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Studienarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Politik - Region: Mittel- und Südamerika, Note: 1, Universität Wien (Internationale Entwicklung), Veranstaltung: Alles für alle! Zapatismus als Paradigma, Sprache: Deutsch, Abstract: Seit dem Bestehen der zapatistischen Bewegung in Mexiko gibt es Versuche, insbesondere aus dem wissenschaftlichen Bereich, diese theoretisch und auch ideologisch einzuordnen. Während die theoretische Einordnung relativ deutlich entwicklungs- und dekolonialistische Aspekte aufweist, ist eine politisch-ideologische Zuordnung bis heute umstritten. Da die seit 1994 offen agierende Guerilla Anleihen bei verschiedensten ideologischen Strömungen nahm, um ihre gesellschaftlichen und politischen Strukturen zu formen und zu organisieren, ist eine einzelne zentrale Politikform hinter der Bewegung nicht auszumachen. Es finden sich neben den revolutionären Elementen der Guerilla-Bewegung sowohl anarchistische, kollektivistische und marxistische wie auch libertäre und konservativ-kleinbürgerliche Einflüsse in den Paradigmen, Normen und Handlungsanweisungen. Dies liegt auch in der Einzigartigkeit dieser sozialen Bewegung begründet, die sich in vielerlei Hinsicht verdeutlicht. Während bei anderen Guerillas in Lateinamerika oftmals ein Programm vor der Bewegung steht, als Beispiel wäre hier etwa die stark kommunistische Ausrichtung der National Liberation Army (ELN) in Kolumbien in ihren Anfangsjahren zu nennen, gab es jenes bei den Zapatistas erst nachträglich. Die Bewegung entstand nämlich Anfang des 20. Jahrhunderts aus konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Konflikten und adaptierte erst im Nachhinein ein politisch-ideologisches Programm, welches bis heute weiterentwickelt wird. Während sich bereits diverse akademische Abhandlungen mit den anarchistischen, marxistischen, sozialistischen und revolutionären Elementen der politischen Ausrichtung der Bewegung beschäftigten, soll in folgender der Einfluss libertärer Ideen auf Praktiken und Denkmuster näher betrachtet werden. Durch die Spannungsverhältnisse der Zapatistas im Kampf gegen die mexikanische Regierung, das Parteiensystem und generell den massiven Einfluss des Staates, sowie die autarke und selbstbestimmte Ausrichtung gesellschaftlichen Zusammenlebens, lassen sich, zumindest oberflächlich, viele Aspekte des Libertarismus in der Bewegung wiederfinden. Die Zapatistas selbst bekräftigten immer wieder keine Anhänger von Personen, sondern von Grundsätzen zu sein.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zum Libertarismus
3. Libertäre Strömungen in Denken und Handeln der Zapatistas
4. Conclusio
5. Literaturverzeichnis
„Eine Ideologie, die einer bestimmten politischen Richtung eindeutig zuzuordnen ist, haben die Zapatistas nicht entwickelt.“[1]
Seit dem Bestehen der zapatistischen Bewegung in Mexiko gibt es Versuche, insbesondere aus dem wissenschaftlichen Bereich, diese theoretisch und auch ideologisch einzuordnen. Während die theoretische Einordnung relativ deutlich entwicklungs- und dekolonialistische Aspekte aufweist, ist eine politisch-ideologische Zuordnung bis heute umstritten. Da die seit 1994 offen agierende Guerilla Anleihen bei verschiedensten ideologischen Strömungen nahm, um ihre gesellschaftlichen und politischen Strukturen zu formen und zu organisieren, ist eine einzelne zentrale Politikform hinter der Bewegung nicht auszumachen. Es finden sich neben den revolutionären Elementen der Guerilla-Bewegung sowohl anarchistische, kollektivistische und marxistische wie auch libertäre und konservativ-kleinbürgerliche Einflüsse in den Paradigmen, Normen und Handlungsanweisungen. Dies liegt auch in der Einzigartigkeit dieser sozialen Bewegung begründet, die sich in vielerlei Hinsicht verdeutlicht. Während bei anderen Guerillas in Lateinamerika oftmals ein Programm vor der Bewegung steht, als Beispiel wäre hier etwa die stark kommunistische Ausrichtung der National Liberation Army (ELN) in Kolumbien in ihren Anfangsjahren zu nennen, gab es jenes bei den Zapatistas erst nachträglich.[2] Die Bewegung entstand nämlich Anfang des 20. Jahrhunderts aus konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Konflikten und adaptierte erst im Nachhinein ein politisch-ideologisches Programm, welches bis heute weiterentwickelt wird.[3]
Während sich bereits diverse akademische Abhandlungen mit den anarchistischen, marxistischen, sozialistischen und revolutionären Elementen der politischen Ausrichtung der Bewegung beschäftigten, soll in folgender der Einfluss libertärer Ideen auf Praktiken und Denkmuster näher betrachtet werden. Durch die Spannungsverhältnisse der Zapatistas im Kampf gegen die mexikanische Regierung, das Parteiensystem und generell den massiven Einfluss des Staates, sowie die autarke und selbstbestimmte Ausrichtung gesellschaftlichen Zusammenlebens, lassen sich, zumindest oberflächlich, viele Aspekte des Libertarismus in der Bewegung wiederfinden.
Die Zapatistas selbst bekräftigten immer wieder keine Anhänger von Personen, sondern von Grundsätzen zu sein. Daher soll in der folgenden Seminararbeit untersucht werden, inwieweit die Zapatistas tatsächlich in ihren Grundsätzen und Kommuniqués libertäre Ideologien vertreten oder gar auf diese Verweisen. Auch soll untersucht werden ob und wie sich anarchistische mit libertären Elementen innerhalb der Guerilla überschneiden oder bedingen, da der Anarchismus ein wesentlicher Bestandteil vieler libertärer Überlegungen ist.
Nach einer theoretischen Einführung in den Libertarismus, welche Charakteristika, und Abgrenzungen an jenem enthalten soll, wird anhand von konkreten Beispielen zapatistischer Grundsätze, Forderungen, Kommuniqués aber auch Politiken und Gesetzgebungen, sowie anderen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dazu, untersucht, wie stark oder auch nicht libertäre Elemente Einfluss in die Bewegung fanden. In der Conclusio wird schließlich nochmals auf die Schwierigkeit einer politisch-ideologischen Einordnung, deren Problemhaftigkeit und auch auf deren Sinnhaftigkeit hingewiesen. Als Grundlage für meine Ausführungen dienen neben den bereits erwähnten wissenschaftlichen Abhandlungen auch Reden von Zapatisten, Kommuniqués der Bewegung, sowie Grundsatzmanifeste und historische Erfahrungsberichte.
Das Interesse für diese Thematik speist sich einerseits aus der wissenschaftlich wertvollen Erkenntnis die von selbstbestimmten und autark lebenden und agierenden Gruppierungen, im Kampf gegen eine zunehmende Globalisierung unserer Lebenswelt und Kommerzialisierung des Individuums, gewonnen werden kann, und andererseits aus einer persönlichen Vorliebe für libertäre Ideologien, die das Recht auf Eigenverantwortung und Selbstbestimmung als höchstes Gut ansehen.
Die theoretische Einordnung des Libertarismus ist ebenso komplex und vielschichtig wie bei allen anderen größeren politischen Philosophien, vom Konservativismus bis hin zum Marxismus. Zahlreiche Ausformungen, von politisch Links bis politisch Rechts, zeichnen den Pluralismus dieser Ideologie aber auch deren Ambivalenz aus. Ein sowohl normativer als auch ontologischer Grundkonsens herrscht jedoch über die Prinzipien libertären Denken und Handelns. Im Mittelpunkt dieser, in seinem Ursprungszustand dem Anarchismus und später dem Liberalismus zuzuordnenden, Denkweise stehen die (Willens-)Freiheit des Individuums, dessen Recht auf Eigentum und Selbstverwaltung und eine weitgehende Einschränkung staatlicher Wirkmöglichkeiten.[4] Die negative Handlungsfreiheit spielt dabei eine wesentliche Rolle in der philosophischen Betrachtung dieser Strömung. Dem Menschen als Individuum dürfen keine inneren und äußeren Zwänge aufgebürdet werden. Weder der Staat noch gesellschaftliche und kulturelle Normen dürfen den freien Willen und somit die Grundlage der Freiheit einschränken.[5] Vor allem in den USA, wo verschiedenste Formen des Libertarismus ausgelebt werden, reicht dieser von bürgerlicher Privatautonomie bis hin zu Emanzipation von Minderheiten und Sozialstaatlichkeit.
Eine Aufspaltung der Denkrichtungen innerhalb des Libertarismus beginnt dort, wo seine Vertreter über die Definitionen der obengenannten Eigentumsrechte, sowie der sozialen Ordnung die diese schaffen, unterschiedliche Positionen beziehen. Ist der Individualismus oder der Kollektivismus die Grundlage des Eigentumsrechts? Ebenso herrscht noch lange kein Grundkonsens über die Definition von Freiheit in Bezug auf das menschliche Dasein. Ist individuelle Freiheit naturrechtlich, utilitaristisch, realistisch oder gar ganz anders begründet? Nach Roderick T. Long, selbst Anhänger des Libertarismus, bildeten sich sowohl ein kapitalistischer Libertarismus, als auch ein sozialistischer und ein populistischer Libertarismus heraus.[6] Ergänz werden sollte dies noch durch einen anarchistischen Libertarismus, der sich den Ursprüngen dieser Ideologie, die im Anarchismus liegen, zuwendet. Abseits des gemeinsamen intellektuellen Erbes, überschneiden sich diese differierenden Strömungen jedoch in den meisten Grundannahmen und Aussagen. Getrennt sollte dennoch in jedem Falle der anarchistische vom sozialistischen als auch vom kapitalistischen Libertarismus werden, da Anarchismus per se als unpolitisch gilt.[7] Bezeichnungen wie „links-anarchistischer Libertarismus“ oder „Anarcho-Kapitalismus“ werden hier daher abgelehnt. Als wichtiger in der vorliegenden Betrachtung, erscheint die Synthese zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung, die uns schließlich erkennen lässt, wo bei der Bewegung der Zapatistas libertäre Elemente Eingang fanden.
Um libertäres Denken verstehen zu können, ist der anarchistische Ursprung dieser politischen Philosophie von zentraler Bedeutung. Grundlegend anarchistische Forderungen wie Freiheit, Autonomie, Toleranz, soziale Ordnung durch Freiwilligkeit und Selbstbestimmung wurden zu den Grundpfeilern des Libertarismus.[8] Die Frage nach der Organisationform von Gesellschaft, abseits des Staates und Konzepten wie Demokratie und Diktatur, führte zwangsläufig zur naturalistischen Selbstverwaltung. Ebenso bildet aber auch der Liberalismus eine wesentliche Säule der vorliegenden Ideologie, insbesondere was die Freiheit der Ökonomie (oder auch des Marktes) und der Eigentumsrechte betrifft.[9] Während der Anarchismus jedoch die Auflösung staatlicher Organisationsformen anstrebt und „die Freiheit des sozialen Experimentes“ einfordert, tut dies der Liberalismus nicht.[10] Bei der Frage nach dem Umgang mit Verstößen gegen die Freiwilligkeit, plädiert der Liberalismus immer noch für ein Mindestmaß an Staat, wenn auch dieser als „notwendiges Übel“ angesehen wird.[11] Nach anarchistischer Auffassung, „arrangiert“ sich der Liberalismus daher mit Konzepten wie Etatismus, Militarismus, Faschismus oder Sozialismus und wird so zum Teil des herrschenden und unterdrückenden Systems. Aus dieser Diskrepanz zweier sonst überraschend ähnlicher politischer Ideen, entsprang schließlich die Vorstellung einer libertären Gesellschaftsform, wo der frei geborene Mensch Souverän seiner selbst ist. Während sich nun der kapitalistische Libertarismus darauf fokussiert eine moralisch und philosophisch unanfechtbare Darstellung der Entstehung von Eigentum zu formulieren[12], bei der via dem privaten Eigentum individuelle Rechte und Marktkräfte uneingeschränkt herrschen, konzentriert sich der sozialistische Libertarismus auf eine gerechte Verteilung und Umverteilung von Eigentum, kombiniert mit der Prämisse der kollektiven Selbstverwaltung. Beide Unterscheiden sich insofern vom anarchistischen Libertarismus, als sie nicht für eine Abschaffung des Eigentums eintreten und dem Staat in gewisser Weise immer noch eine Rolle im Gesellschaftssystem zuschreiben, etwa als Sanktionsmechanismus gegen Missbrauch der Prinzipien.
Die soziale Bewegung der Zapatistas existiert nicht erst seit dem Aufstand ihres bewaffneten Armes, der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), im Jahre 1994 im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, der sich gegen die Einführung des nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA richtete.[13] Sie reicht bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, der Zeit des mexikanischen Bürgerkrieges, zurück, als oppositionelle Gruppierungen verschiedenster Ideologien rund um den Revolutionär Francisco Madero damit begannen, den Sturz des diktatorisch regierenden mexikanischen Langzeitpräsidenten Porfirio Díaz herbeizuführen. Der sozialrevolutionäre Teil des Aufstandes wurde dabei primär von Gruppierungen rund um Emiliano Zapata getragen, der bereits damals eine durchaus libertäre Forderung als Parole für seinen Kampf gegen das herrschende System wählte: Tierra y Libertad/Land und Freiheit.[14] Diese „bäuerliche Revolution der Zapatistas“, gespeist aus traditionellen Werten einer agrarischen Gesellschaft, zielte auf weitgehende Autonomie- und Landrechte für die indigene Bevölkerung in Mexiko ab, die durch den Staat und dessen Regierung seit jeher marginalisiert und unterdrückt wurde.[15]Dabei flossen auch historisch bedingte, antikoloniale Kämpfe und Forderungen in die Bewegung mit ein.Die Ideen desindigenen Kollektivismus und der Selbstverwaltung, kombiniert mit Umverteilung von Boden und Armutsbekämpfung, deuteten bereits damals Grundzüge eines sozialistischen Libertarismus an, wobei die ursprüngliche Bewegung selbst nie als sozialistisch galt: „Eine spezifische Form der Agrargesellschaft war das Ideal der Zapatistas, Sozialismus wurde an keiner Stelle propagiert […]“.[16]
Die Forderung „Tierra y Libertad“ überdauerte, zumindest im Bundesstaat Chiapas, bis in die 1980er Jahre, als die bereits erwähnte EZLN im Erbe Emiliano Zapatas als zunächst „klassische Guerilla“ von einer linken, studentischen Opposition gemeinsam mit dem lokalen, indigenen Widerstand begründet wurde.[17] Bis zum Aufstand im Jahr 1994 entwickelte sich die Guerilla jedoch zu einer breiten sozialen Bewegung, bei welcher der bewaffnete Arm einen Aspekt neben dem Aufbau eigener Verwaltungs- und Gesellschaftsstrukturen bildete. Vor allem die friedliche und in der indigenen Tradition stehende Form des Widerstandes wurde propagiert und ausgelebt. Es gab keinen Anspruch auf Herrschaft oder die Übernahme dieser in Mexiko, sondern lediglich jenen der Autonomie und Selbstverwaltung in den Gebieten der Zapatisten. Diese Grundmerkmale der Bewegung verdeutlichen bereits erste libertäre Elemente in den Forderungen. Bevor jedoch näher auf die libertären Ausprägungen eingegangen wird, soll zunächst der Querverweis auf eine andere wissenschaftliche Arbeit gelegt werden, die sich bereits der Frage nach anarchistischen Elementen innerhalb der zapatistischen Bewegung gewidmet hat. Die Problematik der ideologisch-philosophischen Einbettung wurde von Jens Kastner in seiner Abhandlung „Ist der Zapatismus ein Anarchismus“ klar dargelegt. Zum einen sehen sich die Zapatisten selbst weder als Anarchisten noch als Libertäre an, da sie keinerlei Anspruch auf eine einheitliche Theorie erheben, was die eindeutige Zuschreibung einer politischen Ideologie verunmöglicht.[18] Werden zum anderen jedoch Elemente dieser Ideologien in der Bewegung gefunden, bleibt immer noch die Frage welcher Strömung innerhalb dieser sie zuzuordnen sind.
Drei zentrale Elemente der zapatistischen Bewegung sollen daher als Richtungsweisend für libertäre Einflüsse in Denken und Handeln herausgenommen und analysiert werden. Erstens sind dies der Wandel von Herrschaftsverhältnissen und die Bedeutung des Naturrechts. Zweitens die Autonomiebestrebungen gepaart mit Selbstverwaltung. Und drittens Leitprinzipien, nach denen sich die Organisationsformen der Zapatistas orientieren.
„[…] Wir werden fordern, was gerecht ist und Recht für alle: Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, alles für alle, für uns nichts.“[19] So die Worte der Generalkommandantur der EZLN im Jahre 1994. Jedes Wort verdeutlicht zumindest eine der Grundforderungen des Libertarismus, sei er nun anarchistisch oder sozialistisch ausgeprägt: Freiheit, Gerechtigkeit und die gemeinsame Verwaltung dieser Prinzipien in einem basisdemokratischen Prozess. Durch den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung, nicht jedoch gegen den mexikanischen Staat, wurde zudem ein Wandel der Herrschaftsverhältnisse für die indigene Bevölkerung in Chiapas eingeleitet, der weg von neoliberalen und globalisierungsgetriebenen Politiken und hin zu einer „Herrschaft“ des Naturrechts und der indigenen Kollektivität führte. Gerade der kollektive Aspekt der gesellschaftlichen Organisation, etwa in Kooperativen, verdeutlicht klare sozialistisch-libertäre Elemente, die diametral zur individuellen Eigenverantwortung des kapitalistischen Libertarismus stehen. Hinzu kommt die Forderung nach Umverteilung des Lands und des Bodens von Großgrundbesitzern, hin zu den Bauern, basierend auf dem naturalistischen Eigentumsrecht der indigenen Bevölkerung, Land besitzen zu dürfen, wenn es auch bearbeitet wird. Ein weiterer Aspekt ist die Bekämpfung von Armut über die kollektive Organisation von Bildung und der Einbindung der Gemeinschaft in diese Tätigkeit, sowie die genossenschaftlich organisierte Landwirtschaft. Subcomandante Marcos selbst, eine zentrale Führungsfigur im Kampf der Zapatistas, sprach in den Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald von „Gerechtigkeit, Freiheit und Sozialismus“.[20]
Einen wesentlichen Unterschied zum anarchistischen Libertarismus, bildet der nationale Aspekt der Bewegung. Die Zapatistas sehen sich als „Armee zur nationalen Befreiung“, die zwar die Regierung bekämpft, nicht aber den Staat Mexiko, der anerkannt wird. Die EZLN selbst, sprach in einem Plädoyer für eine „Verteidigung von nationaler Souveränität“.[21]In ihrem Kampf gegen den Neoliberalismus beziehen sie sich daher auch positiv auf die „schützende Nation“, was klar gegen eine anarchistisch-libertäre Ausprägung spricht, welche wiederum jegliche staatliche und nationale Organisationsform ablehnt.[22] Dennoch sollte der Fehler vermieden werden, die zapatistische Definition von Nation einer westlichen Definition dieses Begriffes gleichzusetzen.[23] Des Weiteren spricht das Recht auf Besitz von Land, wenn es bearbeitet wird, gegen das anarchistische Prinzip des Eigentums für Alle. Auch wird von den Zapatisten, bedingt durch ihre Globalisierungs- und Wirtschaftskritik, der uneingeschränkte und freie Markt abgelehnt, was wiederum gegen kapitalistisch-libertäre Elemente in der Bewegung spricht. Zudem widerspricht auch die stark am Kollektiv orientierte Gesellschaftsform, den individuellen und eigenverantwortlichen Prinzipien des kapitalistischen Libertarismus. Auf der anderen Seite sprechen die zapatistischen Definitionen von Herrschaft, Macht und Gewalt deutlich für anarchistisch- und auch kapitalistisch-libertäre Einflüsse. Es existiert ein negativer Machtbegriff, der Macht mit einer unnatürlichen Herrschaft und Kontrolle assoziiert. Statt einer Herrschaft der Menschen über Menschen, wird der Fokus auf die Verwaltung von Sachen gelegt.[24] Dies deckt sich mit dem libertären Begriff der negativen Handlungsfreiheit, wie in Kapitel 2 beschrieben, welcher sich gegen äußere wie innere Zwänge stellt, die zwangsläufig durch die Ausübung von Macht resultieren. Auch die Ausübung von Gewalt wird abgelehnt, was durchaus im Sinne der libertären Tradition zu verstehen ist. Stattdessen wird auf friedliche Protestformen, wie Schweigemärsche gesetzt. Letztlich wird auch nicht die Übernahme der Macht im Staate angestrebt, oder die Übergabe dieser an eine Elite, da Gerechtigkeit nicht durch eine Herrschaftsübernahme sondern nur durch einen öffentlichen und herrschaftsfreien Diskurs im Gegen und Miteinander erreicht werden kann.[25] Im Umkehrschluss bekräftigt dieses Denken die Forderung nach Autonomie und regionaler Autarkie.
Diese Autonomiebestrebungen, gepaart mit einer weitgehenden Selbstverwaltung, sind wohl die deutlichsten libertären Elemente bei den Zapatistas. Im ausufernden Kampf gegen die neoliberale Globalisierung, müsse jeder seine eigene Form des Überlebens finden. Für die Zapatistas bedeutet dies die Erringung von Autonomie innerhalb des Staates. Der Staat Mexiko soll sich daher mit seinen Aktivitäten weitgehend aus der Region Chiapas heraushalten und im Umkehrschluss der Region territoriale und rechtliche Souveränität eingestehen, so zumindest die Forderungen bei den Friedensverhandlungen nach der „Revolution“ 1994. Daraus resultiert auch, dass die Zapatistas jegliche finanzielle Unterstützung und Förderung der mexikanischen Regierung ablehnen. Ein Friedensabkommen zwischen der mexikanischen Regierung und den Zapatistas wurde von Seiten der Regierung schließlich nicht eingehalten, weshalb die Guerilla das Abkommen einseitig aussetzte und seither ihre Selbstverwaltungsstrukturen ohne staatliches Einverständnis ausbaut. Diese Strukturen reichen mittlerweile von eigenen Bildungs- und Gesundheitssystemen über eine autarke Nahrungsversorgung bis hin zur eigenständigen Vernetzung mit nationalen und internationalen sozialen Bewegungen. Ergänzend dazu führen die basisdemokratischen Elemente zu eigenen Politstrukturen und einer Ablehnung der klassischen Parteiendemokratie, was mit ein Grund ist warum sich die Zapatistas bis heute zu keiner Partei zusammenschlossen oder eine Unterstützungserklärung für eine andere abgegeben haben.[26] Parteien sind für die Zapatistas nichts anderes als hierarchische, vereinheitlichende und machtorientierte Organisationen. Nur die Freiwilligkeit der gemeinsamen Verwaltung kann einen ständigen Reflexionsprozess garantieren, der bei Parteien so unmöglich wäre. Auch dieses Denken steht stark in der libertären Tradition, welche in Parteien lediglich einen „Erfüllungsgehilfen“ und „Autorisierer“ des wirkmächtigen Staates sieht. Politik führt immer zu unbeabsichtigten Konsequenzen und Verschwendung, so die libertäre Kritik, die sich stark mit jener der Zapatistas deckt. Die Organisation libertärer Bestrebungen in politischen Parteien, wie etwa in den USA, wird daher unter Anhängern des Libertarismus heftig und kontrovers diskutiert.[27]Die alternative Organisation der Zapatistas vollzieht sich in Vollversammlungen in den jeweiligen Gemeinden, welche über die Belange der Gemeinde entscheiden.[28] Die gewählten, unbezahlten Delegierten für die höheren Ebenen und die anderen Amtsträger können jederzeit abberufen werden, sollten sie die Beschlüsse der Basis nicht umsetzen oder deren Erwartungen nicht gerecht werden. Außerdem rotieren diese regelmäßig. So wird einerseits Korruption vermieden und andererseits jedem Bürger das politische System nähergebracht.
Zu guter Letzt verdeutlichen auch einige Leitprinzipien der Bewegung libertäre Aspekte und Einflüsse. Es sind hier vor allem die Sprüche und Motive wie das „gechorchende Befehlen“ oder „fragend gehen wir voran“. Das gehorchende Befehlen verdeutlicht die basisdemokratischen Elemente, wonach keine „große Idee von Funktionärstum“ aufkommt.[29] So kann auch nicht der Wunsch nach einer übermäßigen Institutionalisierung und schließlich einer Bürokratisierung von Verwaltung aufkommen. Die Selbstverwaltung wird nach dem Prinzip der Freiheit und Freiwilligkeit organisiert. „Fragend gehen wir voran“ verdeutlicht wiederum ihre Sicht des Verhältnisses von Theorie und Praxis, sowie den fehlenden Anspruch auf eine zentrale Ideologie oder ein zentrales Schriftstück hinter der Bewegung. Der Prozess der Autonomie ist ein stetiger Wandlungsprozess, in welchem auch Fehler passieren die eingestanden und akzeptiert werden. Die Fehlbarkeit des Menschen wird durch die Eigenverantwortung und das Kollektiv aufgefangen, was ebenfalls stark in der libertären Tradition steht.
So stehen die zapatistischen Bestrebungen zusammenfassend für eine Anerkennung von Differenz in Kollektivgesellschaften, eine neue Rolle politischer Autonomie innerhalb souveräner Staaten und eine regional sowie global vernetzte, friedliche Widerstandskultur.
Wie bereits Anfangs erwähnt ist eine politisch-ideologische Einordnung der zapatistischen Bewegung in Mexiko weder zielführend noch zwingend notwendig. Das verdeutlichen die Zapatisten selbst am besten, da sie durch ihre stetigen internen Reflexionsprozesse nie den Anspruch auf eine zentrale Ideologie stellten. Da keinerlei Anspruch auf eine einheitliche Theorie erhoben wird, ist auch die eindeutige Zuschreibung einer politischen Philosophie oder Ideologie unmöglich. Dies kann nun, je nach der wissenschaftlichen Tradition der man sich zugehörig fühlt, als Stärke oder auch Schwäche der Bewegung ausgelegt werden. Dennoch konnte die vorliegende Arbeit einige zentrale Einflüsse des Libertarismus bei der zapatistischen Bewegung nachweisen, insbesondere was die Prinzipien der Freiheit, Autonomie und Selbstverwaltung betrifft.
Trotz allem. Durch ihren ständigen Reflexionsprozess, gepaart mit einem generell universalistischen Ansatz in Fragen der Repräsentation und der Adressierung sozialer und politischer Probleme, kommt es immer wieder zu einer Ausweitung und Neudefinition des zapatistischen Politikbegriffes. Die alleinige Zuschreibung der Zapatistas als Libertär, oder auch Anarchistisch, ist daher nicht möglich. Trotzdem verdeutlicht sich eine durchaus libertäre Grundansicht von Politik, wie auch Jens Kastner bestätigt, welche abseits von Parteien oder Repräsentanten, fragt wer wann wo für wen spricht.[30] Somit sind auch die politischen Initiativen der Zapatistas flexibel, reflexiv und analytisch gestaltet. Wie Major Moisés von der EZLN dazu sagte: zuerst die Praxis dann die Theorie. So sind der Bewegung letztlich die verschiedenen gesellschaftlichen Positionen wichtig, und nicht etwa die politischen. Auf diesen einfachen Prämissen dürften auch der Erfolg und die Langlebigkeit der Bewegung gründen.
Altera/Lateinamerikagruppe Düsseldorf (2013): Eine andere Welt ist möglich! – 20 Jahre zapatistischer Aufstand, 20 Jahre erfolgreiche Revolution, unter:http://alertaduesseldorf.blogsport.de/2013/12/19/artikel-zapatistas2014/
Blankertz, Stefan (2002): Das libertäre Manifest – Über den Widerspruch zwischen Staat und Wohlstand, Edition Eigentümlich Frei, Verlag Books on Demand
Dahlmann, Dieter (1996):Land und Freiheit: Machnovščina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer Bewegungen, in: Studien zur modernen Geschichte 35, Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Graswurzelrevolution (2012): „Der Zapatismus hat viele libertäre Elemente“ - Interview mit Lutz Kerkeling, unter:http://www.graswurzel.net/369/zapa.shtml
Kastner, Jens (2009): Ist der Zapatismus ein Anarchismus?, in: Degen, Hans Jürgen, Knoblauch, Jochen (Hg.): Anarchismus 2.0 – Bestandsaufnahmen. Perspektiven. Schmetterling Verlag, Stuttgart
Kerkeling, Lutz (2014): "Alles für Alle!" - 20 Jahre Rebellion für "Land und Freiheit" in Chiapas (Mexiko), in: Graswurzelrevolution, Nr. 385