalter wiederzufinden.«
Wir lachten und Molly angelte sich sofort ihr kleines Notizbuch mit Bleistift aus der Gesäßtasche ihrer Shorts. Sie klappte es auf und fing an zu schreiben. Dabei las sie laut vor: »Die fünf wichtigsten Gründe, ab und zu mal die Welt auszuschalten.«
Kaja und ich stöhnten gleichzeitig auf und fingen wieder zu lachen an.
Molly und ihre Listen. Ständig stellte sie irgendwelche auf. Pro-und-kontra-Listen, Brainstorm-Listen und natürlich ihr Lieblingsspleen: Die fünf wichtigsten Dinge oder Gründe-Listen.
»Ich weiß schon den wichtigsten«, verkündete sie. »Wenn frau einen Pickel hat«, fuhr sie unglücklich fort, während sie sich mit den Fingerspitzen über ein paar kaum sichtbare Minipünktchen am Haaransatz strich.
Innerhalb von fünf Minuten hatten wir unsere Liste fertig. Der Pickel hatte es dann doch nicht auf den ersten Platz geschafft, dafür tauchte er in gleich zwei Szenarien auf.
Die fünf wichtigsten Gründe, ab und zu mal die Welt auszuschalten:
5. Der Anblick der neuen Chemielehrerin, wenn ihr beim Keifen in der Klasse die Zahnprothese verrutscht und sie sie mit der Zunge wieder zurechtschiebt.
4. Wenn du vor dem wichtigsten Termin deines bisherigen Lebens stehst (Date mit einem Traumjungen?) und ausgerechnet an dem Tag einen Pickel auf deiner Stirn hast, der in Farbe und Größe dem Red-Nosed Reindeer und dem letzten Einhorn Respekt abringt.
3. Wenn einer deiner Elternteile plötzlich zu heulen beginnt. In deiner Anwesenheit – und am besten noch in Anwesenheit von ganz vielen anderen Leuten. (Stichwort Kajas Vater, als sie mit acht Jahren den Kiddy-Gesangswettbewerb von Klein-Pischelsdorf gewonnen und ihr Vater auf der Bühne ins Mikrofon geschluchzt hat, wie stolz er auf seine »kleine Mini-Maus« sei, von der er immer schon wusste, »dass sie das Zeug dazu hat, eine zweite Madonna zu werden.« Madonna?! Gruuuuuselig.)
2. Wenn du gemeinsam mit Denise vorm Waschbecken stehst, ganz nah am Spiegel, um deine Mitesser zu inspizieren, und da plötzlich vor dir ein weißer Batzen klebt, herauskatapultiert aus einem von Denise’ Pickeln. Denn niemand beherrscht das Pickelausdrücken so gut wie Denise.
1. AMELIE! (no more explanations necessary)
Meine Freundinnen waren die solidarischsten Menschen, die ich kannte. Als mein Vater mir im Sommer eröffnet hatte, dass wir mit seiner Freundin Rita und deren Tochter Amelie zusammenziehen würden, hatte selbst Kaja nur wenig Zeit damit vergeudet, mich überzeugen zu wollen, dass alles gar nicht so schlimm sei. Nach meinen Berichten über die paar qualvollen Zusammentreffen mit Oberzicke Amelie musste sogar die sonst immer friedliche und nach einer Lösung suchende Kaja einsehen, dass diese Sache in einer anderen Größenordnung spielte. Hier half kein »Gib ihr noch mal eine Chance« oder »Oft sind die Menschen ganz anders, als sie im ersten Moment wirken«. Fehlanzeige.
Ja, und seit Papa und Rita auf die glorreiche Idee gekommen waren, dass Amelie nach Mondsee auf mein Internat gehen sollte, einerseits weil für Sportskanone Amelie dort einiges geboten wurde, aber vor allem, weil sich die beiden zukünftigen Stiefschwestern so besser kennenlernen würden, konnten Kaja und Molly sich selbst tagtäglich von Amelies – nicht vorhandenen – menschlichen Qualitäten überzeugen.
»Na, Sophia? Was war denn los mit dir heute? Solche Patzer von der Mannschaftskapitänin? Tssss.«
Ich hob den Kopf. Miri. Eingehängt in Amelies Arm. Die beiden schlenderten an uns vorbei und Amelie würdigte weder uns noch den lahmen Spruch Miris mit einer Reaktion. Das musste man sich mal vorstellen. Die war nicht nur zu cool für diese Welt, sondern sogar zu cool, um auf ihre eigene Freundin zu reagieren.
Mollys Coolness hingegen war vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick ersichtlich. »Halt doch die Klappe!«, brüllte sie Miri nach.
»Ruhig«, mahnte Kaja.
Molly schnaubte. »Ich will aber nicht immer ruhig sein.« Amelie hatte zwar die Klette Miri an ihrer Seite, aber ich hatte einen Bullterrier, der mit seiner 1,58-m-Körpergröße etwas klein, aber eben auch ziemlich bissig war. Zumindest eine Sache, bei der ich es besser getroffen hatte als Amelie.
»Darum geht’s gar nicht«, sagte Kaja, »aber die zwei freuen sich doch nur, wenn wir auf deren Affenzirkus reagieren. Und das wollen wir denen nicht gönnen, oder?«
Molly schmollte immer noch. »Ich kann aber nicht anders. Keine Ahnung, wie ihr es schafft, euch das stillschweigend anzuhören.«
»Hmpf«, presste ich hervor. Meine Hände schmerzten. Langsam öffnete ich die Fäuste und sah die Nagelabdrücke in meinen Handinnenflächen. Das geht so nicht weiter, entschied ich. Irgendetwas musste ich tun. Nur was?
»Was soll ich nur machen?«, fragte ich laut.
Kaja sah mich hilflos an.
Molly zückte wieder ihren Notizblock. »Brainstormen ist angesagt. Wir brauchen einen Plan. Und zwar einen guten.«
Sie schrieb: Rachepläne gegen Amelie.
Doch schon bei Punkt vier stellten wir fest, dass es sich dabei nur um Kinderkram handelte, noch dazu um völlig undurchführbaren, wenn wir keinen Rausschmiss aus dem Internat riskieren wollten.
Ernüchtert sagte ich: »Das Einzige, was nützen würde, wäre, die Beziehung zwischen meinem Vater und Amelies Mutter zu sabotieren. Aber das kann ich ihm nicht antun. Er war fast sechs Jahre lang Single, bis er letztes Jahr mit ihr zusammengekommen ist. Na ja, bis auf diese komischen kurzen Geschichten mit dieser Beate und der anderen … weiß gar nicht mehr, wie die hieß. Als er mir Rita vorgestellt hat, hab ich gleich gemerkt, dass es diesmal was ganz anderes ist, dass es ihn total erwischt hat.«
»Sie scheint ja auch ganz in Ordnung zu sein, oder?«, fragte Kaja.
»Ja … geht so. Ich glaub, keiner ist heiß darauf, eine Stiefmutter vorgesetzt zu bekommen. Aber was soll’s. Ich bin sechzehn und ich bin im Internat. Ich muss ja nicht bei ihr aufwachsen. Und ja, meinem Vater scheint sie gutzutun. Mir persönlich wäre sie zu aufgedreht, aber ich muss ja nicht mein ganzes Leben mit ihr verbringen.«
Molly kaute auf ihrer Unterlippe. Nachdenklich sagte sie: »Aufgedreht passt gar nicht zu Amelie. Die ist ja so was von unterkühlt.« Sie verzog das Gesicht.
»Alles Fassade, wenn ihr mich fragt«, erklärte Kaja. »Die leidet sicher auch unter der neuen Situation.«
»Ich hab’s echt versucht. Ich war nett zu ihr, das könnt ihr mir glauben.«
»Ich meine ja gar nicht dich damit«, versuchte Kaja, mich zu beruhigen. »Die Trennung von ihrem Vater ist noch nicht so lange her. Zwei Jahre, hast du gesagt, oder? Und der hat sie ja regelrecht im Stich gelassen, als er mit einer neuen Frau nach Spanien abgehauen ist, um einen auf Künstler zu machen. Das nagt sicher an Amelie. Und dann schiebt ihre Mutter sie auch noch wegen eines neuen Mannes ins Internat ab. Wisst ihr, was ich meine?«
»Ich weiß, dass es für sie noch beschissener ist als für mich …«
»Das sag ich doch gar nicht.«
»Doch, es stimmt ja. Darum hab ich mich auch wirklich bemüht, ihr gegenüber offen zu sein, aber ihr wisst ja, wie sie mir von Anfang an gekommen ist. Und ehrlich, ich hab nicht das Gefühl, dass sie so unglücklich war, ins Internat zu gehen. Sie darf dreimal die Woche Volleyball trainieren und muss nicht hautnah miterleben, wie ihre Mutter und mein Vater ein kuscheliges neues Zuhause für die glückliche Patchworkfamilie suchen.« Die letzten Worte hätte ich gar nicht sarkastischer rauslassen können. Amelie war nicht die Einzige, die unter der Situation litt.
Ich stand auf. »Kommt ihr mit rein? Ich muss mich endlich aus dem klebrigen Zeug schälen.«
Zweites Kapitel
Auf dem Zimmer versuchte ich, einen möglichst unauffälligen Blick auf mein Handy zu werfen, aber Mollys Adleraugen entging nichts. »Und? Gibt’s ’ne neue Liebesbotschaft?«
Eigentlich sollte ich diese Kommentare nach zwei Wochen längst gewöhnt sein, trotzdem stieg mir jedes Mal die Hitze ins Gesicht, wenn Kaja oder Molly mich auf Mars ansprachen.
»Ich weiß nicht, warte mal … ähm, nein, nichts Neues. Aber vor dem Training haben wir uns kurz geschrieben.«
»Oooohhhh«, machten beide gleichzeitig.
Mars und ich hatten uns durch reinen Zufall im Netz kennengelernt. Es war der dritte Tag nach den Ferien gewesen. Der dritte Tag mit Amelie in Mondsee. An dem mir endgültig klar wurde, dass sich durch sie mein Leben hier im Internat um hundert Prozent verschlechterte. Nein, um tausend Prozent. Mindestens.
Als sich dann nach dem ersten Volleyballtraining auch noch abzeichnete, dass Amelie dermaßen gut auf dem Feld war, dass sie mir womöglich meine Position im Team streitig machen könnte, war ich komplett mit den Nerven durch. Und zwar so sehr, dass ich, als ich allein im Zimmer war, mein Smartphone herausholte und mich im Internet nach anderen Sportinternaten umsah, die vielleicht sogar einen Schwerpunkt beim Volleyball hatten. Natürlich konnte ich mir nicht vorstellen, wirklich zu wechseln, wegzugehen von Molly und Kaja, von meinem gewohnten Training bei der Kampfnuss, aber ein bisschen nachforschen durfte man ja. Nur für alle Fälle. Bei meiner Recherche war ich auf ein paar witzige Internatsseiten gestoßen (unsere eigene war ja grottenschlecht und nie up to date). Sie hatten zwar allesamt nichts mit Volleyball zu tun, waren aber ganz lustig zum Durchklicken. Und schlussendlich befand ich mich plötzlich auf einem Blog namens Hell on Earth.
Er gehörte einem Typ, der sich selbst Mars_01 nannte und seine Seite vor drei Jahren gestartet hatte. Viele Leser hatte er offensichtlich nicht, zumindest wenn es nach der Anzahl der Kommentare zu seinen Beiträgen ging. Dabei fand ich seine Texte sofort unterhaltsam. Sein unterster beziehungsweise erster Eintrag, vor drei Jahren, widmete sich dem Thema Essen im Internat und trug den Titel Grenadiermarsch.
Bis ich einmal selbst Vater bin, habe ich ganz offensichtlich noch viel über die seltsame Logik von Eltern zu lernen.
Da hört man seine ganze Kindheit und bisherige Jugend lang, dass man »gefälligst mehr von Mamas mit Liebe gekochtem Essen« in sich reinschaufeln soll, nur um dann mit vierzehn in eine Institution gesteckt zu werden, in der man tagtäglich Pampe vorgesetzt bekommt, die man einfach nicht essen kann. Hat einer von euch schon mal was von »Grenadiermarsch« gehört?
Besteht vorwiegend aus alten Essensresten, in erster Linie Kartoffeln und Nudeln vom Vor- und Vorvortag, die man mit ein paar Wurstresten zusammenmatscht. Man kann den Speiseplan also wie folgt zusammenfassen:
Montag: Nudeln
Dienstag: Kartoffeln
Mittwoch: Grenadiermarsch
Donnerstag: Nudeln
Freitag: Kartoffeln
Samstag: Grenadiermarsch
Sonntag: Nudeln
Montag: Kartoffeln
Dienstag: Grenadiermarsch
Noch Fragen?
Besonders beunruhigend war es allerdings heute Mittag.
Es gab Grenadiermarsch, obwohl es die Tage zuvor, aufgrund eines Defekts in der Küche nur Wurstbrote gegeben hatte.
Aber das Praktische am Grenadiermarsch ist wohl, dass die Zutaten gar nicht alt genug sein können. Heute hat er nämlich mal richtig gut geschmeckt. Sollte ich mir also Gedanken darüber machen, dass die letzten Nudel- und Kartoffelmahlzeiten drei bzw. vier Tage her waren?
Nöööö. Nur die Harten kommen durch im Leben. Zum Glück scheine ich einen Saumagen zu besitzen.
Ich weiß noch, dass ich beim Lesen lächeln musste. Zwar hatten wir bei uns keine Speise dieser Art, doch das Internatsessen konnte auch hier teilweise eine ganz schöne Herausforderung sein. Ich goss mir ein Glas Limo ein und scrollte weiter durch den Blog. Als Nächstes stach mir einer der neuesten Einträge ins Auge, mit dem Titel Der Club der toten Dichter. Ich liebe den Film und klickte den Artikel daher an.
Wer der Meinung ist, im echten Internatsleben gibt es keinen Lehrer à la John Keating, der hat – aufgepasst – leider recht.
Ich meine, ein Lehrer, der sich derart mutig gegen das verkrustete System auflehnt, der seinen Hals riskiert, um seinen Schülern nicht nur durch neue Unterrichtsmethoden Literatur und Poesie beizubringen, sondern ihnen durch seinen Enthusiasmus und Einsatz zu einem Selbstbewusstsein verhelfen will (ja verhilft!), das ihnen völlig neue Möglichkeiten in ihrem Leben verschafft … tja, den gibt’s anscheinend wirklich nur im Kino. Und ihr wisst ja, dass ich in genauso einem Internat hocke, wie es jene Welton Academy im Film ist.
Tradition, Ehre, Disziplin, Leistung. Jawoll, das sind die Eckpfeiler in so einem richtig schön konservativen Internat, wie es meine Eltern für mich ausgesucht haben.
Halleluja und vielen Dank.
Den Eintrag hatten drei Leser kommentiert:
Bermudatriangle: Jau hey, hört sich echt scheiße an, Mann. Das mit der Disziplin und so. Keep cool :-/
Anonym: Du solltest deinen Eltern ein bisschen dankbarer sein. Das Internat, in das sie dich geschickt haben, kostet wahrscheinlich ein Vermögen. Und du beschwerst dich hier nur, anstatt die Chance zu nutzen, die du bekommen hast. Unser Land verkommt ohnehin zum reinsten Babylon. (Sagt dir der Begriff Babylon etwas? Wenn nicht, solltest du deine teure Erziehung mal etwas nutzen und aufpassen im Unterricht.) Disziplin und Ehre wurden hierzulande ja leider schon lange abgeschafft. Unsere guten alten Traditionen sind jetzt gerade dabei, für immer zu verschwinden. Und Leistung? Ich sage nur: Hartz IV. Alles Hartz-IV-Schmarotzer in diesem Land.
Und dann kommt so ein Büblein wie du daher und meckert über eine Ausbildung, die ihm alle Chancen ermöglichen kann. Schäm dich!
Peanut4000: Du klingst irgendwie voll lustig und süß. Wie alt bist du? Bock zu schreiben?
Auf Kommentar eins und drei hatte Mars_01 nicht geantwortet, zumindest nicht öffentlich, allerdings auf Kommentar zwei. Und zwar mit einer kurzen Frage:
Paps, bist du das?
Als ich das las, musste ich losprusten, dass mir die Limo aus der Nase schoss.
Wie schade, dass der anonyme Leser nicht mehr darauf geantwortet hatte. Ich konnte mir die tiefe Empörung der Verfasserin oder des Verfassers über diesen Affront (auch dem armen Paps gegenüber) regelrecht vorstellen.
Ich dachte, na gut, wenn schon Anonym nicht antwortete, dann würde zumindest ich Mars_01 zeigen, dass ich den Witz verstanden hatte. Ich gab, wie verlangt, meine E-Mail-Adresse an und wählte den ersten Teil davon auch gleich als Name: Volleyqueen.
Dann schrieb ich:
Mein Beileid, dass Paps wohl deinen Blog entdeckt hat. xD
Übrigens finde ich den Film auch total gut. Gehe auch ins Internat, scheine aber mehr Glück zu haben als du. Bei uns geht’s recht locker zu … obwohl wir hier auch nur aus einem Teil der Bevölkerung bestehen; allerdings dem weiblichen.
Als ich meine Zeilen abgeschickt hatte, kamen sie mir weit weniger witzig vor als beabsichtigt. Doch eigentlich war mir das in dem Moment egal, ich war froh, an diesem frustrierenden Tag noch was zu lachen gehabt zu haben. Die Nasenschmerzen von der rausgeschossenen Limo nahm ich dafür auch gern in Kauf.
Danach las ich mich durch weitere Blogeinträge von Mars_01 und stellte fest, dass sein Internatsleben ja echt kein Zuckerschlecken war. Die Jungs dort mussten im Unterricht sogar einen Anzug tragen. Urgs.
Ich hatte null damit gerechnet, was als Nächstes geschah. Als das Fenster auf dem Display aufpoppte und mir eine neue Mail verkündete, war das natürlich noch nicht besonders aufregend. Doch von wem diese Mail kam …
Es stand nur ein Satz darin: In welches Internat gehst du?
Es dauerte, bis ich begriff, dass Mars_01 als Blogbetreiber, anders als die Leser – natürlich meine E-Mail-Adresse sehen konnte.
Warum hatte er mir aber privat geschrieben und nicht einfach in der Kommentarbox geantwortet? Wobei, das wäre eigentlich doof gewesen. Genau so, wie er in seinem Blog nicht verriet, in welches Internat er ging, hätte ich es wohl auch nicht öffentlich rausposaunt.
Ich schrieb zurück:
Mondsee/Bayern
Sobald meine Mail abgeschickt war, tippte ich ungeduldig auf den Empfangen-Button. Ich brauchte so dringend weitere Ablenkung. Nach ein paar Minuten erhielt ich meine Antwort.
Hey Volleyqueen,
das ist gar nicht so weit von hier. Mich hat es vor drei Jahren nach Altenburg verschlagen. Wenn du Lust auf einen Kulturschock hast, dann google das mal. ^^
PS: Wie alt bist du?
Er hatte recht. Das Bild auf der Startseite der Homepage zeigte ein eindrucksvolles düsteres Gemäuer, vor dessen Tor eine Gruppe gestriegelter Jugendlicher – circa zwölf oder dreizehn Jahre alt – stand, alle in denselben grauen Hosen und Anzugsjacken, alle mit blütenweißem Hemd.
Ich schickte eine neue Mail an Mars_01.
Ihr tragt ja gar keine Krawatten.
Bin enttäuscht.
PS: Sechzehn – und du?
Seine Antwort:
Wenn der Fotograf kommt, müssen wir immer einen auf locker machen. Ätzend, ich weiß.
PS: Same.
An dem Punkt merkte ich, dass ich ihn wirklich witzig fand. Ich klickte mich rasch durch die Homepage von Altenburg und stellte fest, dass sie ähnlich vernachlässigt wie unsere eigene war, was Fotos und aktuelle Aktivitäten betraf.
Anschließend schrieb ich ihm:
Und wer von den Wonneproppen auf der Startseite bist nun du?
Prompt kam die Antwort:
Oje. Da muss ich dich jetzt enttäuschen. Die knuffigen Kleinen gehen zwar bei uns in die Schule, sind allerdings Externe. Das Internat selbst ist derzeit nur für große Jungs – so wie mich. ^^
Tja, und so ging es los mit Mars und mir. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem wir uns nicht mehrmals geschrieben hatten, und ich wollte seine Nachrichten auch nicht mehr missen.
Kaja, die Molly und mir auf unser Zimmer gefolgt war, musste grinsen, als sie mein dämlich glückliches Gesicht sah. Sie warf sich auf mein Bett und machte es sich bequem. Unser Zimmer war ihr weitaus lieber als ihr eigenes. Sie hatte nämlich leider das Pech, sich das Zimmer mit einer emotionalen Zeitbombe teilen zu müssen. So hartgesotten Denise beim Pickelausquetschen war, reichte ihr sonst schon der sprichwörtliche abgebrochene Fingernagel, um in ein Meer von Tränen auszubrechen.
Ich selbst hatte zwar ebenfalls meine kleine Dramaqueen im Zimmer, aber Molly war gleichzeitig so ein liebenswürdiges, witziges Wesen, dass ich mich vom ersten Tag im Internat an glücklich geschätzt hatte, sie zu haben.
Im Gegensatz zu Kaja, die erst in der Oberstufe zu uns stieß, waren Molly und ich gleich nach der Grundschule nach Mondsee gekommen. Damals kannten wir uns noch nicht und es war reiner Zufall gewesen, dass wir in einem gemeinsamen Zimmer landeten.
Für mich war der Anfang hart. Ein Jahr zuvor hatte ich meine Mutter an diese teuflische Krankheit namens Krebs verloren. Mein Vater hatte alles versucht, um mich danach alleine großzuziehen, doch leider hatte er den vollkommen falschen Beruf dafür. Er war Naturfilmer und musste regelmäßig in die exotischsten Gebiete der Welt jetten – keine guten Voraussetzungen also für eine zuverlässige Kinderbetreuung.
Als er mir das erste Mal mit der Idee Internat kam, versuchte ich natürlich alles, um ihm klarzumachen, dass ich wunderbar alleine zurechtkäme. Es gab schließlich genügend Kinder, die sich zeitweise um sich selbst kümmern mussten. Doch irgendwann sah ich selbst ein, dass es nun mal ein Unterschied war, ob eine Zehnjährige die Nachmittage nach der Schule allein zu Hause verbrachte oder ob sie womöglich ganze zehn Tage und Nächte am Stück allein in der Wohnung war.
»Nur für die ersten Jahre«, hatte er mich getröstet. »Sobald du in einem Alter bist, wo ich es verantworten kann … oder sobald ich doch einen anderen Job finde, der uns ein ähnliches Einkommen sichert …«
Letztendlich kam alles anders als gedacht. Molly und dem Volleyball sei Dank, beschloss ich bereits in meinem ersten Jahr in Mondsee, dass das Internatsleben gar kein schlechtes war und ich es doch nicht so eilig hatte, den Ort wieder zu verlassen.
»Versprich mir nur, dass du nicht einsam bist«, hatte ich meinen Vater schwören lassen, als ich ihm meinen endgültigen Entschluss, bis zum Abi in Mondsee zu bleiben, mit teilte. Auch wenn wir beide wussten, dass man so was eigentlich nicht versprechen konnte.
Ich ließ mich neben Kaja auf mein Bett fallen. Verdammt, fehlte noch, dass ich jetzt anfing zu heulen.
Zum Glück lenkte mich Kaja sofort ab. »Irgendwie hat sie die Luft hier verpestet«, sagte sie, wobei Molly und mir natürlich sofort klar war, wen Kaja meinte.
»Du sprichst mir aus der Seele«, war Mollys leicht pathetische Antwort, die ich ungewollt durch ein tiefes Seufzen, das mir aus der Lunge flatterte, unterstrich. Molly warf sich auf ihr Bett, das meinem gegenüber stand. Circa eineinhalb Meter Entfernung lagen dazwischen, in der Nacht nicht gerade viel, wenn die Zimmerpartnerin regelmäßig in einer Lautstärke von über sechzig Dezibel schnarchte.
»Ich halte sie in der Klasse ja schon kaum aus«, fuhr sie nun fort. »Kann mir echt nicht vorstellen, wie du den ganzen Rest mit ihr erträgst.« Sie schüttelte den Kopf. »Total verrückte Situation, das mit deinem Dad und Amelies Mutter. Ich versteh ja, dass du für deinen Vater das Beste willst, aber ganz ehrlich, ich bewundere dich für deine Großmütigkeit in der Hinsicht. Ich hätte schon längst dafür gesorgt, dass Amelie samt Mutter aus meinem Leben verschwindet.«
Ich hatte das Gefühl, mich schon wieder erklären zu müssen. »So einfach ist das eben nicht. Es geht ja nicht nur um mich. Mein Vater hat auch genug gelitten und war oft allein in den letzten Jahren.«
Ich sah, dass Kaja nachdenklich nickte.
Molly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß schon. Ihr beide seid eben weitaus bessere Menschen als ich.« Sie seufzte theatralisch und gefiel sich offensichtlich ganz gut in der Rolle der Narzisstin.